Skript zur Vorlesung

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Skript zur Vorlesung „Allgemeine Evolutionsbiologie“ | WS 2015/2016 | A. Franzke & M. Koch
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Vorlesung 1
Fragen in der Biologie. Nikolaas Tinbergen (1907–1988) war ein bedeutender niederländischer
Ethologe mit öko- und evolutionsbiologischen Ansätzen (1973 Nobelpreis, Arbeiten an Möwen,
Stichlingen, Hummeln und Krallenfröschen). Bekannt ist er aber auch für seine „vier Fragen“ (1963),
die er zunächst im Zusammenhang der Verhaltensbiologie gestellt hat, die aber gleichsam die vier
deutlich unterschiedlichen Blickwinkel in der biologischen Forschung insgesamt charakterisieren
können. Zum einen sind das die Fragen nach proximaten (unmittelbaren) Zusammenhängen: 1. Wie
funktioniert es (mechanistisch)? 2. Wie entwickelt es sich im Verlauf der Entwicklung eines einzelnen
Organsimus (Ontogenie)? Zum anderen Fragen nach eher ultimaten (grundlegenden)
Zusammenhängen: 3. Wozu ist etwas da? Also die Frage nach einem (derzeitigen) Anpassungswert.
4. Wie ist es im Laufe der Evolution entstanden? Bei den „ultimaten Fragen“ geht es also um
evolutionäre und „zweckmäßige“ Erklärungen. (Die beiden ersten Fragen werden manchmal „how
questions“ genannt, die beiden letzteren „why questions“. Verwirrenderweise wird aber auch oft
insgesamt von Tinbergens „four whys“ gesprochen.) Sein Vier-Grundfragenkonzept geht auf frühere
Ansätze (1915) des britischen (Evolutions)biologen Julian Huxley (1887–1975) zurück. Es gibt
natürlich weitere denkbare, grundlegende Fragestellungen („fifth questions“), wie z.B. die Frage wie
eigentlich alle diese Ansätze miteinander integriert werden können. Nicht zuletzt auch die Frage „Was
ist das Merkmal?“ mit dem Blickwinkel , erst mal etwas wirklich genau zu beschreiben. Tinbergen
„forderte“ gleichsam die Integration aller Blickwinkel und hob auch explizit die große Bedeutung einer
vorangehenden exakten Beschreibung hervor. (Review zum 50sten „Geburtstag“ dazu: Bateson &
Laland 2013. Tinbergen's four questions: an appreciation and an update. Trends in Ecology &
Evolution, 28, 712–718.)
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Evolution. Der Begriff „Evolution“ hat in der Biologie mehrere Bedeutungsebenen:
1.) Stammesgeschichtliche Entwicklung (Phylogenese); evolutionäre Veränderungen oberhalb der
Artebene (Makroevolution). 2.) Evolution als Abstammungstheorie: Rezente Arten stammen von
(ausgestorbenen) Arten ab. 3.) Im engeren Sinne: Veränderung der genetischen Zusammensetzung
einer Population; evolutive Veränderungen unterhalb der Artebene (Mikroevolution).
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Evolutionsbiologie: Umfassendste aller biologischen Disziplinen. Die großen Themenbereiche
der Evolutionsbiologie sind die Vielfalt des Lebens, die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten von
Organismen und deren Merkmalen bzw. Eigenschaften. Ihre „Ziele“ sind (ultimate) Erklärungen der
Lebewelt. Die Evolution ist somit die vereinigende bzw. verbindende Theorie der Biologie, durch die
jede „biologische Information“ gleichsam eine tiefere Bedeutung erfährt. Der bedeutende russisch-USamerikanische Evolutionsbiologe Theodosius Dobzhansky (1900–1975) hat dies in einem Aufsatztitel
von 1973 bekanntermaßen einmal so formuliert: „Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light
of Evolution“.
