Der Akademisierungswahn

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Der Akademisierungswahn
Bleibt die duale Ausbildung auf der Strecke?
Von Julian Nida-Rümelin
Sendung: Sonntag, 2. November 2014, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2014
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Ansage:
Mit dem Thema „Der Akademisierungswahn – Bleibt die duale Ausbildung auf der
Strecke?“
Immer mehr Schüler eines Jahrgangs haben eine sogenannte
Hochschulzugangsberechtigung – früher nannte man das Hochschulreife, sie
können auf die Universität gehen. Derzeit handelt es sich um fast 50 Prozent eines
Jahrgangs. Falls sie auf die Uni gehen, versprechen sich viele Menschen später im
Beruf ein gutes Gehalt, gute Karrierechancen, hohes gesellschaftliches Ansehen. Es
könnte aber auch zu negativen Folgen kommen, nämlich dazu, dass die Studenten
den Azubis bald den Rang ablaufen und berufsbezogene Ausbildungsgänge ins
Abseits gedrängt werden, weil alle nur noch auf die akademische Bildung schauen.
Das befürchtet der Philosoph Professor Julian Nida-Rümelin. In der SWR2 Aula
beschreibt er die Gefahren des Akademisierungswahns.
Julian Nida-Rümelin:
Es ist falsch, so meine ich, Jugendlichen zu suggerieren, sie seien auf ihrem
Lebensweg gescheitert, wenn sie nicht die Hochschulreife erreichen und ein
Hochschulstudium aufnehmen. Das wird regelmäßig behauptet und meist mit
internationalen Vergleichen garniert, das sei doch der internationale Trend. Oder wie
es vor ein paar Tagen Jörg Dräger, der Geschäftsführer des Centrums für
Hochschulentwicklung in einem Gespräch mit mir im SWR formuliert hat: Man könne
ja in Ostasien ohne Bachelor gar nicht mehr heiraten – ein schönes Wortspiel, denn
man muss ja Bachelor sein, um zu heiraten – und das werde irgendwann auch in
Deutschland so sein. Am Tag darauf habe ich mich in meinem Bekanntenkreis
umgehört und Eltern gefragt, wenn die eigene Tochter sich entschiede, einen
selbstständigen Schreinermeister mit eigenem Handwerksbetrieb zu heiraten oder
einen Bachelor-Absolventen der Philosophie, wen sie bevorzugen würden. Meine
kleine private Umfrage ist zu dem entgegengesetzten Ergebnis gekommen, aber das
ist natürlich nicht repräsentativ.
Insbesondere ist es falsch, die Tatsache zu kritisieren, dass sich ein beträchtlicher
Anteil derjenigen, die eine Hochschulzugangsberechtigung haben, gegen ein
Studium und für einen Ausbildungsberuf entscheiden. Wenn man z. B. den
Bundesbildungsbericht liest, heißt es: Rund 20 Prozent derjenigen, die eine
Hochschulzugangsberechtigung haben, würden gegenwärtig kein Studium
aufnehmen und man müsse den Ursachen nachgehen, womit das zusammenhängt.
Die Botschaft ist klar: Es gibt offenbar Hindernisse dafür, dass diese Abiturienten
oder auf andere Weise Hochschulzugangsberechtigten kein Studium aufnehmen.
Wünschenswert wäre, sie würden ein Studium aufnehmen und die Hindernisse
sollten beseitigt werden. Ebenfalls eine deutliche Botschaft und Teil des
Akademisierungswahns.
Es ist – nächste These – falsch, die gestiegenen Abbrecherquoten mehr oder
weniger pauschal als Beleg für ein didaktisches Versagen der Hochschulen und der
Professoren zu sehen. Das mag auch eine Rolle spielen, das will ich gar nicht
bestreiten. Manche hervorragende Forscher sind relativ wenig an der Lehre
interessiert. Graf Kielmannsegg hat das einmal so formuliert: „Woran erkennt man
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wissenschaftliche Exzellenz? Daran, dass die Leute nicht mehr lehren.“ Ein gewisser
Trend in diese Richtung hat sich unterdessen herausgebildet, was ich sehr
problematisch finde.
