Ö1-KLASSIKER DEBUSSY + HONEGGER MEDIENBEGLEITHEFT zur CD Claude Debussy (1862-1918) Prélude à l’après-midi d’un faune, 08.55 Minuten Quartett für Streicher g-Moll op. 10, 24.38 Minuten La Mer – Drei symphonische Skizzen, 23.11 Minuten Arthur Honegger (1892-1955) Jeanne d’Arc au bûcher, 69.04 Minuten 12144 Ö 1-KLASSIKER: DEBUSSY + HONEGGER Das vorliegende Heft ist die weitgehend vollständige Kopie des Begleitheftes zur CD Konzept der Zusammenstellung von Dr. Haide Tenner, Dr. Bogdan Roscic, Lukas Barwinski Executive Producer: Martin Kienzl Musik Redaktion: Dr. Gustav Danzinger, Dr. Robert Werba, Albert Hosp, Mag. Alfred Solder Text: Ursula Magnes Lektorat: Michael Blees Grafikdesign: vektorama. Fotorecherche: Österreichische Nationalbibliothek/ Mag. Eva Farnberger Fotos: ORF, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Herausgeber der CDs und der Begleithefte: Universal Music GmbH, Austria 2007 Besonderen Dank an: Prof. Alfred Treiber, Mag. Ruth Gotthardt, Dr. Johanna Rachinger, Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Medieninhaber und Herausgeber des vorliegenden Heftes: Medienservice des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur 1014 Wien, Minoritenplatz 5 Bestellungen: Tel. 01/982 13 22-310, Fax. 01/982 13 22-311 E-Mail: [email protected] 2 Ö 1-KLASSIKER: DEBUSSY + HONEGGER CLAUDE DEBUSSY »VERKAUFSSCHLAGER: IMPRESSIONISMUS« Claude Debussy kreierte aus der überschäumenden Verehrung für Richard Wagner, welche durch den Einfluss Erik Saties etwas abgedämpft wurde, der Wertschätzung seiner barocken Vorgänger und der Farbigkeit fernöstlicher Musik etwas Neues: den musikalischen Impressionismus. Eine Etikettierung, die ihn nicht glücklich, aber berühmt machte. Bestimmte Titel seiner Werke, wie beispielsweise »Estampes« (Kupferstiche) oder »Images« (Bilder) legen es nahe, seine Art des Komponierens mit dem bildnerischen Schaffen eines Claude Monet, Auguste Renoir oder Camille Pisarro in Verbindung zu bringen, über Parallelen nachzudenken. Josef Häusler fasst die Spurensuche – in deutlicher Opposition Debussys zur deutschen Spätromantik – im Wesentlichen zusammen: »Der Gebrauch, den Debussy von Wagner'schen Errungenschaften macht, ist tief bezeichnend; er zeigt, dass Debussy die Einflüsse zu etwas ganz und gar Eigenem umformt. Nicht anders verhält es sich mit Chopin und Liszt, ohne deren Vorbild seine Klaviermusik, insbesondere die >Images<, die Préludes und die Etüden nicht denkbar wären; es verhält sich so mit Mussorgsky und auch mit den beiden französischen Meistern, die Debussy je länger, desto mehr verehrte: Couperin und Rameau.« In seinen 1976 veröffentlichten »Anhaltspunkten« schreibt Pierre Boulez, der sich aus der Tradition Debussy kommend sieht: »Müssen wir demnach die Trias Debussy-CézanneMallarmé als Wurzel aller Modernität ansehen? Wir würden diese These gerne aufgreifen, hätte sie nicht einen leicht autarken Anstrich. Doch nach diesen drei großen Meistern traten andere Große auf den Plan, deren Umwälzungen stärker in die Augen sprangen. Die zeitgenössische Wahrheit – oder das zeitgenössische Schaffen – verlangte Ungestüm, beinahe Demonstration: notwendige Oberflächenschocks, welche die verschiedenen neu aufgetretenen Aspekte dieser Wahrheit von Grund auf veränderten. Jetzt, wo mit Axtschlägen geformt ein neues Gestaltungsprinzip hervorgetreten ist, sieht man sich – was Ruhm und Revolution angeht – merkwürdigen Überraschungen ausgesetzt: Man wird zunächst skeptisch gegenüber dem Befund, dass diese brüsken und gewaltsamen Veränderungen jene Wandlungen beiseite gedrängt haben sollen, die zwar im Augenblick weniger spürbar, auf weite Sicht aber umso umwälzender sind.