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Johannes-Dieter Steinert
Deportation und Zwangsarbeit
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Johannes-Dieter Steinert
Deportation und Zwangsarbeit
Polnische und sowjetische Kinder
im nationalsozialistischen Deutschland
und im besetzten Osteuropa
1939–1945
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Titelabbildung:
Kinder im Lager eines Motorenwerks bei München.
Die mit »OST« gekennzeichneten Kinder mußten im Werk arbeiten.
Privatbesitz; abgedruckt mit freundlicher Genehmigung
von Frau Halyna Schust, Kiew.
1.Auflage März 2013
Satz und Gestaltung:
Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen
Umschlaggestaltung:
Volker Pecher, Essen
Druck und Bindung:
Griebsch & Rochol Druck GmbH & Co. KG, Hamm
ISBN 978-3-8375-0896-3
Alle Rechte vorbehalten
© Klartext Verlag, Essen 2013
www.klartext-verlag.de
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Vorwort
Mein besonderer Dank gilt der Gerda Henkel Stiftung, der British Academy
und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« für die großzügige
Unterstützung meiner F orschung während der letzten Jahr e sowie dem Ar ts
and Humanities Resear ch Council (AH RC) und dem Centr e f or Histor ical
Research der University of Wolverhampton, deren Fellowship bzw. Sabbatical
mir bei der Niederschrift des Manuskripts außerordentlich geholfen haben. Den
Mitarbeiterinnen und Mitar beitern der Ar chive und Bibliotheken, die ic h im
Laufe der Jahre besucht habe, danke ich für ihre Unterstützung und ihre Geduld.
Außerordentlich verpflichtet bin ic h den Freunden und Kol legen, die mir mit
Rat und Tat zur Seite gestanden haben, darunter Dr. Tetjana Pastuschenko
(Kiew), Prof. Hanna U latowska (Dallas/Warschau) und Prof. Siarhei Novikau
(Minsk). Alois Nußbaumer (Salzburg) danke ich für Interviews mit ehemaligen
Zwangsarbeitern, die er mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Für ihr
hilfreiches Feedback zum Manuskript stehe ich in der Schuld von Prof. Helga
Embacher (S alzburg), D r. Renate Vollmer (Frankfurt am Main), Prof. Mike
Dennis ( Wolverhampton) und Dr. Nicholas Stargardt (O xford). Die Drucklegung des Buches wurde mit Mitteln der Gerda Henkel Stiftung ermöglicht.
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Erster Teil – Die Erfahrung der Deportation
1.
1.1
1.2
1.3
Besatzungspolitik und Deportation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Polen: Annektierte Gebiete und Generalgouvernement . . . . . . . .
Sowjetunion: Zivilverwaltung und militärisches Operationsgebiet Strategien zur Vermeidung von Deportationen . . . . . . . . . . . . . . .
35
35
59
92
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
Germanisierung, Kollaboration und militärische Aktionen . . . .
Vertreibung und Verdrängung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Polnische und sowjetische Hausgehilfinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Weißruthenische Jugendwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Partisanenkrieg und Germanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Deportationen beim Rückzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die HEU-Aktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
97
108
113
118
125
134
Zweiter Teil – Die Erfahrung der Zwangsarbeit
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
Zwangsarbeit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ankunft und Heimweh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Unterkunft und Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Widerstand, Flucht, Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Kontakte und Begegnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
148
156
164
174
181
4.
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
Zwangsarbeit in Polen und der Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . .
Arbeitspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Arbeit vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Arbeit für die Wehrmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Arbeit in Pustków und Potulice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Arbeit in Konzentrationslagern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
197
197
209
218
230
247
Befreiung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
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Archive und Bestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
Interviewsammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
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Einleitung
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Olga Andreewna wurde am 31. Dezember 1925 im heute belarussischen DavidGorodok geboren.1Zu diesem Zeitpunkt besaß der Ort etwa 10.000 Einwohner.
Knapp die Hälf te davon waren Juden, von denen die meisten in der zw eiten
Hälf te d es J ahres 1941 ermordet wur den. B ei O lgas G eburt g ehörte Dav idGorodok zu Polen; 1939 wurde es nach dem Hitler-Stalin Pakt von der Roten
Armee und A nfang Juli 1941 schließlich von deutschen Truppen besetzt und
dem Reichskommissariat Ukraine eingegliedert. Olga war die älteste von sechs
Geschwistern. Sie wuchs in einer »fröhlichen Familie« in bescheidenem Wohlstand auf; ihr Vater, ein Schuhmachermeister, bildete Lehrlinge aus und betrieb
einen Handel. Olga erinnerte sich, daß die sowjetischen Soldaten 1939 mit Blumen von der weißrussischen Bevölkerung empfangen wurden, doch nur wenig
später sei es eine »sorgenvolle unruhige Zeit« geworden, in der Menschen »abgeholt« und »w eggeschickt« wurden. Einzelheiten erzählte Olga nicht, obgleich
das Inter view mit ihr im Jahr e 2005, also na ch dem Ende der S owjetunion,
aufgezeichnet wurde. Für sie selbst bedeutete der Einmarsc h der sowjetischen
Truppen einen Einschnitt in ihrem Leben, wurden ihr doch von den bisherigen
sechs Schuljahren nur vier anerkannt. Sie besuchte die Schule bis 1940; danach
blieb sie daheim und kümmerte sich um ihre Geschwister.
An den deutsc hen Einmarsch 1941 erinnerte sich O lga gut: Große Angst
habe geherrscht, daß es die Deutschen nicht mit der Ermordung der Juden
bewenden lassen, sondern auch die übrige Bevölkerung umbringen würden. Im
Sommer 1942 erhielt die nun 16jährige Olga wie viele ihrer Altersgenossen in
David-Gorodok eine »Aufforderung«, zur Arbeit nach Deutschland zu gehen,
die sie solang e ignorierte, bis man ihr damit dr ohte, ihre Eltern in ein Ko nzentrationslager zu sperr en. Aus S orge um Elter n und Gesc hwister meldete
sie sich schließlich und wur de im O ktober 1942 über Stolin, wo ihre Gruppe
für einige Tage im ehemaligen jüdischen Ghetto untergebracht wurde, nach
Gdynia depor tiert. Hier fand eine Entlausung statt. Unter wegs hatten P artisanen eine Br ücke gesprengt, wodurch der Z ug mit zw ei Tagen Verspätung
eintraf. Am 6. November erreichte Olga Elbing. Sie wurde einen Monat lang
als Dreherin angelernt und arbeitete anschließend in einer Fabrik. Es war ihre
1Zum folgenden: IFLDP, Olga Andreewna Djatschenko, geb. 1925 in David-Gorodok.
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Einleitung
erste Arbeitsstelle, der bis August 1944 weitere folgten, ehe sie zusammen mit
anderen Zwangsarbeitern außerhalb der Stadt Kampfgräben ausheben mußte.
Anschließend wurde sie zu Schanzarbeiten nach Toruń gebracht und schließlich am 23. Januar 1945 durch so wjetische Truppen bef reit. In ihr em Besitz
befanden sich noch die goldenen Ohrringe, die ihre Mutter beim Abschied
abgenommen und ihr mitgegeben hatte, um sie eventuell gegen etwas eintauschen zu können.
Der Befreiung folgten ein Vergewaltigungsversuch eines sowjetischen Offiziers, über den O lga erst ber ichtete, na chdem die K amera abg eschaltet war,
sowie ein kurzer Aufenthalt in einem sogenannten Filtrationslager in der Nähe
von Warschau. Von hier aus ging es weiter nach Brest, wo sie von Angehörigen
des NKWD über ihre Zeit in Deutschland verhört wurde, ehe sie nach DavidGorodok zurückkehren konnte. In den folgenden Monaten wurde Olga noch
einige Male vom NKWD vorgeladen, aber darüber wollte sie nicht ausführlich
berichten, wie sie auc h später außer halb der F amilie und des F reundeskreises
nicht über ihre Jahre als Zwangsarbeiterin sprach: »Man hatte A ngst, darüber
zu sprechen«, räumte sie ein.
1947 heiratete Olga einen Kriegsveteranen, der aber bereits 1949 an den Folgen seiner Kr iegsverletzungen starb. Kurz darauf mußte sie auc h ihren S ohn
beerdigen. 1951 fuhr Olga zu einer Tante, die bei Kr iegsbeginn nach S ibirien
deportiert worden war. Hier lernte sie ihren zweiten Mann kennen, der mit ihr
nach David-Gorodok zog. 1955 of lgte der Umzug na ch Baranowitschi, wo ihr
Mann als Fahrer arbeitete. Doch auch die zweite Ehe endete tragisch mit dem
Tod ihres Mannes, woraufhin Olga ab 1961 als Wächterin arbeitete und einen
kleinen Handel betrieb. 1975 starb ihr zweiter Sohn infolge eines Unfalls, sechs
Tage nach seiner Hochzeit.