Aber ich meine die dramatisch gestiegenen Abbrecherquoten der letzten Jahre,
verbunden mit einer Reform, die genau das entgegengesetzte Ziel hatte (die
Bologna-Reform sollte ja die Abbrecherquoten senken), deuten darauf hin, dass ein
wachsender Anteil derjenigen, die ein Studium aufnehmen, für ein wissenschaftliches
Studium nicht geeignet sind. An der Stelle ein wichtiger Hinweis: Häufig wird
Deutschland mit den USA oder Südkorea mit 70 Prozent Studierendenquote
verglichen: Dort geht es ja auch, warum in Deutschland nicht? Die Antwort ist
einfach: Die Kultusminister haben 1977 auf einer Kultusministerkonferenz einstimmig
entschieden, dass die weitere Expansion des Bildungswesens gestoppt wird, man
eine starke Überlastung dafür in Kauf nehmen muss (es war von
Untertunnelungseffekt die Rede, d. h. man würde die steigende Zahl der
Studierenden so lange untertunneln, bis sie wieder zurückgegangen ist), vor allem
hat man sich dagegen ausgesprochen, die Fachhochschulen auszubauen.
Ich habe schon vor vielen Jahren gesagt, wenn man diesen Bereich ausdehnen will,
dann kann das nur bei den Fachhochschulen geschehen. Mein Vorschlag war ein
Verhältnis von 60 zu 40, nicht 30 zu 70, wie wir es heute haben – 30 Prozent
Fachhochschulen, 70 Prozent Universitäten. Nun muss man wissen, dass diese
beiden Typen von Hochschulen sich grundlegend unterscheiden. Universitäten
rekrutieren ihr Personal, ihre Lehrkräfte, ihre Professorinnen und Professoren fast
ausschließlich nach ihrer Forschungsleistung. D. h. die Verbindung von
Forschungskompetenz und universitärer Lehre ist das Identitätsmerkmal der
Universität. Das ist die alte Humboldtsche Idee, die sich z. B. auch Italien und
Spanien zu eigen gemacht und dieses Modell ebenfalls etabliert haben. Frankreich
und Großbritannien dagegen haben ein ganz anders geartetes Hochschulsystem. In
Deutschland ist ein Studium in aller Regel ein wissenschaftliches Studium, während
mir KollegInnen aus den USA, wo ich auch gearbeitet habe, sagen, bitte legt hier
keine europäischen Standards an, ein Bachelor-Studium in den USA hat mit einem
wissenschaftlichen Studium in Europa nichts zu tun. Das ist eine Art gymnasiale
Oberstufe mit Wahl- und gegen Ende gewissen Spezialisierungsmöglichkeiten. Sie
ist eingerichtet worden, um ein wissenschaftliches Studium zu ermöglichen, auf ein
wissenschaftliches Studium hinzuführen. Es handelt sich hier also um eine ganz
andere Situation.
Ich interpretiere die gestiegenen Abbrecherzahlen – in den Ingenieurwissenschaften
sind es inzwischen 48 Prozent! – dahingehend, dass sehr viele den Weg
Hochschulreife und dann Studium eingeschlagen haben, die in anderen
Ausbildungsgängen besser aufgehoben wären. Das ist keine Abwertung, sondern es
gibt unterschiedliche Begabungen. Die Vorstellung, dass gerade diejenigen soziale,
handwerkliche, technische und sonstige Begabungen haben, die auf diesem Wege
scheitern, ist selbst Teil des Akademisierungswahns, ein Akademikerdünkel
sozusagen, wer nicht kognitiv gut genug ist, soll eben Handwerkliches oder
Technisches machen. Wenn wir allerdings diesen Trend fortsetzen, heißt das, dass
nur noch die, die irgendwo auf ihrem Weg gescheitert sind, für dieses riesige
Berufsspektrum von über 300 Berufen zur Verfügung stehen.