« PRÉLUDE À L'APRÈS-MIDI D'UN FAUNE: DURCH UND DURCH EROTISCH Bereits während seiner Studienzeit galt Claude Debussy (1862-1918) als »gefährlicher Revolutionär«, der seine Kollegen mit seinen musikästhetischen Vorstellungen gehörig unter Druck setzte: »Seid ihr nicht imstande, Akkorde zu hören, ohne nach ihrem Pass und ihren besonderen Kennzeichen zu fragen? Woher kommen sie? Wohin gehen sie? Hört sie an; das genügt!« Ursprünglich hätte er die Bühnenmusik zu Stéphane Mallarmés symbolistischem Gedicht »Nachmittag eines Faunes« schreiben sollen. Die geplante Theaterfassung wurde allerdings nie realisiert und in Folge komponierte Debussy das »Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns«, den einzig realisierten Teil eines geplanten Triptychon »Prélude, Interlude et Paraphrase finale pour l'après-midi d'un faune«. Seit dessen Pariser Uraufführung am 22. Dezember 1894 wird das gut 10-minütige Werk von vielen als Beginn der musikalischen Moderne bezeichnet, als »Umsturz im musikalischen Empfinden«. 3 »Nach der Flöte des Fauns atmet die europäische Musik anders«, bringt es Pierre Boulez auf den Punkt. Claude Debussy Claude Debussys Grab, Friedhof von Passy, Paris Stéphane Mallarmé, mit dem Debussy eng befreundet war, übte sich als ein leidenschaftlicher Konzertbesucher und fand sein poetisches Ideal in der Musik, »die wir ausbeuten und paraphrasieren müssen, wenn unsere eigene sprachlos gewordene Musik nicht ausreicht.« Im Zentrum seines Gedichtes stehen die erotischen Fantasien eines Fauns. Aus dem Nachmittagsschlaf erwachend, sinniert er [der Faun] darüber, was er am Morgen erlebt oder vielleicht doch nur geträumt hatte. Er erinnert sich, dass er zwei Nymphen entdeckte, als er eine Panflöte anfertigte, und sie anschließend verfolgte. Zwar flüchteten diese, doch er eroberte zwei andere und verschleppte sie auf eine Lichtung. Der Faun ist sich nicht mehr sicher darüber, was dort geschah – aber auch diese entkamen. Er schwankt zwischen Reue über seine Tat und Rechtfertigung seines sehnsüchtigen Verlangens. Am Abend bricht das Schuldgefühl nochmals intensiv durch, verbunden mit der Angst, sich möglicherweise an der Göttin Venus vergangen zu haben und dafür schwer bestraft zu werden. Endlich überkommt den mittlerweile von Wein schweren Faun erneut der Schlaf. Er ruft den Nymphen Lebewohl und kehrt in den Traum des Morgens zurück: »Du Paar leb wohl; ich werd dich schaun in deinem Schattenbund.« Stéphane Mallarmé Debussy erzählt nicht bloß die Geschichte, ganz bewusst übersetzt er die gleißenden Stimmungen in Musik: der sich windende Faun findet sich im immer wiederkehrenden Thema der Soloflöte, flirrende Akkorde spiegeln das Flimmern schwüler Sommerluft und zeichnen eine Landschaft mit prallem Sonnenlicht. Es entsteht eine Impression, die Debussy mit dem präzisen Einsatz musikalischer Mitteln erreicht. Durch seine Orchestrierung färbt er die Partitur, hebt den Akkord aus seiner tonalen »Verantwortung« und verwendet ihn als Klangfarbe durch Fünf- und vor allem durch die für ihn typischen Ganztonreihen. 4 Pierre Boulez, Komponist, Dirigent und trotz seines bereits hohen Alters ewig junger Verfechter der Moderne, nahm das kurze bahnbrechende Werk schon 1966 mit dem New Philharmonia Orchestra auf. Die Aufnahme mit dem Cleveland Orchestra aus dem Jahr 1991 geriet etwas zügiger als die erstere und in den vielen kleinen Phrasen innerhalb des großen musikalischen Flusses noch transparenter. Schon Debussy selbst ärgerte sich über die sich alles drüberstülpende Bezeichnung »Impressionismus« – gleich dem Ausleeren eines gewaltigen, aber nur scheinbar undifferenzierten Farbtopfes. QUARTETT FÜR STREICHER G-MOLL OP. 10: ZÖGERLICHE BEGEISTERUNG Das Streichquartett in g-Moll op. 10 entstand 1893 und wurde am 29. Dezember des Jahres durch das Ysaÿe-Quartett uraufgeführt. Erst durch eine zweite Aufführung durch das Guarneri-Quartett konnte die anfänglich nur zögerliche Begeisterung des Publikums und einzelner Kritiker überwunden werden. Was