Olgas Geschichte, auf die im L aufe der Untersuc hung noch mehr fach
eingegangen w erden wir d, ist v on star ken Emotio nen g eprägt, v on dem
schier Unfaßbaren, daß sie als Kind nach Deutschland verschleppt wurde,
wo Tränen und Weinen ihre ständigen Begleiter war en. Sie gehörte zu der
Generation von Zwangsarbeitern, die als Kinder depor tiert wurden und als
Erwachsene in die Heimat zurückkehrten. Im Alter, so Olga, habe sie »das
Gefühl, es sei ein Traum« gewesen – ein Alptraum sicherlich: »Wir waren ja
Kinder, haben nie etwas gesehen. Und plötzlich ging’s in so ein zivilisiertes,
schreckliches Land, fremdes Land, fremde Sprache, fremde Menschen. […]
Wir waren Arbeiter, wie S klaven. Wo man uns hinsc hickte, da ging en wir
auch hin. Was man uns sagte, daß führten wir aus. Aber das Allerwichtigste
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war – man m ußte über leben. […] Die Er lebnisse waren sehr bedr ückend,
schrecklich, wir war en durch das Ganz e sehr bedr ückt, besonders das erste
Jahr. Es war fürchterlich, daß wir so [geschlossen zur Arbeit] geführt wurden,
daß das Lager so schrecklich war, wir waren so etwas nicht gewöhnt, es war
alles sehr kalt. Es war so erniedrigend. Aber mit der Zeit lernt man, sich zu
beherrschen. Wir hatten uns also dar auf eingestellt, daß man dur chhalten
muß, man muß das Ganze aushalten. Wir wurden stark von anderen Ausländern unterstützt, die dort schon seit Jahren waren, es waren alte Männer. Man
hat an uns sehr g eglaubt, es wurde gesagt, ihr kommt aus der S owjetunion,
ihr seid alle stark, ihr seid Slawen, ihr werdet es überleben. Wir sind ja keine
verwöhnten Gören, die nichts aushalten können. Insbesondere, wir kommen
ja aus der Tiefe von Polesje [Sumpfgebiet im S üdwesten von Belarus], das
Arbeiten hat man uns schon immer angewöhnt. Man lehrte uns Ehrlichkeit
und Arbeitswilligkeit, so sind wir auch geblieben. Gott sei Dank – das Ganze
ging zu Ende.«
Forschungsfragen, Aufbau des Buches und Quellen
Während des Zweiten Weltkrieges wurden schätzungsweise 1,5 Millionen Kinder aus Polen und der Sowjetunion als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt.2 Sie bildeten das Rückgrat der deutschen Kriegswirtschaft und arbeiteten in allen Bereichen der Industrie, in der Landwirtschaft, im Handwerk und
im Haushalt. Dies ist jedoch nur ein Teil der Geschichte, denn auch in den von
Deutschland besetzten Gebieten, insbesondere in Polen und in der Sowjetunion,
wurden Kinder zur Arbeit gezwungen. Sie arbeiteten in den Reparaturwerkstätten von Wehrmacht und SS, beim Bau und Ausbau von Infrastruktur, Kasernen,
Flughäfen und Bef estigungsanlagen, für die O rganisation Todt und die Deutsche Ostbahn, für private und staatliche Arbeitgeber im Dienste der deutschen
Besatzungsmacht, in Bergwerken und in der Industrie, im Handwerk sowie in
der Land-, Forst- und Hauswirtschaft.
Das Buch beruht auf einer mehr als fünfjährigen Forschungsarbeit in deutschen und ausländisc hen Archiven, Bibliotheken und S ammlungen. Eingesehen wurden sowohl zeitgenössische Dokumente, die allgemeine Informationen
2Siehe Abschnitt »Kinderzwangsarbeit – eine statistische Annäherung« in dieser Einleitung.
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Einleitung
über die Depor tationen, den sogenannten Arbeitseinsatz und die Behand lung
der Kinderzwangsarbeiter enthalten, als auch autobiographische Zeugnisse, die
Aufschluß über die Erinnerung an Deportation und Zwangsarbeit geben. Frühe
Selbstzeugnisse entstanden bereits während des Krieges, danach traten Erinnerungsschriften, Zeugenaussagen in staatsan waltschaftlichen Ermittlungs- und
in Gerichtsverfahren sowie Oral History Projekte hinzu.
Die Erg ebnisse dieser Forschung werden in zwei Bänden publiziert. Der
erste Teil konzentriert sich auf polnische und sowjetische Kinder, die zur Arbeit
nach Deutschland deportiert wurden bzw. in den v on Deutschland besetzten
Gebieten zur Ar beit gezwungen wurden. Ein zw eiter Band ist den jüdisc hen
Kinderzwangsarbeitern gewidmet. Zwar beschränkte sich die Kinderzwangsarbeit nicht auf die genannten drei Gruppen, doch erlebten polnische, sowjetische
und jüdische Kinder die sc hlechtesten Arbeits- und L ebensbedingungen und
die brutalsten Deportationspraktiken.
Das Forschungsinteresse dieser Untersuc hung richtet sich vor allem auf
die von Kindern gemachten Erfahrungen und ihre Erinnerungen an Krieg,
Gewalt, Deportation und Trennung, an die L ebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland und in den besetzten Gebieten, die Behand lung durch
Arbeitgeber und Kollegen, die Kontakte zur deutschen Bevölkerung und zu
anderen Zwangsarbeitern, an Mißbr auch sowie an F ormen der Verweigerung und des aktiven wie passiven Widerstandes. Zur historischen Einordnung der individuellen Erfahrungen erschien es notwendig, die politischen,
wirtschaftlichen und ideologischen Hintergründe und Faktoren, die zu einer
Zwangsverpflichtung von Kindern als Ar beitskräf te geführt haben, mit in
die Untersuchung einzubeziehen. Von besonderem Interesse sind dabei die
Interdependenzen zwischen Kinderzwangsarbeit und Germanisierungspolitik sowie die Partizipation militärischer und ziviler Stellen bei Zwangsarbeit
und Deportation.
Die Untersuchung benutzt Alter und Geschlecht als anal ytische Kategorien,
um die spezifischen Erfahrungen von Kindern zu hinterfragen. Kinder erinnern
anders als Er wachsene. Dieser S atz ist zwar of t zu vernehmen, unbeantwortet
bleibt aber meist die Frage, worin die Besonderheiten kind licher Erinnerung
liegen. Erinnerungen, wie sie sich in autobiographischen Texten und Interviews
widerspiegeln, können helf en, die Vergangenheit besser und umfassender zu
verstehen. Voraussetzung daf ür ist al lerdings, diese S elbstzeugnisse, wie der
Historiker Omer Bartov erst unlängst gefordert hat, als historische Quellen zu
betrachten, denen mit der gleic hen rigiden Quellenkritik zu beg egnen ist wie
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offiziellen Dokumenten.3 Durch die Analyse und Interpretation von Erinnerungen erschließen sich historische Perspektiven, die auf der Basis konventioneller
Quellen nicht gewonnen werden können. Sicherlich sind Selbstzeugnisse subjektiv, aber jeder , der mit natio nalsozialistischen Dokumenten gearbeitet hat,
weiß, wie interessengeleitet und ideologiebefrachtet sie vielfach verfaßt worden
sind, und als wie wenig objektiv sie gelten können.
Die Studie gliedert sich in zwei Teile. Nach einer statistischen Annäherung
an das Ausmaß der Kinder zwangsarbeit in Deutsc hland und in den besetz ten Gebieten g eht es in einem ersten Teil um die Erfahrung der Deportation.
Untersucht werden einige Grundzüge der deutschen Besatzungs- und arbeitsmarktgeleiteten Deportationspolitik in Polen und den besetzten Gebieten der
Sowjetunion sowie die dabei von ehemaligen Kinderzwangsarbeiter gemachten
und erinnerten Erfahrungen. Die Untersuc hung wird zeigen, daß mit zuneh mender Kriegsdauer das Alter der nach Deutschland deportierten Zwangsarbeiter abnahm, wofür neben kriegsbedingten demographischen Entwicklungen
insbesondere die deutsc he militärische und zivile Besatzungspolitik so wie die
spezifischen Interessen der Wehrmacht verantwortlich waren.