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Zur These des Akademisierungswahns gehört auch die Idee, immer mehr
Ausbildungsgänge, Berufsbildungsgänge an Hochschulen und Universitäten zu
verlagern. Nach meiner Überzeugung wäre das ein Riesenfehler und würde
zwangsläufig mit einem Praxis- und Kompetenzverlust einhergehen. Ich will das an
einem Beispiel erläutern: Eine Erzieherin, die in einer Kindertagesstätte für unter
Dreijährige arbeitet, ersetzt, könnte man sagen, die Mutter oder genderkorrekt den
Vater früherer Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sie übernimmt deren Rolle. Es ist ganz
interessant zu sehen, dass in den meisten Bundesländern die Zahl der Kinder, für die
die Erzieherinnen zuständig sind, auf maximal sechs begrenzt wurde. Das war in
etwa die Familiengröße im 19. Jahrhundert. Martin Luther hatte sechs Kinder und
seine Frau immer gelobt für den harten Dienst, der dem Militärdienst der Männer
vergleichbar sei, weil sie ihre Kinder so erzieht, damit sie ihren Weg im Leben finden.
Das ist eine harte Tätigkeit, kein Fingerschnippen, sie bedarf stressresistenter
Menschen, sie bedarf Menschen, die eine starke Empathie haben, die beides
miteinander vereinbaren, nämlich Anteilnahme und Emotionalität auf der einen, eine
gewisse Robustheit und Stressresistenz auf der anderen Seite. Ich bewundere diese
Erzieherinnen, die es fertig bringen, was wir als Eltern nie fertig gebracht haben,
sechs Kinder gleichzeitig mittags dazu zu bringen zu schlafen.
Jetzt gibt es immer mehr Rufe – Teil des Akademisierungswahns –, dass diese
Berufe akademisiert werden sollten, mit dem Argument, die Bildungsziele seien
entsprechend anspruchsvoll. Zur gleichen Zeit bekommen Eltern kleiner Kinder
Broschüren der Kommune, in der sie davor gewarnt werden, zu viel theoretische
Literatur zu lesen, weil das eher verwirrt, und dass sie ihrem gesunden
Menschenverstand und ihrer Empathie vertrauen sollten, aber einige Fehler natürlich,
die im Folgenden aufgelistet sind, vermeiden sollten. Oder um es etwas polemisch
zuzuspitzen: Es sind keinerlei Indizien vorhanden, die dafür sprechen, dass eine
promovierte Psychologin eine bessere Mutter ist als eine Frau, die nicht studiert hat.
Die Rolle der Mütter wird aber heute von Erzieherinnen in den Kindertagesstätten
übernommen.
Die Ausbildung in Deutschland dauert fünf Jahre, sie ist sehr anspruchsvoll und
beinhaltet sowohl Praxis- als auch Theorie-Elemente. Der Skandal ist nicht, dass
Erzieherinnen und – man möchte es wünschen – zunehmend auch Erzieher (es ist
nicht gut, wenn Kinder über viele Jahre nur Frauen kennenlernen und nicht auch
Männer) durch ein Studium höher qualifiziert werden müssten. Das ist es nicht, was
fehlt. Was fehlt, ist eine anständige Bezahlung. So schlicht ist es: eine anständige
Bezahlung der Menschen, die diese Arbeit leisten, die immer wichtiger wird, genauso
wie die Arbeit mit alten Menschen. Die ganze soziale Praxis wird in Zukunft immer
bedeutsamer sein. Respekt vor diesen Berufen zu haben, das ist notwendig, und
nicht, dass wir sie akademisieren.
Für einen überschaubaren Zeitraum werden die Jahrgangsstärken, die auf den
Arbeitsmarkt gehen, schrumpfen. Dieser Schrumpfungsprozess ist absehbar für die
nächsten 20 Jahre und sehr gut berechenbar, wenn man Einwanderung und
eventuell auch Auswanderung herausnimmt, die sehr schwer kalkulierbar sind.
