Autorentheater oder Regietheater

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Autorentheater oder Regietheater - Beispiel: naturalistisches Drama
Regiekonzepte im Literaturunterricht der Sekundarstufe II
Gerhart Hauptmann „Die Weber“ – „Der Biberpelz“
Autorentheater: Werktreue ist die Maxime der
Inszenierung. - Es gilt, die Intention des Autors
zu erfassen und direkt auf der Bühne umzusetzen.
Dabei sind die Entstehungsbedingungen und der
soziohistorische Kontext zu beachten: bes. für
illusionierendes Bühnenbild, Requisiten, Kostüme, Figurenkonzept, Sprechstil… Literarische
Authentizität wird angestrebt statt der Ausprägung einer eigenständigen Interpretation, einer
Aktualisierung oder Modernisierung. - Heute
wird diese Theaterform z. T. als historisierender
Umgang mit Literatur verstanden.
Regietheater: Freier Umgang mit dem Text und Interpretationsfreiheit sind die Maximen der Inszenierung. Das Schauspiel ist Grundlage oder gar nur Anlass für
eine eigene Interpretation: Regisseur, Dramaturg und
Schauspieler wollen ihre heutige Sicht zum Thema des
Textes mit in die Aufführung bringen oder kreativ mit
dem Originaltext umgehen. Sie erarbeiten eine moderne, aktuelle Fassung, eine stark gekürzte „Strichfassung“, eine ergänzte und veränderte Regiefassung. Die
Bühnengestaltung setzt ein Stück aus vergangener Zeit
in den Horizont der Gegenwart. - Diese Theaterform
geht heute manchen zu weit vom Original weg.
Die Weber - Zelnik 1927 (s. u.)
Die Weber - Inszenierung: Castorf 1977
http://www.deutsches-filminstitut.de/f_films/film/f001093.htm
DER SPIEGEL 42/1997
Der Biberpelz – Inszenierung: U.S. Eggimann 2005
Der Biberpelz - Maxim Gorki Theater Berlin 2007
Bild: Patrick Pfeiffer, Konstanz
http://www.elb.ch/archiv/biberpelz.html
http://www.gorki.de/buehne/mgt.php?id_language=1
DIDAKTISCH : Über Kontrastierung und Vergleich von Originaltext und Inszenierungen (Theateraufführung,
Theaterverfilmung, Literaturverfilmung) die Schülerinnen und Schüler in die Auseinandersetzung mit einem
dramatischen Text bringen:
•
Verständnis und Wirkungen eines Werks
•
Auslegung und Interpretation von Teilen
•
Argumentierendes Interpretieren ausgewählter Szenen - vor allem über die szenischen Mittel:
BÜHNENAUFBAU, KULISSEN, REQUISITEN, KOSTÜME, MISE EN SCÈNE, BEWEGUNGSFÜHRUNG, BELEUCHTUNG, MIMIK, GESTIK, SPRECHWEISE – TEXT, REGIEANWEISUNGEN
•
Erörterung der Intentionen heutiger und früherer Inszenierungen mit historischer Differenz
•
Erörterung der Aufgaben des Theaters heute
-1-
•
Eigene produktionsorientierte Versuche
Autorentheater
Die Weber
http://www.filmmuseum-potsdam.de/images/2602_3061_Kopf_DieWeber.jpg
Die Weber - D 1927 R: Friedrich Zelnik, D: Paul Wegener, Theodor Loos, Arthur Kraußneck - 101’ - Uraufführung 14.05.1927 Berlin: Capitol
Der Aufstand der schlesischen Weber im Sommer 1844 gilt als erste Arbeitererhebung in Deutschland. Ausgangspunkt
war Peterswaldau in den schlesischen Bergen, von wo aus der Aufstand auf die benachbarten Dörfer übergriff. Sowohl
der Film als auch das zugrunde liegende Schauspiel folgen den historischen Gegebenheiten: Die Weber produzieren in
Heimarbeit für einen Hungerlohn Stoffe für den Fabrikanten Dreißiger. Der jedoch bemängelt die Qualität ihrer Ware
und lehnt ihre Bitten um höhere Löhne und Vorschüsse ab. Auch droht er, dass die Löhne auf Grund der Konkurrenz
durch die mechanischen Webstühle gesenkt werden müssen. Ein aufbegehrender Arbeiter wird entlassen, ein Weberkind bricht vor Hunger zusammen. Empört über die Langmut und Unterwürfigkeit der Weber versucht der ehemalige
Soldat Moritz Jäger, der als Arbeiter durch seinen Militärdienst Einblick in die sozialen und politischen Verhältnisse
gewonnen hat, die Arbeiter zum Widerstand zu bewegen. Der Zug der Weber zum Haus des Fabrikanten formiert sich,
das Lied vom "Blutgericht" auf den Lippen. Dreißiger lässt Moritz festnehmen. Sein Abtransport wird jedoch von den
Webern verhindert. Sie stürmen Dreißigers Villa, dem jedoch die Flucht gelingt. Am Aufruhr beteiligt ist auch Luise,
die trotz des Verbots ihres Vaters, den Aufstand durch ihr mutiges und radikales Auftreten unterstützt. Als das Militär
gegen die Weber eingesetzt wird, gelingt es, den Ansturm abzuwehren. Luises Vater bricht, von einer Kugel getroffen,
am Webstuhl zusammen und stirbt. In Inszenierung, Kameraführung und Schnitt-Technik an sowjetische Revolutionsfilme angelegt, bringt der Film "keine Klassenversöhnung auf die Leinwand; er zeigt, wie Pfaffe und Waffe, Polizist
wie Pastor und Militär dem Wink des Fabrikanten folgen" (Die Rote Fahne, 1927). Eine in seiner Milieuzeichnung
gelungene werkgetreue Verfilmung von Hauptmanns Schauspiel. Die Rollen wurden von Hauptmann-erfahrenen Bühnenschauspielern übernommen. Stil- und Maskenentwürfe sowie die Zwischentitel stammen von George Grosz.
