Meine Geschichte 1. Verfolgt von den Nazis

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Meine Geschichte
1. Verfolgt von den Nazis: Volkmar Gabert
Ein Film von Gabriele Trost & Karola von Raven
Beitrag: Volker Eklkofer & Simon Demmelhuber
Inhalt
Volkmar Gabert (1923-2003) war einer der erfolgreichsten bayerischen SPD-Politiker des 20.
Jahrhunderts. Als Fraktionsvorsitzender im Landtag (1962-1976) und SPD-Landeschef (19631972) war er im CSU-dominierten Freistaat ein
hoch angesehener Oppositionspolitiker. Unter
seiner Führung errangen die Sozialdemokraten
1966 mit fast 36 Prozent ihr bestes Landtagswahlergebnis.
Harte Jahre im Exil
Gabert stammte aus einer nordböhmischen Lehrerfamilie und wurde schon früh in der sudetendeutschen Sozialdemokratie aktiv. Nach dem
Einmarsch deutscher Truppen musste der junge
Gabert mit seiner Familie 1938 aus dem Sudetenland fliehen. Gabert emigrierte nach Großbritannien. 1946 kam er nach Bayern, in seine sudetendeutsche Heimat konnte er nicht mehr zurückkehren.
In der Sendung berichtet Volkmar Gabert über
seine Jugendzeit im Sudetenland. Er erzählt vom
Kampf der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) gegen die von Hitler-Deutschland
gesteuerte Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins, von den wachsenden Spannungen zwischen der deutschen Minderheit und der tschechoslowakischen Regierung, vom Einmarsch
deutscher Truppen ins Sudetenland und von seiner abenteuerlichen Flucht über Polen nach Eng© Bayerischer Rundfunk
land, wo er sich als Landarbeiter und Eisendreher durchschlagen musste.
Ein sudetendeutscher Sozialdemokrat
in Bayern
Deutlich wird, dass das Leben Gaberts von der
Kinder- und Jugendorganisation der Sozialdemokratie geprägt wurde. Die Flucht vor den Nazis,
die Erfahrungen im Exil, der Verlust der Heimat
und der Neuanfang in Bayern machten Gabert zu
einem pragmatischen Sozialdemokraten, der keine Probleme hatte, eng mit politischen Gegnern
wie Franz-Josef Strauß zu kooperieren. Gabert
war einer der Politiker, die die Bundesrepublik
Deutschland aufbauten, ein Mann, für den „parteiübergreifende Zusammenarbeit“ keine leere
Formel war.
Fakten
Jugendjahre im Sudetenland
und Exil in Großbritannien
Volkmar Gabert wurde am 11. März 1923 in
Dreihunken (heute Drahunky) nahe Teplitz-Schönau im Sudentenland geboren. Sein Vater, ein
Sozialdemokrat, war Lehrer und Bürgermeister
der Gemeinde. Das Sudetenland gehörte damals
zur Tschechoslowakischen Republik (CSR).
Gabert besuchte die Volksschule und die Realschule in Teplitz-Schönau. In den 1930er Jahren,
als der junge Gabert in der sozialistischen Arbei1
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terjugend politisch aktiv wurde, verschärften sich
die Spannungen zwischen der tschechischen
Mehrheitsbevölkerung und der deutschen Minderheit. Unter ihrem Vorsitzenden Wenzel
Jaksch führten die Sozialdemokraten einen fast
aussichtslosen Kampf sowohl gegen die starrköpfig-nationalistische Politik des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš, wie auch
gegen den immer stärker werdenden Nationalismus der Sudetendeutschen und gegen die Einflussversuche des Nachbarn Hitler-Deutschland.
Im Oktober 1933 hatte Konrad Henlein, ein
ehemaliger Bankangestellter und Verbandsturnwart des Sudentendeutschen Turnverbandes, anstelle der in der Tschechoslowakei verbotenen
NSDAP die Sudetendeutsche Heimatfront gegründet, die 1935 ihren Namen in Sudetendeutsche Partei (SDP) änderte. Die SDP, die geheime finanzielle Unterstützung aus dem Deutschen
Reich erhielt, forderte eine weitreichende Autonomie für die sudetendeutsche Minderheit im
Rahmen des tschechoslowakischen Staates und
verlangte bald auch die Umwandlung der Tschechoslowakei in einen Bundesstaat nach dem
Muster der Schweiz. Bei den Parlamentswahlen
1935 gewann die SDP 44 Sitze und vertrat damit
etwa zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung. Hitler, dem an einer Verschärfung der ethnischen Spannungen in der CSR gelegen war,
konnte die Auseinandersetzungen zwischen der
sudetendeutschen Minderheit und der tschechoslowakischen Regierung über die SDP von innen
her beeinflussen.
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tschechische Regierung war auf der Münchner
Konferenz nicht einmal vertreten. Am 1. Oktober
1938 überschritten deutsche Truppen die Grenzen der tschechoslowakischen Republik und besetzten in den nächsten Tagen 28.000 qkm, ein
Fünftel des Staatsgebietes der CSR. Die Masse
der Sudetendeutschen reagierte mit Begeisterung.
Der deutschen Wehrmacht folgten Gestapo und
SS. Schnell war die politische Minderheit der sudetendeutschen Sozialdemokraten und Kommunisten ausgeschaltet, ca. 2.500 Personen wurden
ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert.
