Untitled - Die Onleihe

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Inhalt
Das Problem der Moderne: Modernisierungstheorien und
Kulturtheorien
Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz ............................................................. 7
Multiple modernities: Analyserahmen und
Problemstellung
Shmuel N. Eisenstadt........................................................................................... 19
Moderne in Zeit und Raum – Auch dies ein Versuch,
die europäische Erfahrung neu zu denken
Peter Wagner ........................................................................................................ 46
Kulturelle Konstruktionen und institutionelle
Varianten der Moderne in der Weltgesellschaft
Matthias Koenig.................................................................................................... 71
Die Moderne und das Spiel der Subjekte: Kulturelle
Differenzen und Subjektordnungen in der Kultur der
Moderne
Andreas Reckwitz ................................................................................................ 97
Regime des Selbst – Ein Forschungsprogramm
Ulrich Bröckling ................................................................................................. 119
Modernisierung als soziale Beschleunigung:
Kontinuierliche Steigerungsdynamik und kulturelle
Diskontinuität
Hartmut Rosa .................................................................................................... 140
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INHALT
Entgrenzung und Beschleunigung – Einige
Bemerkungen über die kulturelle Vielfalt der Moderne
Bernhard Giesen ................................................................................................. 173
Differenzierte Moderne? Zur Heterogenität funktionaler
Differenzierung am Beispiel der Finanzökonomie
Urs Stäheli ......................................................................................................... 183
Der Kampf der Interpretationen – Zur
Konflikthaftigkeit der politischen Moderne
Thorsten Bonacker .............................................................................................. 199
Modernität und Massenkultur
Michael Makropoulos ......................................................................................... 219
Auf dem Weg zu einer Moderne
verallgemeinerter Medialisierung
Scott Lash .......................................................................................................... 251
Postsoziale Beziehungen: Theorie der
Gesellschaft in einem postsozialen Kontext
Karin Knorr Cetina ............................................................................................ 267
Kontingenz und Mangel: Von der Gesellschaft
der Moderne zum Sozialen der Postmoderne?
Johannes Angermüller ......................................................................................... 301
Autorinnen und Autoren .............................................................................. 322
Das Problem der Moderne:
Modernisierungstheorien und
Kulturtheorien
Thorsten Bonacker und Andreas Reckwitz
Die Frage, was die »Moderne« ausmacht, was die Strukturmerkmale moderner Gesellschaftlichkeit sind, hat den soziologischen Diskurs seit Mitte
des 19. Jahrhunderts angetrieben – die Mehrdeutigkeit und inhärente Veränderbarkeit der Moderne selber haben dazu geführt, dass die Frage nie
einer dauerhaften, unstrittigen Antwort zugeführt werden konnte. Das, was
sich aus der gegenwärtigen Perspektive als der »klassische« soziologische
Diskurs zwischen 1860 und 1910 darstellt und Theoretiker wie Marx, Max
Weber, Durkheim, Tönnies oder Simmel umfasst, ist im Wesentlichen
durch eine Problemstellung gekennzeichnet, welche nach der grundlegenden Differenz zwischen der sogenannten »modernen« und der nichtmodernen, traditionalen Gesellschaft und nach den Mechanismen der
Entstehung letzterer aus ersterer fragt. Bei aller Unterschiedlichkeit der
Theorieangebote, die auf Kapitalismus, Rationalismus oder soziale Differenzierung als Basiskonzepte setzen, bleibt die Frage, worauf diese Theorien eine Antwort zu liefern versuchen, damit konstant. Die Leitfrage nach
der Moderne wiederholt sich bei den zeitgenössischen Klassikern des sozialwissenschaftlichen Diskurses der 1960er bis 1980er Jahre, prominent bei
Luhmann, Foucault und Bourdieu, und sie taucht in anderer Form im
Zentrum des breit gefächerten »Post«-Diskurses seit den 1980er Jahren
– den Theorien der Postmoderne, des Postindustrialismus, Postfordismus,
schließlich den Theorien der Hochmoderne oder der Globalisierung –
wieder auf.