http://www.filmmuseum-potsdam.de/de/398-0-951.htm
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Februar 2008
http://www.dittchenbuehne.de/
http://www.dittchenbuehne.de/programm/Stueck/DieWeber/show/slides
/Tragik.html (weitere Fotos)
Die Weber - Inhalt
"Die Weber" ist ein sozialkritisches Drama, das am 26.
Februar 1893 im neuen Theater Berlin im privaten Kreis
und am 25. September 1894 im Deutschen Theater Berlin
öffentlich aufgeführt wurde. Der historische Vorhang des
Werkes war der schlesische Weberaufstand im Jahr 1844.
Im Mittelpunkt des naturalistischen Theaterstückes steht
Armut, Aussichtslosigkeit und Aufstand in der Vorzeit
der Industrialisierung.
Am Warenannahmetag bringen alle Weber die Stoffe, die sie in Heimarbeit gewebt haben, zum Textilfabrikanten Dreißiger in Peterswaldau. Der Expedient Pfeifer drückt den Lohn und droht dabei den Unzufriedenen mit der Entlassung.
Die junge Weberin Bäcker tritt im Unterschied zu den resignierten Webern selbstbewusst auf und fordert Gerechtigkeit.
Der Fabrikant Dreißiger beruhigt die Menschen und wirbt um Verständnis für seine schwierige Lage als Fabrikant.
-2-
Der alte Baumert trifft den jungen Moritz Jäger, der gerade seinen Militärdienst beendet hat. Er hat viel Verständnis für
die Weber und organisiert zusammen mit Bäcker den Weberaufstand.
Die Dreißiger-Familie muss flüchten. Der alte Baumert, der am Anfang so fest an Jägers Idee glaubte, zieht sich von
den Webern enttäuscht zurück. Er stirbt am Webstuhl und hinterlässt die offene Frage, ob es der richtige Weg ist, Gewalt gegen Gewalt einzusetzen.
Die Weber sind wie Menschen-Kokons, fest in ihrem eigenen Schicksal gefangen. Der eigene Webstuhl wird zur Falle.
Inhaltlich hat das Drama „Die Weber“ seine Aktualität leider nicht verloren.
Heutzutage fordern Globalisierung und die technologische Revolution ihren Tribut wie damals die Mechanisierung bei
den Webern in Schlesien! Produktionsstätten werden in Billiglohnländer verlagert. Viele Menschen leben in Angst,
ihren Arbeitsplatz zu verlieren und leiden unter ständigem Konkurrenzdruck. Man führt Diskussionen über Managergehälter und Mindestlöhne, über Soziale Marktwirtschaft, neue Techniken und internationalen Wettbewerb, über Kinderarmut und die soziale Verantwortung in unserer Gesellschaft.
So kann Hauptmanns Drama uns in Gegenwart und Zukunft wegweisend sein.
Vilija Neufeldt - Forum Baltikum-Dittchenbühne e.V.
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Oktober 2004
http://www.mdr.de/I/1672159.jpg
---------------------------------------------------------MDR:
Weiter Aufführungsverbot für Dresdner Inszenierung
Was machte "Die Weber" zum Skandal?
In Dresden geriet die Premiere von Gerhart Hauptmanns Stück "Die Weber" zum Skandal. Ein "Chor der Arbeitslosen" beschimpfte Ministerpräsident Milbradt, Kanzler Schröder und Moderatorin Christiansen. Besorgt
fragte die BILD-Zeitung, wie viel Freiheit die Kunst vertrage. MDR FIGARO und der SACHSENSPIEGEL
gehen dieser Frage, die nun vor Gericht entschieden wurde, nach.
(Die Weber von heute? Der Chor der Arbeitslosen. 33 Dresdner Bürger und Bürgerinnen vor dem Eisernen Vorhang
rezitieren Hauptmann und eigene Verse. Bild: Matthias Creutziger)
Ein "naturalistisches Sozialdrama" - so lernt man es in der Schule - sei das Stück "Die Weber" von Gerhart Hauptmann.
Es handelt von Not und Elend der schlesischen Weber. Der ausbeuterische Fabrikant Dreißiger drückt den Lohn, denn
Arbeitslose gibt es genug. Da schließen sich die Weber zusammen. Als ihr Wortführer festgenommen wird, stürmen die
Aufständischen die Villa. Das Militär greift ein ...
Am 30. Oktober feierte das Hauptmann-Stück am Dresdner Staatsschauspiel Premiere. Regisseur Volker Lösch aktualisierte das Drama, das er als Anklageschrift gegen Hunger und unmenschliche Verhältnisse liest. Ihm sind die Not und
das Elend der Weber von damals die Ausgeschlossenheit und die Isolation der Langzeit-Arbeitslosen von heute. Er lässt
sie auftreten wie einen "antiken Chor" der Ausgestoßenen. Sie kommentieren nicht aus der Distanz das Geschehen,
sondern sind Betroffene: 33 Dresdner Bürger holte Regisseur Volker Lösch auf die Bühne - und sorgte für einen Skandal. Fand jedenfalls die "BILD"-Zeitung. Denn diese "Weber" von heute gehen "einen mächtigen Schritt weiter als die
HARTZ IV-Demonstranten: Sie wehren sich mit Gewalt gegen Lebensumstände, die ihnen Gewalt antun." So formulierte es Volker Lösch in einem Interview.
