Tanztherapeutische Diagnostik und Intervention in der kinder

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FRANKFURTER INSTITUT FÜR TANZTHERAPIE FITT
Abschlussarbeit
Tanztherapeutische Diagnostik und Intervention
in der kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeit
vorgelegt von
Astrid Kolter
Marburg an der Lahn, 2014
Abstract
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Fragen, was ist eigentlich Tanztherapie und
kann die Tanztherapie eine geeignete Form der Behandlung einer Kombinierten Störung
des Sozialverhaltens und der Emotionen bei Jugendlichen sein? Der Schwerpunkt in der
theoriebasierten Darstellung der Tanztherapie liegt auf strukturierten und
strukturierenden Ansätzen der Tanztherapie (beispielsweise der Bewegungsanalysen
nach Laban und Kestenberg). Meine Erfahrungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
zeigten, dass Kinder und Jugendliche von Struktur profitieren. Eine qualitative
Einzelfallanalyse unter der Bedingung einer diagnostizierten Kombinierten Störung des
Sozialverhaltens und der Emotionen wird in der vorliegenden Arbeit tanztherapeutische
Interventionen und den therapeutischen Prozess unter Berücksichtigung von
Pathogenese- und Salutogenesekonzepten beschreiben.
Schlüsselworte: Tanztherapie, Bewegungsanalyse, Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, Salutogenese,
Pathogenese, Einzelfallanalyse
The present study addresses the following issues: What is Dance/Movement Therapy
and is Dance/Movement Therapy applicable as a form of treatment in cases of social
behavioural and emotional disorders of youths. The theory-based description of
Dance/Movement Therapy is focused on structured and structuring approaches of
Dance/Movement Therapy (such as the movement analysis according to Laban and
Kestenberg). My experiences in the child and youth psychiatry show that children and
youths profit if a structure is given. I will explore movement interventions and the
therapeutic process including salutogenetic and pathogenetic concepts for a qualitative
single case study of a diagnosed mixed disorders of conduct and emotions.
Keywords: Dance/Movement Therapy, movement analysis, child and youth psychiatry,
mixed disorders of conduct and emotions, salutogenesis, pathogenesis, single case study
„Tanztherapeutische Diagnostik und Intervention
in der kinder- und jugendpsychiatrischen Tätigkeit“
Astrid Kolter (Dipl.-Psych.)
Steinweg 30
35037 Marburg
E-Mail: astrid_kolter(at)gmx.de
Frankfurter Institut für Tanztherapie FITT e.V.
Schneckenhofstr. 20H2
60596 Frankfurt/Main
E-Mail: info(at)tanztherapie-fitt.de
2
Inhaltsverzeichnis
Seite
Inhaltsverzeichnis
3
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
3
Danksagung
4
1. Einleitung
5
2. Theorie
8
2.1. Tanztherapie
2.1.1. Bewegungsanalyse
8
10
2.1.1.1. Laban
10
2.1.1.2. Kestenberg Movement Profile (KMP)
18
2.2. Diagnostik und Klassifikationssysteme
25
2.2.1. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
26
2.3. Tanztherapie bei Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
27
3. Anwendung
3.1. Therapeutischer Prozess
29
29
3.1.1. Pathogenese
30
3.1.2. Salutogenese
33
3.2. Fall Ronja
35
4. Zusammenfassung und Diskussion
41
Literatur
43
Anhang
45
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Seite
Abb.1: Die grafische Darstellung der Efforts nach Laban
14
Tab. 1: Das Verhältnis zwischen Stufen, Phasen und Flächen im KMP
23
3
Danksagung
Ein großes Dankeschön gilt meinen Ausbilderinnen des FITT, Andrea Goll-Kopka,
Gabriele Grüßges, Petra-Wolgard Hagemann, Erika Kletti-Ranacher, Jacqueline
Mayer-Ostrow, Fe Reichelt und Sybille Scharf-Widder von denen ich lernen durfte.
Den aktiven Mitglieder im Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands danke
ich für ihre Zeit und ihr Engagement, das Berufsbild der Tanztherapie zu erweitern und
gleichzeitig zu präzisieren, sodass nachfolgende Generationen von Tanztherapeuten
eine bessere Ausgangslage auf dem Arbeitsmarkt haben.
Der Leitung und meinen Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie Vitos Herborn bin
ich sehr dankbar für die Gelegenheit mein Wissen anzuwenden und meine Erfahrungen
mit den Patienten zu erweitern. Ich erfahre dort eine starke Vertrauensbasis, die ein von
Kompetenz und kollegialem Austausch geprägtes therapeutisches Arbeiten ermöglicht.
Emotionale Unterstützung habe ich dankenswerter Weise von meinem Ehemann Nikolai
Kaufmann-Kolter und meinen Eltern Marianne Kolter und Jürgen Scheffran erfahren,
die für Gespräche und Gedankenaustausch über die Arbeit immer ein offenes Ohr
hatten.
Zu guter Letzt gilt mein Dank den Patienten, die sich in der Tanztherapie mehr oder
weniger öffneten und Vertrauen schenkten. Insbesondere danke ich Ronja inkognito
sowie ihrer Familie für die Bereitschaft der anonymisierten Veröffentlichung ihres
tanztherapeutischen Prozesses.
4
1. Einleitung
Was ist eigentlich Tanztherapie?
Diese Frage wurde mir in verschiedenen Kontexten des Öfteren gestellt seit ich die
Ausbildung zur Tanztherapeutin begonnen habe. Eine Antwort zu finden, die kein
Referat von zwei Stunden umfasst, fiel mir immer schwer. Denn, wie bei allen
Therapieformen, gehören zu dieser Antwort die Grundannahmen sowie das zugrunde
liegende Menschenbild der Therapie, Diagnostik, Ziele, Indikationen, methodische
Ansätze der Intervention und bestenfalls veranschaulichende Beispiele. Diese
Abschlussarbeit meiner Therapieausbildung habe ich als Chance gesehen, eine
umfassende und für mich befriedigende Antwort auf diese Frage zu formulieren.
Außerdem gibt es einen weiteren Fragenkomplex, der mich seit einiger Zeit beschäftigt.
Mein Universitätsprofessor im Fach Pädagogische Psychologie, den ich so einschätzte,
dass er gerne provokante Aussagen formulierte, um uns zum Denken anzuregen, sagte,
dass eine Analyse mehr über den Diagnostiker / Therapeuten aussage, als über den
Patienten selbst.
Zur therapeutischen Arbeit gehören Beobachtungen, Interpretationen und Hypothesen,
die nicht immer belegt werden können. Es gibt Therapieformen, die über
Standardisierung und Techniken der Objektivierung bestrebt sind, menschliche
Fehlerquellen von Missinterpretationen und dem Überstülpen eigener Erfahrungen auf
den Patienten zu vermeiden. Ich bin überzeugt, dass dieser naturwissenschaftliche
Ansatz der Psychologie, wie ich ihn in Marburg gelehrt bekommen habe, richtig und
wichtig ist. Und gleichzeitig bin ich überzeugte angehende Tanztherapeutin, einer
Therapieform, die aufgrund ihrer Grundannahmen - überwiegend humanistischer,
tiefenpsychologischer und psychoanalytischer Natur - ihrer vielfältigen
unterschiedlichen Ausführung und Umsetzung wegen der sehr verschiedenen
Grundberufe der Tanztherapeuten, der generellen Komplexität therapeutischer Prozesse
sowie aufgrund ihrer noch zaghaften Verbreitung in den Anwendungsfeldern kaum auf
der Ebene randomisierter Kontrollgruppenstudien zu evaluieren ist. Jedenfalls nicht im
vergleichbarem Ausmaß wie etablierte und kassenärztlich anerkannte Therapieformen.
Für mich stellte sich also die Frage, wie bekomme ich mein naturwissenschaftlich
geprägtes Bestreben nach Eindeutigkeit, Objektivierbarkeit und messbaren
5
Gütekriterien erfolgreicher Therapie mit meinem durch Erleben geprägten Glauben an
die heilende Wirkung von Tanz und Beziehung zusammen? Die vorliegende Arbeit ist
ein Versuch.
Im Theorieteil dieser Arbeit stelle ich die Tanztherapie allgemein sowie im Bezug auf
die kinder- und jugendpsychiatrische Tätigkeit, d.h. unter Berücksichtigung der
gängigen störungsspezifischen Diagnostik und Klassifikationssysteme, vor. Der
Schwerpunkt liegt in diesem Teil auf der Diagnostik über die tanztherapeutische
Bewegungsanalyse nach Laban und Kestenberg.
Im Anwendungsteil beschreibe ich eine qualitative Einzelfallstudie, den Fall Ronja,
unter Berücksichtigung des therapeutischen Prozesses. Problemlöse- bzw. Pathogeneseund Salutogenesekonzepte zur Strukturierung und inhaltlichen Erarbeitung des
therapeutischen Prozesses werden erläutert und in ihrer Verschiedenheit und Bedeutung
für das Gesundheitssystem diskutiert. Mein Drang, extensive Forschung über stark
strukturierte Konzepte, wie den Klassifikationssystemen oder dem Problemlöseansatz
nach Bartling et al. (2008), mit der intensiven Forschung eines Einzelfalles zu
kombinieren, entspricht meinen persönlichen Vorlieben, hat aber noch einen anderen
Hintergrund. Wie Bortz et al. (2002) beschreiben, stehen Einzelfallstudien vor dem
Problem der Generalisierbarkeit als Ziel wissenschaftlicher Arbeiten. Mir sind die
eingeschränkten Aussagefähigkeiten qualitativer Forschung und abhängiger Messungen
bewusst. In zwei Jahren Forschungstätigkeit (Grundlagenforschung sowie klinischer
Kontrollgruppen-Studien mit Randomisierung soweit möglich) an der Universität
Heidelberg sind mir auch die Einschränkungen quantitativer Forschung vor allem in der
Operationalisierung der Evaluation therapeutischer Erfolge aufgefallen. Meiner
Meinung nach wird es in der Evaluationsforschung von Therapieerfolgen immer mehr
darum gehen, quantitative Forschung und qualitative Forschung zu kombinieren.
"Die Beschreibung von Einzelfällen regt nicht nur die Hypothesenbildung an,
sondern kann […] auch zur Hypothesenprüfung dienen. Für Einzelfälle
formulierte Prognosen lassen sich sowohl interpersonal […] als auch
intrapersonal […] überprüfen, wobei qualitative und quantitative Daten von
Bedeutung sind" (Bortz et al., 2002, S. 324).
Bortz et al. führen des Weiteren aus, dass Hypothesen aus Einzelfallstudien
Allgemeingültigkeit erlangen, insofern sie an repräsentativen Stichproben bestätigt
werden. Wissend, dass quantitative Studien noch fehlen, möchte ich folgende
6
Fragestellung aufgreifen:
Kann die Tanztherapie eine geeignete Form der Behandlung einer Störung des
Sozialverhaltens und der Emotionen bei Jugendlichen sein?