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Felder der Evolutionsbiologie. Die Evolutionsbiologie hat zahlreiche Teilgebiete, die man anhand
ihrer (vornehmlichen) Fragestellungen vielleicht zwei groben „Kategorien“ zuordnen kann. Die
Systematik und die Paläontologie haben eher eine retrospektive, historische Sichtweise, wohingegen
Forschungsfelder wie Evolutionäre Genetik, Molekulare Evolution, Evolutionäre Entwicklungsbiologie,
Evolutionäre Morphologie/Physiologie, Evolutionäre Verhaltensforschung oder die Evolutionäre
Ökologie eher die Ursachen/Mechanismen von evolutionären Veränderungen aufklären wollen. Die
genannten Fachgebiete haben natürlich jeweils Bezug zu übergeordneten Disziplinen: Die
Evolutionäre Genetik ist z.B. an ultimaten Zusammenhängen interessiert, andere Teilgebiete der
Genetik eher „nur“ an proximaten. Man kann und sollte diese beiden „Kategorien“ natürlich nicht
wirklich trennen. Ein Molekularer Evolutionsbiologe der nichts von der evolutionären Geschichte
seines Untersuchungsobjekts weiß, ist genauso „unvollständig“, wie ein Systematiker der seine
Befunde nicht auch mit (möglichen) Ursachen und Mechanismen in Verbindung bringt.
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Darwinismus. 1859 erschien Charles Darwins Buch „On the Origin of Species by Means of Natural
Selection, or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life“ (folgend auch als das
„Artenbuch“ bezeichnet), … das (!!) grundlegende Werk der Evolutionsbiologie, deren Hauptkonzepte
bis heute die Basis des Evolutionstheorie-Gebäudekomplexes bilden. (Deutsche Erstausgabe 1860:
„Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder
Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn“). Die von Darwin formulierte
Theorie der biologischen Evolution (Darwinismus) ist eigentlich ein Komplex aus 5 bzw. 6 Theorien:
1.) Evolution als solche; Veränderlichkeit der Arten (vgl. u. Ideen von Saint-Hilaire und Lamarck). 2.)
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Gemeinsame Abstammung aller Arten. 3.) Gradualismus (Änderungen in kleinen Schritten). 4.)
Evolution findet in Populationen statt (Zahlenverhältnis-Änderungen von Individuen mit
unterschiedlichen vererbten Eigenschaften). 5.) Natürliche Selektion: Veränderungen der
Populationszusammensetzung beruhen auf unterschiedlicher Fitness der Individuen und können zur
Evolution von Umweltanpassungen (Adaptationen) von Organismen führen. 6.) Die Theorie der
sexuellen Selektion klingt 1859 nur an und wird von Darwin (1871) in einem weiteren Buch ausführlich
dargelegt. Darwins Evolutionstheorie hatte und hat seit ihrem Erscheinen – neben ihrer vereinigenden
Bedeutung für die Biologie – auch einen großen Einfluss auf gesellschaftliche, philosophische und
theologische Diskurse. Der Begriff „Darwinismus“ geht wohl auf ein gleichnamiges Buch von Alfred
Wallace (s.u) von 1889 zurück.
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Charles Darwin (1809–1882). Über die Person Charles Darwin, seinen Lebensweg, seine
Lebensumstände kann man viel schreiben. Hier nur äußerst schlaglichtartig: Naturinteressiertes Kind,
Studienabbrecher Medizin, Bachelor in Theologie. Mit 22 Jahren Weltreise (insgesamt 5 Jahre) auf
der Beagle (Vermessungsfahrten für die Royal Navy), für Darwin das bedeutendste Ereignis seines
Lebens. Darwin hatte zahlreiche Interessen (z.B. auch Geologie) und Wissenschaftskontakte zu
bedeutenden Naturwissenschaftlern seiner Zeit („Netzwerker“). Bereits 1837 erste Formulierung
seiner Theorie und 1844 Fertigstellung eines entsprechenden Manuskripts, dass er aber, wohl aus
„Unsicherheit“, nicht zur Veröffentlichung einreichte. Mit 30 Jahren Heirat, mehrere Kinder, Landleben
(Down House). Am 1. Juni 1858 schickt ihm der britische Naturforscher Alfred Wallace (1823–1913)
ein Manuskript zur Kenntnisnahme bzw. Weiterleitung, mit sehr ähnlicher Selektionstheorie.
Wissenschaftsfreunde arrangierten am 1. Juli 1858 eine öffentliche Verlesung beider Arbeiten
(Gentlemen’s Agreement). Am 24. November 1859 erscheint die „Entstehung der Arten“, 1871 „Die
Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“. Der späte Darwin wandte sich
anderen – insbesondere auch botanischen Themen zu – in denen es nicht schwerpunktmäßig um
seine Evolutiontheorie ging. Alle Publikationen, aber auch unveröffentlichte Manuskripte und Briefe
Darwins kann man online hier finden: http://darwin-online.org.uk.