Verbaler Stein des Anstoßes
Zur Aktualisierung gehören so die Zerstörung eines vergoldeten Mercedes-Benz, statt der Plünderung der GutsherrenVilla - und Textveränderungen, in denen der Stein des Anstoßes liegt. Der neue Text des Chores besteht aus den spontanen Antworten auf Fragen, die der Regisseur bei der Erarbeitung des Stückes von seinen "Choristen" bekam. In der
Inszenierung überschreiten sie das, was wohl gemeinhin als "guter Geschmack" gilt: Auf die Frage, wer denn die
Schuld an der Misere trage, antwortet der Chor der Arbeitslosen dann sehr konkret, wobei der sächsische Ministerpräsident als "blöde Sau" beschimpft wird, Bundeskanzler Gerhard Schröder als "Verräterschwein". Außerdem heißt es:
"Wen ich sehr schnell erschießen würde, das wäre Sabine Christiansen, weil sie so oft die Chance gehabt hätte, eben
diese Leute auch wirklich zu schlagen, diese ganzen alten blöden Männer."
-3-
Die Reaktionen des Premieren-Publikums waren gespalten - und die BILD-Zeitung fragte: Ist das noch Kunst? Ist das
noch statthaft, schließlich schieße Milbradt aus der Landeskasse 14 Millionen zum Etat des Hauses zu. Regisseur Volker Lösch wollte sich so schnell nicht unter Druck setzen lassen: "Ich habe nicht die Absicht, etwas zu ändern" - und
kommentierte: "Die Stammtisch-Sätze seien kein Statement des Theaters, sondern Ausdruck emotionaler Erregung
Betroffener." Und: Ein Drittel seines Chores werde nächstes Jahr von HARTZ IV betroffen sein. Im Übrigen wunderte
er sich über die Aufregung: "In Berlin würde niemand von so etwas Notiz nehmen."
Was darf Theater? - Reaktionen
Skandal oder nicht? Leipzigs Schauspielschef Wolfgang Engel war bei der Premiere und findet, Regisseur Volker
Lösch habe seine Sache gut gemacht: "Wir Theaterleute haben einen Beruf, bei dem man damit rechnen muss, dass man
polarisiert." Er meint, "jeder, der dieses Stück aufführt, versucht, etwas von der Aggression, die in diesen Menschen
steckt, darzustellen." Lösche zeige auf der Bühne schließlich, wie deren Zerstörung durch Arbeitslosigkeit stattfindet,
wie sie entsozialisiert werden, anfangen zu saufen, sich zu prügeln, wie sie zu Mob werden. Buchautor und Journalist
Michael Bartsch weist im FIGARO-Gespräch auf den Kontext der Inszenierung hin. Lösche stelle darin nämlich die
Frage, ob uns heute, so wie im 19. Jahrhundert, ähnlich elementare Konflikte und klassenkämpferische Zustände drohten.
Schriftsteller und Publizist Friedrich Dieckmann hingegen findet "solche Sachen nicht gut". MDR FIGARO sagte er,
die Frage des guten Geschmacks sei schließlich "eine wichtige Kategorie im Theater". An der Vergröberung habe jedoch nicht allein das Theater Anteil, sondern auch "bestimmte Medien". Letztlich komme es auf "die Gabe des Regisseurs" und die "Souveränität des Publikums" an.
Berliner Gericht bestätigt Urheberrechtsverletzung
Am 24. November beschäftigte sich das Berliner Landgericht erstmals mit einer Klage des Bühnenverlags Felix Bloch
Erben, der die Aufführungsrechte im Auftrag der Hauptmann-Enkelin vertritt. Überraschend gaben die Richter dem
Antrag auf Einstweilige Verfügung gegen die Inszenierung statt. Das Staatsschauspiel sollte das Stück "im Originaltext"
spielen, weil sonst die "Werkintegrität" verletzt werde. Bei Verstoß drohten 250.000 Euro Bußgeld. Ein Einspruch des
Staatsschauspiels wurde abgelehnt. So gab es am 25. November keine Aufführung, sondern ein Video von der Generalprobe ohne die verbotenen Szenen und eine Diskussion. Das Berliner Landgericht folgte auch am 11. Januar der Auffassung des Verlages, dass die Inszenierung das Urheberrecht verletze und deshalb nicht mehr gespielt werden dürfe.
Die Dresdner Staatsanwaltschaft hatte hingegen kein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung und Beleidigung
eingeleitet und befunden, alle Äußerungen seien durch das Grundrecht auf künstlerische Freiheit gedeckt.
