A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien - H-Soz-Kult

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A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien
Reckwitz, Andreas: Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft
2000. ISBN: 3-934730-15-9; 704 S.
Rezensiert von: Andreas Pecar, Historisches
Institut, Universitaet Rostock
Der Kulturbegriff hat in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Zunehmend versucht sich die Geschichtswissenschaft als Kulturwissenschaft
zu etablieren. Dies hat im Wissenschaftsbetrieb schon einige Spuren hinterlassen.
Manche der für die kulturalistische Wende klassischen Texte finden sich mittlerweile auch in erschwinglichen Anthologien wieder1 . Und verschiedene Beiträge suchen ferner die unterschiedlichen Richtungen der
Kulturgeschichte miteinander zu vergleichen
und so die Bandbreite der methodischen Neuorientierung aufzuzeigen2 . So können die
ansonsten so unterschiedlichen Ansätze der
Mentalitäts-, Alltags-, Mikro- und Geschlechtergeschichte alle als Teil einer neuen Kulturgeschichte aufgefaßt werden. Diese Heterogenität der unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Ansätze ist gleichzeitig auch das Problem der neueren Kulturgeschichte. So ist keineswegs klar, welche Vorstellung von Kultur
und Kulturgeschichte den Leser jeweils erwartet, wenn er ein Buch zur Hand nimmt,
das der Kulturgeschichte zugerechnet wird.
Schon die Bedeutungsvielfalt des Kulturbegriffes läßt sich kaum überschauen, und noch
heterogener gliedert sich die Vielfalt der kulturwissenschaftlichen Ansätze. Für kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten stehen meist
einzelne Sozialtheorien Pate, etwa von Michel
Foucault, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann
oder Clifford Geertz, die als Klassiker rezipiert werden. Was diese unterschiedlichen Sozialtheorien miteinander verbindet und was
sie unterscheidet, wird allerdings nur selten
in den Blick genommen. Es ist daher zu begrüßen, daß der Soziologe Andreas Reckwitz
nunmehr ein Werk vorgelegt hat, das den
Vergleich prominenter Kulturtheorien in den
Mittelpunkt stellt.
Reckwitz wendet sich nicht allen Bereichen
des cultural turn gleichermaßen zu. Die epistemologischen Auswirkungen des cultural
turn bleiben ebenso unberücksichtigt wie die
methodologischen Konsequenzen. Dagegen
steht der Wandlungsprozeß der Sozialtheorien im Mittelpunkt. Reckwitz geht davon aus,
daß die modernen Kulturtheorien ein theoretisches Feld bilden. Dieses Feld läßt sich „nach
außen“ von anderen Sozialtheorien abgrenzen: gegenüber den sozialtheoretischen Paradigmen des homo oeconomicus sowie des
homo sociologicus treten die Kulturtheorien
mit dem Anspruch auf, menschliches Handeln treffender beschreiben zu können, indem
sie den Menschen als animal symbolicum
zum Untersuchungsgegenstand machen und
die soziale Reproduktion von Handlungsmustern über kognitiv-symbolische Schemata erklären. Dabei lassen sich die Kulturwissenschaften allerdings nicht als eine klare Einheit begreifen. Vielmehr rekonstruiert Reckwitz einen Transformationsprozeß der sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien. So verbergen sich hinter dem Begriff der Kulturtheorie
zwei unterschiedliche Theoriestränge: Zum
einen die Entwicklung der Kulturtheorien auf
der ursprünglichen Grundlage des Strukturalismus, angefangen von Claude Lévi-Strauss
über Ulrich Oevermann und Michel Foucault
bis zu Pierre Bourdieu. Zum anderen die
Entwicklung der interpretativen Kulturtheorie von Alfred Schütz über Erving Goffman
und Clifford Geertz bis zu Charles Taylor, die
ursprünglich auf dem Fundament phänomenologischer Untersuchungen aufbaute. Beide
Theoriestränge waren in den letzten dreißig
Jahren einem Wandlungsprozeß unterworfen,
in welchem sich immer stärker neue Gemeinsamkeiten beider Richtungen herausbildeten,
während die unüberbrückbaren Gegensätze,
die noch die sozialtheoretischen Entwürfe
von Lévi-Strauss und Alfred Schütz voneinander trennten, mehr und mehr in den Hintergrund traten. Der Transformationsprozeß
1 Christoph
Conrad / Martina Kessel (Hgg.): Kultur
& Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung,
Stuttgart 1998.