Ferner ist zu untersuc hen, welche Faktoren die Deportationspraxis und die
Erfahrungen der betr offenen Kinder v or Ort bestimmten, wobei der sic h im
Laufe der Jahr e verstärkenden Konkurrenz um Ar beitskräf te zwischen Reich
und B esatzungsgebieten so wie zwisc hen zivilen und militär ischen S tellen
besondere Bedeutung zukommt. In diesem Zusammenhang ist der Frage nachzugehen, in w elchem Maße die Depor tation von Kindern zur Zwangsar beit
nach Deutschland dazu benutzt wurde, um sowohl die von Berlin vorgegebenen
Kontingente zu füllen, als auch die divergierenden Interessen in den Besatzungsgebieten zu befriedigen. Schließlich ist der Zusammenhang zwischen den durch
die deutsche Schulpolitik und das stark herabgesetzte Schulentlassungsalter in
den besetzten Gebieten geschaffenen sozialen Problemen und der Deportation
von Kindern nach Deutschland zu analysieren.
Daneben widmet sich der erste Teil der Untersuchung einigen Verbindungslinien zwischen Germanisierungspolitik, Kollaboration und Depo rtation von
Kindern n ach D eutschland. A nalysiert w erden Ü berschneidungen z wischen
sogenannter Eindeutschung und Zwangsarbeit, die sich beispielsweise darin
zeigten, daß die den r assistischen Kr iterien f ür eine Ger manisierung nic ht
3Bartov, Wartime lies and other testimonies, 2011, S. 487–489.
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Einleitung
genügenden Kinder oftmals die Erfahrung machen mußten, zur Zwangsarbeit
verschleppt zu w erden, während etliche als »eindeutsc hungsfähig« betrachtete
Kinder darüber berichteten, daß sie als bil lige Arbeitskräf te mißbraucht und
nicht w eniger sc hlecht behandelt wur den als Zwangsar beiter. Familien und
Familienmitglieder, die z ögerten oder sic h weigerten, einen A ntrag auf A ufnahme in die Deutsche Volksliste zu stellen, sahen sich oftmals einem sozialen
und wirtschaftlichen Druck und der Gefahr von Deportation und Zwangsarbeit
ausgesetzt, der auch vor den Kindern nicht haltmachte.
Um die Z usammenhänge zwisc hen Ger manisierungspolitik, Depor tation
und Zwangsarbeit und die diesbe züglichen Erfahrungen von Kindern zu analysieren, wurden sechs zentrale Bereiche ausgewählt: Zunächst geht es um die in
den annektierten polnischen Gebieten vollzogenen Verdrängungen und Vertreibungen sowie die Vertreibung der polnischen Bevölkerung aus dem Gebiet um
Zamość im Zuge der Umsetzung des Gener alplans Ost im Gener algouvernement. Erwachsene wie Kinder wurden dabei rassistischen Selektionsprozessen
unterworfen, an deren Ende oftmals Zwangsarbeit stand. Den zweiten Untersuchungsbereich bildet die Depor tation polnischer und so wjetischer Hausgehilfinnen nach Deutschland, die nach rassistischen Kriterien unter der Maxime
einer späteren Eindeutschung ausgewählt wurden. Drittens soll der Aufbau von
Jugendorganisationen in den besetzten Gebieten der S owjetunion untersucht
werden, wobei dem Weißruthenischen Jugendwerk und seiner Funktion bei der
Deportation von Kinder zwangsarbeitern besondere Bedeutung zuko mmt. In
einem vierten Abschnitt stehen Deportationen aus sogenannten Partisanengebieten im Mittelpunkt, einschließlich Himmlers Pläne, die Konzentrationslager mit osteuropäischen erwachsenen wie minderjährigen Arbeitskräften – bei
gleichzeitigen Selektionen zur Germanisierung – zu füllen. Den Abschluß bilden die durch die Wehrmacht initiierten Vertreibungen der Zivilbevölkerung im
Zuge der Politik der Verbrannten Erde beim Rückzug aus Osteuropa, die noch
einmal von Selektionen begleitet waren, sowie die Deportationen von Kindern
als Geiseln und Zwangsarbeiter im Zuge der im Gebiet der Heeresgruppe Mitte
Anfang 1944 initiierten HEU-Aktion, wobei auch hier die Verbindungslinien zu
Kollaboration und Germanisierungspolitik untersucht werden.
Während im ersten Teil die deutsche Deportationspolitik und -praxis in den
besetzten Gebieten so wie die Er innerungen und Er fahrungen nach Deutschland verschleppter polnischer und sowjetischer Kinderzwangsarbeiter betrachtet
werden, widmet sic h der zw eite Teil zunächst der Erfahrung der Zwangsarbeit
in Deutschland. Mit Hilfe von Alter, Geschlecht und ethnisch-nationaler Her-
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kunf t als anal ytische K ategorien und v or dem Hintergr und z eitgenössischer
Dokumente und bisher iger Forschungen über die L age von Zwangsarbeitern
aus Polen u nd d er U dSSR i m D eutschen R eich w erden e inige a usgewählte
Erfahrungsbereiche von Kinderzwangsarbeitern mit dem Ziel analysiert, Besonderheiten her auszuarbeiten. A uf bauend auf den im ersten Teil r eflektierten
Deportationserfahrungen, die eine z entrale Rolle in den S elbstzeugnissen von
Kinderzwangsarbeitern einnehmen, werden fünf Bereiche untersucht, die von
Ankunft und Heimweh, über Unterkunft und Ernährung, Arbeit, Widerstand,
Flucht und Strafen bis hin zu Aspekten der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung von anderen reichen.
Anschließend w erden die Erf ahrungen v on Kinde rzwangsarbeitern in den
besetzten Gebieten anhand einiger ausgesuchter Beispiele analysiert. Nach einer
allgemeinen Betrachtung über die von deutschen zivilen und militärischen
Stellen eingeführte Arbeitspflicht, konzentriert sich die Untersuchung auf die
von Kindern vor Ort in zivilen Ber eichen sowie für die Wehrmacht geleistete
Zwangsarbeit, einsc hließlich S chanz- und Bef estigungsarbeiten gegen Ende
des Kr ieges. Abschließend werden Er fahrungen polnischer und so wjetischer
Kinderzwangsarbeiter in einigen Lagern dargestellt und interpretiert, wobei die
Lager in Pustków und Potulice sowie das einzige Kinderkonzentrationslager im
nationalsozialistischen Machtbereich, das sogenannte Polen-Jugendverwahrlager Litzmannstadt (Ł ódź), im Mittelpunkt stehen. Den Absc hluß bilden das
Erlebnis der Befreiung sowie ein Ausblick auf die Repatriierung und lebenslangen Folgen der Zwangsarbeit.
Grundlage bilden insbeso ndere Selbstzeugnisse und offizielle Dokumente.
Akten von Reichsministerien und nationalsozialistischen Organisationen wurden zwar in beträchtlichem Umfang im Bundesarchiv Berlin eingesehen, doch
kann die bloße Q uantität nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sic h hierbei
lediglich einen kleinen Teil der ehemalig en Registraturen handelt. Der Rest
wurde während des Krieges bewußt z erstört oder durch Kriegseinwirkungen
dezimiert. Als zentral f ür das zu untersuc hende Thema kann keiner der im
Anhang aufgeführten Bestände bezeichnet werden, jedoch steuerten alle mehr
oder weniger umfangreiche Inf ormationen bei. Kr iegsbedingt große L ücken
weist auch das Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg auf, wobei die Verluste
ab 1943/44 besonders augenfällig sind. Über einige Divisionen der Heeresgruppe
Mitte, die unter anderem für die Durchführung der HEU-Aktion verantwortlich waren, finden sich nur noc h wenige Dokumente, deren Überlieferung als
zufällig angesehen werden muß.
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Einleitung
Einige f ür das Thema relevante Akten v orwiegend deutsc her Provenienz
konnten darüber hinaus in den natio nalen Archiven Polens, der U kraine und
Weißrußlands ausgewertet werden. Auch hier haben von den ehemals umfangreichen Beständen der deutsc hen zivilen und militär ischen Besatzungsverwaltungen nur wenige Dokumente den Krieg und den von Berlin erteilten Vernichtungsbefehl überlebt und den Weg in die Archive gefunden. Brandspuren und
fehlende Seiten in Dokumenten weisen noch heute auf das Kriegsgeschehen
und die Rekonstruktionsversuche der Nachkriegszeit hin.
Ein zu Beginn der Forschungen nicht erwarteter Aktenfund konnte hingegen im P olitischen Archiv des A uswärtigen Amtes in Ber lin getätigt werden,
wo sich in den sogenannten Geheimakten der Kulturabteilung umfangreiche
Berichte von Vertretern des Auswärtigen Amtes befinden, die zu Wehrmachtsstellen abkommandiert waren.