Demnach schrumpfen die Jahrgangsstärken, und es wird auf dem Arbeitsmarkt ein
Gerangel geben, kompetente, interessierte, intelligente und engagierte junge
Menschen zu finden für die verschiedenen beruflichen Bereiche, die erforderlich sind,
damit sich eine Ökonomie und eine Gesellschaft insgesamt gut entwickeln. Und nun
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kommt die Merkwürdigkeit: Es gibt eine ganze Reihe Schätzungen mit ähnlichen
Ergebnissen. Das Bundesinstitut für Berufliche Bildung ist in einer Abschätzung der
Bedarfe zwischen 2010 und 2030, also immerhin für einen Zeitraum von 20 Jahren,
zu dem Schluss gekommen, dass wir im Bereich der Facharbeiterschaft, also der
Bereiche, die eine berufliche Ausbildung, aber kein Studium erfordern, einen
Fehlbedarf haben, der über all diese Jahre nicht gedeckt sein wird, von deutlich über
4 Millionen Menschen. Das heißt, Arbeitsplätze können nicht besetzt werden, weil
junge Menschen mit der notwendigen Qualifikation fehlen.
Nun könnte man sagen, das ist eben der Effekt des demografischen Schwundes, ist
ja nicht weiter verwunderlich, wenn es weniger werden, dann können eben viele
Stellen nicht besetzt werden. Aber das Bundesinstitut für Berufliche Bildung kommt in
der gleichen Studie zu dem Ergebnis, dass es im Bereich der akademischen Berufe
keinen Mangel geben wird, ja sogar einen Überhang von mehr als 1 Million. Das
heißt, eine Millionen junge Menschen drängen zusätzlich in akademische Berufe
hinein, die es gar nicht geben wird. Das Deutsche Institut für Wirtschaft, auch ein
sehr seriöses Institut, hat sogar der verbreiteten Klage eines dramatischen Mangels
an sogenannten MINT-Akademikern, also an Mathematikern, Ingenieuren,
Naturwissenschaftlern und Technikern, widersprochen und gesagt, das sei so nicht
zu erwarten, weil die Zahlen in diesem Bereich massiv nach oben gegangen sind,
dass auch dort mittelfristig keine Bedarfslücke mehr bestehen wird.
Und jetzt kommt das vielleicht eigentlich Interessante: Es gibt einen riesigen
Deckungsbedarf im Bereich der MINT-Berufe, aber nicht der akademischen, sondern
der nicht-akademischen MINT-Berufe. Nun wird an dieser Stelle gerne eingewandt,
eine akademische Arbeitslosigkeit drohe nicht und nichts deute darauf hin, dass in
Zukunft Akademiker in großer Zahl Taxi fahren müssen. Wir sollten uns von diesem
Klischee endgültig verabschieden. Das war immer ein Klischee. Natürlich hat es
früher taxifahrende Soziologie-, Philosophie- oder Germanistikstudenten gegeben mit
abgeschlossenem oder nicht abgeschlossenem Studium, aber das sind Ausnahmen.
Bildungsforscher sprechen hier vom „Signalling“-Effekt. Das heißt, es geht nicht so
sehr darum, welche Kompetenz man erworben hat, sondern dass man zeigt, dass
man engagiert ist, mehr gemacht hat als andere; das erklärt auch all die Zertifikate,
die in Lebensläufen vorgelegt werden, wenn es um die Besetzung von Stellen geht.
Für Menschen, die ein Studium abgeschlossen haben, wird es auch in Zukunft
wahrscheinlich nur selten ein Problem geben, Arbeit zu finden, aber eben nicht in
den Berufen, die ihrer Ausbildung angemessen sind. Ich meine nicht angemessen im
Sinne eines hohen Gehaltes, sondern angemessene Berufe, die einen vernünftigen
Zusammenhang herstellen zwischen dem, was man im Studium gelernt hat, und
dem, was man nachher im Beruf macht.