"Hartz IV-Befürworter, Anhänger großer Parteien werden interniert und mit Peitschen zur Arbeit getrieben,
wenig Schlaf, Folter ... Straffällige Personen werden härter bestraft, eventuell Ausweisung nach Sibirien oder
Verbrennung in Öfen." Zitat aus dem Programmheft, das inzwischen zurückgezogen wurde.
http://www.mdr.de/kultur/musik_buehne/1671267.html
zuletzt aktualisiert: 11. Januar 2005 | 19:23
------------------------------------------------------DLF - KULTUR HEUTE 15.02.2005 Von Hartmut Krug
"Die Dresdener Weber" ganz ohne Hauptmann
Die Neuinszenierung des so genannten Skandalstücks in Dresden
"Die Dresdner Weber" am Staatsschauspiel Dresden (Bild: Staatsschauspiel
Dresden)
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/348119/bilder/image_main/
Die erste Dresdener "Weber"-Inszenierung vom Oktober vergangenen Jahres
wurde vom auf Wunsch der Hauptmann-Enkelin vom Bühnenverlag angerufenen
Berliner Landgericht vorerst verboten. Aber nicht etwa, weil die Collage aus Hauptmanns gekürzten Texten und neuen,
emotional aufgeheizten, authentischen Texten eines Weberchores aus Dresdener Bürgern volksverhetzend oder gewaltverherrlichend sei, wie manche Medien und die mit Gewaltphantasien bedachte Fernsehmoderatorin Sabine Christiansen meinten, sondern weil die massiven Änderungen vertraglich nicht eindeutig abgesprochen schienen. Nur konsequent, dass die neue Inszenierung unter dem Titel "Die Dresdener Weber - eine Hommage an Gerhart Hauptmann" ohne
Worte von Gerhart Hauptmann auskommt, aber auf den kruden Meinungsmix der Dresdener Weberchor-Bürger zu
Arbeitslosigkeit und Freiheit, Utopie und gesellschaftlicher Misere nicht verzichtet. Man kann den Versuch des Dramaturgen Stefan Schnabel und des Regisseurs Volker Loesch durchaus für gewagt halten, die historische Situation der
hungernden schlesischen Weber im 19.Jahrhundert mit der von Arbeitslosen und Hartz IV Betroffenen von heute in
parallelisierende Beziehung zu setzen. Doch das Theater hat damit einen Nerv seiner Zuschauer getroffen. Das bewiesen die heftigen Reaktionen sowohl auf die neue Inszenierung wie bei der anschließenden Publikumsdiskussion.
Auch die neue Dresdener "Weber-"Inszenierung collagiert historische und aktuelle Texte:
Auf der Gegenwartsebene fügt sie zu den Chortexten Dresdener Bürger über ihre Lebens- und Arbeitserfahrungen Zita-4-
te von Politikern zur Auseinandersetzung über Hartz IV, während sie auf der Vergangenheitsebene mit Texten aus dem
Vormärz (so von Georg Weerth, Wilhelm Wolff, Heinrich Heine) und zum schlesischen Weberelend den Weberaufstand des 19.Jahrhunderts mit den Problemen der Arbeitsgesellschaft unserer Tage verbindet.
Es beginnt mit Grimms Märchen vom eigensinnigen Kind, das zur Metapher für den gesamten Abend wird. Dann wird
der Verbotsprozeß zur ersten Dresdener Inszenierung mit satirischer Schärfe und mit in der leichten Verfremdung gut
wieder erkennbaren realen Personen durchgespielt. Dem Chor, der einige Zeilen aus Hauptmanns Stück zu sprechen
begann, wird der Mund Tesafilm verklebt. Minutenlang versucht er vergeblich, seine Texte zur artikulieren. Dann ruft
sein wütend aufbegehrendes Donnern gegen den eisernen Vorhang eine Figur herbei, die, angesprochen als Herr Zwanziger, an den Kapitalisten Dreißiger aus Hauptmanns Stück gemahnt, sich aber als Bundespräsident Horst Köhler entpuppt. Indem die Inszenierung dessen präsidiale Antrittsrede in den Zusammenhang des Hauptmannschen Stückes und
der chorischen Passagen über Glück und Utopie setzt, werden Köhlers Phrasen vom Umbau des Sozialstaates, bei dem
alle in einem Boot säßen und alle mit ihrem Mut gleichermaßen wertvoll für Deutschland seien, nicht kabarettistisch
verjuxt, sondern als kitschige Besänftigung mit falschem, hohlem Ton kenntlich.
Der Abend ist eine dialektische Zitaten-Collage, die aus der Montage gegensätzlicher Texte sinnliche Funken schlägt.
Wenn da aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von Karl Marx über das Wesen der Arbeit zitiert wird,
tritt Peter Munck aus Wilhelm Hauffs Märchen "Das gläserne Herz" auf und betet den Mammon an. Dagegen setzt das
"Manifest der Glücklichen Arbeitslosen" seine Meinung, das Unglück des Arbeiters beruhe nicht auf dem Mangel an
Arbeit, sondern an dem Mangel an Geld. Und das Bier fließt in Strömen aus großen Krügen. Jemand, der behauptet,
Hauptmann gekannt zu haben, kritisiert den Sozialkitsch der Inszenierung und zitiert Überlegungen (auch der einstigen
Zensurbehörde), auf wen und wie Hauptmanns Stück wirken könne.