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Änderung von Populationen und Selektion. Dass Evolution Veränderungen von Populationen
bedeutet, ist eine originäre Idee Darwins. Dass die natürliche Selektion diese Änderungen antreibt und
zu adaptiven Merkmalen führen kann, seine brillante Hypothese. Darwins geniale Leistung bestand
darin sehr einfache Alltagsbeobachtungen und Schlussfolgerungen in diesen Zusammenhang zu
bringen: 1.) Trotz Überproduktion („Campbell“ 9. Aufl./10. Aufl.: Abbildung 22.10/11) von
Nachkommen bleiben Populationsgrößen (relativ) konstant, da die Ressourcen begrenzt sind. Es kann
also nur ein Bruchteil der Nachkommen überleben. 2.) Individuen variieren in Merkmalen und
Anpassungen, die vererbt werden („Campbell“ 9. Aufl./10. Aufl.: Abbildung 22.11/10). Eine bessere
Angepasstheit erhöht die Überlebenschance eines Individuums und damit seinen
Fortpflanzungserfolg! Diese Auswahl (Selektion) führt – eben durch Vererbung – zu einer Anhäufung
von Anpassungen in der Population: „Es überlebt, was überlebt“ (zu kurz für Prüfungen!). Natürliche
Selektion (natürliche Zuchtwahl): Auslesemechanismus der Evolution durch Einwirkung von
Umweltfaktoren auf Überlebens- und Fortpflanzungserfolge von Individuen, der zu evolutionärer
Begünstigung von (vererbbaren) adaptiven Merkmalen führt, die den Lebensfortpflanzungserfolg von
Individuen erhöhen. (Achtung: Das ist erst mal nur die sog. Individualselektion – von der Darwin
ausging – weitere Selektionstypen folgen, s.u.). Adaptation: Im Laufe der Evolution erworbene,
vererbbare Merkmale/Eigenschaften, die Überlebens- und/oder Fortpflanzungswahrscheinlichkeiten
von Individuen unter bestimmten Umweltbedingungen erhöhen. Der Begriff bezieht sich auf den
Prozess der Anpassung als auch auf das Ergebnis. Die Evolution von adaptiven Merkmalen wird auch
heute noch primär durch natürliche Selektion erklärt. Eine solche Evolution verläuft für Darwin
langsam und in kleinen Schritten (graduell) ab. Im Artenbuch greift er in diesem Zusammenhang das
von Carl von Linné (s.u.) geprägte Axiom „Natura non facit saltum“ (“Die Natur macht keinen Sprung“)
– eine Grundannahme seit der antiken Philosophie – auf, die für Darwin nun erst durch seine Theorie
der natürlichen Selektion in seiner vollen Bedeutung verstanden werden kann.
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Natürliche Selektion erklärt Adaptationen. Darwin beobachtete zahlreiche Adaptationen, also
zweckmäßige Anpassungen, durch die Organismen überleben und sich fortpflanzen können.
Erklärung: Individuen einer Population mit bestimmten erblichen Eigenschaften haben mehr
Nachkommen, das führt zu Adaptationen. In der Vorlesung hierfür dienten „klischeehaft“ (s.u) drei
Darwinfinkenarten als Beispiel mit auf unterschiedliche Nahrung angepassten Schnabelformen.
(„Campbell“: Abb. 22.6). Darwin- oder Galápagosfinken: Gruppe von 14 nächst verwandten
Singvogelarten (nicht wirklich Finken), die auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen und die nur
auf den Galápagosinseln bzw. mit einer Art auf der Kokosinsel vorkommen. Darwin hatte während
seiner Beagle-Reise eben solche Vögel auf den Galápagosinseln gesammelt (geschossen) und nach
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England geschickt, wo diese (erstmals) wissenschaftlich beschrieben wurden. (3 Arten wurden
allerdings erst später entdeckt). Dass gleichsam ausschließlich die Beobachtungen an GalápagosFinken – wie oft dargestellt – zu Darwins Evolutionstheorie geführt haben, ist nicht richtig: In der
ersten Auflage des Artenbuchs werden diese nicht erwähnt, allerdings aber in Tagebuchnotizen und in
einem Reisebericht (1845), wo er die abgestufte Formenvielfalt mit einer geografischen Trennung in
Verbindung bringt: "Seeing this gradation and diversity of structure in one small, intimately related
group of birds, one might really fancy that from an original paucity of birds in this archipelago, one
species had been taken and modified for different ends".
