8 Scham und Schuld bei psychischen Störungen

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8
Scham und Schuld bei psychischen
­Störungen
8.1Einführung
»Eine psychische Störung ist ein Syndrom, das durch eine klinisch bedeutsame
Beeinträchtigung im Denken, der Emotionsregulation oder im Verhalten cha­
rakterisiert ist.« (Schramme 2014, S. 20) Verantwortung für unsere Emotionen
und das emotionale Erleben übernehmen zu können sichert unsere psychische
Stabilität. Einen guten Zugang zu den eigenen Emotionen und verschiedene
Emotionsregulationsstrategien zu besitzen bedeutet auch, sich lebendig fühlen
zu können. Im Kontakt mit sich und der Umwelt können Interaktionen so ge­
staltet werden, dass eigene Grundbedürfnisse angemessen zu befriedigen sind.
Psychische Störungen beinhalten jedoch verschiedenste Probleme in Bezug auf
Emotionen. Auf diese allgemeineren Probleme wird in diesem Kapitel näher
eingegangen, bevor in ▶ Kap. 8.2 das Augenmerk auf die speziellen psychischen
Störungen und die Zusammenhänge mit Scham und Schuld gelegt wird.
8.1.1
Über- und unterregulierte Emotionen
Über- und unterregulierte Emotionen sowie deren Auswirkungen auf das
Denken und das Verhalten bilden den Schwerpunkt bei jeder Art von The­
rapie psychischer Erkrankungen. Zu den Erkrankungen mit überregulierten
Emotionen gehören z. B. Zwangsgedanken, Schmerzstörungen, Anankastische
Persönlichkeitsstörung und Dysthymie. Emotionen sind in der Intensität zu
gering ausgeprägt oder es sind keine oder nur einzelne wenige zugänglich. Zu
den Störungen, die mit unterreguliertem emotionalen Geschehen einhergehen,
gehören Ängste oder Impulskontrollstörungen. Genauso leiden Patienten mit
einer Borderline-Persönlichkeitsstörung an einem Mangel an Emotionsregulati­
onsfähigkeiten. Das emotionale Erleben ist meist sehr intensiv und überflutend.
Die Emotionen lassen sich bei unterregulierten Emotionen für Patienten kaum
regulieren. Stattdessen entsteht z. B. bei Menschen mit einer Borderline-Störung
eine hohe innere Anspannung bis hin zur Dissoziation. Angst-Patienten erleben
Panikattacken bis hin zu Derealisations- und Depersonalisationserlebnissen.
Emotionale Prozesse finden meist innerhalb einer Person statt. Sich z. B. auf­
grund seiner eigenen Bedürfnisse schuldig zu fühlen ist nach außen nicht unmit­
telbar erkennbar, dennoch kann die Emotion eine hohe Intensität erreichen. Das
Fehlen an Selbstfürsorgestrategien oder positivem emotionalen Erleben bei und
nach selbstfürsorglichen Handlungen gibt jedoch schon eher Hinweise darauf,
dass z. B. ein Übermaß an Scham und/oder Schuld im Erleben der Person eine
große Rolle spielt. Bei vielen psychischen Erkrankungen sind maladaptive Scham
und Schuld bereits in der Pathogenese zu finden.
Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH
8.1 Einführung
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Die Entstehung und Aufrechterhaltung vieler psychischer Störungen ist eng
verknüpft mit Schuld- und Schamerleben. Zumeist sind es jedoch die anderen
Emotionen wie Ärger, Wut, Hass, Angst, die vordergründig als problematisch
wahrgenommen werden. Obwohl diese Emotionen den ursprünglichen Therapieanlass darstellen, sind sie häufig lediglich Ausdruck von fehlenden Bewältigungsstrategien im Umgang mit dem eigenen Scham- und Schulderleben. Die
Korrelationen zwischen Scham und Wut oder Aggressivität im Sinne von sekun­
därem emotionalen Erleben wird vielfach postuliert (▶ Kap. 6.1.4, ▶ Kap. 6.3.2
und ▶ Kap. 6.4). Ein zu hohes Maß an Scham und Schuld kann auch verhin­
dern, dass professionelle Hilfe überhaupt in Anspruch genommen wird. Die
Bedeutung vor allem der selbstbewertenden Emotionen im Rahmen psychischer
Erkrankungen wird jedoch auch kontrovers diskutiert. Dabei haben die unter­
schiedlichen theoretischen Ausrichtungen großen Einfluss auf die Perspektive
und Konzeptionalisierung der Emotionen. In ▶ Kap. 8.4 ist dazu eine Auswahl
von Konzeptionalisierungsversuchen durch verschiedenste Fragebögen und In­
ventare zu finden. Die unterschiedlichsten Ergebnisse dieser Betrachtungsweisen
und die jeweilig unterschiedlichen Auswirkungen auf psychische Erkrankungen
sind quasi eine logische Konsequenz daraus. Dennoch gibt es Einigkeit in Bezug
auf maladaptive Scham und Schuld.