den einen missfiel – besonders Ernest Chausson äußerte sich sehr kritisch und forderte Debussy auf, ein weiteres Quartett zu schreiben – gefiel den anderen. Einer davon war Paul Dukas, drei Jahre jünger als Debussy. Er anerkannte ihn schon früh als maßgebenden schöpferischen Geist: »Alles darin ist klar und deutlich gezeichnet, trotz großer formaler Freiheit. Debussy zeigt eine besondere Vorliebe für Verknüpfungen klangvoller Akkorde und für Dissonanzen, die jedoch nirgends grell, vielmehr in ihren komplexen Verschlingungen fast noch harmonischer als selbst die Konsonanzen wirken; die Melodie bewegt sich, als schreite sie über einen luxuriösen, kunstvoll gemusterten Teppich von wundersamer Farbigkeit, aus dem alle schreienden und unstimmigen Töne verbannt sind.« Claude Debussy wiederum zeigte sich alias Monsieur Croche, frei übersetzt als »Herr Achtelnote«, ebenso wohlwollend gegenüber den Werken seines Kollegen: »Seine Musik gleicht den vollkommenen Linien der Architektur, Linien, die ineinander fließen und sich mit den farbigen Räumen der Luft und des Himmels zu einer totalen Harmonie vereinen.« Der Sammelband »Monsieur Croche antidilettante«, in welchem die Musikkritiken Debussys veröffentlicht wurden, erschien erstmals 1921 in einer kleinen Auflage von 500 Exemplaren. Die feinsinnigen und scharfzüngigen Texte geben dem Leser von heute einen interessanten Einblick in die Musikästhetik Debussys: »Sehen Sie, einige große Männer bringen mit geradezu hartnäckigem Starrsinn immer wieder Neues hervor; viele andere dagegen tun fortwährend und ebenso hartnäckig immer nur das, womit sie einmal Erfolg hatten: Ihre Geschicklichkeit lässt mich kalt. Man rühmt sie als Meister! Aber das ist nur eine höfliche Art, sie sich vom Hals zu schaffen, oder ihnen ihre allzu gleichförmigen Kunstgriffe nachzusehen. Auf jeden Fall versuche ich, die gängige Musik zu vergessen, weil sie mich daran hindert, jene zu hören, die ich noch nicht kenne oder erst morgen kennen werde. Warum sich an das halten, was man nur zu gut kennt?« Das Emerson String Quartet, benannt nach dem amerikanischen Transzendentalphilosophen Ralph Waldo Emerson, wurde 1976 von vier Absolventen der New Yorker Juilliard School gegründet. Das unkonventionelle Ensemble, erster und zweiter Geiger wechseln sich ab, besticht durch beseelte Präzision. Voraussetzungen, die der 1984 entstandenen Debussy-Aufnahme besonders zugute kommen. 5 LA MER – DREI SYMPHONISCHE SKIZZEN: PHANTASIEN EINES MATROSEN Schon 1892 komponierte der Belgier Paul Gilson vier symphonische Skizzen unter dem Titel »La Mer«. Claude Debussy hat sich diesen schlichtweg ausgeborgt und darunter drei wassertriefende Freiluft-Episoden zusammengefasst: »Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer«, »Spiel der Wellen« und »Dialog zwischen Wind und Meer«. Die Uraufführung fand drei Jahre nach der Oper »Pelléas et Melisande« am 15. Oktober 1905 ebenfalls in Paris statt. Frei nach Johann Wolfgang von Goethe und ganz im Sinne Debussys »hat die Natur immer Recht«, ist es »nützlicher einen Sonnenaufgang zu betrachten, als Beethovens Pastorale zu hören.« Die Inspiration zu »La Mer« erhielt Debussy bereits als Sechsjähriger, er wollte Matrose werden, während eines längeren Aufenthaltes in Cannes. So schreibt er in einem Brief vom 12. September 1903 an André Messager: »Sie wissen vielleicht nicht, dass ich eigentlich den schönen Beruf des Seemanns ergreifen wollte und dass mich nur die Zufälle des Lebens auf einen anderen Weg brachten. Trotzdem habe ich mir für das Meer eine besondere Zuneigung bewahrt. Sie werden vielleicht einwenden, dass der Ozean nun nicht gerade die Hügel Burgunds umspült ...! Und dass das alles wie ein im Atelier gemaltes Landschaftsbild wirken könnte! Aber ich habe unzählige Erinnerungen; das zählt meiner Meinung nach mehr als jede Wirklichkeit, deren Zauber unsere Phantasie meist zu sehr belastet.