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Typen der Selektion – Einteilung nach Selektionskräften. 1.) Die natürliche Selektion beinhaltet a)
die Natur- oder Umweltselektion durch (a)biotische Faktoren, b) die sexuelle Selektion (z.B.
Partnerwahl durch Angehörige des anderen Geschlechts) und c) die parentale Selektion. 2.) Die
künstliche Selektion, die der Mensch bei Züchtungen vornimmt (Zuchtwahl). Die Einteilung in
natürliche und künstliche Selektion stammt von Darwin; Beobachtungen an Zuchttieren und -pflanzen
lieferten Darwin (Mitglied in zwei Taubenzuchtvereinen) wichtige Impulse für seine Selektionstheorie.
Mit diesen Inhalten beginnt er die „Entstehung der Arten“ sogar. Ein Beispiel für die Wirksamkeit der
künstlichen Selektion sind die sehr verschiedenen Kohlsorten, die alle aus einer einzigen Wildart
heraus gezüchtet wurden („Campbell“: Abb. 22.9). Darwin selber hat Kreuzungsexperimente mit
Kohlpflanzen vorgenommen und führt dieses Beispiel im Artenbuch auch an.
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Selektion als Motor von Artbildung. Darwin fasst seine Theorie zur Artbildung mit dem Ausdruck
„Descent with modification through natural selection“ gleichsam zusammen (vgl. Buchtitel „Über die
Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“). Ähnlichkeiten von Arten beruhen also auf
gemeinsamer Abstammung und (anschließender) langsamer Veränderung, die durch Selektion
getrieben wird. Als Beispiel für solch eine Artbildung bemühen wir wieder die schon erwähnten
Darwinfinken („Campbell“: Abb. 22.6). Sie sind ein Beispiel für eine adaptive Radiation: Von einer
Ausgangsart entstehen in relativ kurzer Zeit neue Arten, die unterschiedliche Nischen „besetzen“ und
sich durch morphologische bzw. physiologische Merkmale unterscheiden, die sie nutzen, um diese
Nischen zu realisieren. (Es gibt einige Definitionen. Diese hat zusammenfassenden Charakter.) Es
gibt aber noch weitere „Motoren der Evolution“, die auch zu Artumwandlung/bildung führen können.
Auch für Darwin war die natürliche Selektion nicht die einzige Kraft, die evolutionäre Veränderungen
bewirkt: „Und ebenso fest bin ich überzeugt, dass die natürliche Zuchtwahl das wichtigste, wenn auch
nicht einzige Mittel der Abänderung war.“. Arten entstehen aber nicht nur, sondern können ebenso
auch wieder aussterben. Das Artenbuch enthält nur eine einzige Abbildung, ein Stammbaum, in dem
auch ausgestorbene Linien eingezeichnet sind.
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Missverständnisse Selektion. Darwins Selektionstheorie wurde (und wird) oft missverstanden. Dazu
trug eventuell auch die deutsche Fehlübersetzung von „Struggle for Life“ in "Kampf ums Dasein" durch
den ersten Übersetzer des Artenbuchs, den Heidelberger Paläontologen Heinrich Georg Bronn
(1800–1862), bei. Den Begriff „Struggle for Life“ wollte Darwin eigentlich im Sinne von alt-englisch
"concurrency" verstanden wissen, was einerseits für Wettkampf/Rivalität aber auch für Kooperation
steht, jedenfalls nicht (grundsätzlich) für einen permanenten direkten Kampf von Individuen
gegeneinander. Der britische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer (1820–1903) wandte Teile
des Darwinismus auf die gesellschaftliche Entwicklung an (Evolutionimus, z.T. als Vorläufer von
Sozialdarwinismus betrachtet). Die von ihm geprägte Wendung „survival of the fittest“ wurde später (5.