8.1.2
Interpersonelles Scham- und Schulderleben
und -­empfinden
Interpersonelles Scham- und Schulderleben ist aus vielerlei Sicht klinisch
­relevant. Ebenso kann ein hohes Scham- und Schuldempfinden sehr bedeut­
sam sein. Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, wird Scham- und
Schuldempfinden von der emotionalen Reaktionsbereitschaft (Neigungen und
Erleben) abgegrenzt. Verschiedene Autoren betonen den dysfunktionalen und
symptomgenerierenden Charakter eines hohen Schamempfindens. Hohes
Scham­empfinden im Sinne einer Schamneigung steht im Zusammenhang mit
Neurotizismus (Lewis 1971; Hirschfeld et al. 1986; Kocherscheidt et al. 2002). Erhöhte Schamgefühle erleben bereits Kinder und Jugendliche, die psychisch erkrankt
sind (Kronmüller et al. 2008). Dies ist besonders relevant vor dem Hintergrund,
dass damit auch die Entwicklung und Regulierung moralischen Verhaltens in
den frühen Lebensphasen entscheidend geprägt wird. Die Einhaltung sozialer
Normen und die Selbstregulationsfähigkeit stehen ebenso in enger Verbindung
mit Schamempfinden und -erleben. Frühe ungünstige Erfahrungen innerhalb
des umgebenden Umfelds führen neben den möglichen nachteiligen Prägungen
auch zu unangenehmem emotionalen Erleben sowie zu Emotionsregulations­
defiziten. Schmerzhafte und belastende Emotionen in Form des Leidensdrucks
sind die Hauptursachen für die Aufnahme einer Psychotherapie.
Situativ angemessene Schuld scheint aus vielerlei Sicht einen eher adaptiven
Charakter zu haben. Dasselbe lässt sich auch für Scham sagen. Schuld und/oder
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8 Scham und Schuld bei psychischen S­ törungen
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Scham, die aufgrund einer Erkrankung entstehen, lassen sich relativ einfach be­
arbeiten und klingen mit den allgemeinen Symptomen ab. Dem quälenden und
lähmenden Schamgefühl wird grundsätzlich eine potenzielle Dysfunktionalität
zugeschrieben. Scham und Schuld sind jedoch eng miteinander verknüpft, ins­
besondere, wenn maladaptives Schamerleben bei einer Person zugrunde liegt.
Typischerweise gehören dann auch chronisch dysfunktionales Schulderleben
sowie eine hohe Scham- und Kränkungsneigung zur emotionalen Ausrichtung
einer Person (▶ Kap. 7.2). Erhöhtes Scham- und Schulderleben sind Vulnerabilitätsindikatoren für die Entstehung psychischer Störungen.
Liegen bei Patienten pathologisch ausgeprägte Scham- und Schuldemotionen
vor, fällt es ihnen zumeist sehr schwer, Verantwortung für die eigenen Emotio­
nen und Bedürfnisse zu übernehmen. Dies ist ein Wechselwirkungsprozess, der
bereits früh im Leben begonnen hat. »Nichts wert zu sein« bzw. sich emotional
wertlos zu erleben verhindert die Übernahme von Verantwortung zu eigenen
Gunsten. Das heißt auch, dass eine erhöhte Schamneigung und die Infragestellung des eigenen Selbst Ausdrucksformen eines niedrigen Selbstwerts sind. Dies
wiederum verstärkt die Vulnerabilität für viele psychische Erkrankungen, z. B.