« Verarbeitet hatte er diese in der Normandie, in der Kanalhafenstadt Dieppe. Im Gegensatz zu Richard Strauss, dessen symphonische Dichtungen er als Bilderbücher oder sogar Filme bezeichnete, versuchte er das Geheimnishafte der Natur in Musik zu übersetzen: »Musik ist eine freie Kunst, frei hervorsprudelnd, eine Pleinair-Kunst, eine Kunst nach dem Maß der Elemente, des Windes, des Himmels, des Meeres!« Bewegt war in jenen Jahren auch sein Privatleben. Nachdem er 1904 mit Emma Bardac auf die Insel Jersey floh, unternahm seine Ehefrau Lily Texier einen Selbstmordversuch. Die Begegnung mit asiatischer Kunst und Musik war für Debussy sehr bedeutsam. So wählte er den Holzschnitt »Die große Welle vor Kanawaga« des japanischen Meisters Katsushika Hokusai als Titelbild für die Erstausgabe von »La Mer«. Sir Georg Solti prägte das Chicago Symphony Orchestra in der Nachfolge Fritz Reiners 22 Jahre lang bis zu seinem Rücktritt 1991. Seine Debussy-Interpretation ist geprägt von technischer Perfektion und der ihm innewohnenden Impulsivität. ARTHUR HONEGGER: »ICH BIN KOMPONIST« Als Sohn einer deutsch-schweizer Handelsfamilie wurde für Arthur Honegger die Aufführung von Bach-Kantaten durch André Caplet in seiner Heimatstadt Le Havre zur lnitialzündung, Komponist und Musiker werden zu wollen. Die Bach’sche Ernsthaftigkeit und Tiefe der musikalischen Aussage und ihre Gestaltung unterschied ihn auch im Wesentlichen von anderen Mitgliedern der »Groupe des Six« – ein französisches Gegenmodell zum »Mächtigen Häuflein« aus St. Petersburg; 1920 herbeigeschrieben durch den Musikkritiker Henri Collet in dem Aufsatz »Les Cinq Russes, les six Français et Satie«. Dazu bemerkte der amerikanische Musikschriftsteller Benjamin Irvy, dass »im Gegensatz zur landläufigen Meinung über die >leichtherzige< Attitüde der Gruppe zumindest einer der >Six<, Arthur Honegger, jene schwere religiöse Musik liebte, die seine Freunde, wie Cocteau behauptete, hinter sich lassen wollten.« 6 Arthur Honegger In einem Gespräch mit Bernard Gavoty, der Arthur Honegger auch zu weiteren schriftlichen Ausführungen über Beruf, Handwerk und Kunst anregte, erschienen 1952 in dem Büchlein »Ich bin Komponist«, äußert sich Honegger über das in der Tradition verankerte Werden seiner Werke: »Geniale Meister wie Bach haben die Werke ihrer Vorgänger übertragen und daraus geschöpft. Heute verlangt man von Komponisten, dass er Eigenes beibringt: es ist vollkommen überflüssig, die Sonate eines anderen nachahmen zu wollen. Der Komponist muss im Abstrakten einen eigenen Vorwurf finden und ihn im Geiste ausbauen. Aber dieser Vorwurf wird keine endgültige Gestalt haben können, bevor er verwirklicht ist, denn je nach dem Material, das dazu verwendet wird, kann auch die Gestaltung des Vorwurfs sich verändern. Plötzlich bekommt die Figur eine andere Nase. Ihr Aussehen, ihre Proportionen ändern sich und zwingen mich, die schöne nackte Dame in einen Leoparden zu verwandeln.« JEANNE D'ARC AU BÛCHER: NATIONALES MYSTERIUM Neben fünf Symphonien, Opern, Operetten, Balletten, Filmmusik und dem dramatischen Psalm »Le roi David«, in der ersten Fassung uraufgeführt 1921 im schweizerischen Freilufttheater Mezières, gehört das Bühnenoratorium »Johanna auf dem Scheiterhaufen« »Die heilige Johanna auf dem Scheiterhaufen« Wiener Staatsoper im Theater an der Wien, 1950 nach einer Dichtung von Paul Claudel zweifellos zu Honeggers wichtigsten und bekanntesten Kompositionen. Die legendäre Tänzerin und Ballett- wie Theaterunternehmerin Ida Rubinstein hat das szenische Werk, angeregt durch ein mittelalterliches Mysterienspiel an der Pariser Sorbonne, in Auftrag gegeben. Die Annäherungen an die französische Nationalheilige konnten unterschiedlicher nicht sein: Paul Claudel, der katholische Mystiker, lehnte zuerst sogar ab, da er es nicht wagte »die historische Gestalt der Jungfrau von Orleans in einen fiktiven Rahmen zu stellen.