Das Verhältnis von Musik und Politik ist, historisch gesehen, ein

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Das Verhältnis von Musik und Politik ist, historisch gesehen, ein ausgesprochen zwiespältiges:
Einerseits glaubte man spätestens seit den Kulturen des alten China, Musik könne den Zustand
der Gesellschaft widerspiegeln oder diese gar zum Guten oder Schlechten verändern;
andererseits galt die begriffslose Musik als unpolitische Kunst schlechthin, ein späterhin zur
Sonntagnachmittagsbeschaulichkeit domestiziertes Triebventil der leisure class.
Um Musik zu "vergesellschaften", waren allerhand meistenteils blank metaphorische Bemühungen
vonnöten. Die "soziologische Dechiffrierung" etwa, mit der Theodor W. Adorno gesellschaftlicher
Substrate in Musik Herr zu werden suchte, ist heutzutage eher ein hermeneutisches
Auslaufmodell, demgegenüber die Position so manchen konservativen Musikjournalisten des 19.
Jahrhunderts zwar etwas platt, aber nicht ganz abseitig wirkt, der unkte, die musikalische
"Fortschrittspartei" - die mit den Ideen der 1848er-"Revolution" sympathisierte - sollte doch einmal
einen "demokratischen" und einen "aristokratischen" Ton herzeigen. Das Verhältnis von Ton,
Macht und Musik ist weitestgehend ungeklärt; Modelle freilich gibt es einige.
Solche Modelle können sich beispielsweise an der musikalischen Binnenstruktur festmachen
(egalitäres Verhältnis der Klangquellen, Verzicht auf Hierarchisierung der Parameter, mikrotonale
Dezentralisierung), sie können die Instrumentation betreffen (Variabilität der Besetzung oder
Integration auch für Laien spielbarer Instrumente bzw. Klangkörper) oder das Verhältnis von
Komposition und Improvisation, wobei letztere als Forum kollektiver Spontaneität oder als
klingendes Analogon herrschaftsfreier Räume verstanden würde.
Krystyna Bobrowski
Auch im Schaffen der 1965 geborenen amerikanischen Komponistin Krystyna Bobrowski spielt die
Improvisation eine große Rolle. Bobrowski versteht sich emphatisch als "Klangkünstlerin", die ihr
Arbeitsgebiet mit interaktiven Installationen, experimentellen Instrumenten, freien und
strukturierten Improvisationen sowie elektronischen und akustischen Kompositionen durchmißt,
stets auf der Suche nach menschlichen und klanglichen Beziehungsgeflechten. Grass roots
(wörtlich: "Graswurzeln") ist denn auch der Titel einer 1998/99 entstandenen Komposition, der
zugleich bewußt mit seinem konnotativen Spektrum spielt:
grass roots: 1. Erdschicht an oder nahe der Oberfläche, 2. Gemeinschaft auf lokalem Niveau,
insbesondere in ländlichen Gebieten - im Unterschied zu den politischen Führungszentren, 3. der
wahre Grund oder Ursprung (Webster's Dictionary)
Das Stück ist für großes, variabel besetzbares Ensemble geschrieben. Es handelt sich um eine
strukturierte Improvisation, die eng begrenzte Klangfarbenentwicklungen und -bewegungen auf der
Grundlage eines einfachen Kommunikationsnetzwerks thematisiert.
Die Idee der Vernetzung, den der subterrane Werktitel andeutet, wird in der Aufführung augenund ohrenfällig: Die Spieler nämlich sind im Raum verteilt und untereinander verbunden; grass
roots ist nicht nur, aber ganz wesentlich ein Stück "for strings"...
Howard Skempton
Howard Skempton, Jahrgang 1947, hat u.a. mit provozierend simplen Stücken auf sich
aufmerksam gemacht, in denen der Wunsch nach Verständlichkeit mit einer tiefen Skepsis
gegenüber allzu unprofilierten Komplexitäten mancher Neuer Musik einhergeht. Ein
repräsentatives Beispiel solch postheroischen Komponierens ist Lullaby (Wiegenlied) aus dem
Jahr 1983, das sich mit der souveränen Stoizität der Spieluhr durch einen melancholischen a-mollRaum fräst. Zwei Klaviersolostücke, die beide auf unterschiedliche Weise musikhistorische
Kommentare sind - Toccata und Of late -, werden von Christian Wolff vorgetragen.
Well, well Cornelius (1985) ist ein Epitaph auf den 1981 verunglückten englischen Komponisten
Cornelius Cardew, der sich mit politischem Impetus von einer hermetischen Avantgarde
abgewandt und, ähnlich wie einstmals Eisler, eine bewußt einfache, breitenwirksame Tonsprache
anstrebte. Skempton steht solchen Gedanken nicht fern und hat sie hier in eine einprägsame
Hymne, vielleicht im Sinne Cardews, münden lassen ("Well, well, Cornelius, your life is ended. It's
over. But your work goes on as before"). Christian Wolff hat das 1985 entstandene Klavierstück
1999 für Ensemble bearbeitet.
Frederic Rzewski
Frederic Rzewski hat, wie sein Freund Cornelius Cardew, stets deutlich politische, revolutionäre
Momente zur Sprache gebracht - Musik interessierte ihn nicht so sehr als abstraktes
gesellschaftliches Modell, sondern vielmehr als Manifest von Parteinahme, als Vehikel eines
bewußten gesellschaftlichen Diskurses, das der brillante und in Sachen Improvisation
richtunggebende Pianist dennoch immer von plakativer Ideologisierung fernzuhalten wußte.