So reflektiert die Inszenierung im Spiel zugleich Form und Wirkung des Gespielten. Auch schauspielerisch virtuos dann
das Nachspiel einer Sabine-Christiansen-Talkshow (deren Name nie erwähnt wird) in einem goldenen Wagen. Die
originalen Texte entlarven sich sofort in ihrer erbärmlichen Sprachlosigkeit und vernutzten Klischeehaftigkeit. Was bei
Hauptmann die Wohnung des Fabrikanten, ist hier der goldene Wagen: auch er wird zertrümmert. Dieser Abend bietet
keine theatralische Feinkost. Er arbeitet sich mit theoretischen Texten wie mit kabarettistischen Szenen analytisch wie
emotional an der Frage ab, wie man mit der Arbeits- und Arbeitslosen-Situation unserer neokapitalistischen Zeit umgehen könne. Hier geht es nicht um große Kunst, sondern um die großen Fragen unseres Alltags. Und damit wurden die
Menschen erreicht. Das Publikum jubelte. Die "Dresdener Weber" sind ein schönes Beispiel bewegenden und intelligenten politischen Theaters.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/348119/
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------27. November 2004, Neue Zürcher Zeitung
Polittheater
Als kürzlich in Darmstadt über das zeitgenössische Theater debattiert wurde, vermisste der Regisseur Frank-Patrick
Steckel bei seinen Kollegen das Politische. «Wenn die Solidarität mit denen, die die Beute von wenigen werden, nicht
in unsere Häuser zurückkehrt, sind wir obsolet», mahnte er. Zumindest in Deutschlands wildem Osten könnte Steckel
noch fündig werden. Das Brandenburger Theater bot unlängst Rolf Hochhuths Abrechnung mit der Unternehmensberatung McKinsey eine Bühne, und dieser Tage zog das Staatsschauspiel Dresden mit einer Aufführung von Gerhart
Hauptmanns «Die Weber» mächtig vom Leder - bis das Landgericht Berlin der Inszenierung Einhalt gebot. Regisseur
Volker Lösch hatte die Laiendarsteller des (neu erfundenen) Chores nach ihren Ansichten zur Tagespolitik befragt und
die Antworten eingebaut. Extremistische Parolen, wüste Politikerschelte und eine gegen die Talkmasterin Sabine Christiansen gerichtete Mordphantasie liessen nicht nur die TV- Moderatorin, sondern auch den Bühnenverlag Felix Bloch
Erben, der die Rechte an Hauptmanns «Webern» besitzt, nach Justitia rufen. Die verbot «gravierende Eingriffe in die
Wertungsintensität» des Textes. Das Stück darf jetzt nur noch in gesäuberter Form gespielt werden.
Es kam, wie es kommen musste. Theaterkritiker protestierten gegen eine Beschränkung der inszenatorischen Freiheit,
witterten Zensur im Namen des Urheberrechts und erklärten dies zum eigentlichen Skandal der Angelegenheit. Das
kann man so sehen; im Kulturbetrieb sind Verbote - gleich ob gegen Bücher, Bilder oder Stücke - immer schädliche
Mittel. Allein schon deswegen, weil über ihnen die Kritik ihre Richtung verliert: Statt der Dümmlichkeit eines Machwerks rückt dann der problematische juristische Eingriff ins Zentrum der Aufmerksamkeit. «Die zunehmende Sprachlosigkeit des Theaters verdankt sich dem Mangel an einem sozialen Projekt», hatte Frank- Patrick Steckel in Darmstadt
geklagt. Der Umkehrschluss, sozialkritische Dramen garantierten Sprachmächtigkeit und gutes Theater, gilt leider nicht.
Auch nicht in Dresden.
Joachim Güntner http://www.nzz.ch/2004/11/27/fe/articleA0QY9.html
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-5-
Regietheater
Gerhart Hauptmann: Die Weber
Inszenierung:
SCHAUBURG am Elisabethplatz
(München 2004)
Regie: Gil Mehmert
Bühne und Kostüme: Heike Meixner
Musik: Gerd Baumann
http://www.schauburg.net/bilder/szenenfotos/596.jpg
Das Stück beginnt mit einer Situation im Hause des Fabrikanten Dreißiger (dessen historisches Vorbild ein zu Reichtum
gelangter Unternehmer namens Zwanziger war). Die Weber liefern ihren verarbeiteten Parchent ab und nehmen ihren
Hungerlohn in Empfang. Dennoch wagen sie nicht aufzubegehren, denn der Verlust des Auftrags hätte katastrophale
Folgen für die ganze Familie. Nur der offen revolutionäre Ton, den der „rote Bäcker“ anschlägt, rückt einen gewaltsamen Konflikt in greifbare Nähe. Im nächsten Akt wird das ganze Weberelend am Beispiel einer Familie gezeigt. Niedrige Stube, schreckliche Luft, am rasselnden Webstuhl sitzen im kaum beheizten Raum ausgemergelte, abgehärmte
Gestalten. Der in die Heimat zurückgekehrte Soldat Moritz Jäger begeistert die an ihrer Lage verzagenden Weber mit
dem sogenannten Weberlied. Die zunehmende Unruhe unter den Webern veranlasst die Behörden, das Lied verbieten
zu lassen, wodurch erbitterte Reaktionen der Betroffenen ausgelöst werden. Die revolutionäre Stimmung schlägt im
vierten Akt in Aktion um. Die aufständischen Weber dringen plündernd und marodierend in Dreißigers Villa ein und
zwingen den Besitzer zur Flucht. Pastor Kittelhaus, ein Verfechter der bestehenden Verhältnisse, wird bei dem Versuch,
die aufgebrachte Menge zu beruhigen, misshandelt. Der Schlussakt zeigt aus der Sicht der Familie Hilse den Verlauf
des Aufstandes. Das Ende ist nicht kämpferisch und agitatorisch, denn der alte Hilse, der aufgrund seiner religiösen
Überzeugung den Aufstand verurteilt, kommt als Unbeteiligter um.