Hinzu kamen einig e Akten der polnisc hen Hauptkommission zur Unter suchung der nationalsozialistischen Verbrechen, die im I PN (Instytut Pamięci
Narodowej) in Warschau bereitgestellt wurden, sowie eine Vielzahl von Akten
in der Außenstelle Ludwigsburg des Bundesarchivs, wo die Bestände der 1958
gegründeten Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
aufbewahrt werden. Zwar g ehörte Zwangsarbeit nicht zu den aufzuklär enden
Verbrechen, doc h finden sich in den P rozeß- und staatsan waltschaf tlichen
Ermittlungsakten z ahlreiche Ber ichte und Zeugenvernehmungen, die A uf schluß über die Zwangsar beit von jüdischen und nic ht-jüdischen Kindern in
und außerhalb der Konzentrations- und Arbeitslager des nationalsozialistischen
Machtbereichs geben.
Weitere Quellen konnten im Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS)
in Bad Arolsen eingesehen werden, das Informationen über 17,5 Millionen Personen aufbewahrt, darunter Opfer und Überlebende von Holocaust und Zwangsarbeit. S chließlich konnte das UN Archiv in New York besucht werden, um
Akten der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA)
auszuwerten, die zwar vor allem Auskunft über die Nachkriegszeit geben, jedoch
auch Informationen über die Kriegszeit beinhalten. Hinzu kamen Kopien und
Originaldokumente im US Holocaust Memorial Museum in Washington DC
sowie in Yad Vashem in Jerusalem.
Das Hauptaugenmerk in Yad Vashem sowie im USHMM galt jedoc h den
dort aufbewahrten bzw. zugänglichen Sammlungen von Selbstzeugnissen, darunter Interviews, Fragebögen, Briefe und Berichte sowie gedruckte und ungedruckte Er innerungsschrif ten. Z usammen mit einig en w eiteren Inter view-
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Forschungsstand
sammlungen bildeten sie die Gr undlage f ür die A nalyse der Er f ahrung v on
Kinderzwangsarbeit. Hierzu gehörten fast 600 lebensgeschichtliche Interviews
mit ehemaligen Zwangsarbeitern, die in einem von Alexander von Plato (Fernuniversität Hagen) geleiteten und von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft geförderten Oral History Projekt ab Herbst 2004 weltweit durchgeführt wurden, und von denen die meisten mittlerweile im Internet zur Verfügung stehen.4 Von 2008 bis 2010 förderte die Stiftung zudem ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an der University of Wolverhampton zum Thema Child
forced labourers in occupied Poland: Experiences, resilience and p ost-war discourses,
in deren Verlauf 54 lebensgeschichtliche Interviews mit ehemaligen polnischen
Kinderzwangsarbeitern aufgezeichnet wurden, die ebenfalls für die vorliegende
Untersuchung ausgewertet wurden.5 Schließlich ist auf die im Inter net publizierte Sammlung von Berichten und Inter views Vertrieben aus Warschau 1944 –
Kinderschicksale hinzuweisen, die auf ein gemeinsames Projekt des Historisches
Museums und des Stadtarchivs Warschau in Zusammenarbeit mit der Stiftung
niedersächsische Gedenkstätten zur ückgeht und sic h insbesondere auf unter
15jährige nach dem Warschauer Aufstand 1944 vertriebene Kinder konzentriert,
von denen viele zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden.6
Forschungsstand
Während die inner halb des Deutsc hen Reiches zwischen 1939 und 1945 geleistete Zwangsarbeit mittler weile zu den am meisten erforschten Gebieten der
Geschichtswissenschaft gehört, bewegt sich die historische Forschung über diejenigen, die diese Arbeit haben leisten müssen, immer noch in ihren Anfängen.
Dies gilt allgemein für Zwangsarbeiter innerhalb wie außerhalb der deutschen
Reichsgrenzen und insbesondere für Kinderzwangsarbeiter. Dieser Befund mag
4Zum International Forced Labourers Documentation Project insbesondere: Plato u. a.,
Hitlers Sklaven, 2008, Einleitung. Inter views im Internet: Forced Labor 1939–1945.
Memory and History. http://www.zwangsarbeit-archiv.de/en/index.html.
5Hierzu: Dariusz Galasiński, Olga Kozłowska und Johannes-Dieter Steinert, Ehemalige polnische Kinderzwangsarbeiter in den Entschädigungsverfahren: Erinnerungen
und Dokumente, in: Pohl, Dieter und Tetyana Sebta (Hg.), Zwangsarbeit in Hitlers
Europa. Besatzung, Arbeit, Folgen [Arbeitstitel, 2013]. Eine Mo nographie befindet
sich in Vorbereitung.
6http://www.banwar1944.eu/?ml_id=2.
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Einleitung
überraschen angesichts der sich seit Jahren verstärkenden Tendenz, neben offiziellen Dokumenten auch autobiographisches Schriftgut und Interviews für die
wissenschaftliche Analyse zu nutzen.
Die deutsche Geschichtswissenschaft hat das Thema Zwangsarbeit erst relativ spät entdec kt. In der (alten) Bundesr epublik war, Uwe Kaminsky f olgend,
eine »apologetische Tradition, die sich auf die Abwehr der Urteile der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gründete«,7 zunächst unverkennbar. Frühe Arbeiten, wie v on Hans Pfahlmann v orgelegt, widmeten sic h vornehmlich f ormalarbeitsrechtlichen Fragestellungen.8 Im Unterschied dazu überwog in der DDR
das Interesse, die Zwangsarbeit in die Tradition des deutschen Imperialismus
einzufügen.9 Gemeinsam war diesen Arbeiten, daß sie überwiegend auf öffentlich zugänglichen Dokumenten beruhten und politikgeschichtlich ausgerichtet
waren. S ozial- und al ltagsgeschichtliche Fragestellungen blieben ihnen w eitgehend f remd. Entsprechendes gilt f ür die f rühen Publikationen polnischer
Historiker sowie – für den englischsprachigen Raum – die Arbeit von Edward
Homze, Foreign Labor in Nazi Germany, aus dem Jahr 1967.10
Ein Wandel trat erst ab den 1980er Jahren ein, beginnend mit U lrich Herberts vielbea chteter S tudie Fremdarbeiter. P olitik und P raxis des »A usländerEinsatzes« in de r Kriegswirtschaft des D ritten Reiches. Zwar ber uht auch diese
Untersuchung überwiegend auf offiziellen Dokumenten, doch konnte Herbert
aus den mittlerweile in westdeutschen Archiven zugänglichen Quellen schöpfen. Ergänzend traten einige Interviews und Erlebnisberichte hinzu. Bemerkenswert an Herberts Analyse ist, daß sie sich nicht nur politik- und strukturgeschichtlichen Fragestellungen widmete, sondern in w esentlich stärkerem
Maße als zuvor den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsar beiter in
Deutschland. In inhaltlicher Tradition dieser Forschung legte Mark Spoerer im
Jahre 2001 seine Publikation Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische
7Kaminsky, Dienen unter Zwang, 2002, S. 5.
8Pfahlmann, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der deutschen Kriegswirtschaf t,
1968.
9Z. B. D robisch und Eic hholtz, Die Zwangsar beit ausländisc her Ar beitskräf te in
Deutschland während des zweiten Weltkrieges, 1970. Elsner und Lehmann, Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus,1988. Seeber, Zwangsarbeiter in
der faschistischen Kriegswirtschaft, 1964.
10Rusiński, Położenie robotników polskich w czasie wojny, 1950. Homze, Foreign Labor
in Nazi Germany, 1967.
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Forschungsstand
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Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten
Europe 1939–1945 vor, die allerdings ausschließlich auf Sekundärliteratur beruhte
und somit dem im Unter titel erhobenen Anspruch, das besetzte Europa in die
Analyse mit einzube ziehen, angesichts des damalig en Forschungsstandes nur
begrenzt gerecht werden konnte.11Es sol lte noch fast ein w eiteres Jahrzehnt
vergehen, ehe die Zwangsarbeit in den von Deutschland besetzten Gebieten aus
dem Schattendasein des historischen Interesses rückte.