Gestern habe ich bei der Deutschen Vereinigung für Finanz-Investment und AssetManagement mit führenden Bankern über Ethik in der Finanzwirtschaft gesprochen.
Sie haben mir geschildert, dass heutige Bachelor-Absolventen in
Betriebswirtschaftslehre für Tätigkeiten eingesetzt werden, die früher kompetente
Sekretärinnen erledigt haben. Es gibt Untersuchungen, dass ein Gutteil der
Absolventen akademischer Studiengänge weniger als den Mindestlohn erhalten. Das
wird sich jedoch durch das neue Mindestlohngesetz ändern. Auch an den
Universitäten sind 72 Prozent der dort Tätigen ohne feste Stelle, d. h. oft prekär
beschäftigt. Lehrbeauftragte verdienen in einem halben Jahr 600 oder 700 Euro für
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ihre Lehrtätigkeit. Es gibt einen großen Bereich von – wie das so schön heißt –
unterwertiger Beschäftigung von Akademikern. Es gibt schon heute einen massiven
Verdrängungseffekt derjenigen, die ein akademisches Studium haben, gegenüber
denjenigen, die eigentlich für diese Tätigkeiten ausgebildet sind. Ein Beispiel:
Architekten übernehmen zusätzlich Tätigkeiten in Architekturbüros, die früher
technische Zeichner wahrgenommen haben – während technische Zeichner
Probleme haben, eine Arbeitsstelle zu bekommen. In meinen Augen ist das eine
Fehlentwicklung. Wir können es uns nicht leisten, in dieser Weise mit beruflicher
Bildung umzugehen.
Manchmal erleichtert man die Debatte, indem man ein bisschen auf die Empirie
schaut. Die OECD sammelt zuhauf hochinteressante Statistiken. Das Problem ist,
nach welchem Bewertungsmaßstab daraus politische Schlüsse gezogen werden.
Das will ich jetzt kurz versuchen:
Ich glaube, es gibt insgesamt drei Bewertungskriterien, die von besonderer
Bedeutung sind, um ein Bildungssystem als Ganzes zu beurteilen. Das erste
Kriterium lautet: Bereitet das Bildungssystem die Menschen auf ihren späteren Beruf
vor oder ermöglicht es jedenfalls die Übernahme eines Berufs nach Abschluss der
Schul- und Ausbildungs- bzw. Studierzeit? Das ist vielleicht nicht das allerwichtigste
Kriterium, aber es ist von Bedeutung. Beim Vergleich mit internationalen Zahlen fällt
Folgendes auf: Länder mit auffallend niedriger Akademikerquote, nämlich
Deutschland, Österreich und die Schweiz (Deutschland über alle Jahrgänge von 25
bis 64 Jahre: 16 – 17 Prozent, Österreich: 12 Prozent, Schweiz: je nach Statistik
schätzungsweise 14 – 15 Prozent), haben eine sehr niedrige Jugendarbeitslosigkeit
(Deutschland: 9 Prozent, Österreich: 8 Prozent, Schweiz: 8 Prozent). Ein Land, das
gerne als Bildungsgroßmacht beschrieben wird, weil es eine so hohe
Akademikerquote von 64 Prozent pro Jahrgang aufweist, nämlich Großbritannien, hat
bei durchaus vergleichbaren ökonomischen Bedingungen eine mehr als doppelt so
hohe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland, nämlich 20 Prozent. Das ist auch in
etwa der Durchschnitt aller OECD-Länder.
Um noch eine Zahl zu nennen: In Frankreich gab es in den 1980er-Jahren das Ziel
der damals regierenden sozialistischen Partei, bis zur Jahrtausendwende 80 Prozent
bis zum Studium zu führen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht, aber jetzt, 2014, ist
Frankreich immerhin bei einer Baccalaureat-Quote von ca. 75 Prozent. Und nun
kommt das Interessante: Die Studienabbrecherquote liegt in Frankreich über alle
Fächer hinweg bei rund 50 Prozent. Das ist eine dramatische Fehlsteuerung.