Die Weber" 1893
Max Baginski, der mit Gerhart Hauptmann das Gebiet der Weberaufstände bereiste, veröffentlichte seine Eindrücke in
den Sozialistischen Monatsheften folgendermaßen: "Auf der Rückfahrt kommt die Rede immer wieder auf das Schicksal
dieser vom modernen Industrialismus zur Verdammnis verurteilten Weber zurück. Ich frage Hauptmann, welche Wirkung er sich von einem Theater verspreche, das dieses Schicksal zu dramatischer künstlerischer Darstellung bringt. Er
antwortet, seine Neigungen zögen ihn mehr Sommernachtsträumen, sonnigen Ausblicken entgegen, aber ein harter
innerer Druck treibe ihn dazu an, diese Not zum Gegenstand seiner Kunst zu machen. Die erhoffte Wirkung? Die Menschen sind nicht gefühllos. Auch der Behagliche, Reiche muss sich im Innersten betroffen fühlen, wenn er solche Bilder
entsetzlichen Menschenjammers vor seinen Augen aufsteigen sieht. Alles Menschliche stehe im Zusammenhang. Meinen
Einwand, dass das Besitzrecht den darin Wohnenden Scheuklappen vor die Augen zu legen pflegt, will Hauptmann
nicht als allgemein berechtigt gelten lassen. Er will das werktätige Mitgefühl in den Gutgestellten wecken. (...) Ich
konnte mich dieser Betrachtungsweise nicht anschließen. Den Einfluss, den eine künstlerische Darstellung des Weberelends auf die Besitzenden ausüben konnte, schlug ich sehr gering an. Satter Tugend ist schwer beizukommen. Hingegen stellte ich mir vor, sie müsse eine große aufrüttelnde Wirkung auf die Massen der Leidenden selbst haben."
Diese Ansicht teilte auch der Berliner Polizeipräsident und begründete sein Aufführungsverbot folgendermaßen: "... Es
steht zu befürchten, dass die kraftvollen Schilderungen des Dramas, die zweifellos durch die schauspielerische Darstellung erheblich an Leben und Eindruck gewinnen würden, in der Tagespresse mit Enthusiasmus besprochen, einen Anziehungspunkt für den zu Demonstrationen geneigten sozialdemokratischen Theil der Bevölkerung Berlins bieten würden ..."
In seiner Erwiderung vor dem Berliner Verwaltungsgericht, in der er das Aufführungsverbot der ‚Weber’ verhindern
wollte, verwies Hauptmann auf den historischen Charakter seines Stückes, in dem er vergangene Ereignisse thematisiere und die Auswirkungen des schwierigen Übergangs von der Handweberei zur Maschinenweberei schildern wolle.
Jegliche Agitationsabsicht bestritt der Autor.
Die Weber" 2004
Heute haben "Die Weber" den Ruf eines veralteten, im Naturalismus verhafteten und daher unspielbaren Stücks, dessen
Qualitäten nur noch historisch zu sehen sind. "Bilder entsetzlichen Menschenjammers" lösen wahrscheinlich nur
Fluchtgedanken bei Zuschauern aus. Im Bewusstsein dieser Probleme fragten wir Gil Mehmert, ob ihn das Stück interessiere. Er hat sofort die Herausforderung erkannt und angenommen: Klare Bilder mussten gesucht werden in einem
reduzierten Raum, damit alle Spielorte ohne illustrierende Ausstattung in Armuts-Kitsch möglich wurden. Ort und Inte-6-
rieur sollen in den Köpfen der Zuschauer entstehen. Mit den Spielern musste eine adäquate Spielweise gefunden werden. Jegliches Pathos, das der Autor seinen Figuren in den Mund gelegt hat, musste vermieden werden, um unfreiwillige Komik zu vermeiden. Die Spieler zeigen in häufig wechselnden Rollen ihre Figuren sehr reduziert, aber gleichzeitig
intensiv und mit dem Bewusstsein einer historischen Distanz: Rhythmus und Timing erzählen die Geschichte. So entsteht vor den Augen und mit der Vorstellungskraft der Zuschauer ein Requiem, ein Arbeits-Ballett, das die Mechanismen einer Gesellschaft vorführt, in der die Enteignung des Individuums durch Arbeit vorgeführt wird. Als Requisiten
benötigen die Spieler ausschließlich ihre Kreativität im Umgang mit den schlichten Kostümen und ein 5 Meter langes
Brett.
Und dann ist da noch der Text von Gerhart Hauptmann. Wir haben ihn gekürzt aber nicht vereinfacht. Das heißt auch,
die Vorstellung wird in Schlesisch gespielt, weil das Schlesische ein Teil der Weber-Identität ist.
PS. Im Jahr des Weberaufstands 1844 beschäftigte sich Karl Marx in seinen frühen Schriften mit der "Entfremdung von
http://www.schauburg.net/php/artikeldruck.php?code=105#Das%20St%FCck
der Arbeit".
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Vergleich: Bühnenbilder 1893 – 2004
Naturalistisches Bühnenbild von Eugen Quaglio, Berlin 1893.–
Entwurf für die Uraufführung von Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ mit genau ausgeführten Details.
