Sich freuen über Gott: Gott sucht den Verlorenen

Werbung
Hartmut Weyel
Predigt
Sich freuen über Gott: Gott sucht den Verlorenen
(Lukas 15, 1-7)
Einleitung
Über dieses wunderschöne Gleichnis aus dem Lukas-Evangelium hat
natürlich auch Martin Luther gepredigt. In seiner unnachahmlichen Art
beendete er seine Predigt mit folgenden Worten:
„Ich habe zuvor gesagt, dass diese Predigt viel zu gut, zu süß und tröstlich ist
für den groben rohen Haufen und tollen knorrigen Pöbel, und denen predigen
wir hier nicht, sondern allein denen, die in Schrecken und Angst des
Gewissens oder des Todes Gefahr und Nöten sind und der Teufel mit ihnen
disputiert über ihre Sünden, dass er sie in Schwermut und Verzweiflung
treibe. Diesen soll man dies liebliche Bild vorhalten, dass sie getröstet und
fröhlich werden. Die andern aber soll man zu Mose und Meister Hansen mit
seinen Knechten weisen.“
Mit dem „groben rohen Haufen und tollen knorrigen Pöbel“ meint Luther die
Leute, die sich nicht um Gott und die Welt scheren, die ohne Verstand und
Gefühl, ohne Glauben und Gewissen drauflos leben und mit ihren
Stammtischparolen alles vom Tisch fegen. Sie soll man, so meint Luther, auf
das Gesetz des Mose verweisen, damit sie durch Zucht und Ankündigung
des Gerichts Gottes zurechtfinden und sich nicht auf einem solchen Wort
Jesu ausruhen.
Ich weiß nicht, wo Sie sich einzugruppieren gedenken. Ich weiß nicht, ob die
Predigt über einen solchen schönen Bibeltext zu süß für Sie ist und damit zu
einem falschen Ruhekissen werden kann. Oder, ob Sie gerade diese frohe
Botschaft von dem guten Hirten nötig haben, dem nichts wichtiger ist, als
dem einzelnen, der verloren zu gehen droht, nachzugehen und ihn
zurückzuholen.
Wie auch immer, zweifellos erzählt Jesus mit diesem Gleichnis eine
idyllische Geschichte, die man sehr schnell missverstehen kann. Der gute
Hirte, der das verirrte und heruntergekommene Schaf auf seiner Schulter
nach Hause trägt, ist meistens als jugendlicher starker Mann dargestellt
worden, eben wie ein Held aus vergangenen Tagen. (siehe Bild auf Beamer)
Demgegenüber wird auf einer romanischen Säulenverzierung einer Kirche in
Frankreich ein anderes Bild dieses Hirten dargestellt: Er kommt müde und
abgekämpft zurück. Seine Knie sind weich. Er wankt. So sehr lastet das
Gewicht des Verlorenen auf ihm. Mit hängender Zunge und in Schweiß
gebadet schleppt er sich nach Hause. Ihn kostet die schwere Last der Sünde
seine letzte Kraft.
Dieses andere Bild vom guten Hirten bewahrt uns vor allzu schneller
Romantisierung. Es führt uns zu dem, was im Neuen Testament von Jesus,
dem guten Hirten, schonungslos gesagt wird: Es hat ihn sein Leben
gekostet, dem einzelnen verlorenen Schaf nachzugehen und es wieder nach
Hause zu bringen. „Ich bin der gute Hirte, der sein Leben hin für die Schafe
hingibt,“ sagt Jesus in Johannes 10.
Man kann sich wirklich freuen über Gott, der so weit geht bei der Suche nach
dem verlorenen Menschen. Bei ihm ist kein „schwarzes Schaf“
abgeschrieben und sei es noch so verdorben und abgeirrt.
Keiner von uns muss dabei an andere denken oder gar auf andere
sogenannte schwarze Schafe zeigen. Vor Gott sind wir irgendwie alle
schwarze Schafe.