Depressionen, Essstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen bis hin zu
Suizidgedanken (u. a. Andrews et al. 2000; Ashby et al. 2006; Brewin u. Rose
2000; Crossly u. Rockett 2005; Harper u. Arias 2004; Leskela et al. 2002).
8.1.3
Selbstabwertungen, Scham und Schuld als
­innere ­Distanzierungsmechanismen
Zumeist orientieren sich Menschen mit einem schmerzhaft niedrigen Selbstwert
und maladaptivem Schamerleben an Idealen, Werten, Regeln und Normen, die
kaum erreichbar sind. Das Streben danach ist »nur« ein Kompensationsmecha­
nismus, der die Aufmerksamkeit vor allem von dem eigenen defizitären Selbst
weglenkt (▶ Kap. 6.7.2). Die Aufmerksamkeit und die Orientierung der Personen
richten sich dennoch auf Insuffizienz, Fehler sowie ungünstige Behandlungen
durch andere Menschen. Diese Art der selektiven Wahrnehmung und Übersen­
sibilität erhält den Teufelskreislauf aufrecht. Das Erleben von Misserfolgen, unge­
rechten Behandlungen, Kränkungen und frühe Erfahrungen im Sinne des Kon­
zeptes »Erlernte Hilflosigkeit« (Seligman 1979) begünstigen depressive Störun­
gen. Depressivität steht mit Überlebendenschuld und Schuld aus Verantwortung
in enger Verbindung (Albani et al. 2007; vgl. dazu auch ▶ Kap. 8.2.2). Aber auch
kann ein ausgeprägtes und eher unflexibles Selbstbild mit hohen Erwartungen an
sich selbst dazu führen, dass mit dem Erkranken an einer psychischen Störung
sekundäre Schuld und Scham zusätzlich entstehen. Stehen diese Emotionen im
Vordergrund, kann dadurch die Krankheitsbewältigung deutlich erschwert sein.
Zusammenhänge gibt es ebenso zwischen sozialer Unsicherheit und inter­
personalen und intrapersonellen Schuldgefühlen (Albani et al. 2007; vgl. auch
▶ Kap. 8.2.12). In einer Studie von Michal et al. (2006) werden Depersonalisa-
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8.1 Einführung
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tions- und Derealisationsphänomene als Kompensationsmechanismus für pathologische Scham und soziale Ängste postuliert. Selbstbewertende Emotionen gehen
mit einer inneren Distanzierung einher. Beide Phänomene sind Ausdruck davon
und führen dazu, dass sich Menschen in Träumereien, in ihre inneren Fantasien
zurückziehen. So geht über die Zeit der notwendige Bezug zur eigenen Person
verloren. Kann Schamerleben innerhalb der Therapie bearbeitet werden, müsste
es demnach zu einer Reduktion von Derealisations- und Depersonalisationser­
leben kommen.
Beziehungen zwischen psychischen Erkrankungen und Scham sowie Schuld
lassen sich also vielerorts finden. Insbesondere bei ichsyntonen Symptomen
(z. B. im Rahmen von Persönlichkeitsstörungen) werden von den Patienten
am ehesten Scham und Schuld als quälend wahrgenommen. Emotionen wie
Scham, Schuld und Angst haben neben den eigentlichen Symptomen im Sinne
der Erkrankung eine sehr hohe Bedeutung. Scham, Schuld und Angst üben im
Wesentlichen den Leidensdruck aus. Scham und Schuld sind also zentrale Emo­
tionen, aus deren Kern sich ein Verständnis für viele psychische Erkrankungen
erschließen lässt. Maladaptive Scham und Schuld können sich ungünstig auf alle
anderen Bedürfnisse und Emotionen ausdehnen und emotionale Dysfunktionen
sowie Emotionsregulationsstörungen hervorrufen. Scham ist genau wie Angst
generalisierend. Ein hohes Schamempfinden geht auch mit einer hohen Ängst­
lichkeit einher. Interpersonelle Schuld korreliert positiv mit interpersonellen
Problemen; je höher die Schuld, desto mehr Probleme werden empfunden (Al­
bani et al. 2007). (Interpersonelles Schulderleben wird in dieser Studie als per­
sönlichkeitsnahes Konzept verstanden. Es enthält relativ stabile, aber durchaus
veränderbare Anteile und Merkmale eines Persönlichkeitskonzeptes.)