2 Vgl. nur exemplarisch: Wolfgang Hardtwig / HansUrich Wehler (Hgg.): Kulturgeschichte heute, (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 16), Göttingen
1996; Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hgg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge
zu einer Theoriedebatte, München 1997; Ute Daniel:
Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten
in der Geschichtswissenschaft, in: GWU 48 (1997), 195218 und 259-278.
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der Kulturtheorie läßt sich begreifen als eine
Konvergenzbewegung zu einem einheitlichen
kulturwissenschaftlichen Paradigma, so lautet die These, die Reckwitz in seinem materialreichen Werk zu belegen sucht.
Kernstück seiner Untersuchung sind die
Einzelstudien zu den einzelnen Sozialtheorien, die insgesamt mehr als dreihundert Seiten
einnehmen. Diese können hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Allerdings sei
darauf hingewiesen, daß es sich bei den vorgestellten Sozialtheorien um eine recht heterogene Auswahl handelt. Im Blickpunkt stehen der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der
Sozialanthropologe Clifford Geertz, die Soziologen Ulrich Oevermann, Pierre Bourdieu, Alfred Schütz und Erving Goffman, der Philosoph Charles Taylor sowie der „Sozialwissenschaftler“ Michel Foucault. Die meisten der
hier aufgeführten Autoren haben sich explizit um die Formulierung einer Sozialtheorie
bemüht, waren also stärker theoretisch orientiert. Manche Autoren sind dagegen vor allem
durch empirische Einzeluntersuchungen hervorgetreten (vor allem Goffman), aus denen
eine eigenständige Sozialtheorie erst erschlossen werden muß. Alle Autoren lassen sich
indes der Kulturtheorie zuordnen. Der dargelegte Transformationsprozeß ist daher keineswegs auf einzelne Disziplinen wie die Soziologie festgelegt, sondern umfaßt alle Sozialwissenschaften in gleicher Weise. Mit Hilfe dieser Einzelstudien ist ein vergleichender
Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen kulturalistischen Deutungsansätze möglich, läßt sich auch ein aktueller Stand der kulturwissenschaftlichen Debatte resümieren.
Wie kann nun aber der Transformationsprozeß der Kulturtheorien beschrieben werden, und welche Konsequenzen ergeben sich
daraus für eine Geschichtswissenschaft, die
sich als Teil der Kulturwissenschaft begreifen will? Am Anfang stand ein Antagonismus zweier theoretischer Ansätze. Im Sinne
des Strukturalismus (Lévi-Strauss) muß eine
Erklärung menschlichen Handelns stets die
symbolischen Codes zu rekonstruieren versuchen, die das Handeln hervorbringen. Diese Codes sind übersubjektiv existierende Differenzsysteme, denen sich die menschlichen
Akteure nicht bewußt sind. Die subjektiven
Interpretationen des Handelns erscheinen daher dem Strukturalisten letztlich unerheblich.
Gerade diese subjektive Perspektive steht dagegen bei der Sozialphänomenologie (Schütz)
im Mittelpunkt. Die Betonung übersubjektiver Elemente verstelle letztlich den permanenten Prozeß intentionaler Sinnzuschreibungen, den es im einzelnen Subjekt zu analysieren gelte und ohne den menschliches
Handeln letztlich nicht erklärt werden könne. Gemeinsam ist beiden ansonsten so unterschiedlichen Sozialtheorien ihre „mentalistische Ausrichtung“ (551), das heißt der Versuch, menschliches Handeln letztlich durch
eine Rekonstruktion mentaler Strukturen mit
universalem Charakter erfassen zu können.
Der Gegensatz von Geist und Außenwelt
steht bei beiden Startpunkten der Kulturtheorie im Mittelpunkt und hat seinerseits wiederum lange zurückreichende Wurzeln, die
letztlich bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft zurückreichen. Im Verlauf des Transformationsprozesses verlieren nun sowohl
der gemeinsame Aspekt von Strukturalismus
und Sozialphänomenologie (die mentalistische Ausrichtung) als auch der Antagonismus
zwischen Holismus auf der einen und Subjektivismus auf der anderen Seite an Bedeutung.