Seine Komposition Crusoe aus dem Jahr 1993 ist eine "offene" Komposition, bei der Details von
Besetzung und Struktur teilweise in das Ermessen der Ausführenden gegeben sind. In einer
facettenreichen Collage unterschiedlichster stilistischer und satztechnischer Bausteine konturiert
sich hier ein existentialistischer "Robin Crusoe", ein Gestrauchelter, Gestrandeter, der den "Segen"
der Zivilisation als Fluch erkennt und sich selber als "self-creating man" neu definiert: "Every man
may be in time master of every art" - der "Schiffbruch als Metapher" (Blumenberg) umreißt die Idee
unentfremdeter Ursprünglichkeit, die freilich letztlich in die Sehnsucht nach Zivilisation, in den
neuerlichen Floßbau umschlägt; das kreative Chaos des Anfangs gravitiert zur Ordnung, zum
unisono. Der Schlußchor faßt diese Dialektik zusammen und mündet in die resignative Wendung:
"The good die early, the bad late".
Crusoe ist dabei aber ein prometheischer Kollektivheld; kein solistisches Instrument drängt sich
auf Kosten der anderen in den Vordergrund, unterschiedlichste Ensembles werden je neu
verhandelt, und gerät mal ein Instrument in die Nähe eines Solos, so nähern sich die anderen ihm
gleichen Sinnes, auf daß das Ganze mit dem negierenden "Nolo" überschrieben werden kann,
deren es im Verlauf des Stücks sechs verschiedene gibt.
Alvin Lucier
Alvin Lucier, einer der experimentierfreudigsten "Klanginstallateure" der Gegenwart, hat in einer
Werkreihe die räumlichen Charakteristika von Schallwellen innerhalb geschlossener Räume
erkundet. So etwa 1978, als er in Directions of Sounds from a Bridge eine Art Lichtorgel um ein
Cello gruppierte; so 1989, als er in Self Portrait ein Windmühlsystem konstruierte, das auf
Flötentöne reagierte.
Auch in Islands, das Lucier 1998 für das Ensemble UnitedBerlin geschrieben und Christian Wolff
gewidmet hat, geht es um solche Versinnlichung des Auratischen. Ähnlich wie man mit
Eisenfeilspänen die ästhetische Struktur magnetischer Kräfte sichtbar machen kann, versetzen
hier die Schallwellen von fünf mikrotonal aufwärtsstrebenden Blasinstrumenten - Sopransaxophon,
Klarinette, Trompete, Englisch Horn und Posaune - fünf im Raum verteilte Snare drums in
Schwingungen, welche ihrerseits elektrisch verstärkt werden. Das frappierende Ergebnis ist,
mathematisch gesprochen, eine Funktion ineins mit ihrer Ableitung.
Christian Wolff
Christian Wolff, der das heutige Programm konzipiert hat, gab mit seiner Ensemblekomposition
Memory aus dem Jahr 1994 ein Beispiel für das Konzept von Musik als politischer Handlung.
Signifikant bereits die Einleitung: Dauern und Dynamik sind nur ungefähr angegeben; da die Töne
vielfach hoquetusartig von Instrument zu Instrument wandern, ist die gegenseitige Aufmerksamkeit
von zentraler Bedeutung - erst nach einer Weile wird das Geschehen durch einen abstrakten
Taktrhythmus grobgerastert. Tonfolgen spinnen sich quer durch das Ensemble, unterschiedlichste
Gruppenbildungen, teilweise im soghaft kollektiven unisono, zumeist aber unter Wahrung des
individuellen Profils, demonstrieren eine tendenziell offene Gesellschaft, die in ständigem
Austausch ihre Beziehungen neu regelt, sich auf veränderte Verhältnisse, beispielsweise der
Dynamik, jeweils neu einzustellen hat, und dabei auch u.a. fragmentarische Volksmelodien
verwendet (z.B. das amerikanische Landstreicher-Lied "Big Rock Candy Mountain") - hellhörig
vertonte Gruppendynamik gleichsam ("man glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen", schrieb
Goethe über die vier Stimmen im Streichquartett), zugleich aber auch, und das ist nicht das
Unwesentlichste, ein faszinierend vielfältiges Kompendium der je spontanen Vernetzung von
Tönen und Klängen. "Der Titel Memory (Erinnerung) war im Rahmen einer geplanten Reihe von
Stücken über abstrakte Begriffe gedacht (Responsibility ging dieser Komposition voraus), aber er
bezieht sich auch auf das Gedenken an ein im Frühjahr 1994 verstorbenes Familienmitglied" (Chr.
Wolff).
Woher - Wohin? Vielleicht vermag die "Macht der Töne" an den gesellschaftlichen
Machtverhältnissen zu rütteln, vielleicht vermag sie die Menschen zu bewegen und zu verwandeln
- ein alter, bisweilen überstrapazierter Gedanke zwar, der indes bemerkenswerter- und wohl auch
unverzichtbarerweise immer noch zu den essentiellen Arbeitsutensilien des musikalischen Metiers
gehört. Insofern ist die analytisch eher prekäre Idee, Musik könne utopischer Vor-Schein einer
idealen Gesellschaft sein, der Realität nicht rechenschaftspflichtig. Credo quia absurdum.
© Horst A. Scholz
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