Die abschließende Diskussion beinhaltet in zusammenfassender Weise
Schlussfolgerungen bzgl. der Fragestellung sowie Überlegungen zur Relevanz der
vorliegenden Arbeit.
Um den Lesefluss des Textes nicht zu stören, wird auf die Darstellung der weiblichen
und männlichen Form im Text verzichtet, es sind selbstverständlich immer beide
Geschlechter gemeint.
7
2. Theorie
Bevor das Fallbeispiel aus der Anwendung der Tanztherapie in der kinder- und
jugendpsychiatrischen Arbeit dargestellt wird, möchte ich die theoretischen
Hintergründe dieser Arbeit beschreiben. Zuerst werfe ich einen kurzen Blick auf die
Tanztherapie generell und schließe mit einer ausführlichen Darstellung der
Bewegungsanalyse nach Laban und Kestenberg. Da in der Psychiatrie Erkenntnisse aus
der Therapie u. a. in Klassifikationssysteme wie dem International Classification of
Diseases (ICD-10) übersetzt werden, soll auch dieses theoretisch beleuchtet werden.
2.1. Tanztherapie
"Bewußtwerden des Unbewußten
In dem Moment, wo dem Tanzenden, dem Sich-Hingebenden, dem SichBewegenden, die Bewegungen geschehen, wo er sie ausführt, erlebt er sie passiv
und aktiv zugleich, d.h. passiv, indem er sie geschehen läßt (erlebt, erleidet, sich
erfreut usw.), und aktiv, indem er sie ausführt. Einmal ist also das seelische
Erleben vor der Bewegung da, also ihre Ursache, und dann ist das seelische
Erleben direkt in und nach der Bewegung wieder da, also durch die Bewegung
selbst nochmals hervorgerufen" (Reichelt, 2004, S. 54).
Definition:
Tanztherapie ist die psychotherapeutische Verwendung von Tanz und Bewegung zur
Integration von körperlichen, emotionalen und kognitiven Prozessen des Menschen. Sie
wird auch als künstlerische Therapie definiert, die Tanz und Bewegung als Medium zur
Persönlichkeitserweiterung nutzt (Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands
e.V. (BTD), 2013). Die Grundannahmen der Tanztherapie beruhen auf der Einheit von
Körper und Geist, vielfältig untersucht u. a. unter der Begrifflichkeit des Embodiment
oder Leiblichkeit (Koch, 2011). Erleben und Verhaltenspräferenzen können demnach in
der Bewegung, d.h. Muskelspannung, Atmung und Dynamik beobachtet werden. Der
Symbolgehalt der Tanzbewegung gibt Aufschluss über emotionale Belange des
Einzelnen (BTD, 2013). Diese Grundannahme wird in Diagnostik und
Interventionsplanung vom Therapeuten genutzt. Gleichzeitig wirkt die Bewegung, vor
allem Veränderungen auf der Bewegungsebene, auf Affekt, Einstellung und Kognition
8
des Bewegenden (Koch, 2011). Diese Erfahrung ist körperlich und somit implizit und
explizit wirksam und im Körpergedächtnis gespeichert.
"Body memory does not represent the past but re-enacts it. But precisely through
this, it also establishes an access to the past itself, not through images or words,
but through immediate experience and action. Thus, it may unexpectedly open a
door to explicit memory and resuscitate the past as if it were present as such."
(Fuchs, 2012, p. 19).
Indikationen und Arbeitsfelder der Tanztherapie sind umfangreich und genauer
dargestellt auf der Hompage des BTD sowie in der kinder- und jugendpsychiatrischen
Tätigkeit Thema der vorliegenden Arbeit.
Die Ziele tanztherapeutischer Arbeit sind:
"Die Wiedererlangung, Erhaltung und Förderung der Gesundheit und
Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Symptome zu beheben, zu
reduzieren und/oder anders mit ihnen umzugehen. Psychische, physische und
kognitive Prozesse sollen integriert werden, um eine selbstbestimmte
Lebensgestaltung zu erreichen." (BTD, 2013, Internetseite).
Durch die Nutzung gesunder Persönlichkeitsanteile zur Förderung psychischer Stabilität
und Ich-Stärke werden die Ressourcen der Menschen betont. Im Rahmen der
Repertoireerweiterung werden alternative Bewegungsmöglichkeiten und
Handlungsmodelle erarbeitet. Die Tanztherapie beinhaltet die Möglichkeit zur verbalen
Reflexion, um die Bewusstwerdung des Erlebten zu fördern und neue
Bewegungserfahrungen zu integrieren (BTD, 2013).
In der Tanztherapie kommen verschiedene Ansätze zum Einsatz, u. a.:
•
Authentic Movement – aktive Imagination
•
Tanzimprovisation & Traumarbeit
•
Intermedialer Transfer & Körperbildarbeit
•
Bartenieff-Fundamentals
•
Ideokinese
•
Body-Mind Centering
•
Spiegeln & Chace-Kreis
•
Kestenberg Movement Profile
•
Laban
Eine einführende Beschreibung einzelner Ansätze, wie ich sie gemeinsam mit Sabine
Koch ursprünglich für einen Fragebogen formuliert hatte, befindet sich im Anhang.
9
2.1.1. Bewegungsanalyse
Die Bewegungsanalyse ist ein Instrument zur Diagnostik und Interventionsplanung.
Aktuell kann in der Tanztherapie das Kestenberg Movement Profile (KMP) genutzt
werden. Basierend auf der Entwicklungstheorie von Anna Freud und der
Bewegungsanalyse nach Laban sowie Beobachtungserfahrungen bei Säuglingen und
Kindern, ermöglicht das KMP eine Bewegungsanalyse, die unmittelbar mit
psychologischen Komponenten verbunden sein kann. Die Entwicklung, die im KMP mit
Phasen und Stufen beschrieben wird, wiederholt sich mindestens in der Pubertät und
wird wahrscheinlich auch in der Bewältigung von Problemen im Erwachsenenalter
teilweise durchlaufen.
2.1.1.1. Laban
Das Konzept von Rudolf von Laban dient als Grundlage für Bewegungsanalysen und
Bewegungsgestaltung für Tanztherapeuten, aber auch im Schauspiel und Theater. Klein
(1993) beschreibt vier Sparten von Bewegungskategorien, die großteils auf Labans
Bewegungslehre beruhen: Körperteilanwendung, Raumorientierung oder Raumbezug,
Bewegungsantrieb und Körperformen. Ich werde im Folgenden nicht alle Aspekte
dieser Bewegungskategorien benennen, sondern exemplarisch Aspekte beschreiben, die
meiner Meinung nach für die Fallanalyse relevant oder wichtige Grundlage zum
Verständnis des KMP sind.
Körperteilanwendung
In der Körperteilanwendung geht es zum einen um die Fragen, welches Körperteil
Bewegungen initiiert (z. B. peripher oder zentral) oder ob Körperteile isoliert und
integriert werden können. Andererseits geht es auch um Aspekte des Kontaktes der
Körperteile z. B. im Sinne von Kommunikationsverhalten. Koordination und
Gewichtsmobilisierung werden ebenfalls berücksichtigt (Klein, 1993).
Raumbezug
Der Raumbezug ist in unserem Alltag permanent gegenwärtig, findet aber häufig wenig
Aufmerksamkeit. Es geht „um die Orientierung des Menschen in dieser Welt“ (Klein,
1993, S. 107). In dieser Bewegungskategorie gibt es zwei Aspekte, die Kinesphäre und
den allgemeinen Raum. Die Kinesphäre ist unser persönlicher Raum, den wir
mitnehmen, wenn wir uns im allgemeinen Raum bewegen. Therapeutische Fragen, die
10
sich mit der Kinesphäre beschäftigen, verdeutlichen den Zusammenhang
tanztherapeutischer Arbeit mit alltagsrelevantem oder störungsspezifischem Erleben:
Wird der persönliche Raum als beispielsweise schützend, einengend oder offen
wahrgenommen?
Verhält sich der persönliche Raum flexibel oder starr?
Innerhalb der Kinesphäre kann das Bewegungsausmaß als nah, mittel oder weit
beschrieben werden.
"Grundsätzlich kann gesagt werden, daß es im Sinne der psychophysischen
Gesundheit wichtig ist, daß der Mensch vom Raum Besitz ergreift und sich auch
wieder zurückziehen kann." (Klein, 1993, S. 109).
Neben der Kinesphäre wird in der Kategorie Raumbezug auch die Bewegung im
allgemeinen Raum betrachtet. Die Bewegung im allgemeinen Raum gibt u. a.
Aufschluss über Kontakt- und Abgrenzungsverhalten. Sie kann vollzogen werden in
drei Raumebenen, die entsprechende psychische Affinitäten aufweisen: Die tiefe
Raumebene (Sicherheit, Geborgenheit, regressionsfördernd), die mittlere Raumebene
(vertraut, verbindend zwischen den Ebenen) und die hohe Raumebene (Leichtigkeit,
Beschwingt-Sein) (Klein, 1993).
Zudem kann die Richtung der Bewegung erfasst werden in sechs Hauptrichtungen und
vier Diagonalrichtungen. Die Hauptrichtungen sind vertikal (hoch – tief), horizontal
(rechts – links) und sagittal (vor – zurück). Es gibt eine Tanzart, die sich überwiegend
nach diesen Hauptrichtungen ausrichtet, der Balletttanz. Als Teilnehmerin und
Anleiterin von Freizeit-Ballettgruppen ist mir aufgefallen, dass in diesen Kursen andere
Normen und Werte (z. B. Pünktlichkeit) vertreten werden, als beispielsweise in
Moderndance-Gruppen – ein Tanz, der die Diagonalrichtungen und Off-Balance nutzt.
Es scheint so zu sein, dass es eine gute Passung gibt zwischen dem Ballett mit seiner
Ausrichtung in die Hauptrichtungen und seinem strukturierten Stundenaufbau und
Menschen mit dem Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Sicherheit und Regelakzeptanz. Diese
Erfahrung mache ich mir manchmal zunutze in der Behandlung von Patienten mit
oppositionell unsicherem Verhalten, vorausgesetzt es besteht der Wunsch Balletttanz
mal auszuprobieren. Mit meiner Eindeutigkeit des Stundenaufbaus komme ich den
Bedürfnissen der Patienten entgegen und erlebe meist eine gesteigerte Regelakzeptanz.
Die Verunsicherung, die die Diagonalrichtungen auslösen können, beschreibt Klein als
„das Wechselspiel zwischen den Polen Stabilität und Labilität“ (Klein, 1993, S. 113),
11
das etwas Mut voraussetze. In anderen Situationen mit den Patienten, die vom Ballett
profitierten, kann der Wechsel in die Diagonalrichtungen auch als Befreiung
wahrgenommen werden.