Ausschlaggebend für den ab Ende der 1980er Jahr e allgemein zu beoba chtenden Boom in der Zwangsar beitsforschung waren insbesondere zwei politische Entwicklungen: zum einen die Öffnung osteuropäischer Archive für die
internationale Forschung nach dem Ende des Kalten Krieges, zum anderen ein
gesteigertes Interesse an der wissenschaftlichen Erforschung der Zwangsarbeit
im Zuge der deutschen Entschädigungszahlungen. Die öffentliche Diskussion
belebte die Forschung und führte zu einer bis heute anhaltenden, allerdings
zumeist auf das ehemalige Reichsgebiet konzentrierten Welle lokal-, regional-,
institutions- und unternehmensgeschichtlicher Projekte und Studien, die sich,
wie Hans-Ulrich Ludewig bereits 1991 betont hat, im Aufbau stark ähneln und
zumeist neben den politisc hen und ör tlichen R ahmenbedingungen auf die
Unterbringung und Behandlung der Zwangsarbeiter sowie die Arbeitsbedingungen und Formen des Widerstandes eingehen.12
Insbesondere seit den 1990er Jahren trat ein zunehmendes biographisches
Interesse hinzu, das als deutlic her Gegenpol zu den bis dahin do minierenden
Analysen politischer Entscheidungen, sozialer und ö konomischer Strukturen,
Institutionen und O rganisationen g esehen w erden kann. Dies be zieht sic h
sowohl auf die seit Jahr zehnten vorherrschende wissenschaftliche Konzentration auf die Täter, als auc h auf A nalysen, die die Opf er nationalsozialistischer
Herrschaft in den Mittelpunkt des Interesses rückten. Dieser biographische Einfluß läßt sich in vielen Ber eichen historischer Forschung verfolgen, in Studien
über den Holocaust und das nationalsozialistische Programm Vernichtung durch
Arbeit ebenso wie über die Lebens- und Arbeitswirklichkeiten (nicht-jüdischer)
Zwangsarbeiter in Deutschland und im besetzen Europa.
Ein weiteres Forschungsdesiderat läßt sich hinsichtlich der polnischen und
sowjetischen Kinderzwangsarbeiter f eststellen. Dies dürf te vor allem damit
11Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001.
12Ludewig, Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg, 1991, S. 566.
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Einleitung
zu tun haben, daß sich das wissenschaf tliche Interesse hauptsächlich auf die
Zwangsarbeit, nicht aber auf die Zwangsarbeiter konzentriert hat. Bemerkenswerterweise gilt dies auch für Arbeiten und Forschungsprojekte, die auf Interviews ber uhen, wobei zudem mitunter sc hlichtweg übersehen wur de, daß es
sich bei einem mehr oder w eniger großen Teil der Interviewten um ehemalige
Kinderzwangsarbeiter handelte.13Ob dies zu Verzerrungen in der Interpretation
geführt hat, muß im Einzelfall entschieden werden. Hervorzuheben ist jedoch,
daß sich bislang nur wenige Studien explizit mit Kinderzwangsarbeit beschäftigt
haben. Zu den Ausnahmen zählt die im Jahre 2000 erschienene Monographie
von Valentina Maria Stefanski Zwangsarbeit in Leverkusen. Polnische Jugendliche
im I. G. Farbenwerk. Allerdings benutzte Stefanski Alter nicht konsequent als
eine analytische Kategorie; vielmehr kam es ihr dar auf an, »die Konzentration
auf einen Ort, einen Betrieb und eine nationale Gruppe« als Unterscheidungsmerkmal ihrer Studie gegenüber anderen Arbeiten herauszustellen.14
Im Bereich der biographischen Forschung spielen Kinder als Zwangsarbeiter
eine etwas größere Rolle, wobei in vielen dieser Werke der Anteil der abgedruckten Quellen gegenüber der Analyse, die mitunter auf die Einleitung beschränkt
bleibt, stark überwiegt. Hierzu zählt beispielsweise Annekatrein Mendels Veröffentlichung Zwangsarbeit im Kinde rzimmer, die sic h den aus dem besetzten
Europa verschleppten jungen Haushaltshilfen widmet.15 In ähnlicher Weise,
jedoch unter Betonung regionaler Aspekte, hat sich Susanne Kraatz mit weiblichen Jugendlichen von der Krim beschäftigt, die in Heidelberg Zwangsarbeit
leisten mußten, Margarethe Ruff mit ukrainischen Kindern und Jugendlichen in
Vorarlberg, Thomas Muggenthaler mit Zwangsarbeitern in Bayern sowie Herbert Diercks mit jugendlichen Häftlingen aus der Sowjetunion im Konzentrationslager Neuengamme.16
Daneben existieren Arbeiten, die sich aus ganz unterschiedlicher Perspektive
und mit untersc hiedlichen Schwerpunkten mit den Themenbereichen Kinder
im Zweiten Weltkrieg beschäf tigen. Zu den fr ühen Buchpublikationen gehört
13Z. B. Plato u. a., Hitlers Sklaven, 2008.
14Stefanski, Zwangsarbeit in Leverkusen, 2000, S. 14.
15Mendel, Zwangsarbeit im Kinderzimmer, 1994.
16Kraatz, Verschleppt und Vergessen, 1995. R uff, »Um ihr e Jugend betrogen«, 1997.
Muggenthaler, »Wir hatten keine Jugend«, 2003. Diercks, Verschleppt nach Deutschland, 2000.
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Dorothy Macardles Children of Europe. A Study of the children of liberated countries:
Their war-time experience, their reactions, and their need, with a note on Germany
aus dem Jahr e 1949,17während unter den jüng eren Publikationen die Mo nographien von Lynn H. Nicholas und Nick Stargardt hervorstechen.18Lynn H.
Nicholas befaßte sich in ihrer 2005 erschienenen Untersuchung Cruel world mit
den jüdischen wie nicht-jüdischen Children of Europe in the Nazi web, wobei sie
vor allem die ideologisch und rassistisch bedingte Opferrolle der Kinder betont,
sich daneben aber auc h Fragen der Er ziehung im N ationalsozialismus sowie
des Widerstandes widmet. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte Nick Stargardt in
seiner ebenfalls 2005 erschienen Monographie Witnesses of war. Children’s lives
under the Nazis, die durch ihre biographische Erzähl- und Interpretationsweise
besticht, in der Kinder nicht nur als Objekte nationalsozialistischer Politik, sondern auch als handelnde Subjektive analysiert wurden.
In der Tradition einer intensiv en Beschäf tigung polnischer Historiker mit
dem Zweiten Weltkrieg und der Besetzung des Landes durch deutsche Truppen
können die seit den 1960er Jahren vorgelegten Forschungsergebnisse von Roman
Hrabar, Zofia Tokarz und Jacek E. Wilczur über polnische Kinder gesehen werden, deren wichtigste Ergebnisse 1981 in einer zusammenfassenden Studie in
englischer, französischer und deutsc her Sprache erschienen sind.19Inhaltliche
Schwerpunkte bildeten unter anderem die Verschleppung polnischer Kinder im
Rahmen des Germanisierungsprogramms und die Rolle des Lebensborn; daneben finden sich Abschnitte über die Beziehungen zwischen Kinderzwangsarbeit
und nationalsozialistischer Ideologie.
Im Unterschied zur polnischen Geschichtswissenschaft, in der die Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Deutschland relativ häufig thematisiert wurde,
ohne jedoch zu einem zentralen Untersuchungsfeld heranzuwachsen, fand das
Thema in der sowjetischen Wissenschaf t nur geringe Beachtung und wurde
allenfalls als eines der vielen Kr iegsverbrechen behandelt, dem eine Monographie bislang v erwehrt blieb.20Be vorzugt wurden Themen, die sic h mit dem
Widerstand der so wjetischen Be völkerung g egen die natio nalsozialistische
17Macardle, Children of Europe, 1949.
18Nicholas, Cruel world, 2005. Stargardt, Witnesses of war, 2005.
19Hrabar u. a., Kinder im Krieg, 1981.
20Einen Forschungsüberblick bis zum Beginn der 1990er Jahre bietet: Łuczak, Polnische
Arbeiter im natio nalsozialistischen Deutschland während des Zw eiten Weltkrieges,
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Besatzung befaßten, mit dem Kampf der Partisanen und der Roten Armee, nicht
aber mit der »Arbeit für die faschistischen Besatzer«.21Seit den 1990er Jahren
und insbesondere im Umkreis der öffentlichen Diskussion über deutsche Entschädigungszahlungen ist jedoch das Interesse am Thema Zwangsarbeit in den
Ländern der ehemaligen Sowjetunion gestiegen. Forschungsprojekte auf nationaler und internationaler Ebene haben bereits zu ersten wichtigen Ergebnissen
geführt.22Weitere P ublikationen über Zwangsar beit im besetzten Ost- und
Südosteuropa sind in den nä chsten Jahren zu er warten, wenn die durch die in
Berlin ansässige Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft geförderten
internationalen Forschungsprojekte zu diesem Themenkomplex abgeschlossen
sein werden.
Begriffe »Zwangsarbeit« und »Kinderzwangsarbeiter«
Mit der Ausweitung der Forschung auf die besetzten Gebiete setzte eine Dis kussion über die Verwendung des Begriffes Zwangsarbeit ein, über den in der auf
das Deutsche Reich bezogenen Forschung kaum reflektiert zu werden brauchte,
da durch den Umstand der Depor tation der zwanghaf te Charakter der Arbeit
augenfällig zutage trat. Allenfalls finden sich insbesondere in der älteren Literatur apologetische Hinweise darauf, daß nicht alle ausländischen Arbeitskräfte
unter Anwendung von Zwang nach Deutschland gekommen seien. Im Rahmen
der vorliegenden Untersuchung soll und braucht diese Diskussion nicht geführt
zu werden, da Kinder im Mittelpunkt der Betr achtung stehen, bei denen das
Kriterium der Freiwilligkeit als wissensc haf tlicher Untersuchungsgegenstand
auszuschließen ist.