Auflage des Artenbuchs: 1869) von Darwin übernommen. Die (Biologische oder Darwin‘sche) Fitness
ist ein Maß für den Fortpflanzungserfolg eines Individuums bzw. eines Genotyps (s.u.) oder
(genozentristisch, s.u.) auch eines Allels. Entscheidend ist die relative Fitness, also der Anteil eines
Genotyps relativ zu einem anderen. Es ist ein relativer Wert: Zahl der Nachkommen im Vergleich zu
anderen Mitgliedern der Population. Die Fitness beruht auf Angepasstheit: „Survival of the fittest“
bedeutet also nicht (!) das „Überleben der Stärksten“, sondern eine höhere Überlebens- und
Fortpflanzungswahrscheinlichkeit der besser angepassten.
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Adaptive Landschaften (Fitnesslandschaften). Fitnesslandschaften sind eigentlich komplizierte
populationsbiologische Modelle, die auf den amerikanischen Biologen und Mitbegründer der
Populationsgenetik Sewall Green Wright (1889–1988) zurückgehen. Anschaulich bedeuten diese
Landschaften („Zravý et al.“: S. 21, Abb. 1.4) folgendes: Die Koordinaten charakterisieren (zwei)
Eigenschaften (z.B. Allelkombinationen) eines Individuums, die „topographische“ Höhe die jeweilige
Fitness. Populationen können im Laufe ihrer Evolution ihre Fitness nur erhöhen, also gleichsam nur
bergauf klettern. „Zwischenschritte“ müssen mindestens genau so fit sein wie der vorherige Zustand,
daher kann ein möglicherweise vorhandener höherer Nachbargipfel nicht erreicht werden, da er eben
gleichsam durch ein „Fitnesstal“ getrennt ist. Populationen kommen aber tatsächlich nie auf einem
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wirklichen Gipfel an, da sich die Umwelten ständig ändern bzw. dynamisch sind. Neu entstandene
Gipfel (Nischen) können unter Umständen nicht erreicht (realisiert) werden, da diese durch Täler
getrennt sind.
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Zweckmäßig versus zweckbestimmt oder zielgerichtet. Zweckmäßige Anpassungen entstehen
durch die Evolution nicht zweck- oder zielgerichtet, sondern „planlos“ durch das „rein mechanistische“
Zusammenspiel von Variation und Selektion („Zufall und Notwendigkeit“). Die folgende Tabelle soll
den Unterschied zwischen zweckmäßig und zweckbestimmt verdeutlichen:
Farbreihenfolge vorbeifahrender Autos
Auto oder Schöpfung
Mensa-Essen
Adaptationen
zweckmäßig
Nein
Ja
Nein
Ja
zweckbestimmt
Nein
Ja (Teleologie)
Ja
Nein
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Evolution: Kein „Ersatz-Gott“, sondern „nur“ eine Theorie. Eine Hypothese ist in der
Naturwissenschaft eine (möglichst falsifizierbare) Aussage, z.B. „alle Männer sind fußballinteressiert“.
Eine Reihe von Hypothesen zum Thema, die (bisher) nicht durch Beobachtungen widerlegt wurden,
bilden eine Theorie – ein Bild bzw. Modell der Wirklichkeit. Falls eine Theorie durch sehr viele
Einzelbeobachtungen (Hinweise) gestützt wird, geht man üblicherweise dazu über diese Theorie
gleichsam als „bewiesene Tatsache“ anzuerkennen. Ganz streng genommen ist das natürlich nicht
richtig, weil man in letzter Konsequenz rein gar nichts mit absoluter Sicherheit beweisen bzw. wissen
kann. Für den österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper (1902–1994), auf den die
Wissenschaftstheorie des Falsifikationismus zurückgeht, war die Theorie des „survival of the fittest“
problematisch, da sie nicht falsifierzierbar ist, „es überlebt, was überlebt“. Popper (1963): „survival of
the fittest …a tautology …untestable“. Er war aber nicht, wie teilweise von Kreationisten als Argument
genutzt, deswegen der Meinung, dass es keine Evolution geben kann (1976: „ready to accept
evolution as a fact“).