»Moderne« ist dabei kein Gegenstand, sondern eine soziologische Beobachtungskategorie. Die äußerste Voraussetzungshaftigkeit dieses Beobachtungsschemas vermag der soziologische Diskurs selber regelmäßig
unsichtbar zu machen, sie wird erst in der historischen semantischen Analyse – beispielhaft bei Reinhart Koselleck – erneut bewusst. Die Semantik
der Modernität setzt vor allem ein kulturell hochspezifisches Temporalschema voraus. Dieses platziert sich gegen die Vorstellung einer grundsätzlichen Konstanz und Wiederholung der Struktur der Humanwelt in der
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BONACKER UND RECKWITZ
Zeit ebenso wie gegen Modelle zyklischer Geschichte. Es differenziert
vielmehr – darin ein christlich-jüdisches Zeitlichkeitsmodell säkularisierend
– eindeutig zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, interpretiert
die Vergangenheit im Lichte des Gegenwärtigen und Zukünftigen, als
dessen Vorstufe es erscheint, und lädt diese unterschiedlichen Zeitperioden
mit spezifischen historischen Bedeutungen auf. Es vermag schließlich die
zeitlichen Phasen an Gesellschaftsformen zu koppeln, um damit ein Muster der temporalen Aufeinanderfolge unterschiedlicher Gesellschaftsformationen in der Geschichte zu etablieren.
Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Vergeschichtlichung der Gegenwart, welche die Beobachtungskategorie des Modernen betreibt, hat der
soziologische Diskurs jedoch sehr verschiedenartige Narrative der Modernität entwickelt. In einer pointierten Zuspitzung kann man hier vor allem
zwei grundsätzlich konträre Beschreibungsformen unterscheiden, die in
Konkurrenz zueinander stehen: das Narrativ der »Modernisierungstheorien«, das nach wie vor das Zentrum der soziologischen Perspektive besetzt; und ein uneinheitlicher Gegendiskurs, der im weitesten Sinne auf
kulturtheoretischen Prämissen aufbaut. Die Differenz zwischen Modernisierungstheorien und Kulturtheorien der Moderne ist dabei nicht als ein
historisches Narrativ zu verstehen: Tatsächlich haben in der Geschichte
der Sozial- und Kulturwissenschaften beständig beide Vokabulare nebeneinander existiert (ebenso wie dies häufig bei einzelnen Autoren der Fall
ist, in denen sich beide Tendenzen kreuzen), wobei in bestimmten Phasen
der intellectual history die eine oder die andere der beiden Beschreibungsformen in die Offensive gegangen ist. Für den Zeitraum seit den 1980er Jahren kann eine solche Offensive der Kulturtheorien der Moderne beobachtet werden: Im Zuge einer verbreiteten Kritik an den Modernisierungstheorien lässt sich eine Fülle von Ansätzen ausmachen, die der modernisierungstheoretischen eine kulturtheoretische Perspektive entgegenzusetzen
versuchen. Sie bilden die Hintergrundfolie und das Thema für die Beiträge
dieses Bandes Kulturen der Moderne. Eine solche kulturtheoretische Perspektive umfasst beispielsweise eine von Michel Foucault inspirierte Archäologie/Genealogie der Moderne ebenso wie Versionen eines hermeneutischinterpretativen, kulturvergleichenden Ansatzes, etwa in Eisenstadts multiple
modernities, bestimmte Versionen einer Theorie der kulturellen Globalisierung, die eine Hybridisierung fokussieren, ebenso wie Ansätze, welche –
wie bei Latour – die Differenz zwischen Kultur und Natur dekonstruieren
und eine Geschichte von »Naturkulturen« favorisieren. Andererseits be-
DAS PROBLEM DER MODERNE
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deutet dies nicht, dass modernisierungstheoretische Denkfiguren aus der
gegenwärtigen Diskussion verschwunden wären. Im Gegenteil finden sich
diese in anderer Form etwa in der aktuellen Theorie »reflexiver Modernisierung« und in »hybrider« Form in den Kombinationen von Postmoderneund Kapitalismustheorie beispielsweise bei Fredric Jameson oder David
Harvey. Die Konstellation zwischen der soziologischen grand récit der Modernisierungstheorien und den Kulturtheorien der Moderne stellt weiterhin
ein offenes Rennen dar.
