Ulrich PFISTER Sozialstaat und Gesellschaft seit 1880 18. Oktober 2011 Einführung Staatsausgaben und Staatsfunktion Langfristig nahm die Staatsquote in Deutschland von ca. 10% um 1870 auf 45–50% seit ca. 1980 zu Staatsquote = Staatsausgaben / Gesamtheit des von einer Volkswirtschaft erbrachten Leistungen (Bruttoinlandprodukt, BIP) Die Zunahme ging v. a. auf eine starke Erhöhung der Sozialausgaben zurück → Funktionswandel vom Ordnungsstaat zum Interventions- und bürokratischen Leistungsstaat Der Staat des 19. Jh. gewährleistete Ruhe und Ordnung (inkl. Rechtspflege) im Innern sowie Sicherheit nach außen Seit dem späten Jahrhundert begann der Staat in Märkte zu intervenieren (Zollpolitik, Arbeitsrecht) … und baute Leistungsprogramme auf, die nach formalen Verfahren durch spezialisierte Behörden vollzogen wurden 18.10.2011 Einführung 2 1 Entwicklung der Staatsquote Deutsches Reich bzw. BRD, 1870–2010 50 40 30 20 10 0 1860 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 Anteil der Staatsausgaben am Volkseinkommen in Fünfjahresabständen Quellen: Kohl, Jürgen: Staatsausgaben in Westeuropa: Analysen zur langfristigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen (Frankfurt a. M.: Campus, 1985), S. 220; ab 1980 Webseite Bundesfinanzministerium 18.10.2011 Einführung 3 Anteil der Sozialausgaben am Volkseinkommen Deutsches Reich bzw. BRD, 1872–2005 35 30 25 20 15 10 5 0 1870 1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 Quellen: Kohl, Jürgen: Staatsausgaben in Westeuropa: Analysen zur langfristigen Entwicklung der öffentlichen Finanzen (Frankfurt a. M.: Campus, 1985), S. 231 (aus Diagramm; nur Gebietskörperschaften bis 1950); BMSA: Sozialbericht 2009, T1 (1960–2005 in Fünfjahresabständen). 18.10.2011 Einführung 4 2 Elemente sozialstaatlicher Politik Einkommenssicherung Fürsorge — Sozialversicherung — Versorgung Dienstleistungen im Sozialbereich Schwerpunkte: Gesundheitspflege, sozialer Wohnungsbau (v. a. kommunale Programme) Arbeitsrecht, Arbeitsmarktpolitik Ziel: Schutz der Arbeitskraft vor Überausbeutung Mittel I: Arbeitsschutz mit Festlegung von Arbeitzeiten, partiellen Arbeitsverboten (z. B. Nachtarbeit für Frauen) Mittel II: Arbeitsmarktpolitik mit Kündigungsschutz, Koalitions- und Streikrecht, Mitbestimmung, Regelung von Tarifverhandlungen (Schutz von kollektiven Tarifverträgen) In GB ab 1833–1850, in den meisten europäischen Ländern erst ab 4. V. 19. Jh. Bildungspolitik Schule: Gegen Ende 19. Jh. wurde die Grundschule allgemein staatlich geregelt, obligatorisch und kostenlos Höhere Bildung 1950er–1970er Jahre Erleichterung des Universitätszugangs Ziel: Chancengleichheit (vs. Nivellierung von Einkommensunterschieden) 18.10.2011 Einführung 5 Typen sozialstaatlicher Maßnahmen zur Einkommenssicherung Rechtsanspruch BedürftigkeitsPrüfung Leistungshöhe nein ja »less eligibility«, d. h. geringer als minimales Erwerbseinkommen Sozialversiche- ja, aufgrund von geleisteten Beirung trägen nein soll bisherigen Lebensstandard gewährleisten ja, gegründet in Bürger(in)status nein soll Grundbedürfnisse abdecken Sozialfürsorge Versorgung 18.10.2011 Einführung 6 3 Sozialstaat: Geschichte des Begriffs Erste Verwendung durch konservativen deutschen Sozialreformer Lorenz von Stein, 3. Viertel 19. Jh. in Weimarer Republik Weiterentwicklung des Konzepts insbesondere durch den religiösen Sozialisten Eduard Heimann Soziale Theorie des Kapitalismus: Theorie der Sozialpolitik, 1929 Wohlfahrtsstaat In der späten Weimarer Zeit negative Konnotation mit Staatssozialismus In der angelsächsischen Welt setzte sich der Begriff im Gefolge des BeveridgePlans (GB 1942) durch (welfare state) Seither werden „Sozialstaat“ und „Wohlfahrtsstaat“ oft synonym verwendet dennoch: in der deutschen Tradition des Sozialrechts wurzelnder Begriff des Sozialstaats Ritter (1991), Kaufmann (2005), teilweise mit Verweis auf den Sozialrechtler Zacher 18.10.2011 Einführung 7 Zur Begriffsgeschichte des Sozialstaats Lorenz von Stein (1876) Der Staat müsse »die absolute Gleichheit des Rechts gegenüber allen jenen Unterschieden [der Klassen] für die einzelne selbstbestimmte Persönlichkeit durch seine Gewalt aufrecht halten, und in diesem Sinne nennen wir ihn den Rechtsstaat. Er muß aber endlich mit seiner Macht wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Forschritt aller seiner Angehörigen fördern, weil zuletzt die Entwicklung des Einen stets die Bedingung und eben so sehr die Consequenz der Entwicklung des Andern ist; und in diesem Sinne sprechen wir von dem gesellschaftlichen oder dem socialen Staate.