Die Bewegungsmuster in den Hauptrichtungen sind eindimensional. Ein
zweidimensionales Bewegungsmuster vollzieht sich in der dimensionalen Fläche.
Insgesamt gibt es drei Flächen, bestehend aus jeweils zwei Hauptrichtungen: Die TürEbene (vertikal / horizontal), die Tisch-Ebene (horizontal / sagittal) und die Rad-Ebene
(sagittal / vertikal). Die bereits angesprochenen Diagonalrichtungen ermöglichen ein
dreidimensionales Bewegungsmuster (Klein, 1993).
Abschließend können noch die Raumwege betrachtet werden. Ein Aspekt des
Vollziehens und Erlebens von Raumwegen wird in den Bewegungsantrieben als direkte
(gerade, eckige) und indirekte (runde, kreisartige) Bewegungen beschrieben. Dass es
nicht darum geht, Bewegungsmuster zu werten, sondern durch unsere Biographie
geprägte Präferenzen zu erleben, anzunehmen und ggf. Neues zu entdecken, betont
nochmal folgendes Zitat von Petra Klein:
"Für Menschen, deren Leben symbolisch gesprochen durch Umwege
charakterisiert ist, kann es eine wegweisende Erfahrung sein, einmal auf dem
kürzesten, geraden Weg zu einem gesteckten Ziel zu gelangen. Und umgekehrt
kann es für sehr geradlinige, zielstrebige Menschen einmal eine Erholung sein,
in kurvigen, runden Bewegungen sich über Umwege ihrem Ziel zu nähern."
(Klein, 1993, S. 109).
Bewegungsantrieb
Laban ging davon aus, dass jede Bewegung eine innerpsychische Resonanz hat und sich
im Raum (direkt – indirekt), mit zeitlichem Charakter (beschleunigend –
verlangsamend), unter Einsatz des Körpergewichtes (Kraft) (stark – leicht) und
Anwendung von Muskelspannung (Bewegungsfluß) (gebunden – frei) vollzieht. Das
bedeutet Raum, Zeit, Kraft und Bewegungsfluß sind die vier Efforts (bipolare Faktoren
des Bewegungsantriebs) in dem Effort-Konzept von Laban. Die Bewegung drückt eine
bewusste oder unbewusste Einstellung des Bewegenden gegenüber diesen Faktoren aus,
sie kann ankämpfend oder erspürend sein. Ist die Einstellung gegenüber den Faktoren
hingebend, d.h. die Bewegung wird ausgekostet, bezeichnen wir den Bewegungsantrieb
als erspürend (Klein, 1993). Diese Bewegung wäre im eindeutigsten Fall indirekt,
verlangsamend, leicht und frei. Auf der anderen Seite wäre eine eindeutig ankämpfende
12
Bewegung direkt, beschleunigend, stark und gebunden. Derart eindeutige Bewegungen
sind selten, meist nutzen Menschen Variationen von Efforts, d.h. nicht nur Bewegungen,
die einem Pol des Efforts entsprechen. Und das ist sehr gesund, denn:
"Beide Pole einer Polarität haben ihre ihnen eigenen positiven Seiten, die
jedoch bei einer einseitigen Übergewichtung negative Züge annehmen können."
(Klein, 1993, S. 114).
Außerdem gibt es neben den Kombinationen indirekt, verlangsamend, leicht und frei vs.
direkt, beschleunigend, stark und gebunden noch andere Kombinationsmöglichkeiten
der Efforts, worauf ich bei der Beschreibung der Antriebsaktionen eingehen werde.
Häufig kommt es vor, dass nicht alle Efforts gleichzeitig sichtbar oder bewegt werden.
Dann geht es darum, das im Vordergrund stehende Thema bzw. den sichtbaren
Bewegungsantrieb aufzugreifen. Generell gilt in der psychiatrischen Arbeit, dass die
Patienten nicht überfordert werden sollen. Das bedeutet, wenn die
Repertoireerweiterung des Patienten therapeutisches Ziel ist, können Patienten
beispielsweise über Bilder das Angebot bekommen, aus der bevorzugten indirekten
Bewegung in eine direkte Bewegung zu wechseln. Das bedeutet, es wird immer nur an
einem Effort gearbeitet. In vielen Fällen wäre es kontraindiziert, aus der indirekten,
leichten, verlangsamenden Bewegung in die direkte, starke, beschleunigende Bewegung
zu gehen (Klein, 1993).
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Die Faktoren und ihre Pole können in einer Grafik dargestellt werden:
indirekt
(erspürend)
leicht
Raum
(erspürend)
Kraft
direkt
(ankämpfend)
Bewegungsfluß
frei
gebunden
(erspürend)
(ankämpfend)
verlangsamend
beschleunigend
(erspürend)
Zeit
(ankämpfend)
stark
(ankämpfend)
Abb.1: Die grafische Darstellung der Efforts nach Laban (Herhaus, Referat), die Benennungen
der Pole innerhalb der Grafik sind den aktuell gängigen Bezeichnungen angeglichen.
Wie erkennen wir nun beispielsweise eine indirekte Bewegung und was kann das im
Einzelnen bedeuten?
Unsere Einstellung gegenüber dem Raum ergibt sich aus dem Grad der Fokussierung
im Raum. Direkte Bewegungen erfordern unsere fokussierte Aufmerksamkeit auf einen
kleinen Ausschnitt im Raum. Wir bewegen uns oder ein Körperteil von dem jeweiligen
Standpunkt auf direktem Weg zu einem fokussierten Ziel, beispielsweise wenn wir
jemandem die Hand geben. Das Gegenüber wäre wahrscheinlich irritiert, wenn wir mit
der Hand vorher einen Schlenker machen. Der Fokus auf einen kleinen Ausschnitt im
Raum verhindert, dass der Raum in Gänze wahrgenommen und genutzt wird. Deswegen
werden direkte Bewegungen als der ankämpfende Pol auf dem Raumfaktor beschrieben
(Klein, 1993). Direkte Bewegungen sind u. a. assoziiert mit Klarheit. Bei
Übergewichtung können sie allerdings auch als Rigidität empfunden werden. Indirekte
14
Bewegungen erlauben uns, unsere Aufmerksamkeit ohne räumliche Beschränkung in
den gesamten Raum zu richten. Sie sind beispielsweise verbunden mit
Anpassungsfähigkeit und Überblick oder bei Übergewichtung mit
Orientierungslosigkeit und einer geringen Konzentrationsfähigkeit (Klein, 1993).
Die eingesetzte Kraft entspricht der Muskelspannung, die wir einsetzen, um der
Gravitation des Körpers entgegen zu wirken. Je höher die Muskelspannung und je
stärker unser Krafteinsatz, desto eindeutiger befinden wir uns in dem ankämpfenden
Modus. Eine starke Bewegung ist z. B. das Heben von schweren Gegenständen. Starke
Bewegungen können u. a. Durchsetzungsvermögen oder bei Übergewichtung
Unnachgiebigkeit verkörpern. Bei leichten Bewegungen setzen wir gerade die
ausreichende Muskelspannung ein, um die Bewegung vollziehen zu können. Sie können
einerseits als zart, unbeschwert etc. andererseits als oberflächlich etc. wahrgenommen
werden (Klein,1993).
Der Zeitfaktor beschreibt unsere Einstellung zur Zeit. Sie kann als ausgedehnt oder
verkürzt empfunden werden. Verlangsamende Bewegungen haben häufig keinen
eindeutigen Anfang sowie kein eindeutiges Ende. Sie sind beispielsweise assoziiert mit
Ruhe und Ausdauer oder andererseits mit Entscheidungsunfähigkeit und Langeweile
(Klein, 1993). Beschleunigende Bewegungen können zum Beispiel eingeleitet werden
durch das Bild des Laufens über heißen Sand. Sie können erinnern an das Gefühl der
Lebendigkeit oder bei Übergewichtung zu Stress führen.
Die Präferenz eines Bewegenden im Bewegungsfluß erkennen wir an der eingesetzten
Muskelspannung und Kontrolle. Im freien Bewegungsfluß können wir Bewegungen
schlecht anhalten und haben eine geringe Kontrolle. Er kann u. a. als Entspannung oder
bei Übergewichtung als Kontrollverlust erlebt werden. "Es fühlt sich so an, als wenn der
Bewegungsfluß […] über die Körpergrenzen erströmt" (Klein, 1993, S 115). Ein
gebundener Bewegungsfluß benötigt eine höhere körperliche Anspannung. In ihm
können wir uns als zielgerichtet auf einem guten Aktivierungsniveau empfinden oder
bei Übergewichtung als empfindungslos oder eingeengt. "Es fühlt sich so an, als wenn
der Bewegungsfluß zur Körpermitte zurückströmt" (Klein, 1993, S 115).
Die Bewegungsantriebe Raum, Kraft und Zeit können unterschiedlich kombiniert
werden. Wenn drei Antriebe kombiniert werden, sprechen wir von einem
Bewegungstrieb bzw. von einer Antriebsaktion. Die Kombination der erspürenden Pole
der Efforts (leicht, indirekt, verlangsamend) ergibt die Antriebsaktion namens
Schweben. Werden die ankämpfenden Pole (stark, direkt, beschleunigend) kombiniert,
15
so ist die Antriebsaktion das Stoßen. Insgesamt gibt es acht Kombinationsmöglichkeiten
/ Antriebsaktionen (Klein, 1993):

Drücken: stark – direkt – verlangs.

Flattern: leicht – indirekt – beschl.

Stoßen: stark – direkt – beschl.

Schweben: leicht – indirekt – verlangs.

Wringen: stark – indirekt – verlangs.

Tupfen: leicht – direkt – beschl.

Peitschen: stark – indirekt – beschl.

Gleiten: leicht – direkt – verlangs.
Die Antriebsaktionen können mit Hilfe der Labanotation aufgezeichnet werden. Für das
Verständnis ist die grafische Darstellung der Efforts (S. 14) erforderlich. In der
Aufzählung der Antriebsaktionen ist exemplarisch die Labanotation für das Stoßen und
das Tupfen gezeichnet. Ausgangspunkt des Zeichens für eine Antriebsaktion ist die
unterbrochene Verbindungslinie in der Mitte, die in der grafischen Darstellung das
vordere und hintere Kreuz verbindet, selbst aber keine inhaltliche Bedeutung hat.
Stoßen und Tupfen sind direkte und beschleunigende Bewegungen. Äquivalent der
grafischen Darstellung geht der direkte Pol des Faktors Raum von dem hinteren Punkt
der Verbindungslinie nach rechts (nicht nach oben). Der einzelne Strich unten rechts
(statt unten links) markiert die Beschleunigung. Das Stoßen beinhaltet einen starken
Kraftfaktor, der entsprechend der Grafik vom vorderen Punkt der Verbindungslinie nach
unten gezeichnet wird, während die Leichtigkeit des Tupfens nach oben gezeichnet
wird. In dieser Form können Bewegungen einer Tanztherapieeinheit dokumentiert
werden.