Führende Sozialdemokraten wie Wenzel Jaksch
flohen nach Prag, auch Volkmar Gabert und seine Familie konnten sich absetzen. Die Geflohenen gründeten die „Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten“. In Prag blieb ihnen nur eine kurze Schonfrist, denn im März
1939 besetzte Hitler das, was von der Tschechoslowakei übrig geblieben war. Viele sudetendeutsche Antifaschisten retteten sich über die polnische Grenze. Wenzel Jaksch floh auf Schneeschuhen über die Beskiden. Der 16-jährige Volkmar Gabert nahm den letzten Zug, der von Prag
in Richtung Polen fuhr. Im Film berichtet Gabert,
dass der Zug kurz vor der Grenze von SS-Männern gestoppt wurde. Ein Engländer, der die
Flüchtlinge begleitete, stieg aus und berichtete
dem SS-Führer, in dem nach Polen fahrenden
Zug befänden sich lauter Juden. Froh darüber,
die Juden aus dem Land zu bekommen, gab der
SS-Offizier die Erlaubnis zur Weiterfahrt. Gabert
war gerettet.
Die sudetendeutschen Sozialdemokraten schlossen sich wie die Kommunisten den kompromisslosen Autonomieforderungen der SDP nicht an.
Während die Henlein-Bewegung zunehmend erstarkte, verloren die Sozialdemokraten an Boden. Im März 1938 – die österreichische Regierung hatte sich dem deutschen Druck gebeugt,
Österreich kehrte „heim ins Reich“ - verweigerten
sich alle sudentendeutschen Parteien einer Zusammenarbeit mit der tschechoslowakischen Regierung. Nur die sozialdemokratische Partei blieb
in der Regierungskoalition, sie wollte nicht den
Bruch, sondern einen Ausgleich.
Über Polen gelangte Volkmar Gabert nach Großbritannien. Die Parteileitung der sudetendeutschen Sozialdemokraten ließ sich in London nieder, wo sie versuchte, bei der tschechoslowakischen Exilregierung die Interessen der Sudetendeutschen zu vertreten. Auf den jungen Volkmar
Gabert kamen harte Jahre im Exil zu. Er arbeitete in der Landwirtschaft, wurde Monteur und Eisendreher. Als Volkmar Gabert 1940 in London
gefragt wurde, wie er sich fühle, antwortete er:
„Dankbar und unglücklich!“ – dankbar, weil er
von den Briten aufgenommen wurde, unglücklich, weil er nichts für seine Heimat tun konnte.
1938 war der Kampf verloren. Adolf Hitler, Italiens Diktator Mussolini, der britische Premierminister Chamberlain und der französische Ministerpräsident Daladier schlossen am 29. September 1938 das Münchner Abkommen, das die
Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an
Deutschland und den Einmarsch der Wehrmacht
in diese Gebiete international legitimierte. Die
Politisch blieb Gabert weiter aktiv. Er wurde in
den Exilvorstand der sudetendeutschen Sozialdemokraten gewählt und musste mit ansehen,
wie der frühere tschechoslowakische Staatspräsident und starke Mann der Exilregierung, Edvard
Beneš, die sudetendeutschen Hitler-Gegner ausschaltete. Schon kurz nach Kriegsbeginn hatte
Beneš Pläne für eine groß angelegte Vertreibung
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der Deutschen entworfen. Das erfuhren die ExilSudetendeutschen, die vom britischen Außenministerium zunächst als Partner anerkannt worden
waren, im Jahre 1942. Beneš machte Wenzel
Jaksch, Volkmar Gabert und ihren Mitstreitern
klar, dass nach einem Sieg der Alliierten für sie
kein Platz in der Tschechoslowakei mehr sein
werde.
Zunächst lavierte das britische Außenministerium noch und brachte die Umsiedlung von „nur“
einigen hunderttausend Sudentendeutschen
nach dem Krieg ins Spiel, um die sudetendeutsche Minderheit zu verringern. Schließlich gaben
die Briten dem tschechoslowakischen Exilpräsidenten, der sich Rückendeckung beim sowjetischen Diktator Josef Stalin holte, freie Hand.
Am 2. Dezember 1942 erklärte Beneš, ein
Selbstbestimmungsrecht für die Sudetendeutschen würde das Recht auf Selbstbestimmung
von zehn Millionen Tschechoslowaken zerstören
und die Existenz eines unabhängigen tschechoslowakischen Staates unmöglich machen. Im Januar 1943 brach die Exilregierung endgültig mit
den sudetendeutschen Exilpolitikern, die sich
weigerten, einer millionenfachen Vertreibung ihrer Landsleute zuzustimmen. Beneš warf ihnen
vor, aus internen tschechoslowakischen Angelegenheiten einen internationalen Streitfall machen
zu wollen. Deshalb seien Wenzel Jaksch und
seine Anhänger von nun an als „Landesverräter“
zu betrachten. Ihrer politischen Einflussmöglichkeiten beraubt, konnten die Sozialdemokraten
nur noch versuchen, das Interesse der Welt an
der sudetendeutschen Frage wach zu halten.
Volkmar Gabert stellte sich der US-Armee als
Übersetzer zur Verfügung. 1946 kam er nach
Bayern und siedelte sich in München an. In seine
Heimat konnte er nicht mehr zurückkehren. Hier
lief die Vertreibung der Sudetendeutschen bereits auf Hochtouren. Sudetendeutsche Demokraten waren Edvard Beneš dabei natürlich im
Weg.
Der sozialdemokratische Brückenbauer
In den ersten Nachkriegsjahren stand für den
SPD-Mann Volkmar Gabert das Schicksal der
Vertriebenen im Zentrum der politischen Arbeit.
Sein Versuch, in den Bundestag gewählt zu werden, scheiterte 1949. Ein Jahr später wurde er
bayerischer Juso-Vorsitzender (bis 1957). Außerdem erhielt er 1950 ein Landtagsmandat und war
damit jüngster Abgeordneter im Maximilianeum.
Dem Landtag gehörte er von 1950 bis 1978 an.
Neben der Vertriebenenpolitik widmete sich Ga© Bayerischer Rundfunk
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bert vor allem der Landesplanung, dem sozialen
Wohnungsbau, dem Verkehrs- und Schulwesen.