Was sind Merkmale des modernisierungstheoretischen Narrativs? Und
was zeichnet demgegenüber die Kulturtheorien der Moderne aus? Wenn
man trotz aller realen Tendenzen einer gegenseitigen Überlagerung beider
Diskurse ihre Kernelemente idealtypisch gegenüberstellen will, lassen sich
mehrere Aspekte herausarbeiten. Es sind vor allem vier Merkmale, welche
den modernisierungstheoretischen Beschreibungsmustern ihre spezifische
Form geben:
1. Die Struktur/Kultur-Differenz. Im Rahmen des modernisierungstheoretischen Narrativs wird explizit oder implizit eine Differenz zwischen »Kultur« und einer vorkulturellen »Struktur« markiert und der sozialen Struktur
regelmäßig ein Primat gegenüber der Kultur zugeschrieben. Die bekannteste Version dieser asymmetrischen Leitunterscheidung ist die Differenz
zwischen Überbau und Basis, aber sie kommt in einer Reihe verschiedener
Versionen vor. Ein Großteil der soziologischen Gesellschaftstheorien
rechnet den Merkmalskern moderner Sozialität auf einer solchen Strukturebene zu: Neben der Kapitalisierung kommen Industrialisierung, Technisierung, Zivilisierung und Urbanisierung, aber auch – theoretisch avancierter – Muster sozialer Differenzierung, vor allem funktionale Differenzierung als mögliche Kandidaten einer solchen Strukturdiagnose der Moderne
in Frage. Dies bedeutet nicht, dass in modernisierungstheoretischen Narrativen die »Kultur«, das heißt die Ebene von Sinnstrukturen und Bedeutungswelten, von Diskursen und sozialen Praktiken, irrelevant wäre. Sie
erhält jedoch letztlich den Stellenwert eines Produkts sozialer Strukturen:
Erst wenn das scheinbar fixe Fundament einer Struktur außerhalb der
Kultur erreicht ist, gibt sich das modernisierungstheoretische Erklärungsmuster zufrieden. So wird etwa eine bestimmte Kultur des Individualismus
als Produkt einer bestimmten Form sozialer Differenzierung interpretiert;
oder der Kapitalismus als Ursache einer Kultur der Verdinglichung. Die
sozialen Strukturen selber erscheinen dann umgekehrt nicht weiter erklä-
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BONACKER UND RECKWITZ
rungsbedürftig oder werden als mehr oder weniger autokatalytische Prozesse verstanden.
2. Die Differenz zwischen moderner und traditionaler Gesellschaft. Eine zweite
Leitunterscheidung des modernisierungstheoretischen Narrativs betrifft die
Differenz zwischen Moderne und Tradition. Vorausgesetzt wird hier regelmäßig eine grundsätzliche Unterscheidbarkeit der Moderne von einer
Nicht- oder Vormoderne. Ohne diese Unterscheidung von einem »Anderen«, von dem, was sie nicht ist, würde die Moderne als abgrenzbares Phänomen selber an Identität verlieren. Die Differenz zwischen traditionaler
und moderner Gesellschaft wird dabei sowohl zeitlich als auch räumlich
gedeutet. Auf der Zeitachse ist die leitende Annahme eine historische
Transition von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, wobei als
Epochenschwelle üblicherweise das (westliche) 18. Jahrhundert angenommen wird. »Modernisierung« ist demzufolge ein Prozess in der Zeit. Diese
Temporalisierung überlagert sich mit einer Verräumlichung: Die Merkmale
traditionaler Vergesellschaftung werden in der Regel nicht-westlichen Regionen zugeschrieben, Modernität dagegen dem Westen. »Modernisierung«
stellt sich dann auch als Prozess einer räumlichen Expansion von Strukturmerkmalen der Modernität jenseits des Westens dar. Zwar nicht in allen,
aber in vielen Fällen koppelt das modernisierungstheoretische Narrativ die
Differenz Traditionalität – Moderne an jene von Kultur und Struktur:
Traditionale Gesellschaften werden in diesem Zusammenhang über »kulturelle« Eigenschaften interpretiert – etwa über ein Kollektivbewusstsein,
Gemeinschaftlichkeit mit implizitem Wissen, Ritualisierungen, Religiösität
etc. Die kulturellen Elemente scheinen in der Moderne ihre Wirkungsmacht zu verlieren, die strukturellen – von der Technisierung bis zur Arbeitsteilung – hingegen an Effektivität zu gewinnen.