Körperformen
Wie formen wir unseren Körper im Raum? Die ursprünglichste Art unseren Körper zu
formen ist der Atem.
"Mit dem ersten Schrei, den ein Lebewesen äußert, tritt es alleingelassen in die
Bewegung des Atems ein, in der es zuvor durch den Körper der Mutter getragen
war, und in der es nun bleibt bis zum Tod. In seiner ererbten Anlage und der
16
gegebenen Situation, in jeder inneren und äußeren Gegebenheit, in jeder
Emotion, Tag und Nacht, wird es von seinem Atem bestimmt." (Reichelt, 1993, S.
11/12).
Die verschiedenen Aspekte der Körperformen (Formenfluss, körperorientiertes Formen,
richtungsorientiertes Formen und Formen / Shaping) beschreiben u. a. die
Kontaktgestaltung des Individuums. Während im Formenfluss unsere Aufmerksamkeit
regressionsfördernd ausschließlich auf uns selbst gerichtet ist, ermöglicht das
körperorientierte Formen einen Bezug zum Umraum. Es können konvexe und konkave
Formen unterschieden werden. Konvex bedeutet, der Körper ist bezogen auf den
Umraum nach außen gewölbt (heben, ausweiten, vorstreben (ehemals vorrücken)), wie
es beim Einatmen geschieht. Konkav bedeutet, der Körper ist nach innen gewölbt
(senken, einengen, zurückziehen), wie es beim Ausatmen geschieht. Heben und senken
wir unseren Körper (vertikale Dimension) kann das mit dem Erleben von Erhabenheit
und Loslassen verbunden sein. Ausweiten und Einengen (horizontale Dimension)
können assoziiert sein mit Stolz und Schutz. Vorstreben und Zurückziehen (sagittale
Dimension) können verbunden sein mit Offenheit und Anlehnen. Neben diesen
positiven Erlebensaspekten können die jeweiligen Bewegungen, wie bei den Efforts, bei
Übergewichtung negatives Erleben beschreiben. Beispielsweise kann das Einengen
nicht nur Ausdruck eines Erlebens von Schutz sein, sondern auch Ängstlichkeit
ausdrücken (Klein, 1993). In jedem Fall des körperorientierten Formens verändern wir
unser Körpervolumen im Bezug auf den Umraum. Das richtungsorientierte Formen
beschreibt darüber hinaus die Objektbezogenheit, wenn wir uns beispielsweise vorwärts
bewegen, um nach etwas zu greifen. So kann eine aktive Beziehung zur Außenwelt
entstehen. Das Formen oder Shaping ist die Fähigkeit sich im dreidimensionalen Raum
anzupassen und auf äußere Objekte flexibel zu reagieren (Klein, 1993). Das Bild des
Samenkorns im Ackerboden, das in der tanztherapeutischen Arbeit mit Kindern häufig
auf Freude stößt, bringt Klein in veranschaulichender Art und Weise mit den
Körperformen in Verbindung:
"Wir räkeln uns im Korn und spüren uns von innen her (Formenfluss). Durch die
Sonnenstrahlen erwärmt sich das Samenkorn, wächst und dehnt sich nach oben
aus (Körperorientiertes Formen). Nach und nach wird der Halm zur Ähre und
streckt sich der Sonne entgegen (Richtungsorientiertes Formen). Dadurch, daß
der Wind mal heftiger und mal schwächer weht, paßt sich die Ähre an und
17
verändert dadurch ihre Form (Shaping)." (Klein, 1993, S. 126).
Klein (1993) betont immer wieder in der Darstellung der Bewegungskategorien, dass es
darum geht, dem Menschen die Erlaubnis zu geben, seine Präferenzen zu erfahren und
auszuleben und anschließend das gesamte Bewegungsrepertoire sowie den gesamten
Raum zu nutzen. In der Tanztherapie wird meist die Erlaubnis vorerst von Außen
gegeben. Insbesondere im Authentic Movement wird der darauf folgende Schritt
tanztherapeutischer Arbeit deutlich. Es geht darum, durch die Entwicklung und
Stärkung eines Inneren Zeugens mit Hilfe eines Äußeren Zeugens, dem Patienten die
Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst eigene Präferenzen und Exploration im passenden
Moment zu erlauben. Dieser Aspekt kann äquivalent gesehen werden zu der Betonung
der eigenverantwortlichen Übernahme von Zielen aus verhaltenstherapeutischen
Verstärkerplänen durch den Patienten. Da ich in meiner Arbeit Authentic Movement
aufgrund der Psychosegefahr bei psychiatrischen Patienten nicht verwende, möchte ich
auf diesen Ansatz nicht weiter eingehen, aber den Aspekt der Stärkung von Inneren
Zeugen bei der therapeutischen Präferenzentdeckung und Repertoireerweiterung finde
ich überaus wichtig.
2.1.1.2. Kestenberg Movement Profile (KMP)
In quantitativen Studien zeigte Koch (2011), dass Eigenbewegung von klinischen
Patienten und deren Affekt, Einstellung und Kognition zusammenhängen. Die
Eigenbewegung wurde dem KMP entsprechend variiert. Kreistänze mit Hüpfrhythmen
wirkten demnach bei Depressionspatienten verglichen mit zwei Kontrollgruppen
signifikant verringernd auf den depressiven Affekt und signifikant erhöhend auf
Vitalitätswerte. Eine Folgestudie gab Hinweise darauf, dass Hüpfrhythmen auf die
Verringerung von Depressivität wirken, während dem KMP entsprechend
Wiegerhythmen auf die Verringerung von Ängstlichkeit wirken. Die Studien, die
wachsende und schrumpfende Bewegungen variierten, ergaben keine eindeutigen
Ergebnisse. Koch (2011) erklärt diese Ergebnisse u. a. mit der Schwierigkeit der
Operationalisierung. Denn Wachsen und Schrumpfen sind durch unsere Atmung
permanent in der Bewegung vorhanden und experimentell schlecht trennbar. In anderen
nichtklinischen Studien werden weitere Zusammenhänge der Anwendung von KMP und
dem Erleben von Menschen verdeutlicht (Koch, 2011).
Loman et al. (1999) beschreiben das KMP als Möglichkeit zur systematischen Nutzung
18
intuitiven Wissens, Interventionsplanung und Unterstützung von Veränderung in der
tanztherapeutischen Arbeit.
„Observational skills become fine-tuned, the therapist`s ability to empathize
becomes heightened, and work becomes more focused“ (Loman et al., 1999, p.
213).
Die Hauptmethoden zum Aufbau von Vertrauen und einem bedeutsamen Kontakt sind
nach Loman et al. (1999) das Spiegeln der Bewegung des Patienten und die
gemeinsame Freude am Tanz. Die therapeutische Spiegelung von Bewegung setzt eine
systematische Bewegungsanalyse unter Berücksichtigung emotionaler Themen voraus.
Denn in den meisten Fällen geht es nicht darum, die Bewegung eins zu eins nach- oder
mitzumachen, sondern sie in Form und Qualität aufzugreifen und in eigenen
Bewegungen zu spiegeln. Ziel dieses Kapitels soll daher sein, die Erfassung einer
Bewegung mit Hilfe des KMP und deren Zusammenhang mit psychologischen
Komponenten und bestenfalls deren Übersetzung in die Sprache der gängigen
Klassifikationssysteme (s. Kapitel „Tanztherapie und Störung des Sozialverhaltens und
der Emotionen“) zu veranschaulichen.
Vor der Darstellung des KMP mit dem Schwerpunkt auf die unbewussten Rhythmen
möchte ich daran erinnern, dass das KMP ein System ist. Menschen lassen sich nur
bedingt in Systeme packen, sie können zwischen beschriebenen Phasen hin und her
wechseln und jedes Individuum vollzieht eine Entwicklung in individuellem Tempo.
Außerdem haben Phasen in menschlichen Entwicklungsprozessen immer einen Sinn
und sind niemals nur destruktiv, auch wenn es sich in der schriftlichen Beschreibung
manchmal so anhören kann.
Grundsätzlich unterscheidet Kestenberg Bewegungsqualitäten und Bewegungsformen
und beschreibt somit zwei Aspekte der Bewegung, für die gleichermaßen gilt: der
Mensch durchläuft verschiedene Entwicklungsstufen von unbewussten über
vorbewusste bis bewusste Bewegungen.
Bewegungsqualitäten
Die Entwicklungsstufen werden bei den Bewegungsqualitäten folgendermaßen benannt:
 unbewusste Spannungsfluss-Rhythmen und Eigenschaften
 vorbewusste Antriebsvorläufer
 bewusste Antriebe.
Innerhalb der Stufen werden bestimmte Phasen in einer bestimmten Reihenfolge (oral 19
anal - urethral - inner genital und außer genital) durchlaufen. In jeder Phase werden erst
erspürende und später ankämpfende Bewegungen gezeigt. Die ankämpfenden
Bewegungen ermöglichen die Ablösung aus der Phase und das Eintreten in die nächste
Phase.
Die Rhythmen:
Tanztherapeuten mit KMP-Ausbildung lernen aufgrund der beobachteten Bewegung
sogenannte Flußbilder (s. Anhang) zu erstellen. Diese Flußbilder sowie die verbale
Beschreibung der Bewegung geben Hinweise auf die präferierten unbewussten
Rhythmen der sich bewegenden Person. Ziel einer Therapie kann sein, den Klienten in
die bewussten Antriebe zu bringen und somit Ich-Fertigkeiten zu unterstützen.
Orale Phase
In der oralen Phase bewegt sich ein Säugling häufig in der horizontalen Fläche / Ebene.
Die Ebenen sind in der Relation zum Körper definiert. D. h. aus Sicht eines sitzenden
oder stehenden Menschens liegt der Säugling in der horizontalen Ebene des
aufgerichteten Menschens. Seine Bewegungen geschehen somit aus dieser Perspektive
zwar in anderen Ebenen, aber die Bewegung, die der Säugling vollzieht, geschieht aus
der Sicht des Säuglings nach vorne / hinten und nach rechts / links (horizontale Ebene
des Säuglings), wie ein Regenbogen, der sich über den Bauch des Säuglings spannt. Für
aufgerichtete Menschen hat die horizontale Ebene eine Affinität zu Zeit und
hauptsächlich Raum. Der Säugling allerdings besitzt noch kein Gefühl für Zeit, in dieser
Phase geht es darum, sich alles einzuverleiben und die Umgebung in sich aufzunehmen.
Die Grenzen zwischen dem eigenen Körper und dem des anderen sind noch nicht
spürbar (Kestenberg et al., 1993).