Auch beliebt ist das Vorzeige-Beispiel Korea: Pisa-Champion, extrem hohe
Studierendenquote mit aktuell rund 70 Prozent. Zum Vergleich: Singapur war bei
Pisa auch ganz vorne (wobei der Pisa-Test als Maßstab von Bildungssystemen mit
Vorsicht zu genießen ist), hat jedoch eine Akademikerquote von nur 30 Prozent.
Jugendarbeitslosigkeit in Korea: 30 Prozent. Jugendarbeitslosigkeit in Singapur:
kaum messbar. Also auch diese Beispiele führen in die Irre. Wenn man als Merkmal
den Übergang von der Ausbildung, vom Bildungsweg in den Beruf nimmt, schneiden
Systeme, die eine nicht-akademische berufliche Bildung haben, deutlich besser ab
als solche, die möglichst viel in ihren Bildungsgängen akademisieren.
Ein zweites wichtiges Kriterium der Bewertung ist die Inklusion oder soziale Mobilität,
das ist nicht ganz das gleiche, aber es sind zwei Aspekte einer demokratischen
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Gesellschaft. Eine demografische Gesellschaft darf nicht ausgrenzen, sie darf nicht
ganzen Bevölkerungsteilen vermitteln, ihr gehört nicht dazu, ihr driftet weg, wir
kümmern uns nicht um euch. Der Vorwurf gegen Deutschland ist, dass die
sogenannte Bildungsmobilität niedrig ist. Ich habe recherchiert und dabei hat sich
herausgestellt, dass Deutschland in den 60er- und 70er-Jahren eines der Länder mit
der höchsten Bildungsmobilität der Welt war, dass heute in der Tat, und zwar
einsetzend mit der Umsetzung des Bafög auf Darlehen, die Bildungsmobilität
zurückgegangen ist, d. h. Kinder aus Arbeiterfamilien oder Nichtakademiker-Familien
sind an Hochschulen und Universitäten prozentual weit unterrepräsentiert. Trotzdem
Vorsicht! Wenn das Kind eines Schreinermeisters sich entscheidet, auch in die Lehre
zu gehen, eine Gesellenprüfung zu machen, Schreinermeister zu werden und
vielleicht den Betrieb des Vaters übernimmt, um ein etwas altmodisches Beispiel zu
nehmen, und das Kind eines Gymnasiallehrers auch wieder Gymnasiallehrer wird,
der Schreinermeister am Ende das Doppelte verdient wie der Gymnasiallehrer, dann
sollte man das nicht als problematische Form der Immobilität ansehen.
Die OECD definiert den Fall, in dem der Vater einen Master- oder MagisterAbschluss in Philosophie hat, der Sohn Optikermeister wird und das Dreifache des
Vaters verdient, als Bildungsabstieg. Das zeigt gewissermaßen die
Verächtlichmachung alles Nichtakademischen. Dazu jetzt wieder eine interessante
Statistik: Deutschland gehört zusammen mit Kanada, Finnland, Dänemark,
Schweden und Japan zu den sechs Ländern der Welt mit der stärksten sozialen
Mobilität. Die soziale Mobilität in Deutschland ist weit höher als die in Großbritannien
– Großbritannien, was den terziären Sektor wunderbar ausgebaut und den
Akademikeranteil nach oben getrieben hat. Deutschland hat eine weit höhere soziale
Mobilität als etwa die Vereinigten Staaten oder Peru, Brasilien, China. Wenn man
weitere Informationen heranzieht, stellt sich heraus, es gibt einen relativ engen
Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und sozialer Immobilität. Je
höher die Einkommensungleichheit ist, umso höher die soziale Immobilität.
Deutschland hat mittlerweile bei den Primäreinkommen auch beachtliche
Unterschiede. Aber nach Steuern und Abgaben verringern sich diese Unterschiede,
und zwar so, dass Deutschland zu den Ländern gehört, die die niedrigste
Ungleichheit der Sekundäreinkommen haben, gemessen am Gini-Koeffizienten, und
die höchste soziale Mobilität.