„Wir irrten alle umher wie Schafe“, beschreibt der Prophet Jesaja unsere
Situation, „wir alle gingen unseren eigenen Weg.“ Und dann weist Jesaja auf
den Messias hin, als sei er schon gekommen: „Ihn aber ließ der Herr wegen
unser aller Schuld treffen. Er wurde misshandelt und beugte sich und tat
seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“
(Jes. 53,6-7).
Die Pharisäer und Schriftgelehrten in unserer Geschichte wollen allerdings
nicht wahrhaben, dass auch sie zu den schwarzen Schafen gehören. Sie
distanzieren sich von den öffentlich bekannten schwarzen Schafen, den
„Zöllnern und Sündern“. Sie werfen Jesus vor: „Er nimmt die Sünder an und
isst mit ihnen“.
In ihrer theologischen Vorstellung kann das nicht dem Willen Gottes
entsprechen. Gott ist heilig und gerecht, und das heißt, dass schwarze
Schafe erst einmal den vollen Ernst des Gerichts Gottes spüren müssen. Sie
müssen erst einmal bestraft werden und büßen und ihre Schuld sühnen,
bevor man sich ihrer annimmt und sich mit ihnen an einen Tisch setzt. Unser
Gerechtigkeitsgefühl fordert das!
Ich vermute, dass auch heutzutage noch viele genauso denken. Wir auch?
Jesus begegnet diesem verkehrten Denken mit diesem Gleichnis vom
verlorenen Schaf. Er eröffnet das Nachdenken darüber mit einer Frage:
„Welcher Mensch unter euch, der hundert Schafe hat und eins von ihnen
verliert, lässt nicht die 99 in der Wüste zurück und geht dem verlorenen nach,
bis er es findet?“
‘Natürlich handelt jeder anständige Hirte so’, müsste die Antwort lauten. Aber
gerade das ist im Normalfall nicht der Fall! Ein verantwortungsbewusster und
wirtschaftlich denkender Hirte handelt eben nicht so! Denn welcher Hirte
riskiert den Bestand der ganzen Herde, nur um dem einen verlorenen Schaf
nachzurennen? Kein Hirte wird sich vernünftigerweise so verhalten wie der in
dem Gleichnis, das Jesus erzählt. Weiß er denn, ob er sein verlorenes Schaf
überhaupt wiederfindet? Und wenn ja, werden in der Zwischenzeit nicht die
99 sich verirrt haben und von Wölfen zerrissen sein? Nein, die Logik, der
Verstand, die Erfahrung und vor allem wirtschaftliche Überlegungen
sprechen gegen dieses Verhalten.
Das ist auch in unserer Welt heute so. Wo Mehrheiten den Ausschlag geben,
wo im wirtschaftlichen Leben am Ende die Umsatzzahlen und die Höhe des
Gewinns entscheidend sind, wo kühl gerechnet und kalkuliert wird, da kann
man nicht dem einzelnen nachgehen. Da kann man nicht eine eins gegen 99
setzen. Da muss man mit Ausschuss, mit Abfallprodukten, mit kleinen
Verlusten rechnen. Was bedeuten schon 1% ?
Aber genau an dieser Stelle soll uns das Gleichnis Jesu treffen. Es setzt eine
neue Wirklichkeit gegen unsere Wirklichkeit. Es beschreibt die Wirklichkeit
des Reiches Gottes, das andere Maßstäbe hat. Das müssen die Pharisäer
und Schriftgelehrten lernen, und das müssen auch wir immer wieder lernen.
Denn dieser Hirte im Gleichnis rechnet nicht. Er schaut nicht auf Zahlen. Er
folgt einfach der Regung seines Herzens, nämlich seiner Liebe zum
Verlorenen. Die Liebe bricht alle Überlegungen des Verstandes auf. Die
Liebe setzt gegen die Prinzipien unserer Logik eine höhere Logik, nämlich
die göttliche. Und bei der göttlichen Logik geht es um den einzelnen,
jeden einzelnen. Jesus sieht den Wert des einzelnen.