« Nach der Vision eines Kreuzzeichens während einer 7 Bahnfahrt begann er schließlich doch am Libretto zu arbeiten und so konnte der Schweizer Calvinist Honegger im Sommer 1934 mit der Vertonung für eine russische Jüdin beginnen. Paul Claudel »Jeanne d’Arc vor dem König von Frankreich« Claudel hatte ganz genaue Vorstellungen vom musikalischen Ablauf des Oratoriums und der Komponist Honegger war bereit, sich kreativ unterzuordnen: »Die ganze musikalische Atmosphäre ist geschaffen, die Partitur entworfen, und der Komponist braucht sich nur führen zu lassen, um all das Klang werden zu lassen. Es genügt Claudel wieder und wieder seinen Text lesen zu hören. Er tut dies mit einer so plastischen Kraft, dass sich für jeden, der nur auch ein bisschen musikalische Phantasie hat, das ganze musikalische Relief daraus ergibt. Tatsächlich war Claudels Anteil an >Jeanne d'Arc au bûcher< so groß, dass ich mich nicht als den eigentlichen Autor des Werkes betrachte, sondern nur als einen bescheidenen Mitarbeiter.« Ausgehend vom Tag der Hinrichtung Jeanne d'Arcs am 30. Mai 1431 erzählt Claudel ihr Schicksal in einer Folge nicht chronologisch ineinander übergehender Szenen aus ihrem Leben. Die einzig reale Gestalt bleibt sie selbst, umgeben von symbolträchtigen Figuren, abstrakten Anspielungen und Allegorien. Honegger besetzt das Orchester mit dreifachem Holz, drei Alt-Saxophonen anstelle der Hörner, zwei Klavieren, Celesta und den elektronischen Ondes Martenot und erreicht damit eine Vielzahl an möglichen Klangfarben. Das musikalische Material ist so vielschichtig wie das erzählte Schicksal. Honegger verwendet unter anderem die gregorianische Antiphon »Aspiciens a longe« (8. Szene), das lothringische Volkslied »Trimazô« (10. Szene), barocke Tänze und verzerrte Jazz-Rhythmen, die besonders im Tiergericht (4. Szene) die Wahl des Schweins (»cochon«) zum Vorsitzenden kommentieren. Es ist ein ironischer Verweis auf den Bischof von Beauvais, Pierre Cauchon, der im historischen Prozess eine sehr zwielichtige Haltung einnahm. Nach der konzertanten Uraufführung 1938 durch Paul Sacher in Basel mit Ida Rubinstein in der Hauptrolle, erlebte das Werk im neutralen, von den Wirren des Zweiten Weltkriegs fernen Zürich, am 13. Juni 1942 seine szenische Uraufführung. Der bedeutende Musik- und vor allem Filmkritiker Émile Vuillermoz zeigte sich begeistert: »Was für eine Abwechslung in der Wahl des Materials! Skandierte Worte, Choräle, Murmeln, Schreien, Psalmodieren, Chöre mit geschlossenem Mund, gesprochene und gesungene Wutausbrüche, himmlische Stimmen, Klänge, die abwechselnd dumpf und drohend und kristallklar sind.« Nach dem Krieg, währenddessen das Ensemble »Chantier orchetral« das nicht unpolitische Werk um die verlorene Einheit Frankreichs auf einer Tournee in über vierzig Städten im unbesetzten Teil des Landes aufführte, fügten Claudel und Honegger noch einen Prolog hinzu, der Jeanne als Retterin Frankreichs preist. Diese finale Fassung wurde erstmals am 8 18. Dezember 1950 an der Pariser Opéra aufgeführt. Wie in vielen seiner anderen Werke, verbindet Honegger den Anspruch verstanden zu werden, ohne sich an den Publikumsgeschmack anbiedern zu müssen: »Mein Wunsch und mein Ziel waren es immer, eine Musik zu schreiben, die zwar verständlich für die breite Masse sein soll, aber doch so weit frei von Banalität, dass auch die wirklichen Musikfreunde ihren Reiz an ihr finden.« Die Live-Aufnahme mit Seiji Ozawa und dem Orchestre National de France vom Festival de Saint Denis aus dem Jahr 1989 mit der herausragenden Marthe Keller als Sprecherin gilt künstlerisch wie technisch als absolute Referenzaufnahme des Werkes. Arthur Honegger bei einer Regiebesprechung, 1949 9