Die frühe orale Phase: erspürend, alias libidinös bewegt sich der Mensch schnell, rund,
gleichmäßig und wenig intensiv. Die Objektbeziehungen sind durch
Verschmelzungswünsche gekennzeichnet. Ähnlich der Frage wann, wie oft und wie
schnell ein weinender Säugling auf den Arm genommen werden soll, stellt sich in der
Therapie die Frage, ob wir den Verschmelzungswunsch durch Körperberührung stillen
sollen. Es ist ein zweischneidiges Schwert: unser empathisches Gefühl möchte dem
Menschen geben, was er sich wünscht. Aber Menschen neigen dazu sich
weiterzuentwickeln / neue Strategien zu entwickeln, wenn eine Situation die eigenen
Bedürfnisse nicht mehr befriedigt oder umgekehrt werden Strategien eingesetzt, solange
sie funktionieren (Trägheit der Masse). In der Therapie möchten wir den Menschen
20
ermuntern sich weiterzuentwickeln, deshalb und aus Gründen der Übergriffigkeit ist die
Berührung hier mit Vorsicht einzusetzen, wenn überhaupt. Bei einem Säugling verhält
es sich anders (genauer nachzulesen bei Kestenberg et al., 1993, S. 44).
Die späte orale Phase: ankämpfend, alias aggressiv bewegt sich der Mensch schnell,
scharf, gleichmäßig und wenig intensiv. Aus Frust wird Lust: beim Säugling kommen
die Zähne und Schmerz entsteht. Durch das Beißen versucht der Säugling den Schmerz
zu lindern und entdeckt dabei, dass Beißen Lust, Spaß, Vergnügen und eigene Grenzen
spürbar macht und die dazugehörenden Bewegungen Trennung und Autonomie
ermöglichen.
Anale Phase
Die anale Phase beginnt mit erspürenden (libidinösen), wenig intensiven, sanft
windenden und unregelmäßigen (Ver-)Drehbewegungen. Das Baby übt anspannen pressen - loslassen (Kestenberg et al., 1993). Trennung und Autonomie von der Mutter
aus der späten oralen Phase treten in den Hintergrund und die Selbstbehauptung in
Bezug auf die Mutter (und andere Menschen) werden wichtiger. Das Baby entwickelt
eine Beziehung zu Übergangsobjekten, wobei die Meinung der Mutter sehr wichtig ist.
Die späte anale Phase: ankämpfend, aggressiv werden intensive und pressende
Bewegungen (Drücken) in gebundenem Fluss mit anschließender Entspannung gezeigt.
Aus Anspannen / Festhalten und Loslassen entwickelt sich echtes Geben (Kestenberg et
al., 1993). Das echte Geben zeigt, dass das Kind lernt sich zu trennen. Der Drang nach
Unabhängigkeit und kraftvoller Selbstbehauptung ist in dieser Phase vordergründig.
In dieser Phase krabbelt das Kind und zieht sich an Gegenständen in den Stand. Aus der
Perspektive des Kindes kommt die vertikale Fläche und damit die Kraft hinzu.
Urethrale Phase
In der urethralen Phase (Wortanlehnung Urin) ist das Fließen entscheidend. Außerdem
verlagert sich die Aufmerksamkeit von dem, was hinter dem Kind passiert auf das, was
vor ihm liegt. Das Kind strömt vorwärts und rückwärts; damit kommen die
Bewegungen in die saggitale Fläche und das Zeitgefühl entwickelt sich (Kestenberg et
al., 1993).
Die frühe urethrale Phase ist durch erspürende, freie und endlose Bewegungen
gekennzeichnet. Das Fließen nimmt hier kein Ende und wird nicht gestoppt oder
unterbrochen. Die Kinder erleben grenzenlose Mobilität, die Erprobung von Nähe und
Distanz und das Spiel mit der Zeit. Allerdings erfolgen diese Erfahrungen ohne
21
Kontrolle, was hinfallen, anstoßen und sich verirren zur Folge haben kann. Das Kind
möchte die Erfahrung machen, dass die Mutter es auf- bzw. wieder einfängt.
In der späten urethralen Phase entwickelt sich der Stopp-Loslassen-Rhythmus mit
schnellen scharfen Stopps im Fließen. Nun beherrscht das Kind selbst genug Kontrolle,
um sich nicht mehr zu verirren. Es kann Handlungen selbst initiieren und
Entschiedenheit und Selbstkontrolle zeigen.
Innergenitale Phase
Während der innergenitalen Phase verändern sich im Körper der Kinder (bei Mädchen
wie bei Jungen) die Geschlechtsorgane und das spüren sie (Kestenberg et al., 1993). Die
Bewegungen entsprechen dieser Erfahrung: während der erspürenden Zeit sind die
Bewegungen wellenförmig und wenig intensiv (Wiege-Rhythmus). Die Kinder zeigen
unterstützende, einschließende und integrierende Verhaltensweisen.
In der ankämpfenden Zeit verstärkt sich die Intensivität und die Bewegungen werden
wogenförmig und lang andauernd (Gebär-Rhythmus). Die Kinder fangen an zu
quengeln und werden weinerlich, sie möchten eine Reaktion anderer Menschen auf ihr
Verhalten erleben.
Die gesamte innergenitale Phase ist nach Innen gerichtet und von Geheimnissen und das
"für sich behalten" geprägt.
Außergenitale Phase
Wie der Name der Phase schon andeutet, richten sich die Gefühle der zuvor erlebten
Phase in der außergenitalen Phase nach Außen und werden der Umwelt gezeigt. Das
Kind hat Spaß am eigenen Körper und erlebt ihn als einheitliches Ganzes (Kestenberg et
al., 1993).
Die frühe außergenitale Phase: erspürend bewegt sich der Mensch mit hoher kurzer
Intensität (Hüpf-Rhythmus). Es ist eine aufregend chaotische Zeit. Der schnelle
Wechsel zwischen Liebe und Hass, Aktivität und Passivität irritiert die Kinder zuweilen.
Die späte außergenitale Phase bringt Ordnung in das Chaos: mit hoher Intensität werden
ankämpfende, rammende, stoßende und scharfe Bewegungen (Stoß-Rhythmus) gezeigt.
Die Kinder entdecken ihre Genitalität, können aber im Unterschied zur frühen
außergenitalen Phase die Erregung über diese Entdeckung beherrschter und
zielgerichteter erleben.
In der innergenitalen Phase sowie in der außergenitalen Phase gehen die Bewegungen in
alle Dimensionen und Flächen (horizontal, vertikal, saggital).
22
Tab. 1: Das Verhältnis zwischen Stufen, Phasen und Flächen im KMP.
Oralerspürend
Oralankämpfend
Analerspürend
Analankämpfend
Urethralerspürend
Urethralankämpfend
Innergenitalerspürend
Phase
Unbewusster
Stufe
Vorbewusster
Bewusster
Rhythmus
Antriebsvorläufer
Antrieb
Saugen
flexibel
indirekt
Beißen
kanalisierend
direkt
Verdrehen
vorsichtig
leicht
Drücken
vehement
stark
fließend
zögernd
verlangsamend
Stopp-los
plötzlich
beschleunigend
ankämpfend
Wiegen
erspürend
- Raum
spielt eine
Rolle
Vertikal Kraft
kommt
hinzu
Saggital Zeit
kommt
flexibel,
vorsichtig und
Wogen,
Gebären
erspürend zu
ankämpfend eine
Erhöhung der
Außergenital-
Horizontal
hinzu
zögernd (von
Innergenital-
Fläche
Hüpfen
Außergenital-
Springen,
ankämpfend
Stoßen
Integration:
indirekt, leicht
und
verlangsamend
Intensität)
kanalisierend,
vehement und
plötzlich (von
Integration:
erspürend zu
direkt, stark
ankämpfend eine
und
Veränderung von beschleunigend
federnd in
springend)
Die Tabelle liest sich von links nach rechts (Stufen unbewusst bis bewusst) und von oben nach unten
(Phasen oral bis außergenital und Flächen horizontal bis saggital). Die menschliche Entwicklung beginnt
also in den unbewussten oral-erspürenden Bewegungen (Saugen) und mündet bestenfalls in den
Integrationen indirekter, leichter und verlangsamender bzw. direkter, starker und beschleunigender
Bewegungen.
23
Bewegungsformen
Bei den Bewegungsformen heißen die Entwicklungsstufen:
 unbewusster Formenfluss
 vorbewusste Richtungsbewegungen
 bewusste Formen in Flächen.
Bewegungsanalytisch betrachten wir den Formenfluss (= eine kontinuierliche
Veränderung der Bewegung durch wechselnde Formen). Ausgangspunkt ist die Atmung.
Auch hier werden die Phasen (oral - anal - urethral - innergenital und außergenital) in
den Stufen durchlaufen und es gibt erspürende und später ankämpfende Bewegungen.
Da aber bei den Bewegungsformen eben die Form und der Beziehungsaspekt der
Bewegung im Vordergrund stehen, werden hier erspürende Bewegungen mit Wachstum
(wachsen) und Annäherung (annähern) beschrieben. Äquivalent erkennen wir die
ankämpfenden Bewegungen durch schrumpfende und vermeidende Formen.
Der unbewusste Formenfluss wird differenziert in bipolaren und unipolaren
Formenfluss. Der bipolare Formenfluss (verbreitern und verschmälern; verlängern und
verkürzen; auswölben und aushöhlen) bezieht sich auf die (Atmungs-)Ausdehnung und
Zurückziehung und gibt Auskunft über das Befinden der Person. Der unipolare
Formenfluss (laterales verbreiten und mediales verschmälern; verlängern / verkürzen
nach oben und nach unten; auswölben /aushöhlen nach vorne und nach hinten)
beschreibt die Bewegungsreaktion auf einen äußeren Reiz.
„Bipolarität umfasst eine Wachsen oder Schrumpfen in zwei Richtungen (obenunten, vorne-hinten, rechts-links), während unipolares Wachsen und Schrumpfen
eindimensional (also nur oben, nur unten, nur vorne etc.) verstanden wird“
(Protokoll der Arbeitsgruppe Vereinheitlichung der Laban-KMP-MPA
Übersetzungen, Mitgliederversammlung BTD, 2009).
Die Richtungsbewegungen (Form und Richtung der Bewegung von Körperteilen im
Raum: seitwärts und quer; aufwärts und abwärts; vorwärts und rückwärts) sind
vorbewusst und geben laut Kestenberg et al. (1993) Auskunft über Selbstschutz,
Strukturierung und Lernstile der Person. Beispielsweise Bewegungen, die seitwärts,
aufwärts und vorwärts gerichtet sind, weisen auf aktives, offenes und
erklärungssuchendes Problemlöseverhalten hin.
Die bewussten Bewegungsformen in Flächen (ausbreiten und einschließen; heben und
senken; vordringen und zurückweichen) sind Ausdruck komplexer Objektbeziehungen.