In einem Aufsatz über den Arbeitseinsatz im St einkohlenbergbau des Done zbeckens unt er deutsc her Besatzung war nte Tanja P enter 2005 dav or, daß »die
Übertragung des ›Zwangsar beiter‹-Begriffs auf die besetzten Gebiete sc hnell
1991. Für die Z eit danach insbesondere: Pohl, Zwangsarbeit im besetzten Eur opa,
2010
21Nikitina u. a., F rauenbiografien und Frauenerinnerungen an den Kr ieg, 2008,
S. 280. S. a. Scherbakowa, Mündliche Zeugnisse zur Zwangsarbeit aus Rußland, 2008,
S. 241.
22Siehe beispielsweise die zw eisprachigen Publikationen »Ostarbeiter«. Weißrussische
Zwangsarbeiter in Österreich, 2003, sowie Kravčenko und Baturyn, Ukrainische Opfer
des Dritten Reiches, 2005.
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Begriffe »Zwangsarbeit« und »Kinderzwangsarbeit«
23
an Grenzen« stoßen würde: »Er eignet sic h kaum, um die Untersc hiedlichkeit
der Arbeitsbeziehungen und L ebensverhältnisse von Arbeitern und Ingenieuren, städtischen und ländlichen Arbeitskräften, Juden und Nicht-Juden, und die
enge Wechselbeziehung zwischen der ›Ar beit für den F eind‹, ›Kollaboration‹
und Widerstand zu erfassen.« Penters Appell, daß sich die Forschung »stärker
für die Fragestellungen einer Gesellschaftsgeschichte der besetzten Länder öffnen« sollte,23ist zwar grundsätzlich zuzustimmen, es ist jedoch fraglich, ob mit
diesem Anspruch der Begriff nicht hoffnungslos überfordert und damit in der
wissenschaftlichen Praxis unbrauchbar wird. Arbeitsbeziehungen und Lebensverhältnisse vor dem Hintergrund von Kollaboration in den besetzten Gebieten
zu untersuchen, ist ein wissenschaftlich anspruchsvolles Forschungsprogramm,
in dem Zwangsarbeit dann tatsächlich nur ein Teilbereich darstellen würde.
Während Penter den sowjetischen Arbeitskräften im Donbass zugesteht, als
Zwangsarbeiter gelten zu können, »zumindest wenn es um die öffentliche Anerkennung erlittenen Unrechts und dessen Entschädigung geht«,24so scheint dem
Dieter Pohl in einem jüngsten, im Begleit band zur Ausstellung Zwangsarbeit.
Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg enthaltenen Aufsatz zu widersprechen, indem er im besetzten Europa lediglich drei Typen von Zwangsarbeit
unterscheidet: »die Ar beiten f ür das de utsche Militär, die Zwa ngsarbeit von
Juden und die Ar beit mit S trafcharakter«.25Damit stel lt sich indes die F rage,
ob es sic h bei der Ar beit im S teinkohlenbergbau, in der L andwirtschaf t, im
Handwerk und in Haushalten in den besetzten Gebieten nic ht um Zwangs arbeit gehandelt hat? Eine Eingrenzung auf die vorgeschlagenen Typen von
Zwangsarbeit ist mithin kaum dazu g eeignet, den Begr iff zu klären. Hilfreicher scheint demgegenüber eine Definition zu sein, die Jens-Chr istian Wagner im selben Begleitband anbietet: »Jenseits der individuellen Erfahrung jedes
einzelnen Arbeiters ist im Folgenden von Zwangsarbeit die Rede, wenn die
Arbeit gegen den Willen der Beschäftigten mit außerökonomischen Zwangsmaßnahmen durchgesetzt wurde.«26Bemerkenswert an dieser Definition ist
zunächst für historische – im Unterschied zu juristischen – Betrachtungen, daß
die individuelle Erfahrung der Betroffenen, wie sie sich in Autobiographien und
23Penter, Zwischen Hunger, Terror und einer »glücklichen Zukunft«, 2005, S. 466.
24Ebenda.
25Pohl, Zwangsarbeit im besetzten Europa, 2010, S. 204.
26Wagner, Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, 2010, S. 180.
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Einleitung
anderen Erinnerungsschriften, persönlichen Dokumenten, Zeugenaussagen und
Interviews niederschlägt, von entscheidender Bedeutung ist. Wenig hilfreich ist
hingegen die Begrenzung auf außerökonomische Zwangsmaßnahmen, kommt
doch i n vie len Z eugnissen z um Ausdruck, wie sta rk sic h g erade im b esetzten Osteuropa ökonomische Zwänge und deutsc he Hungerpolitik bemerkbar
gemacht haben.
In dieser S tudie wird demgegenüber der Zwangsar beits-Begriff verwendet,
den die Inter nationale Ar beitsorganisation in ihr em Ü bereinkommen über
Zwangs- und Pflichtarbeit aus dem Jahr e 1930 f estgelegt hat: »Als ›Zwangsoder Pflichtarbeit‹ im S inne dieses Ü bereinkommens gilt jede Ar t von Arbeit
oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe
verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat.«27
Diese Definition erlaubt es, mit einem Begriff die Zwangsarbeit in den besetzten
Gebieten wie im Deutschen Reich in historischer Weise zu analysieren und zu
interpretieren. Deportation stellt keine notwendige Bedingung für Zwangsarbeit
dar, noch ist eine Eingr enzung auf Typen von Zwangsarbeit notwendig. Konstituierend sind vielmehr Strafandrohung und Unfreiwilligkeit. Bemerkenswert
ist f erner, daß das Ü bereinkommen einen spe ziellen Artikel zum beso nderen
Schutz von nicht-erwachsenen sowie älteren Personen beinhaltet: »Nur erwachsene, arbeitsfähige Personen männlichen Geschlechtes, die offenbar nicht unter
achtzehn und nicht über fünfundvierzig Jahre alt sind, dürfen zu Zwangs- oder
Pflichtarbeit herangezogen werden.«28
Als Kinder zwangsarbeiter im S inne dieser Definition w erden P ersonen
angesehen, die bei Antritt ihrer Arbeit das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet
hatten. Damit folgt die Studie der international anerkannten Altersbegrenzung
für Kinder, wie sie beispielsw eise in der Convention on the Rights of the Child
der Vereinten Nationen von 1989 niedergelegt wurde (Ar t. 1).Die Altersbe grenzung auf 18 Jahre korrespondiert zudem mit entsprechenden Diskussionen
der UNRRA aus den ersten Nachkriegsjahren29sowie mit den Bestimmungen
des deutschen Wehrgesetzes von 1935,die eine Wehrpflicht »vom vollendeten
27Internationale Arbeitsorganisation, Übereinkommen über Zwangs- oder Pflichtarbeit
(Übereinkommen 29), 1930, Art. 2, Abs. 1.
28Ebenda, Art. 11, Abs. 1.
29UN S-0401-0002-03, For discussion with Col. S chottland, CDH, 4.9.1945, sowie
UNRRA Central HQ for Germany, US Army, Zone Conference, 2.2.1946.
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Kinderzwangsarbeit – eine statistische Annäherung
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18. Lebensjahre bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden
31. März« vorsah (Abschn. II, § 4).
Kinderzwangsarbeit – eine statistische Annäherung
Obgleich die inner halb des deutsc hen Reichsgebietes geleistete Zwangsarbeit
zu den am meisten er forschten Gebieten der deutsc hen Geschichte zählt, ist
die genaue Zahl der Zwangsar beiter nach wie v or unbekannt. Die in A nlehnung an Ulrich Herbert häufig genannte Zahl von 7,6 Millionen ausländischen
Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen gibt lediglich den im August 1944 offiziell
ermittelten Stand im Deutschen Reich wieder.30Die Angabe umfaßt nicht die
nach August 1944 nach Deutschland verschleppten Arbeitskräfte, darunter die
Deportierten des Warschauer Aufstandes sowie die im Rahmen des deutschen
militärischen Rückzugs aus Osteur opa erfolgten sogenannten Evakuierungen,
die Babette Quinkert allein für die Sowjetunion auf knapp 1,5 Millionen bezifferte.31Sie beinhaltet zudem nicht diejenigen, die während der Zwangsarbeit in
Deutschland gestorben sind oder ermordet wurden – von Mark Spoerer auf etwa
490.000 geschätzt32 – sowie die sicherlich wesentlich geringere Zahl derjenigen,
die aus der Zwangsarbeit haben fliehen können oder nach Hause zurückkehren
durften.