Statt dessen wenden sich spätere Sozialtheorien (z.B. von Pierre Bourdieu und Charles Taylor) von einer Rekonstruktion der rein geistigen Welt ab und einer Untersuchung der sozialen Praktiken zu. Diese Hinwendung zu
den sozialen Praktiken hat nun aber zur Folge, daß der ursprünglich angenommene Antagonismus zwischen der subjektiven und der
objektiven Perspektive der Kulturanalyse zunehmend als obsolet erscheint. Vielmehr stehen nun Verhaltensroutinen, kollektive Sinnmuster sowie Symbole und Rituale im Mittelpunkt der Betrachtung, d. h. die Wissensordnungen, die dem menschlichen Akteur ein
konkretes Handeln entweder als sinnvoll nahelegen oder als sinnlos ausschließen. Um
diese Wissensordnungen zu rekonstruieren,
muß schließlich auch der postulierte universale Charakter mentaler Strukturen aufgegeben werden. Statt dessen lassen sich die unterschiedlichen sozialen Praktiken auch nur
durch jeweils als unterschiedlich angenommene Wissensordnungen hinreichend erklären, ist also bei der Untersuchung der sozialen
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A. Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien
Praktiken immer auch eine Untersuchung der
jeweils spezifischen kulturellen und sozialen
Kontextbedingungen vonnöten.
Nicht alle untersuchten Sozialtheorien lassen sich in gleichem Maße diesem Transformationsprozeß zuordnen. In beiden Strängen
gibt es darüber hinaus noch eine Seitenlinie,
die die Kultur als Text interpretieren möchte. Insbesondere im Frühwerk Foucaults sowie in einigen Arbeiten von Geertz lassen sich
Versuche in diese Richtung feststellen. Unabhängig von der gegenwärtigen Konjunktur dieser Deutung von „Geschichte als Text“
in manchen Bereichen der Literaturwissenschaft und (seltener) der Geschichtswissenschaft hält Reckwitz diese theoretische Entwicklung zu Recht für einen Irrweg. Die Vorstellung, daß Texten, Ritualen oder symbolischen Formen eine immanente Bedeutung zugeschrieben werden könne, die unabhängig
von den jeweiligen Wissensformen der Autoren, Produzenten oder Rezipienten existiert,
erweist sich bei der Interpretation menschlichen Handelns als wenig hilfreich.
Daß die Kulturtheorie auch nach der weitgehend vollzogenen Konvergenz der beiden
ursprünglich getrennt verlaufenen Stränge
nicht an ihr Ende gekommen ist, macht Reckwitz ebenfalls deutlich. Als offene Enden der
Kulturtheorie sieht er zum einen das bisher
weitgehend unbeantwortete Verhältnis zwischen Texten und Praktiken sowie ferner den
Antagonismus zwischen einem Homogenitätsmodell der Kultur auf der einen und einem Modell zahlreicher kultureller Interferenzen auf der anderen Seite. Weitere offene
Fragen werden sich unschwer finden lassen.
Von einem „Ende der Kulturheorie“ ist daher
bei Reckwitz zu keinem Zeitpunkt die Rede.
Mit Reckwitz Analyse des Transformationsprozesses der Kulturtheorien liegt ein
vielschichtiges Werk vor, das auch für die
Geschichtswissenschaft mehrere Verwendungsmöglichkeiten bereithält. Es vergleicht
zahlreiche unterschiedliche kulturtheoretische Ansätze, die zumindest teilweise auch
in der Geschichtswissenschaft auf große
Resonanz stoßen. Es zeigt auf, welche theoretischen Interpretationsansätze durch den
Transformationsprozeß mittlerweile zu Recht
als überholt gelten dürfen und daher auch
bei geschichtswissenschaftlichen Interpreta-
tionen wenig Überzeugungskraft entfalten
können. Und es macht deutlich, daß sich die
heutige Kulturtheorie mit guten Gründen vor
allem als Theorie sozialer Praktiken etabliert
hat, wovor sich auch die Geschichtswissenschaft nicht verschließen sollte. In diesem
Sinne sei die Untersuchung von Reckwitz
jedem Historiker nachdrücklich empfohlen.
Andreas Pecar über Reckwitz, Andreas: Die
Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist 2000,
in: H-Soz-Kult 02.10.2000.
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