In: Günter Schöne: Tausend Jahre deutsches Theater. München: Prestel
1962, Tafel 45
Modernes Bühnenbild von Heike Meixner, Schauburg München 2004. Zu Hauptmanns „Die Weber“ „in einem reduzierten Raum … ohne illustrierende Ausstattung in ArmutsKitsch“, mit Kulissen-Zitat aus Carl Wilhelm Hübners Bild
von 1844 (s.u.).
http://www.schauburg.net/bilder/szenenfotos/591.jpg
Carl Wilhelm Hübner 1844 - Die Weber
http://de.wikipedia.org/wiki/Bild:Weber1846.jpg
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-7-
Vergleich Literaturverfilmung 1955 – Sprechtheater 2008
Hauptmann: Die Ratten (1909/10, UA 1911)
D 1955. Regie: Robert Siodmak - Der Film verlegt
Deutsches Theater Berlin. 2008 Inszenierung:
Michael Thalheimer; Bühnenbild: Olaf Altmann
die Handlung des Stücks aus dem 19. Jahrhundert ins
West-Berlin der 50er-Jahre. Für Robert Siodmak war "Die „Theaterkritik wie Publikum sind sich einig: eine geglückte Arbeit, die
den Nerv der Zeit trifft, ohne modernistisch mit ihr zu kokettieren.“ (zdfRatten" die erste deutsche Regiearbeit nach seiner Rückkehr aus den USA, wohin er 1940 vor den Nazis geflohen theaterkanal)
(Screenshot)
war.
(Screenshot)
Vgl. auch die Diskussion zu „Literaturverfilmung“: Adaption oder Kreation
Gerhart Hauptmann bei einer Probe seiner Tragikomödie "Die Ratten" (1931)
Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh. In: http://wissen.spiegel.de/ (s.u.)
Impuls: Mit der „Werktreue“, diesem blödsinnigen, völlig nutzlosen Begriff (denn wie kann man einem Werk treu sein, das erst dadurch ewig entsteht und weiterlebt, daß man es allen möglichen Liebhabern durch die Jahre und Jahrhunderte promiskuitiv ausliefert? - aber halt, eben Liebhabern,
nicht Böshabern!), mit der Werkliebe also ist es nämlich folgendermaßen
bestellt. Sie wähle alle Mittel, die sie will, leise, laute, grelle, stille, bunte,
lärmende, diskrete, brutale, abstrakte und so fort - nur treffe sie eine Figur,
eine Szene, ein Drama, einen Vorgang: bitte mitten ins Herz. Dort, wo es
zitternd und blutend schlägt - und unser Herz mitzuschlagen, mitzubluten anregt. Dort auch, wo es
explodieren, zerreißen, zerspringen kann - vor Wut oder Gelächter oder Angst. (Gerhard Stadelmaier,
FAZ 13.3.2006)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Zum Kunststreit in Hauptmanns „Die Ratten“ → denkbare Auswirkungen auf Regiekonzepte?!
Gerhart Hauptmann: Die Ratten (1910) - Dritter Akt
SPITTA erbleichend. Ja, alles Gestelzte, alles Rhetorische liegt mir nicht. Deshalb bin ich ja von der Theologie
abgesprungen, weil mir der Predigerton zuwider ist.
DIREKTOR HASSENREUTER. Da wollen Sie wohl die tragischen Chöre wie der Gerichtsschreiber ein Gerichtsprotokoll oder wie der Kellner die Speisekarte herunterhaspeln?
SPITTA. Ich liebe überhaupt den ganzen sonoren Bombast der Braut von Messina nicht.
DIREKTOR HASSENREUTER. Sagen Sie das noch mal, lieber Spitta!
SPITTA. Es ist nicht zu ändern, Herr Direktor: unsre Begriffe von dramatischer Kunst divergieren in mancher Beziehung total.
DIREKTOR HASSENREUTER. Mensch, Ihr Gesicht in diesem Augenblick ist ja geradezu ein Monogramm des Größenwahns und der Dreistigkeit. Pardon! Aber jetzt sind Sie mein Schüler und nicht mehr mein Hauslehrer! Ich! und
Sie!? Sie blutiger Anfänger! Sie und Schiller! Friedrich Schiller! Ich habe Ihnen schon zehnmal gesagt, daß Ihr
[…]
-8-
pueriles bißchen Kunstanschauung nichts weiter als eine Paraphrase des Willens zum Blödsinn ist.
SPITTA. Das müßte mir erst bewiesen werden.
DIREKTOR HASSENREUTER. Sie beweisen es selbst, wenn Sie den Mund auftun! - Sie leugnen die Kunst des
Sprechens, das Organ, und wollen die Kunst des organlosen Quäkens dafür einsetzen! Sie leugnen die Handlung im
Drama und behaupten, daß sie ein wertloses Akzidens, eine Sache für Gründlinge ist. Sie negieren die poetische Gerechtigkeit, Schuld und Sühne, die Sie als pöbelhafte Erfindung bezeichnen: eine Tatsache, wodurch die sittliche Weltordnung durch Euer Hochwohlgeboren gelehrten und verkehrten Verstand aufgehoben ist. Von den Höhen der Menschheit wissen Sie nichts. Sie haben neulich behauptet, daß unter Umständen ein Barbier oder eine Reinmachefrau aus der
Mulackstraße ebensogut ein Objekt der Tragödie sein könnte als Lady Macbeth und König Lear.
SPITTA bleich, putzt seine Brille. Vor der Kunst wie vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich, Herr Direktor.
DIREKTOR HASSENREUTER. So? Ach? Wo haben Sie diesen hübschen Gemeinplatz her?