1962 übernahm er von Wilhelm Hoegner den
Vorsitz der SPD-Landtagsfraktion, die er bis
1976 führte. Im Oktober 1963 wurde er zum Vorsitzenden der bayerischen SPD gewählt, 1964
kam er in den Bundesvorstand seiner Partei.
Unter Volkmar Gabert erreichte die SPD in Bayern Wahlergebnisse, von denen sie heute nur
noch träumen kann. Bei der Landtagswahl 1966
erzielte sie mit 35,8 Prozent das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Gabert ließ sich 1971
noch einmal zum bayerischen SPD-Chef wählen,
gab sein Amt aber im Mai 1972 an Hans-Jochen
Vogel ab.
Als Gabert die bayerische SPD führte, gehörten
zahlreiche Sudetendeutsche der Partei an, auch
in Spitzenpositionen waren sie stark vertreten. In
Bayern nannte man die SPD zuweilen sogar den
„böhmischen Wanderzirkus“. Gabert verkörperte
einen Flügel der Partei, den die Linken gern als
„königlich-bayerisch“ verspotteten – bürgerlich,
ohne Interesse am Klassenkampf, nicht auf das
bloße Gewinnen fixiert. In den 60er Jahren setzte sich Gabert dafür ein, die christliche Gemeinschaftsschule zur Regelschule zu machen. Zusammen mit dem CSU-Vorsitzenden Franz-Josef Strauß, der Widerstände in seiner Partei beseitigte, konnte das Projekt realisiert werden.
Gabert, der den Ruf eines integren Parlamentariers hatte, wirkte in den 70er Jahren
vor allem hinter den
Kulissen als Vermittler
bei
parteiinternen
Streitigkeiten.
1976
zog er sich auch vom
Fraktionsvorsitz
zurück, übernahm aber
das Amt des 2. Vizepräsidenten des Landtags.
1979 wurde Volkmar Gabert Abgeordneter des
Europaparlaments, dem er bis 1984 angehörte.
1986 übernahm er den Vorsitz der Seliger-Gemeinde, einem Zusammenschluss sudetendeutscher Sozialdemokraten. 1998 wurde Volkmar
Gabert Mitglied des Verwaltungsrates des
deutsch-tschechischen Zukunftsfonds.
Nach langer Krankheit starb Volkmar Gabert am
19. Februar 2003 in Unterhaching.
Gabert wollte stets Brücken über die Gräben des
Nationalismus bauen. Er bemühte sich um die
Versöhnung von Deutschen und Tschechen und
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trieb die politisch-gesellschaftliche Integration
der Sudetendeutschen in ihrer neuen Heimat
Bayern voran. Seine Landsleute mahnte er, der
Versuchung zu widerstehen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, und riet zum deutschtschechischen Dialog.
An der Position, dass Vertreibung kein Mittel der
Politik sein darf, hielt Volkmar Gabert aber stets
fest. Bei tschechischen Hardlinern machte er
sich damit nicht beliebt. Sozialdemokraten wie
Volkmar Gabert passten nicht in das tschechische Wunschklischee vom rechtslastigen Sudetendeutschen. Vor allem zur Zeit des Kalten
Kriegs, aber auch nach der Wende, als die Debatte über die Beneš-Dekrete wieder hoch kochte, warf man sie in Prag gern mit „Revanchisten“
in einen Topf.
chem Gebiet tat sich viel. Wichtige Handelstraßen entstanden, darunter die bedeutende Route
von Straubing über Stallwang und Cham durch
die Furter Senke nach Taus in Böhmen. Währenddessen entwickelte sich das Territorium der
böhmischen Premysliden zu einer bedeutenden
dynastischen Macht im Reich. Kaiser Friedrich
Barbarossa verlieh dem Premysliden Wladislaw I. 1158 die Königswürde. Zu ersten Irritationen im böhmisch-bayerischen Verhältnis kam es,
als der Premyslidenkönig Ottokar (1253-1278),
der die Nachfolge des letzten Babenbergers in
Österreich, Friedrichs des Streitbaren (1246 im
Kampf gegen die Ungarn gefallen), angetreten
hatte, Gebietsansprüche erhob, in der Oberpfalz
einfiel und 1251 Cham verwüstete. 1278 wurde
Ottokar schließlich von König Rudolf von Habsburg auf dem Marchfeld geschlagen.
Geschichte der deutschstämmigen
Bevölkerung in den
sudetendeutschen Territorien
Während sich in dieser Zeit die politischen Beziehungen zwischen Bayern und Böhmen spürbar abkühlten, fand auf kulturellem Gebiet ein reger Austausch statt und auch die Zuwanderung
nach Böhmen kam nicht zum Erliegen. Obwohl
die Sudetendeutschen heute als Bayerns vierter
Stamm bezeichnet werden, setzten sie sich zur
Zeit der Ostsiedlung (12. bis 14. Jahrhundert)
aus verschiedenen Gruppen zusammen, die
hauptsächlich aus Sachsen, Franken und Bayern
nach Böhmen kamen. Gerufen wurden die Siedler von einheimischen Landesfürsten oder Bischöfen, die Menschen für die spärlich besiedelten
gebirgigen
Randregionen
des böhmisch-mährischen Raums suchten, den Böhmerwald, das Erzgebirge und das Sudetengebirge.
Diese Regionen wurden erst im 20. Jahrhundert
zusammenfassend als das Sudetenland bezeichnet. Davon wurde wiederum die Bezeichnung
Sudetendeutsche abgeleitet.
Um etwa 60 v. Chr. wanderte der germanische
Stamm der Markomannen, aus der Maingegend
kommend, ins spätere Böhmen ein. Die keltischen Bojer verließen das Land und zogen nach
Noricum und Pannonien, dem heutigen Österreich und Ungarn. Im Zuge der Völkerwanderung
ließen sich im bayerisch-böhmischen Raum
neue Völkerschaften nieder. Nach dem Abzug
der Markomannen kamen gegen Ende des 6.