« Lorenz von Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaften Deutschlands, Stuttgart 1876, S. 215, zitiert nach Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat: Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 19912, S. 11. 18.10.2011 Einführung 8 4 Ansätze I Ideen- und Institutionengeschichte des Sozialstaats In der Geschichtswissenschaft klassischer Ansatz Gerhard Ritter: Der Sozialstaat, 1991 Wichtige Gegenstandsbereiche institutionelle Entfaltung des Sozialstaats Programmentscheidungen zugrunde liegende Konzepte einflussreicher Meinungsund Entscheidungsträger Internationaler Vergleich im Hinblick auf Diffusionsvorgänge Hintergrund: Tradition des Historismus … der thematisch auf die Entfaltung des Nationalstaats und seiner Eliten, methodisch auf den Nachvollzug manifester Intentionen ausgerichtet ist Grenzen der Leistungsfähigkeit Eine Erklärung der Entwicklung des Sozialstaats kann höchst partiell geleistet werden die damit verbundenen gesellschaftlichen Änderungen rücken kaum ins Blickfeld 18.10.2011 Einführung 9 Ansätze II: Sozialgeschichte des Sozialstaats I Das Beispiel der Entstehung der Sozialen Arbeit Ausgangssituation der städtischen Armenfürsorge im 3. Viertel 19. Jh. Ehrenamtliche Armenpfleger mit räumlichem Zuständigkeitsbereich Relativ autonome Entscheidung über Vergabe von Unterstützungsleistungen Problemdruck seit spätem 19. Jh. Urbanisierung, soziale Segregation → Schwierigkeit, geeignete Freiwillige zu finden Aufbau der Sozialversicherung → Problem der Abklärung von Versicherungsansprüchen, ab ca. 1905 gelöst durch Anstellung zentraler Fürsorgebeamter Proletarisierung → Zunahme der Bedürfnisse Lösungsansätze im frühen 20. Jh. Quantitativer Ausbau der kommunalen Sozialfürsorge Bürokratisierung durch geregelte Verfahren und Experten Neben zentralen Fürsorgebeamten spielte die bürgerliche Frauenbewegung und ihr soziales Engagement eine wichtige Rolle in diesem Vorgang Ab 1918 aus der Frauenbewegung heraus rascher Aufbau von Schulen für soziale Arbeit mit zunehmender staatlicher Regulierung sowie Schaffung eines Erwerbsberufs Sozialarbeiterin 18.10.2011 Einführung 10 5 Ansätze II: Sozialgeschichte des Sozialstaats II Erkenntnisrichtungen Herrschafts- und Staatssoziologie im Alltag Traditionelle patrimoniale Herrschaft wurde durch bürokratische Herrschaft abgelöst Fürsorge wurde vom Ressourcentransfer in der stadtbürgerlichen Gemeinschaft zu einer problembezogenen, durch schematische Verfahren und Zuständigkeiten geregelten, an universellen Kriterien ausgerichteten Dienstleistung Sozialdisziplinierung Disziplinierung bis ins frühe 19. Jh. v. a. mit Blick auf moralischen Lebenswandel Expertenwissen und bürokratische Verfahren ermöglichten eine weitergehende Kontrolle der alltäglichen Lebensführung von KlientInnen Disziplinierung von Unterschichten im Sinn dominanter bürgerlicher Ideologien Modellierung gesellschaftlicher Rollenbilder Hintergrund des sozialen Engagements der bürgerlichen Frauenbewegung war das Bestreben, Mütterlichkeit in die männliche Klassengesellschaft hineinzutragen → Geschlechtsspezifische Komponente sozialer Arbeit, Mütterlichkeit wurde zur Berufsideologie; Funktionen: Fernhalten der Ausbildung von den Universitäten Überbrückung des Widerspruchs zwischen bürokratischen Verfahren und situativ umfassender Verfügbarkeit der Helferin gegenüber KlientInnen 18.10.2011 Einführung 11 Ansätze III Soziologische Ansätze Modernisierungssoziologie Klassisch Jens Alber: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat (1987) Die Entwicklung moderner Staatlichkeit sowie Bestrebungen zur umfassenden Inklusion der StaatsbürgerInnen über Sozialpolitik (vgl. von Stein) kann als Teil eines umfassenden Modernisierungsvorgangs gedeutet werden Auch Ansätze zum systematischen Vergleich Politikfeldanalyse Sozialpolitik ist ein Politikfeld, auf dem Staat, Politik und Gesellschaft interagieren Fragestellungen Was erklärt den scheinbar kontinuierlichen Ausbau des Sozialstaats? Was erklärt die starken Kontinuitätslinien