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Darwinistischer Algorithmus. Der Darwinismus erklärt evolutionären Wandel rein mechanistisch:
Durch (zufällige) Mutationen entsteht (vererbbare) Variation, deren Träger (Individuen) untereinander
in Konkurrenz stehen und von denen die fittesten Typen durch die natürliche Selektion in der
Population gleichsam „angereichert“ werden. Dieser einfache darwinistische Algorithmus “Mutation
– Variation – Konkurrenz – Selektion“ ist enorm wirkungsvoll, wie sich z.B. auch mit
Computersimulationen zeigen lässt. Ein bekannterer Pionier solcher Simulationen („artificial evolution“,
„evolutionary algorithms“) ist der amerikanische Informatiker Karl Sims, der in den 90er Jahren mit
solchen Algorithmen experimentiert hat. Videos zu diesen Versuchen finden Sie z.B. hier:
http://www.youtube.com/watch?v=b1rHS3R0llU&feature=related. Kürzlich (2012) wurde ein solcher
darwinistischer Algorithmus auch verwendet, um Musik zu komponieren („DarwinTunes – Survival of
the funkiest“): http://darwintunes.org. Dem „Spielkind“ Darwin hätte das sicher gefallen. Oft
wurden/werden die Begriffe Variation und Variabilität synonym verwendet. Unter Variabilität (im
engeren Sinne) versteht man heute eigentlich die Fähigkeit („ability“ vgl. „variability“) oder auch das
Potenzial zu variieren. Variation nimmt dagegen direkt Bezug auf aktuell vorhandene (gemessene)
Unterschiede in einer Population. Das Konzept, die beiden Begrifflichkeiten zu trennen, geht auf
Wagner & Altenberg (1996) zurück und steht letztlich im Zusammenhang mit neueren Konzepten zur
Evolution komplexer Strukturen (dazu viel später dann mehr). Es gibt z.B. genetische Variation oder
Variation im (äußeren) Erscheinungsbild (phänotypische Variation). Als Vorgriff hier schon mal
folgende Hinweise: Genetische Unterschiede können zu einem veränderten Erscheinungsbild führen,
müssen es aber nicht unbedingt. Phänotypische Variation kann als Ursache genetische Unterschiede
haben oder aber „einfach nur“ durch unterschiedliche Umwelteinflüsse bedingt sein. In den
Konzepten, die wir zunächst betrachten, geht es aber immer um phänotypische Variation, die eine
direkte genetische Basis hat (und damit vererbbar ist).
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Aufgaben
♦ Erinnern Sie sich an die in der Vorlesung gezeigte Abbildung mit dem Yin-Yang-Zeichen und
versuchen Sie mal diese nachzuempfinden. (Es ging hier um die unterschiedlichen Themenbereiche
der Evolutionsbiologie und ihre Bezüge zu anderen Fachgebieten der Biologie bzw. Geologie.)
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♦ Informieren Sie sich über das Leben von Charles Darwin im entsprechenden (empfehlenswerten)
Wikipedia-Artikel.
♦ Was ist das letzte Wort in Darwins Artenbuch („Origin of Species“)? Wie gesagt, das Buch finden Sie
digital hier: http://darwin-online.org.uk.
♦ Evolution bedeutet Veränderung der Lebewelt. Wie kann man eigentlich sehr konstante
Erscheinungen der Lebewelt, wie z.B. DNA als Erbguträger, ubiquitäre Stoffwechselwege oder
einheitlicher Bau der Eukaryotenzelle etc. damit vereinbaren?
♦ Wie kann man erklären, dass (bisher) keine Säugetiere evolviert sind, die große netzartige
Unterlippen aufweisen, die für den Fang von Fischen geeignet sind?
♦ Für Biologen ist die Evolution zweckfrei und damit auch eine Frage nach dem Zweck einer Existenz
von Miesmuscheln, Mandelbäumen oder Menschen eigentlich bedeutungslos. Oft wird die
Abwesenheit eines Zwecks (fälschlicherweise) mit „Zufall“ gleichgesetzt. In welchem Sinne spielt
Zufall eine Rolle in der Evolution?
♦ Folgender Text stammt aus dem Online-Wissenschaftsmagazin der Techniker-Krankenkasse:
„Geschicktes Täuschungsmanöver. Wie viele andere Insekten oder Vögel bedienen sich auch die
Schwebfliegen des so genannten Mimikry-Prinzips. Mimikry bedeutet, dass Tiere andere Gattungen
oder Tierarten optisch nachahmen, um ihre Feinde zu täuschen. Dazu verändern sie ihre Körperform
und ihre Farben und legen sich neue Muster und Schattierungen zu.“
formulieren Sie den Text darwinistisch um.
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