Jahrhunderts slawische Gruppen, darunter die
Tschechen, in Böhmen an. Die Slawen gerieten
bald in Konflikt mit den ebenfalls hereinströmenden Awaren. Mit Unterstützung des fränkischen
Kaufmanns Samo wurden die Awaren vertrieben, Samo stieg 623/624 zum König der Slawen
auf. Später geriet Böhmen unter die Kontrolle
des Großmährischen Reiches, das sich um 900
unter den Schlägen der Ungarneinfälle in einzelne Herrschaftsgebiete auflöste. König Otto I.
(ab 962 Kaiser) unterwarf im Jahre 950 den böhmischen Herzog Boleslaw I., der daraufhin die
Oberhoheit des Reiches anerkannte. Noch zu
Lebzeiten Boleslaws wurde das Tributverhältnis
Böhmens zum Reich in ein enges Lehensverhältnis mit Heeresfolge und Hoftagebesuch umgewandelt. 955 beteiligten sich die Böhmen mit einem eigenen Kontingent an der Ungarnschlacht
auf dem Lechfeld.
Die Beziehungen Böhmens zu Bayern wurden
allmählich intensiver: 973 wurde Prag unter Bischof Wolfgang von Regensburg zum Bistum
erhoben, Adelsfamilien beider Seiten betrieben
eine rege Heiratspolitik und auch auf wirtschaftli-
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Als Anreiz bot man den deutschen Zuwanderern
eine Reihe von rechtlichen Vergünstigungen an.
Vielen Städten, zum Beispiel Prag, Eger und
Brünn, wurden deutsche Stadtverfassungen,
meist die von Nürnberg oder Magdeburg, gewährt. Die deutschen Siedler führten neue Techniken ein und erhöhten die Wirtschaftskraft des
Landes erheblich, so dass die Steuereinnahmen
stiegen. Dadurch wurde Böhmen bereits unter
den Luxemburgern, die die Nachfolge der 1306
erloschenen Premyslidendynastie angetreten
hatten, zu einem der wirtschaftlich stärksten und
kulturell fortschrittlichsten Länder innerhalb des
deutschen Reichs.
Der bedeutendste Vertreter des Hauses Luxemburg in Böhmen war Karl (1347-1378), der Sohn
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des Königs Johanas von Böhmen, der 1355
zum deutschen Kaiser Karl IV. gekrönt wurde.
Seine Herrschaft wird als “goldenes Zeitalter
Böhmens” bezeichnet. In dieser Zeit wurde Prag
zum Erzbistum erhoben und die Prager Universität gegründet.
Tschechen und Deutsche lebten Jahrhunderte
lang in einer Völkersymbiose zweisprachig zusammen. Die nationale Betrachtungsweise war
dem Mittelalter und der frühen Neuzeit fremd.
Nicht nationale Unterschiede prägten das Denken der Menschen, sondern der Glaube und ihre
rechtliche Stellung. Das Zusammenleben von
Tschechen und Deutschen wurde auch durch die
Hussitenkriege, die auf die Verbrennung von Johannes Hus am 6.7.1415 auf dem Konzil von
Konstanz folgten, und unter denen auf bayerischer Seite die Oberpfalz und der Bayerische
Wald besonders zu leiden hatten, nicht übermäßig beeinträchtigt. Abgesehen von der Ausweisung deutscher Protestanten gilt dies ebenso für
die Ereignisse, die auf den Prager Fenstersturz
1618 folgten und die den Dreißigjährigen Krieg
auslösten.
Erst der durch die Französische Revolution aufgekommene Begriff der Nation als neuer
Grundlage des Staates statt eines völkerübergreifenden (böhmischen) Landesbewusstseins
trieb einen bleibenden Keil zwischen Tschechen
und Deutsche. Bis zum Beginn der nationalen
Erweckungsbewegung an der Wende vom 18.
zum 19. Jahrhundert “war es für einen sozial arrivierten Tschechen das Normale, dass er damit
auch in eine gesamtösterreichische, deutschsprachige Kulturgesellschaft eintrat, der tschechischen Nation somit weitgehend eine tschechische Intelligenz- und Führungsschicht mangelte
oder verloren ging. Genau dies aber war der
Punkt, an dem eine relativ kleine Gruppe nationaler ‘Erwecker’ (...) mit ihrer Propagierung einer
tschechischen Nationalkultur und einer erneuerten tschechischen Hochsprache einsetzten”
(Prinz, Friedrich. Deutsche und Tschechen - eine
Nachbarschaft mit Hindernissen. in: Bayerisches
Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung,
Familie, Frauen und Gesundheit, Hg. 50 Jahre
nach Flucht und Vertreibung. München 1995, S.
67).
Nationale Bestrebungen, die sich seit der Französischen Revolution in ganz Europa verbreiteten, wurden in den österreichischen Ländern, zu
denen Böhmen seit 1437 gehörte, durch Staatskanzler Fürst Metternich radikal unterdrückt.
Für die Tschechen wurde František Palacký zu
einem Vorkämpfer der Nationalbewegung. Als
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1848 die Revolution ausbrach, forderte ein von
Palacký einberufener Slawenkongress die Umwandlung Österreichs in einen Bundesstaat mit
voller Gleichberechtigung aller Völker. Ein damit
zusammenhängender Aufstand in Prag wurde
vom Militär zwar gewaltsam niedergeschlagen,
doch “was sich dann seit der Revolution von
1848 vollzog, war die schrittweise, manchmal
auch sprunghaft sich vollziehende politisch-gesellschaftliche wie kulturelle Trennung von
Tschechen und Deutschen auf Kosten der bohemistischen Gemeinsamkeiten” (Ibid.). Bei den
Tschechen entstand die Vision des nationalen
Wiederaufstiegs, bei den Deutschen machte sich
eine auf den Wiener Zentralismus fixierte Defensivideologie breit. Die politische Rhetorik radikalisierte sich auf beiden Seiten.