nationaler Entwicklungen Ansatz zu Antworten Spezialisierte Politikfelder behandeln die Folgeprobleme früherer Interventionen die Interaktion zwischen Staat und organisierten Gruppen von KlientInnen bewirkt neue Programme oder den Ausbau bestehender Programme 18.10.2011 Einführung 12 6 Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft Allgemeines Sozialpolitik vollzieht sich in Auseinandersetzung mit KlientInnen, die sich jenseits des parlamentarischen Betriebs mit Parteien als Gruppen organisiert haben Umgekehrt entwickelten sich seit dem späten 19. Jh. im Zuge der Entwicklung des Interventions- und Leistungsstaats gesellschaftliche Gruppen oft in enger Auseinandersetzung mit dem Staat 18.10.2011 Einführung 13 Soziale Bewegungen Zusammenschlüsse außerhalb des parlamentarischen Betriebs Bewegungen streben keine politische Mandate an Sie sprechen den politischen Raum durch öffentlichkeitswirksame Aktionen an Symbolische Handlungen Kollektive Protestversammlungen Organisationsgrad Soziale Bewegungen sind meist gar nicht oder nur lose organisiert → geringe Stabilität über die Zeit hinweg Variante 1: Weiterentwicklung zu Parteien; Beispiele: Arbeiterbewegung → Sozialdemokratische Parteien; Umweltbewegung → Grüne Variante 2: Auflösung Themenbezogenheit erfolgreiche politische Parteien vertreten auf ideologischer Basis eine politische Programmatik, die sie zur Verarbeitung unterschiedlicher Themen und zur Interessenaggregation befähigt Soziale Bewegungen sind demgegenüber auf konkrete Themen bzw. Anlässe ausgerichtet Falls das entsprechende Thema aus dem politischen Raum verschwindet, wird auch der Bewegung die Existenzgrundlage entzogen 18.10.2011 Einführung 14 7 Interessengruppen Zur Beeinflussung des im späten 19 Jh. sich herausbildenden Interventions- und Leistungsstaats entstanden Verbände, die meist aus einer Pyramide von lokalen bzw. branchenbezogenen Vereinen bis zu nationalen Spitzenverbänden bestanden Z. T. veranlasste auch die Zentralisierung von Gewerkschaften einen Zusammenschluss von Unternehmerverbänden (so in GB) Hauptsächliche Sektoren Handel und Industrie Landwirtschaft Freie Berufe (Ärzte, Juristen) Relevanz Aufgrund ihrer Expertise und ihrer Organisationsmacht können Interessengruppen Gesetzgebung und andere staatliche Tätigkeiten mitunter erheblich beeinflussen → sog. Korporatismus 18.10.2011 Einführung 15 Kontroverse Erklärungen der Bildung organisierter Bewegungen und Interessengruppen Theorie kollektiven Handelns Menschen handeln grundsätzlich (nur) im eigenen Interesse Daraus ergibt sich höchstens eine begrenzte Bereitschaft zur Mitwirkung in einer größeren Gruppe Die Theorie untersucht soziale Techniken seitens von Organisationen, mit denen Individuen trotzdem dazu motiviert werden, sich für eine gemeinsame Sache einzusetzen Identität und Solidarität Gemeinsame Alltagserfahrungen unterschiedlicher Menschen schaffen die Grundlage für kollektives Handeln Die Analyse von Feldern, in denen gemeinsame Erfahrungen gemacht werden, stellt einen wichtigen Bestandteil der Analyse der Entstehung sozialer Gruppen und ihrer Organisationen dar Arbeit, Wohnen, Konsum, Freizeit klassisch: E. P. Thompson: The making of the English working class, 1963 18.10.2011 Einführung 16 8 »Gruppengeschichten« Arbeiterbewegung traditionsreiche Frage nach der Entwicklung der ArbeiterInnenschaft zu einer Klasse Forschung gut im nicht-universitären Bereich institutionalisiert Unternehmer Im Kreuzfeld von Unternehmens- und Verbandsgeschichte zusammen mit den Professionen auch der Bürgertumsforschung Professionen (Bsp. Ärzte, Juristen) Bildungsbürgerliche, meist akademische Berufe, die in der Regel außerhalb des industriellen Produktionsprozesses stehen machen im 19. Jh. eine sog. Professionalisierung durch Mittelstand Alter Mittelstand aus Detailhandel, Gewerbe, z. T. Bauern sah sich Ende 19. Jh. durch Entwicklung von Großindustrie, Sozialstaat, Einflussnahme von Gewerkschaften und Verbänden auf Staat zunehmend bedroht. Aus diesen Erfahrungen entwickelten sich konservative, z. T. faschistische Mittelstandsbewegungen Neuer Mittelstand: Angestellte Nicht-klassenbasierte Bewegungen Frauenbewegung ab 1860er Jahren Bürgerrechtsbewegung, später Jugendbewegung in den USA 1950er/1960er Jahre 18.10.2011 Einführung 17 9