Unter den 7,6 Millionen im August 1944 in Deutschland ermittelten ausländischen Arbeitskräften befanden sich 1,9 Millionen Kriegsgefangene und 5,7 Millionen Zivilarbeiter, wobei Sowjets und Polen mit 2.126.753zw.
b 1.659.764 Zivil­
arbeitern die größten Gruppen darstellten (die Zahl der beschäftigten Kriegsgefangenen beider Länder betrug zu diesem Zeitpunkt 631.55
9 bzw. 28.316).Der
Anteil der Frauen unter den Arbeitskräften belief sich für die Sowjetunion auf
51,1 % und für Polen auf 34,4 %.33Somit war, wie Ulrich Herbert feststellte, der
Frauenanteil bei denjenigen Ausländergruppen am höchsten, die am niedrigsten
in der »politisc hen und r assistischen Hierarchie der N azis« standen. Mit gut
2 Millionen mußten die meisten zivilen Zwangsarbeiter im Deutschen Reich in
30Herbert, Fremdarbeiter, 1985, S. 271.
31Quinkert, Terror und Propaganda, 1999, S. 704 f.
32Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001, Tabelle, S. 222.
33Zum folgenden: Herbert, Fremdarbeiter, 1985, S. 270–272.
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der Landwirtschaft arbeiten, wo der Ausländeranteil im August 1944 bei 46,4 %
lag, sowie in der metallverarbeitenden Industrie (knapp 1,4 Millionen oder 30 %).
Wesentlich höhere Z ahlen als bei Her bert finden sich bei Mar k S poerer,
der von insgesamt 13,5 Millionen zwischen 1939 und 1945 im Großdeutschen
Reich eingesetzten ausländischen Zivilarbeitern, Kriegsgefangenen und KZHäf tlingen ausg eht, dar unter 4,6 Millionen Kr iegsgef angene, 8,4 Millionen
Zivilarbeiter und 1,7 Millionen KZ-Häftlinge (bei etwa 1,1 Millionen Doppel­
erfassungen). Die Zahl der Polen unter den 8,4 Millionen Zivilarbeitern bezifferte Spoerer auf 1,6 Millionen, von denen 1,47 Millionen den Kr ieg überlebten; die Zahl der Sowjetbürger gab er mit 2,775 Millionen an (2,525 Millionen).
Spoerer wies zudem dar auf hin, daß in der Entsc hädigungsdebatte der 1990er
Jahre unterschätzt wurde, wie viele der ehemalig en Zwangsarbeiter zu diesem
Zeitpunkt noch lebten, was vor allem an der Unkenntnis über das jung e Alter
insbesondere der osteuropäischen Zwangsarbeiter lag. Auf der Basis von Meldedaten und Lohnlisten konnte er eine Annäherung an das Alter einiger Zwangsarbeitergruppen erstellen. Der Mittel wert der Gebur tsjahre betr ug demnach
bei den männlic hen sowjetischen Arbeitern 1920,bei den w eiblichen 1923;bei
männlichen KZ-Häftlingen lag er bei 191
8, bei weiblichen bei 1920.34Männliche
Zwangsarbeiter und ar beitende männliche KZ-Häf tlinge waren demnach im
Durchschnitt um einige Jahre älter als weibliche.
Spoerers Berechnungen weiter folgend, waren von den männlichen Sowjets
38 % zwischen 1923 und 1927 und 3 % zwischen 1928 und 1932 geboren; bei den
weiblichen war en es 56 % b zw. 3 %.35Geht man v on einer Gesamtz ahl v on
2,775 Millionen Ar beitskräf ten aus der UdSSR und einem F rauenanteil von
49,3 % aus, so bedeutet dies, daß 534.632 Arbeiter zwischen 1923 und 1927 geboren waren sowie 42.208 zwischen 1928 und 1932; bei den Arbeiterinnen waren es
766.122 bzw. 41.042. Insgesamt gehörten demnach 1.300.754 sowjetische Arbeitskräfte den Geburtsjahrgängen 1923 bis 1927 wie
so 83.250 den Geburtsjahrgängen
1928 bis 19
32 an. Leider finden sich bei Spoerer keine näheren Angaben über die
Verteilung der Kräfte auf die einzelnen Jahrgänge.
Einen Anhaltspunkt hierfür bietet allerdings eine von Galina Knatko publizierte Graphik, die auf einem S ample von 2.802 nach Weißrußland zurückge-
34Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001, S. 222 f.
35Ebenda.
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kehrten Zwangsarbeitern basiert.36Sie verdeutlich, daß die Geburtenjahrgänge
1926 und 1927 bei weitem dominierten und knapp 20 % der R ückkehrer den
Geburtsjahrgängen 1929 bis 1932 angehörten (zum Vergleich: bei Spoerer waren
es 3 % für alle sowjetischen Arbeitskräfte). Die Unterschiede deuten darauf hin,
daß aus dem erst im Sommer 1944 von der Roten Armee befreiten Weißrußland
in einem w esentlich stärkeren Umfang als aus der U kraine und aus R ußland
jüngere Kinder deportiert wurden. Dies entspricht der allgemeinen, aus Dokumenten und Inter views gespeisten Annahme, daß das Alter der Depor tierten
im Lauf e des Kr ieges abnahm. Hinzu kamen einige spe zielle Deportationsprogramme f ür jüng ere w eißrussische Kinder, die erst mit der so wjetischen
Juni-Offensive 1944 eingestellt wurden.37Trotz dieser Einschränkungen weisen
Knatkos Angaben darauf hin, daß Spoerers Schätzungen für die Geburtenjahrgänge ab 1929 möglicherweise zu niedrig angesetzt sind, wobei die Diskrepanz
darauf zurückzuführen sein könnte, daß Kinder unter zwölf Jahren nicht in die
deutschen Melde- und Lohnlisten aufgenommen wurden.38
Zieht man weiter in Betracht, daß die meisten Arbeitskräfte aus der UdSSR
1943 nach Deutschland deportiert wurden, so hatte viel leicht eine Million von
ihnen zum Z eitpunkt der Depor tation das a chtzehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet. Diese Einsc hätzung wird durch so wjetische Repatr iierungszahlen
gestützt, nach denen bis A nfang Oktober 1945 5,2 Millionen Personen in die
UdSSR zurückkehrten, darunter 600.000 Kinder unter 16 Jahren39 – eine Zahl,
die sich in etwa mit dem Mitgliederbestand der Vereinigung der ehemaligen
minderjährigen Gefangenen des F aschismus in den GUS-S taaten dec kt, die
Gisela Schwarze im Jahr 2005 mit 550.000 bezifferte.40Zu berücksichtigen ist
hierbei, daß sich die sowjetischen Angaben nur auf diejenigen Kinder bezogen,
die bei ihrer Rückkehr 1945 das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, und
nichts über das Deportationsalter aussagen. Allerdings wurden auch Kinder mitgezählt, die in Deutschland geboren oder zusammen mit Familienangehörigen
verschleppt worden waren. Die älteren unter ihnen mußten oftmals gemeinsam
36Knat’ko, Die Verschleppung weißrussischer »Ostarbeiter« zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich, 2003, S. 20.
37Vgl. Kap. 2.6.
38Schwarze, Die Sprache der Opfer, 2005, S. 8.
39Stelzl-Marx, »Die Heimat wartet auf Euch …«, 2003, S. 46.
40Schwarze, Die Sprache der Opfer, 2005, S. 8.