Nach der Revolutionsphase bemühte sich die
Wiener Regierung um eine Verständigung mit
den größten Nationen des Vielvölkerstaates:
1867 kam es zum österreichisch-ungarischen
Ausgleich. Um 1880 erlangten die Tschechen
anstelle der Deutschen die Mehrheit im böhmischen Landtag. 1902 kam dann der Name Sudetendeutsche für die in Böhmen lebenden Deutschen auf, in den österreichischen Kronländern
war hingegen von Deutschböhmen und
Deutschmährern die Rede. 1905 wurden die
Tschechen im Mährischen Ausgleich als dritte
dominierende Gruppe des Reichs anerkannt.
Gleichwohl strebten einflussreiche tschechische
Kreise hartnäckig die Zerschlagung der verhassten Habsburger Monarchie an.
Während des Ersten Weltkriegs desertierten
Zehntausende von Tschechen aus der k.u.k.-Armee und verursachten dadurch schwere österreichische Verluste an der russischen Front. Als
Tschechische Legion nahmen sie auf der Seite
der Alliierten am Ersten Weltkrieg teil. 1916 wurde ein tschechoslowakischer Nationalrat gegründet, der für einen selbständigen Staat kämpfte
und Kontakt mit den Alliierten aufnahm. Als der
Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn nach Kriegsende unter Berufung auf das von den Alliierten
propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker
zerschlagen wurde, gründeten tschechische Nationalisten am 28. Oktober 1918 mit massiver
Unterstützung Frankreichs und Englands die
Tschechoslowakei als Nationalstaat – tatsächlich aber wiederum einen Vielvölkerstaat.
Noch im selben Jahr besetzten die Tschechen
militärisch die sudetendeutschen Gebiete. Den
dort lebenden Menschen war das Selbstbestimmungsrecht verweigert worden. Auf der Pariser
Friedenskonferenz hatten die tschechoslowaki5
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schen Delegierten u.a. versichert, dass die Deutschen dieselben Rechte wie die Tschechoslowaken erhalten würden, die deutsche Sprache würde zweite Landessprache sein, man würde sich
niemals irgendeiner Unterdrückungsmaßnahme
gegen den deutschen Bevölkerungsteil bedienen,
das Regime würde ähnlich dem der Schweiz
sein. Über drei Millionen Deutsche wurden so zu
Bürgern des neuen Staates. Sie selbst wollten
mehrheitlich Bürger des Deutschen Reiches bzw.
Deutschösterreichs sein.
Von der tschechischen Staatsgründung bis
zum Anschluss an NS-Deutschland
Die Tschechen, mit sieben Millionen Menschen
stärkste Bevölkerungsgruppe, dominierten im
neuen Staat, während mehr als drei Millionen
Sudetendeutschen und 1,5 Millionen Ungarn die
versprochene Gleichberechtigung verweigert
wurde. Die Errichtung einer Provinz Deutschböhmen wurde nicht zugelassen. Die im Februar
1920 verabschiedete Verfassung entstand ohne
Mitwirkung der Minderheiten, doch an den ersten
Parlamentswahlen im Frühjahr 1920 nahmen die
mittlerweile gegründeten deutschen Parteien teil.
Anlässlich der ersten Sitzung des Parlaments gaben die deutschen Abgeordneten folgende Erklärung ab: “Wir verkünden feierlich, dass wir niemals aufhören werden, die Selbstbestimmung
unseres Volkes zu fordern, dass wir dies als den
obersten Grundsatz aller unserer Maßnahmen
und unseres Verhältnisses zu diesem Staate,
den gegenwärtigen Zustand aber als unser unwürdig mit den Grundsätzen moderner Entwicklung unvereinbar betrachten”.
Da am Status quo nicht zu rütteln war, begannen
sich die Deutschen im ungeliebten Staat mehr
und mehr einzurichten. Eine nationale Distanz
aber blieb. Deutsche besuchten i.d.R. deutsche
Schulen und deutsche Universitäten, lasen deutsche Zeitungen und gingen in deutsche Theater
und Kinos. Die Nationalsprache ihres Landes,
Tschechisch, beherrschten viele nicht. 1926 traten erstmals deutsche Politiker in die Regierung
ein und hielten künftig an dieser Praxis fest. Bis
zum Frühjahr 1938 gab es stets deutsche Minister in den tschechoslowakischen Regierungen.
Gemäßigte Politiker, die für eine Zusammenarbeit mit dem tschechoslowakischen Staat eintraten, setzten sich bei den Wahlen in den Jahren
1925 und 1929 durch – sie erhielten mehr als 75
Prozent der deutschen Stimmen. Das bedeutet:
Die Masse der Sudetendeutschen entwickelte allmählich eine Art tschechoslowakisches Nationalgefühl und wollte die Politik aktiv mitgestalten.
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Doch die Regierungsparteien verweigerten den
Deutschen den Status eines zweiten Staatsvolkes und setzten weiterhin auf einen rigiden
Tschechisierungskurs. Politiker wie Präsident
Masaryk und Außenminister Beneš betrachteten
ihre Republik als tschechoslowakischen Nationalstaat, in dem die Deutschen nur eine zweitrangige “Gastrolle” spielten, weil sie angeblich als “Immigranten und Kolonisten” ins Land gekommen
waren. So wurde – um nur ein Beispiel zu nennen - geduldet, dass Deutsche, die in der Hauptstadt Prag auf der Straße ihre Sprache gebrauchten, Handgreiflichkeiten seitens der Prager tschechischen Bevölkerung ausgesetzt waren. Dennoch sollte man eines nicht vergessen:
Trotz aller Spannungen haben Deutsche und
Tschechen auch friedlich nebeneinander gelebt,
geheiratet und Familien gegründet.