Das führt uns zu unserem Thema zurück. In Deutschland setzt sich die Mittelschicht
bis heute eben nicht lediglich aus Akademikern zusammen. Wer in Deutschland
beruflich erfolgreich ist, hat nicht zwingend ein Studium absolviert. Der
amerikanische Arbeitsmarkt zerfällt dagegen in zwei Gruppen: Menschen mit Berufen
und Menschen mit Jobs, meistens kurzfristige. Entsprechend sinken die
Realeinkommen derjenigen, die Jobs haben (und keine Berufe), sprich die keinen
College-Abschluss haben, in den USA seit Jahren.
Wir wollen keine solche Teilung zwischen Menschen, die es geschafft haben bis zu
einem Hochschul- oder Universitätsabschluss, und Menschen, die sich von Job zu
Job hangeln müssen. Und wenn wir das nicht wollen, müssen wir das duale System
und generell die berufliche Bildung, eigentlich eine Stärke des deutschen
Bildungssystems, bewahren und nicht zerstören. Mit einer
Hochschulzugangsberechtigungsquote von 60 – 70 Prozent, wie in manchen
Großstädten schon erreicht, und einem entsprechend hohen Studierendenanteil
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zerstören wir ungewollt die Basis für diese Stärke, nämlich nichtakademische Wege
in den Beruf zu öffnen. Wir zeigen geringen Respekt, wenn wir sagen, das sei eben
die Zukunft, wir brauchen mehr Flexibilität und die verlange nach einem Studium.
Das ist Humbug. Diese Ausbildungsgänge sind zum Teil sehr auf Kreativität,
Geschick und Erfindungsgabe ausgerichtet. Wir sollten umgekehrt diejenigen, die
schwanken, ob sie studieren sollen oder vielleicht andere, nicht so sehr kognitive
Begabungen entfalten sollen, ermutigen, wir sollten mehr Respekt haben vor dem
Handwerklichen, Technischen, Sozialen, vor allem vor dem, was mit Nähe, Nähe zu
Menschen, Nähe zu Gegenständen, zu tun hat. Wir sollten die berufliche Bildung
stärken. Zum ersten Mal hat eine Bundesregierung sich das auf die Fahnen
geschrieben, was ich sehr begrüße. Und dazu gehört, dass der Anteil an
Allgemeinbildung und auch an Wissenschaftsorientierung in der beruflichen Bildung
zunehmen sollte und damit auch diese Ausbildungsgänge und Berufe für die
Menschen attraktiv werden.
Es ist eine Lüge zu behaupten, dass ein Studium ein höheres Einkommen mit sich
bringt. Es hängt davon ab, was man studiert hat. Tatsächlich verdienen z. B.
Absolventen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlicher Fächer im Durchschnitt
weniger als Fachkräfte aus nichtakademischen Berufen – Bankfachleute,
Maschinenbautechniker, Industriemeister, Elektrotechniker, Bautechniker usw. Also
auch diese Komponente des Akademikerwahns, wer ordentlich verdienen will, muss
studieren, ist ein Irrtum, eine Fehlinformation, die wir nicht wiederholen sollten.
*****
Zum Autor:
Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten Philosophen in Deutschland. Er
lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München. Julian NidaRümelin ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel sowie gefragter Kommentator zu
ethisch, politischen und zeitgenössischen Themen. 2013 stieß er die Debatte zum
Akademisierungswahn an. Julian Nida-Rümelin hält Vorträge und Reden und berät
Führungskräfte in philosophisch-ethischen Fragestellungen.
Bücher (Auswahl):
- Der Akademisierungswahn – Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung.
Edition Körber-Stiftung. 2014.
- Philosophie einer humanen Bildung. Edition Körber-Stiftung. 2013.
- Verantwortung. Reclam-Verlag. 2011
Internetseite:
www.julian.nida-ruemelin.de
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