Natürlich sieht der gute Hirte auch die ganze Herde, ganz gewiss. Aber er
sieht in der Herde auch den Einzelnen, besonders den, der sich verirrt hat
und verloren zu gehen droht. Er nimmt nicht hin, dass sich jemand aus der
Gemeinschaft der Herde entfernt. Er akzeptiert nicht den Verlust auch nur
eines Schafes.
Allerdings akzeptiert der gute Hirte auch nicht das Fehlverhalten eines
Menschen, das zu seinem Verirren und Verlorengehen geführt hat. Er nimmt
nicht einfach unser manchmal sehr eigensinniges Verhalten hin. Nein, Gott
rechtfertigt nicht unsere Abwege. Er benennt ganz klar, was und wo unsere
Schuld ist.
Aber er öffnet uns die Tür, zurückkehren zu dürfen. Das ist der
entscheidende Punkt! Er sieht uns trotz unserer Schuld gnädig an und holt
uns zurück in seine Gemeinschaft. Dafür tut er alles. Dafür handelt er gegen
alle menschliche Logik.
Das Gleichnis will uns zum Staunen über Gott bringen, der so gut zu
uns ist. Wir dürfen uns über Gott freuen, der so dem Verlorenen nachgeht.
So ist Gott in seiner unbegreiflichen und unendlichen Liebe! Er hat aus Liebe
eine neue Weltordnung gestiftet. Und die heißt: Der Verlorene hat Vorrang!
Das ist so, wie es von einer Mutter mit 12 Kindern erzählt wird: Gefragt,
welches Kind sie am meisten liebe, sagt sie nach kurzem Nachdenken: „Das
Kind, das krank ist, bis es wieder gesund wird; das Kind, das fort ist, bis es
wieder nach Hause kommt; das Kind, das sich in Not befindet, bis es wieder
in Sicherheit ist.“
Jesus Christus liegt soviel am Menschen, dass er dem Verlorenen den
Vorrang gibt. Natürlich liebt er die, die fest bei ihm sind, nicht einen Deut
weniger. Aber auch die, die fest bei ihm sind, können durch eigene Schuld
oder durch andere Menschen oder schlimme Umstände abirren und
abhanden kommen. Dann dürfen auch sie wissen, dass Jesus keinen
abschreibt und verloren gibt, sondern im Gegenteil alles tut, um sie zu
suchen und zurückzuholen.
Natürlich müssen wir dann auch umkehren und zurückkehren wollen. Denn
mit Gewalt holt Jesus niemand zurück! Wer auf Dauer nicht mehr von
falschen Wegen umkehren will, gerät zwangsläufig in eine Verstockung. Das
kann das endgültige Aus bedeuten. Die Bibel warnt davor, dass es dann so
kommt wie bei Esau, der die Umkehr mit Tränen suchte, aber den Weg dazu
nicht mehr finden konnte (Hebr. 12,17).
Manchmal erlebt man so etwas in seiner Familie oder Gemeinde, dass
jemand, der einem nahesteht, dahineinschlittert, ohne es ändern zu können.
Das kann zu bitteren, verzweifelten Tränen führen. Luther hat gewusst,
warum er davor warnte, dieses Gleichnis als Ruhekissen misszuverstehen.
Aber alle, die dieses Gleichnis richtig verstehen, soll es zur Freude über
Gott führen, der jedem Verlorenen nachgeht. Im Himmel wird Riesenfreude
über jeden sein, der sich zu Gott zurückholen lässt und bei Gott bleibt.
Keiner soll in der Herde Gottes fehlen. Jeder ist immer wieder gerufen, von
Irrwegen ins Reich Gottes zurückzukommen. Dann wird nicht nur im Himmel
Freude sein, sondern auch bei vielen auf der Erde. Und jeder Sünder, der
umkehrt, wird selbst die größte Freude haben. Denn es gibt nichts
Schöneres, als mit Gott im Reinen und bei ihm geborgen zu sein. Lasst uns
das jetzt im Abendmahl feiern. Amen.
Herunterladen