Die Weltwirtschaftskrise traf vor allem die sudentendeutschen Gebiete mit ihrer Leicht- und Konsumgüterindustrie mit voller Wucht. Bis Mitte der
30er Jahre stieg die Arbeitslosigkeit in der deutschen Bevölkerung der Tschechoslowakei auf
über 20 Prozent. Zunehmend wuchs das Gefühl,
von der Prager Regierung im Stich gelassen zu
werden. Die Deutschen fühlten sich von Arbeitsbeschaffungsprogrammen und Staatsaufträgen
ausgeschlossen.
Das tschechisch-deutsche Verhältnis der Zwischenkriegszeit war daher von starken nationalen Spannungen beherrscht, die zum rasanten
Aufstieg der Sudetendeutschen Partei (SDP)
Konrad Henleins, einer national orientierten
deutschen Sammlungspartei, führten. Henlein,
populärer Verbandsturnwart des Sudetendeutschen Turnerverbandes, hatte 1933 die Sudetendeutsche Heimatfront gegründet, die sich zwei
Jahre später in Sudetendeutsche Volkspartei umbenannte. Im Jahre 1928, anlässlich des 10. Geburtstages der Tschechoslowakei, hatte es noch
berechtigte Hoffnungen gegeben, dass Deutsche
und Tschechen einen Modus vivendi finden
könnten. Bei den Wahlen im Jahr 1935 hatte
sich das Bild grundlegend gewandelt. Mehr als
1,2 Millionen Deutsche wählten die SDP, das
entsprach zwei Dritteln der für deutsche Parteien
abgegebenen Stimmen. Auf die Gefühlslage der
Deutschen verwies warnend auch der Sozialdemokrat Wenzel Jaksch – gewiss kein Freund
des NS-Regimes – 1936 in einer Parlamentsrede
in Prag: “Wir erklären ganz offen, dass die Benachteiligung der Deutschen im öffentlichen
Dienst, in der Sprachenfrage und in der ganzen
Verwaltung einen Grad erreicht hat, der allgemein als unhaltbar empfunden wird”. Die tsche-
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chische Bevölkerungsmehrheit scheint sich – mit
wenigen Ausnahmen – jedoch nicht für die Sorgen und Nöte der deutschen Mitbürger interessiert zu haben.
Die Ziele der SDP Henleins waren zunächst
recht maßvoll, indem sie sich auf die Forderung
nach innerstaatlicher Autonomie der Deutschen
in der Tschechoslowakei konzentrierten. Mit zunehmender finanzieller und ideologischer Abhängigkeit von der NSDAP wurde sie aber immer
stärker als Instrument zur Sprengung der Tschechoslowakei benutzt. Ab 1935 erhielt die SDP
insgeheim finanzielle Unterstützung vom „Dritten
Reich“ und wuchs zunehmend in die Rolle eines
ferngesteuerten Helfershelfers der NSDAP hinein. Nach und nach infiltrierte die SDP Organisationen der Sudetendeutschen (z.B. Sportvereine,
Kulturgruppen, Chöre) und wandelte sie NS-Zellen um. Ab 1937 begann die SDP ihre Forderungen immer mehr zu steigern. Bei einem Geheimtreffen am 28. März 1938 – kurz nach dem Anschluss Österreichs – einigten sich Hitler und
Henlein auf ein gemeinsames Vorgehen. Ihre
Strategie sah vor, grundsätzlich mehr zu verlangen, als von der tschechischen Seite gewährt
werden konnte. Paramilitärische Gruppen, die
Sudetendeutschen Freikorps, sollten Auseinandersetzungen provozieren und loyale Bürger der
Republik einschüchtern. Deutschland würde die
von Henlein inszenierte Krise mit militärischen
Drohungen begleiten und eine internationale Propagandakampagne für die “gequälte, von Völkermord und Vertreibung bedrohte deutsche Minderheit” starten.
Auf dem SDP-Parteitag im April 1938 legte Henlein die Karten auf den Tisch und forderte u.a.:
•
Aufbau einer Selbstverwaltung im deutschen
Siedlungsgebiet in allen Bereichen des öffentlichen Lebens.
•
Anerkennung und Durchführung des Grundsatzes: Im deutschen Gebiet deutsche öffentliche Angestellte.
•
Volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen – er
meinte nationalsozialistischen – Weltanschauung.
Bei den Gemeindewahlen im Mai 1938 erhielt
die SDP 90 Prozent aller deutschen Stimmen.
Als die Lage eskalierte, schickte Großbritannien
Lord Runciman im Sommer 1938 als Vermittler
in die Tschechoslowakei. Am 21.9.1938 lieferte
er seinen Schlussbericht ab. Darin heißt es: “Ich
kann den Eindruck nicht loswerden, dass die
tschechoslowakische Herrschaft im Sudetenland
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während der letzten 20 Jahre zwar nicht tyrannisch und bestimmt nicht ‚terroristisch‘, aber
doch gekennzeichnet war durch Tatenlosigkeit,
fehlendes Verständnis, kleinliche Unduldsamkeit
und Benachteiligung, bis der Punkt erreicht war,
an dem der Unwille der deutschen Bevölkerung
unvermeidlich revolutionäre Bahnen einschlug”.
Vor allem aber waren die Führungen Großbritanniens und Frankreichs nicht bereit, sich wegen
der sudetendeutschen Frage in einen Krieg verwickeln zu lassen. Auch die öffentliche Meinung
in den westlichen Staaten erkannte die deutschen Forderungen teilweise als berechtigt ab.
So kam es am 29. September 1938 schließlich
zum Münchner Abkommen, das die Abtretung
der sudetendeutschen Gebiete an Deutschland
und den Einmarsch der Wehrmacht in diese Gebiete international legitimierte. Die tschechische
Regierung unter Präsident Edvard Beneš war auf
der Münchner Konferenz nicht einmal vertreten.