24
2.2. Diagnostik und Klassifikationssysteme
"Psychodiagnostik ist eine Methodenlehre im Dienste der Angewandten
Psychologie. Soweit Menschen die Merkmalsträger sind, besteht ihre Aufgabe
darin, interindividuelle Unterschiede im Verhalten und Erleben sowie
intraindividuelle Merkmale und Veränderungen einschließlich ihrer jeweils
relevanten Bedingungen so zu erfassen, [dass] hinlänglich präzise Vorhersagen
künftigen Verhaltens und Erlebens sowie deren evtl. Veränderungen in
definierten Situationen möglich werden." (Amelang et al., 2006, S. 3).
Die individuellen Störungsmerkmale eines Patienten werden u. a. in Diagnosen über
Klassifikationssysteme abgebildet. Grundlage dieser Zuordnung ist eine zuverlässige
und umfassende Beurteilung des psychopathologischen Befundes als Statusdiagnostik.
Über die längsschnittliche Störungsanamnese kommen weitere wichtige Informationen
über den zeitlichen Verlauf der Störung hinzu, der u. a. für die Differenzialdiagnostik
relevant ist (Wittchen et al., 2006).
Klassifikationssysteme – der Schrecken mancher Prüflinge. In der Vorbereitung einer
Prüfung waren Klassifikationssysteme in meiner Wahrnehmung theoretische, emotional
ungefüllte Definitionen und Durchschnittswerte, die es auswendig zu lernen galt. Erst in
der klinischen Arbeit füllten sich Diagnosen mit Mentalisierungen. Nachdem ich einige
Patienten mit der Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen behandelt hatte,
bekam ich einen Eindruck, welche Gemeinsamkeiten diese Kinder und Jugendlichen in
Abgrenzung zu Patienten mit anderen Störungsbildern zeigten. Um so wichtiger
erscheint es mir, quantitative und qualitative Forschung zu kombinieren. Fallanalysen,
die leider von unserem Gesundheitssystem nicht zur Forschungsevaluation von
Therapieerfolgen anerkannt sind, bieten die Möglichkeit, echte Menschen und
therapeutische Prozesse und nicht Durchschnittswerte abzubilden. Für die
therapeutische Arbeit mit echten Menschen erschließen sich daraus wertvolle
Erkenntnisse. Denn egal wie gut wir ein Störungsbild verstehen, Klassifikationen sind
gleichsam unbedingt notwendig für dieses Verständnis, aber auch im Einzelfall nicht das
vollständige Abbild. Der individuelle Entwicklungsverlauf beschreibt immer mehr als
die Diagnose mit ihren therapeutischen Indikationen. Die individuellen Informationen
über Status und vergangenen Verlauf regelmäßig in die Bewusstheit zu holen und auf
25
Relevanz zu überprüfen, ist nach meinem Eindruck eine Aufgabe des therapeutischen
Prozesses. In hermeneutischem Verstehen bedeutet das:
"Wir verstehen jemanden oder etwas immer nur vorläufig. Durch die zirkuläre
Struktur ist der Verstehensprozess immer im Fluss und nie abschließbar. Ein
neues Detail kann das Ganze verändern" (Seewald, 2007, S. 27).
2.2.1. Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der
Emotionen
Die in dieser Arbeit beschriebene Patientin kam mit der Diagnose Kombinierte Störung
des Sozialverhaltens und der Emotionen. Da in Deutschland die Teilnahme an
vertragsärztlicher Versorgung laut § 295 Absatz 1 Satz 2 des Fünften Buches
Sozialgesetzbuch (Abrechnung ärztlicher Leistungen) dazu verpflichtet, eine Diagnose
nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (aktuell: die Übersetzung des
International Classification of Diseases (ICD-10)) zu erstellen, soll kurz das für diese
Arbeit relevante Störungsbild (F92) nach ICD-10 klassifikatorisch beschrieben werden:
"Diese Gruppe ist durch die Kombination von andauerndem aggressiven,
dissozialen oder aufsässigen Verhalten mit offensichtlichen und deutlichen
Symptomen von Depression, Angst oder sonstigen emotionalen Störungen
charakterisiert." (Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10
Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien, 2005, S. 303).
Differenzialdiagnostisch können Angst, Depression und insbesondere bei Jugendlichen
auch Störungen des Sozialverhaltens, wie aggressives und dissoziales Verhalten, über
die Anpassungsstörungen (F43.2) abgebildet werden. Bei Kindern gehören regressive
Phänomene häufig zu diesem Syndrom. Bei den Anpassungsstörungen handelt es sich:
"um Zustände von subjektivem Leiden und emotionaler Beeinträchtigung, die
soziale Funktionen und Leistungen behindern und während des
Anpassungsprozesses nach einer entscheidenden Lebensveränderung […]
auftreten." (Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10
Kapitel V (F) – Klinisch-diagnostische Leitlinien, 2005, S. 170).
Die Symptome sollten in diesen Fällen nicht länger als sechs Monate anhalten, sonst
sollten laut ICD-10 die Z-Kodierungen verwendet werden. Diese sind aktuell aber
umstritten, sodass nach anderen Lösungen zur Diagnostik gesucht wird.
26
2.3. Tanztherapie bei Störung des Sozialverhaltens
und der Emotionen
Die Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen kann sich also zeigen
in Aggression, Opposition, Depression und Angst. Im Folgenden sollen
tanztherapeutische Überlegungen zur Bearbeitung dieser klassifikatorisch erforschten
Emotionen und Gemütszustände des vorliegenden Störungsbildes erläutert werden.
Aggression
In der Annahme, dass Aggression eine sekundäre Reaktion auf Kränkungen oder
Behinderungen der Selbstentfaltung ist, bekommt die Aggression einen
lebensnotwendigen Sinn und darf in der Therapie gelebt werden (Klein, 1993). Wichtig
dabei ist, dass die Aggression im therapeutischen Kontext nicht ausschließlich
destruktiv und möglicherweise angstauslösend erlebt wird. In der Tanztherapie mit
Kindern und Jugendlichen bieten beispielsweise tänzerische Rollenspiele, symbolische
Bewegungsbilder wie ein Gewittertanz oder Wettkämpfe eine Möglichkeit des
Ausdrucks von Aggression. I.S. des KMP kann die Initiierung von Beiß-, Drück- und
Hüpfrhythmen (orale, anale sowie außergenitale Phase) einem aggressiven Erleben
entsprechen. Bewegungen dieser Rhythmen ist gemein, dass sie direkt sind. Sie sind
überwiegend stark, können im Hüpfen aber auch eine Leichtigkeit entwickeln.
Horizontale und vertikale Flächen werden genutzt, die Einstellung zur Zeit ist variabel.
Opposition
Oppositionelles Verhalten verstehe ich im Kontext kinder- und jugendpsychiatrischer
Arbeit u. a. als Ausdruck von Beziehungsverhalten. Insofern stehen diesbezüglich die
Bewegungsformen im Vordergrund. Sich verengen, verschmälern (Formenfluss) oder
auf Reize nicht mit einer Richtungsbewegung bzw. mit einer entgegen dem Reiz
gerichteten Bewegung zu reagieren, kann Ausdruck von Opposition sein. Bevor
Übungen wie das oben beschriebene Samenkorn angewandt werden können, muss nach
meinem Eindruck die Opposition, ähnlich der Aggression, die Erlaubnis des Auslebens
bekommen, ohne dass der Patient einen Liebesentzug oder Beziehungsabbruch durch
den Therapeuten riskiert. Beispielsweise kann das Samenkorn vor dem Wachstum
ausreichend Zeit im Ackerboden verweilen.
Depression
Das Bewegungsbild bei Depression ist geprägt von Antriebshemmungen, einer
27
geduckten und nach innen gewölbten Körperhaltung, peripheren Bewegungen, einem
eher gebundenen Bewegungsfluss und einer nahen Kinesphäre. Die erspürenden Efforts
werden bevorzugt, während die ankämpfenden Antriebe gemieden werden (Klein,
1993). Depressionspatienten beherrschen aufgrund ihrer Objektabhängigkeit meist das
Spiegeln von Bewegungen. In der Tanztherapie können wir mit Alltagsbewegungen wie
dem Gehen beginnen, um die Patienten in einen bekannten und damit vertrauensvollen
Kontext zu bringen. Selbstbestimmtes Handeln wird in einem nächsten Schritt
unterstützt, indem z. B. die Patienten die Musik auswählen oder Bewegungskategorien
variieren und eigene Präferenzen entdecken (Klein, 1993). Im Rahmen der
Bewegungsexploration können die ankämpfenden Efforts geübt werden, um vielleicht
eigene Grenzen spüren zu lernen. Wegschieben und Wegdrücken als ankämpfende
Efforts können im Bewegungsgespräch mit dem Therapeuten genutzt werden, um ein
autonomes Gefühl für Nähe und Distanz zu erspüren und somit aus der abhängig,
fordernden Erwartungshaltung, dass der Therapeut die Therapie gestalte, auszutreten
(Klein, 1993). Die einzelnen Schritte in der tanztherapeutischen Depressionstherapie
werden sanft und mit ausreichend langen zeitlichen Übergängen gestaltet.
Angst
Die Bewegungsformen, insbesondere der unipolare und bipolare Formenfluss als
Ausdruck des Befindens sowie der Reaktion auf äußere Reize, können Hinweise auf
Ängste geben. Konkave Bewegungen, wie das Einengen auf der horizontalen Ebene,
können beispielsweise nicht nur (wie oben beschrieben) Ausdruck eines Erlebens von
Schutz sein, sondern auch Ängstlichkeit ausdrücken. Klein (1993) postuliert, dass das
Fehlen einer ganzheitlichen Selbstwahrnehmung, wie sie entsteht, wenn die
Bewegungskategorien in ihren verschiedenen Varianten ausprobiert und Präferenzen
wahrgenommen wurden, zu einer grundsätzlichen Angst vor dem Leben, Menschen und
eigenen Gefühlen führt. Angst als diffuses Gefühl kann schlecht bearbeitet werden, der
konkrete Bezug auf die Inhalte der Angst kann hilfreich sein. Tänzerische Gestaltungen
können helfen, auf der reinen Bewegungsebene und durch Metaphorisierungen
angstbesetzte Inhalte, wie zum Beispiel der Angst in Wettkämpfen zu versagen, zu
erkennen und Übungssituationen zu gestalten, die weniger bedrohlich erscheinen als die
konkrete Alltagssituation. In diesen Übungssituationen können Alternativerfahrungen zu
den angstauslösenden Erfahrungen gemacht werden, die die Angstkurve bestenfalls
sinken lassen.
28
3. Anwendung
Im Folgenden wird ein Fall und damit ein therapeutischer Prozess meiner
tanztherapeutischen Arbeit im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen
Behandlung exemplarisch dargestellt. In Diagnostik und Intervention kam u. a. das
Kestenberg Movement Profile zum Einsatz. Doch zuvor möchte ich die Konzepte
vorstellen, die ich neben dem KMP anwende, um den therapeutischen Prozess zu
strukturieren, um möglichst keinen Aspekt zu übersehen, aber auch zu fokussieren. Da
ich bereits während der Konzeptbeschreibung beispielhaft den Fall einfließen lassen
möchte, erscheint das eher theoriegeleitete Kapitel „Therapeutischer Prozess“ hier und
nicht im Theorieteil dieser Arbeit.
