Ein Prozess im Hier und Jetzt Verzerrtes Denken aufdecken

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BÜCHER
PSYCHOTHERAPIE
Ein Prozess im Hier und Jetzt
Reinhard Plassmann ist einer der wenigen freudianischen Analytiker, sogar Lehranalytiker, dem es gelungen
ist, wichtige Alternativen aus anderen Psychotherapieformen kreativ
in seine klinische Tätigkeit zu integrieren. Er ist seit zwei Jahrzehnten
Chef von psychosomatischen Kliniken und verfügt über eine immense
Breite von Erfahrungen auch mit
schwierigen Patienten, vor allem
mit Essgestörten. Besonders ergiebig scheint die Einbeziehung von
EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), einer
Therapieform, bei der die Patienten,
bei laufender tiefenpsychologischer
Behandlung, durch langsame Augenbewegungen beruhigt und in die
Lage versetzt werden, sich ihren verdrängten Affekten zu stellen. Es
scheint, dass er mit seinem Team in
der Kitzberg-Klinik in Bad Mergentheim die Erfolgsquote auf 90 Prozent steigern konnte; sie liegt in der
Rückschau bei fast allen anderen
Therapieformen bei 30 Prozent
und wenig mehr.
Das Buch „Selbstorganisation“ ist spannend zu lesen und
bringt auch dem erfahrenen
Psychotherapeuten viele neue
Einsichten und stellt eine enorme Bereicherung dar für die
Forderung des berühmten USamerikanischen Therapeuten Irving Yalom, für jeden Patienten
seine eigene passende Therapieform
zu finden. Am fruchtbarsten erscheint
die gut belegte Annahme, bei schweren Ess- und Selbstverletzungsstörungen nicht eine neurotische Behinderung, sondern ein gravierendes
Trauma am Ursprung der Erkrankung anzunehmen. Fast schockierend
ist die Erkenntnis, dass bei einem hohen Prozentsatz ein früher sexueller
oder gewaltsamer Missbrauch vorliegt. Wichtig ist, dass er weniger mit
den Inhalten der Störung arbeitet, als
vielmehr mit der Reinszenierung des
Traumas am Therapeuten oder in der
Reinhard Plassmann: Selbstorganisation. Über Heilungsprozesse in der
Psychotherapie. Psychosozial-Verlag, Gießen 2011, 339 Seiten, kartoniert, 32,90
Euro
Gruppe. Es ist der Prozess im
Hier und Jetzt und nicht die
aufzudeckenden, ohnehin nur
schwer zugänglichen Erinnerungen, vor allem aber der ernüchterte Verzicht auf Inhaltsdeutungen und die Erwartungen, dass hieraus schon heilsame Einsicht entsteht, auf die
Freud so großes Gewicht legte.
Plassmann schreibt brillant,
und es ist ein Vergnügen, von Satz
zu Satz seinen Erkenntnissen zu folgen. Selten dürfte ein Buch so ermutigend sein, auch bei stagnierenden
Behandlungen, bei denen aufseiten
des Therapeuten oft Resignation oder
Verärgerung entsteht. Wenn man Magersucht und andere vergleichbare
Störungen als Opfergang versteht,
bei dem alle Willenskräfte versagen oder kontraproduktiv angewandt
werden, so versteht man die Erleichterung des Therapeuten, wenn er
sieht, wie die Lebensfreude wiederkehrt.
Tilmann Moser
METAKOGNITIVE THERAPIE
Verzerrtes Denken aufdecken
Adrian Wells: Metakognitive Therapie
bei Angststörungen
und Depression.
Beltz, Weinheim
2011, 331 Seiten,
49,95 Euro
576
Die „Magier der Therapie“ waren
früher Milton H. Erickson, Bandler
& Grinder oder Robert Dilts. Heute
zeigt Adrian Wells mit
brillanten Dialogen beispielsweise zum Denken
bei Kontamination und
Interventionen mit der
dritten Welle der Verhaltenstherapie neue Linien
in der Praxis der Therapie auf.
Wells arbeitet therapeutisch auf der metakognitiven Ebene. Theoretisch geht die metakognitive Therapie (MCT)
genau wie das kognitivbehaviorale Modell, das der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) zugrunde liegt, davon aus, dass psychische Störungen in verzerrtem
Denken ihre Begründung haben. Sie
nimmt jedoch andere Ursachen und
Mechanismen an. In der metakogni-
tiven Therapie sind negative Gedanken und Überzeugungen, die die eigene Person und die Umwelt betreffen, lediglich Symptome oder Auslöser. Als das eigentliche Problem wird
gesehen, wie der Patient seine negativen Gedanken interpretiert und mit
ihnen umgeht. Demzufolge halten
Metakognitionen, wie „Grübeln hilft
mir, etwas zu verändern“, Hilflosigkeit und Traurigkeit aufrecht. Im
psychotherapeutischen Prozess müssen deshalb die metakognitiven
Überzeugungen erkannt und verändert werden, um zu einer stabilen
Verbesserung zu gelangen. Hier setzt
die MCT in der Praxis mit verschiedenen Methoden an, wie dem Aufmerksamkeitstraining oder der Technik der „Losgelösten Achtsamkeit“.
Well zeigt ausführlich, wie die
metakognitive Therapie bei der Generalisierten Angststörung, der posttraumatischen Belastungsstörung
(PTBS), den Zwangsstörungen und
schweren Depressionen arbeitet. Zu
jeder Störung werden eine Behandlungsstruktur, ein individuelles
Fallkonzept und eine Anleitung zu
speziellen Übungstechniken gegeben. Bei der PTBS geht es beispielsweise um die Technik des Aufschiebens von Grübeln und Sich-Sorgen. Zu jeder vorgestellten Störung
wird ein Behandlungsplan mit
acht bis zehn Sitzungen vorgestellt.
Im letzten Behandlungsschritt wird
beispielsweise bei der depressiven
Störung mit der Festigung alternativer metakognitiver Pläne auch der
Rückfallprophylaxe Rechnung getragen. Neue Pläne steuern in der
Zukunft die Reaktionen auf Stimuli,
die bis dato zur Depression geführt
haben. Im letzten Buchkapitel werden die empirischen Grundlagen
der MCT vorgestellt. Umfangreiche
Arbeitsmaterialien und Fragebögen
sind dem Buch im Anhang beigegeben.
Joachim Koch
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 12 | Dezember 2011
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