Am 1. Oktober 1938 überschritten deutsche Verbände die Grenzen der tschechoslowakischen
Republik und besetzen das Sudetenland.
Nach dem Anschluss galten die NS-Rassengesetze auch im Sudetenland. Es kam zur Massenflucht der jüdischen Bevölkerungsteile, ihr Besitz
wurde “arisiert”. Nach der Volkszählung des Jahres 1930 lebten 27.073 Menschen jüdischen
Glaubens im Sudetenland, Ende 1938 waren es
noch 1.500 Personen, die in der Terrornacht des
9. November schwer zu leiden hatten. Schnell
war auch die politische Minderheit der Sozialdemokraten und Kommunisten ausgeschaltet, ca.
2.500 Personen wurden ins Konzentrationslager
Dachau eingeliefert. Im Sudetenland lebten noch
ca. 400.000 Tschechen, denen der öffentliche
Gebrauch ihrer Sprache untersagt wurde. Weil
ihre Arbeitskraft in der Rüstungswirtschaft benötigt wurde, unterblieb jedoch die von sudetendeutschen NS-Anhängern geforderte vollständige Germanisierung. In seinem Buch “Die Sudetendeutschen und der NS-Staat” kommt Volker
Zimmermann zu dem Schluss, dass bei einem
großen Teil der sudetendeutschen Bevölkerung
in den Jahren der Zugehörigkeit zum Reich mehr
und mehr Ernüchterung einsetzte. Die nach
Kriegsende einrückenden Tschechen wussten
davon allerdings nichts und haben auch heute
noch keine Kenntnisse darüber.
Dass es Hitler mit dem Anschluss weniger um
die Sache der Sudetendeutschen als um rücksichtslose Machtpolitik ging, beweist sein weiteres Vorgehen: Nach einem erpresserischen Ultimatum Hitlers erklärten die Slowaken am 14.
März 1939 ihre Unabhängigkeit von der Tschechoslowakei. In der folgenden Nacht eröffnete
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Hitler dem tschechischen Staatspräsidenten
Hacha, dass deutsche Truppen auf Prag marschierten. Von der Prager Burg aus proklamierte
Hitler am 16. März 1939 das Protektorat Böhmen und Mähren, das die Tschechen zu Vasallen des Dritten Reichs machte. Dem Terror des
deutschen Überwachungsapparates ausgeliefert,
wurden Zehntausende Tschechen Opfer der Willkür, insbesondere des stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich. Dieser erlag einem von Exiltschechen organisierten und von
tschechischen Fallschirmspringern am 27. Mai
1942 verübten Attentat. Bis zum 1. September
1942 wurden von Standgerichten in Prag und
Brünn 1.357 Tschechen zum Tode verurteilt und
erschossen, darunter hohe Beamte, Offiziere,
Professoren, Ärzte, Geistliche und Studenten.
Schon am 10. Juni waren alle 192 Männer der
Ortschaft Lidice erschossen worden, dazu zwei
Frauen. Im Ort Lezaki, wo die SS den Geheimsender der Attentäter gefunden hatte, wurden 32
Menschen hingerichtet. Die Kinder von Lidice
und Lezaki wurden zu “rassischen Untersuchungen” verschleppt.
Flucht, Vertreibung und
Ausweisung der Sudetendeutschen
Es war der 1938 als Staatspräsident zurückgetretene Edvard Beneš, der als Chef der tschechoslowakischen Exilregierung in London die Vertreibung der Sudetendeutschen vorbereitete.
Schon das Münchner Abkommen war für ihn
Grund genug, Grenzveränderungen und Aussiedlungspläne vorzubereiten. Die Protektoratsherrschaft hatte in seinen Augen das über 800jährige Zusammenleben von Tschechen und
Deutschen endgültig zerrüttet. Am 6.7.1942
stimmte das britische Kriegskabinett der Annullierung des Münchner Abkommens zu und es
war bereits vom “allgemeinen Grundsatz des
Transfers von deutschen Minderheiten in Mittelund Südosteuropa nach Deutschland” die Rede.
Im Laufe des Kriegs wurden die Pläne dann immer wieder korrigiert von anfänglichen Überlegungen von der Minderung der Anzahl der Deutschen über die Abtretung kleiner Grenzgebiete
bis hin zum Konzept des Transfers der Gesamtheit der Deutschen Bevölkerung aus der wieder
entstandenen Tschechoslowakei. Zustimmung
kam nicht nur vom sowjetischen Diktator Josef
Stalin, dem Beneš seine Pläne 1943 erläuterte,
sondern auch von den Westalliierten. Verzweifelt
kämpften die exilierten demokratischen Sudetendeutschen um Wenzel Jaksch gegen die
Zwangsausiedlung, wurden aber von Beneš ausgebootet.
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Der “totale Krieg“ und das NS-Terrorregime hatten innerhalb des Reichsprotektorats während
der Jahre der deutschen Besetzung eine Gemengelage von Angst, Hass und Revancheempfinden entstehen lassen. Schon im Juli 1944, als
sich nach der geglückten Landung in der Normandie ein Sieg der Alliierten abzeichnete, entwickelte die Exilpolitikergruppe um Beneš Richtlinien für die tschechische Widerstandsbewegung, wie der Volkszorn in den ersten Tagen
nach der Befreiung für die Einschüchterung und
Vertreibung von Deutschen genutzt werden sollte. So kamen während des Prager Aufstandes
am 5. Mai 1945, wenige Tage vor Kriegsende,
zahlreiche Deutsche ums Leben. Tausende wurden in den kommenden Wochen von einem
tschechischen Mob ermordet. Mehr als 350.000
Deutsche wurden in Lager und Gefängnisse gesperrt.