3.1. Therapeutischer Prozess
Die folgenden Unterkapitel „Pathogenese“ und „Salutogenese“ beschreiben zwei
Konzepte des Herangehens an klinische Arbeit. In ihren Grundannahmen sind diese
Konzepte derart verschieden, dass Vereinbarkeit kaum möglich erscheint. Trotzdem
versuche ich in meiner Arbeit, beides zu berücksichtigen. Zum einen, weil unser
Gesundheitssystem einen rein salutogenetischen Ansatz nicht ermöglicht, zum anderen
kann ich aber auch beiden Konzepten Gutes abgewinnen. Während die Salutogenese die
Ressourcen und Stärken von Patienten betont, bietet der pathogene Ansatz einen
strukturgebenden Blick mit Informationen über Ätiologiemodelle und die nach
aktuellem Forschungsstand passenden Therapieansätze auf die Patienten. In dem
Versuch beide Konzepte in meine Arbeit einfließen zu lassen, kann es passieren, dass
die Trennschärfe der Konzepte auch in den folgenden Kapiteln verloren geht. Ich hoffe,
die entsprechenden Autoren, auf die ich mich beziehe, mögen mir das verzeihen. Die
Tanztherapie und die Freude und Lebenslust, die ich seit meiner eigenen Kindheit mit
dem Tanz verbinde, ermöglicht es mir, den Spagat zwischen den Konzepten zu
versuchen. Gleichzeitig schafft der Tanz eine Verbindung zwischen den Kindern /
Jugendlichen und mir im therapeutischen Raum, was eine positive Therapeut-KlientBeziehung unterstützt.
29
3.1.1. Pathogenese
Bartling et al. (2008) beschreiben in ihrer Problemanalyse im psychotherapeutischen
Prozess einen strukturierten auf den Lerngesetzen basierenden Leitfaden für die Praxis.
Dieser Leitfaden hat nach meinem Eindruck einen hohen Anspruch auf Vollständigkeit
und bietet somit eine Strukturierungs- und Orientierungshilfe in der therapeutischen
Anwendung. Das Modell umfasst fünf Phasen:
1. Problemstellung, die im Fall Ronja im Vorgespräch mit der Mutter formuliert
wurde. Ein häufiges Phänomen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, dass
Eltern das Problem benennen und der Patient nicht genuin eigen motiviert
kommt. Inhalte / Therapieziele und Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit
werden in dieser Phase zwischen Patient und Therapeut vereinbart. Präzision des
Suchraumes der Therapieplanung durch Aktivierung störungsspezifischen
Wissens und Benennung einer Diagnose auf Grundlage eines
psychopathologischen Befundes gehören ebenfalls zu dieser Phase und
ermöglichen einen schnellen und fokussierten Austausch unter Fachleuten
(Bartling et al., 2008). In meiner Arbeit im klinischen Setting ist dieser Aspekt
wichtig, da bestenfalls die Arbeit des zuweisenden Kollegen aus den Stationen
oder der Ambulanz und die Tanztherapie aufeinander abgestimmt werden,
während die klinische Arbeit zunehmend an Zeitmangel leidet. Ich möchte im
folgenden Kapitel u. a. auf die Kehrseite eines so strukturierten Vorgehens nach
Bartling et al. unter der Überschrift des Salutogenese-Konzeptes eingehen. Es
stellt sich beispielsweise die Frage, ob ein zeitlich entspannter Austausch unter
Kollegen über pathogene sowie salutogene Merkmale des Patienten nicht
hilfreicher sei als der zeitlich optimierte Austausch. Ich erlebe immer wieder
Supervisionen, in denen Raum für einen raumgreifenden, frei assoziierenden
Austausch geschaffen wird. Bartling et al. benennen diesen Aspekt unter
„Qualitätssicherung und Supervision“ (Bartling et al., 2008).
2. Problemanalyse (Verhalten-in-Situationen; Regeln, Pläne, Motive;
Systemregeln), die im Fall Ronja über therapeutischen Kontakt und die
Bewegungsanalyse auf Grundlage von Laban und Kestenberg erhoben wurde.
Die Tanztherapie war bei dieser Patientin, die die Verbalisierung verweigerte,
eine hervorragende Lösung. Die Problemanalyse nach Bartling et al. beginnt auf
30
der horizontalen Ebene aktueller Handlungsabläufe. Das bedeutet es wird eine
problemrelevante kritische Situation betrachtet. Im Fall Ronja mit der Diagnose
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, kann diese
Situation der therapeutische Kontakt selbst sein. Patient und Therapeut
durchlaufen nun einen Wahrnehmungsprozess und eine innere Verarbeitung mit
Handlungsvorbereitung. Es folgen Verhalten und Konsequenzen. In
Rückkoppelungsschleifen erfolgt durch die Konsequenz eine neue Situation und
die Analyse beginnt erneut.
Nach dieser sogenannten horizontalen Ebene folgt die Plan- und
Motivationsanalyse auf der vertikalen Ebene (Bartling et al., 2008). Im Fall
Ronja zeigten sich Pläne und Motive als übergreifende Komponenten der
Handlungssteuerung besonders gut im gemeinsamen Spiel und in der Gestaltung
von Spielregeln (beispielsweise das Bedürfnis zu gewinnen). Die TherapeutPatient-Beziehung kann diagnostisch also genutzt werden. Es besteht u.U. eine
Nähe zwischen diesem Plananalyse-Konzept und analytischen Konzepten der
Übertragung und Gegenübertragung, auch wenn die Autoren betonen, dass ihr
methodisches Vorgehen ein anderes ist.
Der nächste Schritt der Problemanalyse ist die Analyse von Systemregeln. Das
Verhalten in Situationen sowie handlungssteuernde Pläne und Motive werden
beeinflusst durch die Normen des Umfeldes des Patienten (in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie besteht das Umfeld häufig aus Familie, vor allem Eltern und
Geschwistern, und Schulklassen oder Freizeitgruppen). Rollen, die der Patient in
diesen Systemen einnimmt, sind ebenso relevant. Im Fall Ronja wird dieser
Aspekt aufgegriffen in der Frage, ob sie ausreichend Raum hat, sich selbst
kennenzulernen und entfalten zu können oder ob ihre Rolle von Außen zu
festgeschnürt ist.
In der Analyse der Genese werden die Zusammenhänge zwischen dem Problem,
den Defiziten in den Problemlösefähigkeiten des Patienten und Besonderheiten
der familiären Situation auf Grundlage biographischer Anamnesen betrachtet.
Die daraus entstehenden Hypothesen und Ansatzpunkte unterstützen die
Zielanalyse und Veränderungsplanung.
3. Zielanalyse mit der Erfassung von Veränderungsvoraussetzungen und
Zielbestimmung. In dieser Phase kommen ressourcenorientierte Ansätze zum
31
Einsatz, vorausgesetzt das Ziel wird nicht als Abwesenheit von Krankheit,
sondern als Entwicklung eines Wunschzustandes formuliert. Z. B. Integration in
die Gruppe statt Reduktion sozialer Isolation. Die Motivation des Patienten
spielt hier eine wichtige Rolle. Im Fall Ronja gab es allerdings die bereits
beschriebene Schwierigkeit, dass der Behandlungsauftrag nicht von der
Patientin, sondern von ihrer Mutter kam. Da die Patientin Verbalisierung
vermied, konnten auch in den Therapiestunden keine Ziele über den anfangs
formulierten Behandlungsauftrag hinaus vereinbart werden. Deswegen war es
auf der Bewegungsebene um so wichtiger, durch Spiegelung und Aufgreifen
zaghafter explorierender Impulse der Patientin etwas wie eine nonverbale
Kooperation in der Stundengestaltung entstehen zu lassen.
Bartling et al. betonen in dieser Phase die Wichtigkeit der Therapeut-PatientBeziehung. Zur Analyse schlagen sie u. a. folgende Fragestellung vor:
"Welche Änderungen im Interaktionsverhalten und in der Einstellung
sind notwendig für eine hilfreiche therapeutische Beziehung im Sinne der
Veränderungsziele?" (Bartling et al., 2008, S. 91).
Tanztherapeutisch kann ich z. B. einen Effort nach Laban im Zuspielen von
Bällen variieren und die Reaktion des Patienten sowie die Wirkung auf die
Interaktion beobachten.
4. Mittelanalyse auf Grundlage der Hypothesen der Problemanalyse. Es werden
Veränderungsansätze auf den drei Ebenen der Problemanalyse gesucht und
Veränderungsprinzipien eingeführt. Problem und Mittel werden direkt
miteinander verknüpft und ein konkreter Therapieplan erstellt. Vereinfacht
dargestellt, könnte eine tanztherapeutische Mittelanalyse wie folgt aussehen: Ein
pubertierender Patient leidet unter Traurigkeit, spricht aber nicht über seine
Gefühle (horizontale Problemanalyse). Seine Eltern können das nicht verstehen
und betonen, ihr Sohn sei immer sehr fröhlich gewesen (Systemregeln). Der
Patient kommt in die Tanztherapie, sagt es gehe ihm ganz schlecht und lächelt
dazu (horizontale Problemanalyse). Aus der Problemanalyse ergibt sich das Ziel,
mit dem Patienten den Zugang zu seinen Gefühlen zu üben. Mittel:
Synchronisation von Gefühl und Ausdruck über die Erweiterung des
Ausdrucksrepertoires. Mögliche Übungen wären gemeinsames Fratzen ziehen
oder in der Gruppe Raten, welches Gefühl gerade von einem anderen
32
Teilnehmer bewegt wird. Äquivalent zu einem Schlüsselmoment im Fall Ronja
(der Erlaubnis, sich an ihrem „Wohlfühlort“ aufzuhalten) wäre in diesem
hypothetischen Fall die ausdrückliche Erlaubnis, in der Therapie Trauer zeigen
zu dürfen und damit Systemregeln neu zu definieren, entscheidend.
5. Erprobung und Bewertung mit den Optionen an einem neuen Problem bzw. an
allgemeinen Problemlösefähigkeiten zu arbeiten oder die Therapie zu beenden.
Erprobung und Bewertung finden während der Therapiesitzung und außerhalb,
z. B. mit der Erstellung von Zwischenbilanzen in Intervisionen, statt (Bartling et
al., 2008 ). Im Fall Ronja war beispielsweise das Ergebnis einer Zwischenbilanz,
dass ein nächster Schritt eingeleitet wurde. Zu Beginn der Behandlung
verweigerte Ronja die Tanztherapie, sodass der Beziehungsaufbau im
Einzelsetting stattfand. Ergebnis der Zwischenbilanz war die Einschätzung, dass
Ronja ausreichend selbstsicher in der Tanztherapie angekommen war, um in die
Gruppe zu wechseln.