3. Die Annahmen der Diskontinuität, der immanenten Einheit und der Linearität. Elementar für das modernisierungstheoretische Narrativ ist die Annahme einer prinzipiellen Diskontinuität zwischen traditionaler und moderner Gesellschaft: Beide scheinen weitgehend überschneidungsfrei aufeinander zu folgen. Die Moderne ist per definitionem nicht traditional, die
traditionale Gesellschaft nicht modern. Diese Markierung einer Diskontinuität enthält als Kehrseite die Annahme einer prinzipiellen »Kontinuität
nach innen«, einer grundsätzlichen immanenten Einheit sowohl der traditionalen Gesellschaft als auch – wichtiger noch – der Moderne. Im modernisierungstheoretischen Narrativ kann es nur eine Moderne geben, der fix
zurechenbare Merkmale zukommen – eine Entwicklung innerhalb der
DAS PROBLEM DER MODERNE
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Moderne lässt sich dann (abgesehen von Episoden des »Rückfalls«) nur als
eine Steigerung der als modern angenommenen Merkmale denken: eine
noch radikalere Differenzierung, Individualisierung, Technisierung etc.
Zugleich wird der Übergang in Richtung der Moderne selber – in einer
durchaus paradoxen Kombination mit der Diskontinuitätsannahme – im
klassischen soziologischen Narrativ häufig als ein linearer Prozess der Steigerung bestimmter Merkmale interpretiert: etwa als Steigerung von einer
rudimentären in Richtung einer intensivierten Arbeitsteilung, von einer
marginalen Urbanität in Richtung einer extensiven Urbanisierung etc. Der
Übergang erscheint dann im Wesentlichen nicht als kontingenter, gesellschaftlich strittiger Prozess, sondern als ein linearer Entwicklungs- und
Entfaltungsprozess.
4. Die »Rationalität« der Moderne. Alle genannten Annahmen werden im
modernisierungstheoretischen Narrativ klassischerweise an die Voraussetzung einer Rationalität der Moderne gekoppelt – es handelt sich häufig
eher implizit als explizit um ein Fortschrittsnarrativ, in dem sich die aufklärungsphilosophische Tradition verarbeitet sieht. Dies heißt keineswegs,
dass dieser soziologische Diskurs zwangsläufig unkritisch gegenüber der
Moderne ausgerichtet wäre – im Gegenteil ist der Verweis auf eine problematische »Kehrseite des Rationalisierungsprozesses« bereits bei den soziologischen Klassikern weit verbreitet, die wahlweise Phänomene der
Anomie, der Überdisziplinierung des Individuums oder der gesteigerten
sozialen Ungleichheit als dunkle Seite der Moderne beschreiben. Ein Blick
hinter den Rücken des Rationalisierungsprozesses zu werfen, setzt aber
voraus, diesen zunächst als den Kern der Modernität anzuerkennen. Was
hier unter Rationalität verstanden wird, ist zwischen unterschiedlichen
Gesellschaftstheorien höchst umstritten. Es sind aber eine Reihe von
Merkmalen, die sich in diesen Rationalisierungsdiagnosen wiederholen:
zum einen der Übergang von partikularen zu universalen sozial-kulturellen
Mustern, d.h. von Mustern lokal beschränkter Reichweite zu solchen allgemeiner Geltung (ob dies den Bereich des Rechts, des Wirtschaftens oder
der Logik betrifft); zum anderen der Übergang von diffusen sozialen
Grenzziehungen zu strikten, der Sache nach differenzierten Grenzziehungen, die eine effiziente Arbeitsteilung ermöglichen sollen; schließlich ein
Übergang von der Naturbeherrschtheit zur Naturbeherrschung, d.h. die
Etablierung eines gesellschaftlichen Regimes zur Kontrolle und Ausnutzung der Natur.
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