SPITTA unbeirrt. Dieser Satz ist mir zur zweiten Natur geworden. Ich befinde mich dabei vielleicht mit Schiller und
Gustav Freytag, aber keinesfalls mit Lessing und Diderot im Gegensatz. Ich habe die letzten zwei Semester mit dem
Studium dieser wahrhaft großen Dramaturgen zugebracht, und der gestelzte französische Pseudoklassizismus bleibt mir
durch sie endgültig totgeschlagen, sowohl in der Dichtkunst als in den grenzenlos lappischen späteren Goetheschen
Schauspielervorschriften, die durch und durch mumifizierter Unsinn sind.
DIREKTOR HASSENREUTER. So!
SPITTA. Und wenn sich das deutsche Theater erholen will, so muß es auf den jungen Schiller, den jungen Goethe
des Götz und immer wieder auf Gotthold Ephraim Lessing zurückgreifen: dort stehen Sätze, die der Fülle der Kunst
und dem Reichtum des Lebens angepaßt, die der Natur gewachsen sind.
DIREKTOR HASSENREUTER. Walburga! Ich glaube, Herr Spitta verwechselt mich. Herr Spitta, Sie wollen Privatstunden halten. Bitte, zieh dich doch mit Herrn Spitta zur Privatstunde in die Bibliothek zurück! - Wenn die menschliche Arroganz und besonders die der jungen Leute kristallisiert werden könnte, die Menschheit würde darunter wie
eine Ameise unter den Granitmassen eines Urgebirges begraben sein.
SPITTA. Ich würde dadurch aber nicht widerlegt werden.
DIREKTUR HASSENREUTER. Mensch! Ich habe nicht nur zwei Semester königliche Bibliothek hinter mir, sondern
ich bin ein ergrauter Praktiker, und ich sage Ihnen, daß der Goethesche Schauspielerkatechismus A und O meiner künstlerischen Überzeugung ist. Paßt Ihnen das nicht, so suchen Sie sich einen anderen Lehrmeister!
SPITTA unbeirrt. Goethe setzt sich mit seinen senilen Schauspielerregeln, meiner Ansicht nach, zu sich selbst und zu
seiner eigenen Natur in kleinlichsten Gegensatz. Und was soll man sagen, wenn er dekretiert: jede spielende Person,
gleichviel welchen Charakter sie darstellen soll - wörtlich! -, müsse etwas Menschenfresserartiges in der Physiognomie
zeigen - wörtlich -, wodurch man sogleich an ein hohes Trauerspiel erinnert werde. Käferstein und Kegel versuchen Menschenfresserphysiognomien.
DIREKTOR HASSENREUTER. Ziehen Sie doch das Notizbuch, mein guter Spitta, und schreiben Sic, bitte, hinein,
daß Direktor Hassenreuter ein Esel ist! Schiller ein Esel! Goethe ein Esel! Natürlich auch Aristoteles - er fängt plötzlich wie toll zu lachen an - und, ha ha ha! ein gewisser Spitta ein Nachtwächter.
SPITTA. Es freut mich, Herr Direktor, daß Sie doch wenigstens wieder bei guter Laune sind.
DIREKTOR HASSENREUTER. Nein, Teufel, ich bin bei sehr schlechter Laune! Sie sind ein Symptom. Also
nehmen Sie sich nicht etwa wichtig! - Sie sind eine Ratte! Aber diese Ratten fangen auf dem Gebiete der Politik Rattenplage! - unser herrliches neues geeinigtes Deutsches Reich zu unterminieren an. Sie betrügen uns um den
Lohn unserer Mühe, und im Garten der deutschen Kunst - Rattenplage! - fressen sie die Wurzeln des Baumes des
Idealismus ab: sie wollen die Krone durchaus in den Dreck reißen. - In den Staub, in den Staub, in den Staub mit
euch.[…]
In: Gerhart Hauptmann: DIE GROSSEN DRAMEN. Berlin: Propyläen 1966. 643 ff.
Dazu: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/678108/
http://www.zum.de/Faecher/D/BW/gym/hauptmann/rattenIII.htm
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Hinweise:
- Ortrud Gutjahr (Hrsg.): Regietheater. (Königshausen & Neumann) 2008. ISBN: 3826038762
- Brauneck, Klassiker der Schauspielregie, Reinbek 1988
- Kötter, E. / Wagener, A.: Literaturverfilmung: Adaption oder Kreation?. Berlin: Cornelsen 2001
- Marc Silberman: Die Tradition des politischen Theaters in Deutschland. In:
http://www.bpb.de/publikationen/PXNF1E,0,Die_Tradition_des_politischen_Theaters_in_Deutschland.html
- http://www.goethe.de/kue/the/dos/dos/avr/deindex.htm
- http://de.wikipedia.org/wiki/Regietheater
- http://www.zeit.de/2006/41/Oper-Regie-Theater?page=all
- Epochenumbruch 1900. Literatur der Jahrhundertwende. 2 DVDs/157 Min./mit DVD-ROM-Teil. Schule
Sek. I + II. ISBN 978-3-9811277-6-8. s.: http://www.deutsch-interaktiv.com/
- http://wissen.spiegel.de/wissen/dokument/89/76/dokument.html?titel=Gerhart+Hauptmann&id=54256798&
top=Lexikon&suchbegriff=Gerhart+Hauptmann&quellen=&vl=0
- http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/628753/ (Tendenzen im Regietheater/Essay)
© http://www.fachdidaktik-einecke.de
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