Demütigungen, Vergewaltigungen und Morde bestimmten wochenlang das Leben der Deutschen,
die in ihrer Gesamtheit als Faschisten und Verbrecher galten. Etwas besser als die Situation
der Menschen in Mähren war die Lage jener
Deutschen, die in Nordböhmen, im Egerland
oder im Böhmerwald nahe den deutschen Grenzen wohnten. Die Fluchtwege nach Sachsen,
Thüringen und Bayern waren kürzer – und Westböhmen war bis Pilsen zunächst von der US-Armee und nicht der Roten Armee besetzt worden.
Für die in ihrer Heimat verbliebenen Deutschen
begann trotzdem eine Zeit des Leidens: Dem
blanken Hass der meisten Tschechen und der
Willkür ihrer Behörden ausgeliefert, wurden sie
u.a. gezwungen, weiße Armbinden zu tragen.
Im Zuge der wilden Vertreibungen verließen
bis Ende Juli 1945 etwa 750.000 Sudetendeutsche ihre Heimat. Bereits am 3. Juli hatte die
Prager Regierung den Alliierten den Plan einer
Aussiedlung der “großen Mehrheit” der Deutschen und Ungarn vorgelegt. Artikel XIII. des
Potsdamer
Abkommens
(2.8.1945)
sah
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schließlich vor, die deutsche Bevölkerung aus
Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei in
“ordnungsgemäßer und humaner Weise” nach
Deutschland zu transferieren. Schon am
3.8.1945 ordnete die tschechoslowakische Regierung die vollständige Vertreibung aller Deutschen an.
Sofort wurden Massentransporte organisiert. Oft
wurden Menschen in Viehwaggons gepfercht und
auf tagelange Bahnfahrten mit ungewissem Ziel
nach Deutschland geschickt. Winston Churchill, mitverantwortlich für die Vertreibung der
Deutschen aus dem Osten, hat die entsetzlichen
Vorgänge um Flucht und Vertreibung später als
humanitäre Tragödie bezeichnet. Bis Ende 1946
wurden etwa 1,2 Millionen Deutsche in die ameri-
kanische und ca. 800.000 in die sowjetische Besatzungszone abgeschoben. Mehr als 200.000
Deutsche bleiben in der Tschechoslowakei (z.B.
dringend benötigte Experten wie Bergleute, Chemiker etc., dazu Deutsche in Mischehen und
Menschen die per “Gnadenerlass” von der Ausweisung befreit waren). In den böhmischen Ländern enteignete der Tschechoslowakische Staat
2.400.500 Hektar Land, 3.900 Industriebetriebe
und 34.000 Gewerbebetriebe ohne Entschädigung.
Ausschlaggebend für eine Enteignung war die
“Nationalität” eines Besitzers, nicht die Staatsangehörigkeit. So waren auch “deutsche” Österreicher, Italiener (Südtiroler) und sogar Schweizer,
Belgier und Dänen von Enteignungen betroffen.
Didaktische Hinweise
Die Sendung ist für den GSE- und Geschichtsunterricht ab der 8. Jahrgangsstufe geeignet.
Mittelschule
GSE
8. Jahrgangsstufe
8.6 Demokratie und NS-Diktatur
9. Jahrgangsstufe
9.1.1 Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Realschule (R 6)
Geschichte
9.5 Totalitäre Herrschaft, Zweiter Weltkrieg und die Folgen
- Die Bilanz von Diktatur und Krieg: Opfer, Zerstörungen und Not / Verantwortung und Schuld
Gymnasium (G 8)
Geschichte
9. Jahrgangsstufe
9.1 Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
9.2 Blockbildung, deutsche Teilung und Ost-West-Konflikt
- Situation in Deutschland in Folge von Kriegsniederlage und bedingungsloser Kapitulation; Flucht
und Vertreibung
- Expansions- und Eroberungspolitik des „Dritten Reichs"; Zweiter Weltkrieg
- Resistenz und Widerstand
Lernziele
Die Schülerinnen und Schüler sollen
•
erfahren, dass Volkmar Gabert (1923-2003) ein bedeutender bayerischer SPD-Politiker war;
•
wissen, dass Gabert aus dem Sudetenland stammte und zusammen mit seiner Familie 1938 vor
den Nazis fliehen musste;
•
verstehen, dass Gabert im Exil in Großbritannien harte Jahre verbrachte und nach Kriegsende
nicht mehr in seine Heimat zurückkehren konnte;
•
hinterfragen, warum Gabert ungeachtet des Verlustes seiner Heimat stets für eine Versöhnung
von Deutschen und Tschechen eintrat.
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Anregungen und Arbeitsaufträge
Zum Verständnis der Sendung ist eine Einführung in die Geschichte der Sudetendeutschen sinnvoll.
Beobachtungsaufträge
Wie beschreibt Volkmar Gabert das Zusammenleben von Tschechen und Sudetendeutschen
während der 1930er Jahre in der Tschechoslowakei?
Warum entschloss sich die Familie Gabert 1938 aus dem Sudetenland nach Prag zu fliehen?
Wie erlebte der 15-jährige Volkmar die Flucht, was empfanden die Eltern, als sie die Heimat
verlassen mussten?
Welche Lebensbedingungen fanden die Hitler-Gegner in der tschechoslowakischen Hauptstadt vor?
Erhielten sie Unterstützung? Warum mussten sie 1939 Prag wieder verlassen?
Wie gelangte Volkmar Gabert nach Großbritannien?
Wie unterscheidet sich der junge Gabert von den älteren Hitler-Gegnern im britischen Exil?
Link
http://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/gabert.htm
Friedrich-Ebert-Stiftung/Archiv der Sozialdemokratie: Biografie V. Gabert
http://www.dhm.de/lemo/html/nazi/aussenpolitik/sudeten/index.html
Deutsches Historisches Museum: Besetzung des Sudentenlandes
http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/HenleinKonrad/index.html
DHM: Biografie K. Henlein
http://www.dt-ds-historikerkommission.de/
Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission
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