Ein anderer wichtiger Aspekt verdient genauso Beachtung. Erfahrenes scham­
loses Verhalten, Grenzverletzungen, fehlende Entschuldigungen oder nicht
beglichenes Unrecht können bei Menschen zu Niedergeschlagenheit, Groll,
Bitterkeit und depressiven Verstimmungen führen. Missbrauchs- und Gewalter­
fahrungen, Traumatisierungen oder andere massive Bedrohungen begünstigen
das Entstehen Posttraumatischer Belastungsstörungen (▶ Kap. 8.2.9). Zumeist
sind es Beschämungserfahrungen, die oft mit Schuld bei den betroffenen Perso­
nen einhergehen. Komorbiditäten und Folgeerkrankungen gehen insbesondere
aufgrund des für Patienten unlösbaren Scham-Schuld-Dilemmas mit Beschä­
mungserfahrungen einher.
Zusammenfassung
Bei vielen psychischen Erkrankungen sind maladaptives Scham- und Schulderleben
yy
in der Pathogenese zu finden.
Obwohl Emotionen wie Wut, Angst, Ärger den ursprünglichen Therapieanlass daryy
stellen, sind diese häufig nur der Ausdruck von fehlenden Bewältigungsstrategien
im Umgang mit eigenem Scham- und Schulderleben.
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Leidensdruck besteht zumeist aus den Emotionen Schuld, Scham und Angst.
yy
Maladaptive Scham und Schuld können sich ungünstig auf alle anderen Bedürfnisyy
se und Emotionen ausdehnen und emotionale Dysfunktionen sowie Emotionsregulationsstörungen hervorrufen.
Depersonalisations- und Derealisationsphänomene sind Kompensationsmechanisyy
men für pathologische Scham und soziale Ängste. Sie sind daher Ausdruck von
fehlenden Bewältigungsstrategien im Umgang mit überflutendem Scham- und
Schulderleben.
Interpersonelle Scham- und Schuldgefühle sowie eine hohe Schamneigung sind
yy
aus vielerlei Sicht klinisch relevant. Ebenso kann ein hohes Scham- und Schuldempfinden sehr bedeutsam sein.
Psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche erleben erhöhte Schamgefühle. Dayy
durch werden auch die Entwicklung und die Regulierung von moralischem Verhalten bereits früh beeinflusst.
Erhöhtes Scham- und Schulderleben ist ein Vulnerabilitätsindikator für die Entsteyy
hung psychischer Störungen.
Eine erhöhte Schamneigung und die Infragestellung des eigenen Selbst sind Ausyy
drucksformen eines schmerzhaften Selbstwertes, was wiederum als Vulnerabilität
für psychische Erkrankungen verstanden wird.
Selbstabwertung, Scham und Schuld sind innere Distanzierungsmechanismen.
yy
Fast alle psychischen Erkrankungen stehen in einem Zusammenhang mit ent­
weder einem zugrunde liegenden maladaptiven Scham- oder Schulderleben oder
resultierender Scham und Schuld darüber, überhaupt psychisch erkrankt zu sein.
Ein hohes Scham- und Schuldempfinden sowie eine ausgeprägte Scham- und
Schuldneigung stellen die Grundlage für emotionale Verletzlichkeit und Krän­
kungserleben dar. Die Unterscheidung von Schuldgefühl, Schuldbewusstsein
bzw. realer Schuld gelingt im Rahmen psychischer Erkrankungen, wie z. B.
Depressionen oder wahnhaften Störungen, nur sehr selten. Die Unterscheidung
zwischen dem symptomhaften Charakter von Scham und Schuld sowie mögli­
chen biografischen Bezügen beider Emotionen sollten daher Bestandteil einer
Therapie sein.
8.2
Scham- und Schulderleben bei ausgewählten
­psychischen Erkrankungen
Schuld und Scham zu verstehen heißt viel über psychische Erkrankungen und
Gesundheit zu verstehen (Broucek 1991). Bei der Entstehung und Aufrechter­
haltung vieler psychischer Erkrankungen haben Scham und Schuld eine große
Bedeutung. Insbesondere das fehlende Wissen um psychische Erkrankungen
und das eigene, vielleicht dysfunktionale Selbstbild spielen dabei eine wichtige
Rolle. Der Umgang mit körperlichen Erkrankungen wird meist früh gelernt. Das
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