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Einleitung
mit ihren Eltern ar beiten, während die jüng eren Ar beiten im Wohnlager zu
verrichten hatten.41
Obgleich Spoerer keine vergleichbaren Zahlen für polnische Zwangsarbeiter
angibt, deuten die zur Verfügung stehenden Angaben darauf hin, daß sich die
Gesamtzahl der polnischen und sowjetischen Kinderzwangsarbeiter im Deutschen Reich um die 1,5 Millionen bewegt haben dürfte.42
Allgemein kann davon ausgegangen werden, daß das Alter der aus Osteuropa
nach Deutschland deportierten Menschen im Laufe des Krieges abnahm. Dies
hing unter anderem mit den demographischen Gegebenheiten in der Sowjetunion zusammen, wo Teile der ar beitsfähigen Bevölkerung zusammen mit den
Produktionsanlagen von den sowjetischen Behörden kurz nach Kriegsbeginn
nach Osten evakuiert wurden, während insbesondere Männer im wehrfähigen
Alter zur Roten Armee eingezogen wurden oder sich aus den unterschiedlichsten Gründen den Partisanen anschlossen. Rolf-Dieter Müller folgend, waren
etwa 25 Millionen Menschen aus den von deutschen Truppen besetzten Gebieten der S owjetunion geflüchtet oder e vakuiert worden, während 55 Millionen
Sowjetbürger unter deutsc her Besatzung leben m ußten.43In den besetzten
sowjetischen Gebieten blieb somit eine Bevölkerung zurück, in der die arbeitsund wehrfähigen Jahrgänge stark dezimiert waren, während das nationalsozialistische Deutschland insbesondere an diesen Jahrgängen ein wachsendes Interesse zeigte. Dies führ te, wie noc h zu z eigen sein wir d, letztendlich dazu, daß
bei den jahrgangsw eisen Selektionen und Depor tationen das Alter sukz essive
herabgesetzt wurde.44
Vom amer ikanischen Ric hter F rancis Bidd le in N ürnberg bef r agt, gab
Fritz S auckel, ab 21. März 1942 Generalbevollmächtigter für den Ar beitseinsatz (GBA), zu P rotokoll, daß »für die Ar beit Jugendliche unter dem g esetzlichen Alter von 14 Jahren nicht hereingebracht werden« durften und die über
14jährigen Jug endlichen f r eiwillig na ch Deutsc hland g ekommen seien. »Die
41Vgl. Kap. 3.3.
42Kirył Sosnowski zitiert Angaben des deutschen Arbeitsamtes in Ostrów, nach denen
der Anteil von Jugendlichen unter den Deportierten 10 % betrug. Sosnowski, The tragedy of children under Nazi rule, 1962, S. 138.
43Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft, 1991, S. 234.
44Vgl. Kap. 1.1 und 1.2.
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Arbeitsverwaltung«, so Sauckel, »sollte keine Jugendlichen, vor allem nicht die
Mädchen, zwangsweise, sondern freiwillig anwerben.«45Das deutsche Interesse
an jungen Arbeitskräften zeigt sich hingegen deutlich in einer Vielzahl zeitgenössischer Dokumente. Dazu zählt unter anderem Görings Anweisung an die
deutschen Ar beitsverwaltungen in P olen vom 16. November 1939, »die Her einnahme ziviler polnischer Arbeitskräfte, insbesondere polnische Mädchen in
größtem Ausmaß zu betreiben«.46
Über die Zwangsarbeit sowjetischer Bürger vor Ort informierte ein Rundschreiben des Wirtschaftsstabes Ost vom 4. Dezember 1941,das Generalleutnant
Rudenko 1946 in Nürnberg zitierte. Sein Inhalt ging auf eine geheime Sitzung
am 7. November 1941 in Berlin zurück, in dessen Anschluß Göring die Anweisung gab: »Die Russen sind vornehmlich beim Straßen- und Eisenbahnbau, bei
Aufräumungsarbeiten, Minenräumen und beim A nlegen von F lugplätzen zu
beschäftigen. Die deutschen Baubataillone sind weitgehend (Beispiel Luftwaffe)
aufzulösen, die deutschen Facharbeiter gehören in die Rüstung; Schippen und
Steineklopfen ist nic ht ihre Aufgabe, dafür ist der R usse da. […] Der R usse
gehört in erster Linie an folgende Arbeitsplätze (Rangordnung): Bergbau, Straßenbau, Rüstung (Panzer, Geschütze, Flugzeugzubehör), Landwirtschaft, Bauwirtschaft, Großwerkstätten (Schustereien), Sonderkommandos für dringende
Gelegenheits- und Notstandsarbeiten.«47
In ähnlicher Weise waren große Teile der polnischen Zivilbevölkerung seit
1939 zur Arbeit gezwungen worden. »Zwangsarbeit«, so Jens-Christian Wagner,
»spielte in den er sten Kriegsjahren vorwiegend außerhalb der R eichsgrenzen
eine entscheidende Rolle.«48Die von ihm genannte Zahl von mehr als 10 Millionen Zwangsar beitern in den besetzten Gebieten g eht auf eine S chätzung
Spoerers zurück, wobei allerdings unklar bleibt, welche Definition von Zwangsarbeit zugrunde gelegt wurde.49Ebenso ungewiß ist, wie Wagner zu der Schätzung gelangte, daß etwa 3 dieser 10 Millionen zu einem späteren Zeitpunkt nach
45Der Nürnberger Prozeß: Einhunder tdreiundvierzigster Tag. Freitag, 31. Mai 1946,
S. 164 f. Digitale Bibliothek Band 20: Der Nürnberger Prozeß, S. 18643 f. (NP Bd. 15,
S. 227 f.).
46Zit. nach: Herbert, Fremdarbeiter, 1985, S. 69.
47Der Nürnberger Prozeß: Vierundfünfzigster Tag. Freitag, 8. Februar 1946, S. 75. Digitale Bibliothek Band 20: Der Nürnberger Prozeß, S. 7441 (NP Bd. 7, S. 204–205).
48Wagner, Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, 2010, S. 184.
49Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001, S. 224 f.
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Deutschland deportiert wurden, wobei er die Gesamtz ahl der Zwangsar beiter
in- und außer halb des Deutsc hen Reiches mit 20 Millionen veranschlagte.50
Folgt man hing egen den A ngaben von Rolf-Dieter Mül ler, so war en bereits
Mitte 1942 im Besatzungsg ebiet 22 Millionen Einheimi sche »f ür deutsc he
Zwecke bzw. unter deutscher Aufsicht eingesetzt«, davon 20,8 Millionen in der
Landwirtschaft.51S auckel selbst gab im A pril 1943 an,daß in den besetzten
Gebieten 14 Millionen Arbeitskräfte »für deutsche Aufträge« arbeiteten52, ohne
näher zu erläutern, was damit gemeint war. Ebenso undifferenziert äußerte sich
Hans Frank, der für das ihm unterstehende Generalgouvernement schätzte, daß
dort »Zweidrittel der Be völkerung direkt oder indir ekt für die Inter essen des
Reichs arbeiteten«.53Bei einer Be völkerung von rund 12 Millionen wären das
etwa 8 Millionen. Hinzu kamen Zwangsarbeiter in den annektierten Gebieten
Polens, deren Zahl Spoerer für Ende September 1944 auf 750.000 Männer und
666.000 Frauen bezifferte.54Wie viele davon Kinder waren, bleibt unbestimmt.
Festzuhalten ist jedoch in diesem Zusammenhang, daß die polnische Bevölkerung demographisch recht jung war. In Warschau beispielsweise betrug 1931 der
Anteil der »Kinder und Jugendlichen bis zu 19 Jahren 32,3 % der Bevölkerung«
(377.700 Personen).55S chließlich ist zu ber ücksichtigen, daß Zwangsar beiter
auch in ander e Regionen des deutsc hen Besatzungsg ebietes depor tiert wur den, was die Schwierigkeiten erhöht, zu verläßlichen Schätzungen zu gelangen.
Einen Anhaltspunkt liefert indes ein S chreiben Rosenbergs vom August 1944,
in der er eine Z ahl von 2 Millionen in den besetzten Gebieten besc häf tigten
»Ostarbeitern« nannte.56
Folgt man der Definition der Inter nationalen Ar beitsorganisation, die
Zwangsarbeit als »jede Ar t von Arbeit oder Dienstleistung, die von einer Person unter Androhung irgendeiner Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht
freiwillig zur Verfügung gestellt hat« versteht, so liegt die Vermutung nahe, daß
es sich bei großen Teilen der arbeitenden Bevölkerung der besetzten Gebiete um
50Wagner, Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, 2010, S. 180.
51Müller, Die Zwangsrekrutierung von »Ostarbeitern«, 1989, S. 774.
52BA-MA R W 41/30, A uszug aus den A usf ührungen des Gauleiters S auckel am
15.4.1943.
53Schenk, Hans Frank, 2006, S. 214.
54Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, 2001, S. 49 f.
55Szarota, Warschau unter dem Hakenkreuz, 1985, S. 100.
56BA R 6/358, Rosenberg an die obersten Reichsbehörden, August 1944.
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Zwangsarbeiter gehandelt hat. Dies würde im Einklang mit zahlreichen nationalsozialistischen Quellen stehen, die immer wieder die »totale Mobilisier ung
der Kräftereserven in den besetzten Gebieten« forderten, was sich sowohl auf die
Deportationen nach Deutschland als auch auf den »Einsatz der Arbeitskräfte in
den besetzten Gebieten« bezog.57
57Z. B. ZSU 3206-1-17, Manifest des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz
an alle Dienststellen des Ar beitseinsatzes und der Reic hstreuhänderverwaltung im
Großdeutschen Reich, in den befreundeten Staaten und in allen von deutschen Truppen besetzten Gebieten Europas, 20.4.1943.
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