Während der Phasen ist es immer möglich, zu einer vorhergehenden Phase
zurückzukehren, bzw. innerhalb einer Therapieeinheit greifen die Phasen nach meinem
Eindruck ineinander.
3.1.2. Salutogenese
Während Bartling et al. einen ausführlichen Problemlöseansatz beschreiben, erläutert
Franke die praxisrelevanten Grundgedanken des Salutogenese-Konzeptes:
"Eine der wesentlichen Implikationen des Salutogenese-Konzeptes besteht darin,
daß die Dichotomie von gesund und krank aufgehoben wird. […] Unsere
gesamte medizinische Versorgung und alle Sozialleistungen basieren darauf,
daß ein Zustand wie „Krankheit“ eindeutig diagnostizierbar ist. Gibt man
diesen Grundgedanken auf, so geraten nicht nur alle Diagnose- und
Klassifikationsschemata ins Wanken, sondern der gesamte „Gesundheitssystem“
genannte Apparat." (Franke, 1997, S. 41 / 42).
Ich empfinde es als ein Dilemma, in dem ich mich als Therapeutin befinde. Für meinen
Arbeitslohn ist eine kapitalistisch geprägte Effektivität und Effizienz, möglichst viele
Patienten in möglichste kurzer Zeit zu versorgen, ausschlaggebend. Gleichzeitig
brauchen Reifungsprozesse von Patienten Zeit und eine Beschleunigung ist häufig
33
kontraindiziert. Bisher wurde der Beschleunigung in der klinischen Arbeit durch die
Vorgaben der Krankenkassen nach meinem Eindruck u. a. mit der Betonung der
Wichtigkeit von Qualitätssicherung begegnet. Reflexionsmomente, die es auch erlauben
unter Kollegen über die Fähigkeiten und Stärken des Patienten und seine Einbindung in
soziale Systeme zu sprechen, sind in manchen Kliniken noch während der Arbeitszeit in
Supervisionen möglich. Doch leider geht die Entwicklung dahin, dass diese Angebote
generell weniger werden und aufgrund der Arbeitsverdichtung von den Mitarbeitern
weniger bis gar nicht genutzt werden, um in dieser Zeit beispielsweise
Patientenkontakte zu ermöglichen oder Dokumentationen vorzunehmen. Doch wenn wir
ausschließlich mit dem Patienten im Kontakt stehen und darauf verzichten, die
Sichtweise und Wahrnehmung der Kollegen, die einen entfernteren Blick auf den
Patienten haben, einzuholen, kann es passieren, dass wir nur noch problemorientiert
handeln und psychosoziale Aspekte sowie implizite Bedürfnisse des Patienten
übersehen.
Im Moment werden wir die Dichotomie von gesund und krank nicht aufheben können,
aber einen anderen Gedanken der Salutogenese können wir in der therapeutischen
Arbeit implementieren. In der Zielanalyse geht es nicht darum, „Störungen zu
beseitigen, sondern Gesundheit aufzubauen“ (Franke, 1997, S. 43). Dieser Gedanke
spiegelt sich im Gespräch mit dem Patienten über seine positiv formulierten
Behandlungsziele wieder.
Für mich verstärkt die Logik der Salutogenese eine wichtige Erkenntnis in der
klinischen Arbeit. Mittlerweile ist es gängige Praxis, dass Widerstände von Patienten
nicht mit der Brechstange behandelt werden. Vielmehr haben Widerstände bzw.
Abwehrmechanismen die Funktion des Selbstschutzes und sind somit ein „gesunder“
oder „kranker“ Anteil des Patienten? Im Umgang mit Widerstand brauche ich als
Therapeutin jedenfalls eher Geduld, Kreativität und den Glauben an die selbstheilenden
Kräfte des Patienten, als die Bewusstheit, dass der Patient möglichst schnell von der
Krankheit befreit werde und die Therapie beendet werden kann.
34
3.2. Fall Ronja
Ronja war zum Zeitpunkt der Therapie 14 Jahre alt und lebte mit ihrer Mutter und ihrer
älteren Schwester in einem Haushalt. Diese und alle weiteren persönlichen Daten
wurden im Sinne des Datenschutzes verändert.
Ronja nahm im Zeitraum von drei Sommermonaten an zehn Tanztherapieeinheiten teil.
Acht Therapieeinheiten fanden im Einzelsetting einmal wöchentlich à 40 Minuten statt.
Die letzten beiden Therapieeinheiten à 60 Minuten erlebte und gestaltete Ronja im
Gruppensetting mit einer weiteren Patientin und einer Praktikantin. Die Tanztherapie
wurde aufgrund der terminlichen Überschneidung mit der Schule beendet.
Problemstellung
Diagnose:

Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10: F92)
Psychopathologischer Befund im Erstkontakt unter Anwesenheit der Mutter
(Vorgespräch):
Wache, bewusstseinsklare, allseits voll orientierte Patientin, ohne erkennbare
Einschränkung der kognitiven Fähigkeiten und mnestischen Funktionen. Ronja war in
der Lage zu sprechen, verweigerte dies jedoch überwiegend oppositionell. Auf den
Versuch einen Code zu nutzen, reagierte Ronja mit Witz: sie bekam eine Frage, die sie
mit Ja (einmal Achselzucken) oder Nein (zweimal Achselzucken) beantworten konnte
und zuckte dreimal mit den Achseln. Affektiv wirkte Ronja anfangs neugierig und
angemessen aufgeregt, zum Ende des Gespräches Kontakt vermeidend (Einwickeln in
einen Vorhang), ängstlich, angespannt, unsicher und bedrängt. Ronja wirkte
schwingungsarm. Motorisch unauffällig. Kein Anhalt für formale oder inhaltliche
Denkstörungen. Keine Hinweise für Sinnestäuschungen, akute Suizidalität oder
selbstverletzende Verhaltensweisen. Aggressive Impulse und Geschwisterrivalität
wurden berichtet.
Behandlungsauftrag: Integration in die Gruppe; Erwerb neuer Möglichkeiten von
Beziehungsgestaltung und Handlungskompetenz; Verwirklichung individueller
Bedürfnisse im Einklang mit sozialer Kompetenz. Eine Einschätzung darüber, ob sich
Ronja Kontakt wünsche oder welche Fähigkeiten sie zur angemessenen
Kontaktgestaltung entwickeln möchte und könne, wurde von der Mutter sowie der
35
zuweisenden Kollegin gewünscht.
Problemanalyse
Aktuelle Handlungsabläufe in der therapeutischen Interaktion als kritische Situation:
Ronja zeigte zu Beginn der Behandlung eine deutliche Entwertung von Kontakt und
Interaktion. Sie konnte sich schlecht auf die therapeutische Beziehung einlassen.
Blickkontakt wurde vermieden. In der ersten Stunde drehte sie sich wie im Vorgespräch
in einen Vorhang, der als Raumteiler diente, und setzte sich eingewickelt in eine
Raumecke. Das Eindrehen, der Drehrhythmus zu Beginn der Stunde wirkte sich
verschließend, aber auch sich aus der Therapie herauswindend. Ronja initiierte
Bewegungen fast ausschließlich aus der Peripherie. Die anschließende Kinesphäre in
der Raumecke war nah, in der tiefen Raumebene mit konkaven Körperformen.
Psychologische Komponenten bzw. das Erleben dieser Bewegungen kann Ausdruck sein
von Schutz, Sicherheit, Abgrenzung, auf sich gerichtet sein und Autonomie. In dieser
Reinheit und Eindeutigkeit der Bewegungskategorien ist eine negative übergewichtete
Wirkung anzunehmen, in diesem Fall ging ich von einem ängstlichen und isolierten
Erleben aus. Ich vermutete, dass Aggressionen festgehalten wurden und keinen
adäquaten Ausdruck fanden. Intervenierend spiegelte ich ihre Körperhaltung in ca. fünf
Metern Abstand und schob auf dem Boden Bälle in ihre Richtung. Sie beantwortete dies
mit eindimensionalen stoßenden Bewegungen (stark, direkt, beschleunigend, also
ankämpfenden Antrieben). Da das Stoßen des Beines im Sitzen nach vorne gerichtet
war, habe ich es als Bewegung der sagittalen Dimension (Vorrücken und Zurückziehen,
assoziiert mit Offenheit und Anlehnen) als Reaktion auf einen äußeren Reiz
(richtungsorientiertes Formen) gesehen. Stoßen als der unbewusste Rhythmus der
außergenital-ankämpfenden Phase kann verbunden sein mit psychologischen
Komponenten der Aggression, der Präzision sowie des Dramas. Ronja reagierte
scheinbar auf das Kontaktangebot in aggressiver Weise. Es entstand der Eindruck, dass
Ronja ein Bedürfnis nach Interaktion habe, aber ihr Affekt erstmal der Wunsch nach
Abgrenzung zu sein schien. Nichtwissend, ob meine Interpretation von Ronjas
Verhalten ihrem Erleben entsprach und ob die Impulse von Außen auf sie bedrohlich
und beziehungsschädigend wirkten oder ihr die Möglichkeit gaben, einen Ausdruck für
ihren affektiven Standpunkt zur therapeutischen Beziehung im positiven Sinne zu
finden, variierte ich die zeitlichen Abstände der Impulse, was ihre Reaktion nicht
beeinflusste.
36
In der zweiten Stunde verweigerte Ronja, den Tanztherapiesaal zu betreten. Sie saß auf
den Stühlen vor dem Saal und schaute in den Gang. Diesmal entschied ich mich, Ronja
nur ein ganz bewusstes Angebot zu machen und danach ihr die Entscheidung zu
überlassen. Als ich mich in ihr Blickfeld setzte, drehte sie sich demonstrativ mit ihrem
gesamten Körper in die andere Richtung. Doch immerhin, es war wiederholt eine
Reaktion auf Verhalten ihres Gegenübers, sodass erneut Hinweise auf die affektive
Beschäftigung mit Kontakt existierten. Diese zweite Stunde verbrachten wir schweigend
und auf den Stühlen ruhend, Ronja in der Körperhaltung abgewendet, miteinander.
Gelegentlich formulierte ich die Situation, dass wir hier zusammen sitzen. In der Zielund Mittelanalyse war ich nicht so recht weitergekommen, sodass ich Ronja zur ersten
Bewertung in eine Supervision einbrachte. Dort fiel auf, dass ich mich an Ronjas
nonverbales Kommunikationsverhalten stark angepasst hatte und die Verbalisierung
kaum genutzt hatte.
In der dritten Stunde betrat Ronja den Tanztherapiesaal und wirkte deutlich entspannter.
Sie wickelte sich grinsend in den Vorhang und setzte sich in die Ecke. In Anerkennung
und auch Erleichterung über Ronjas Entspannung und Öffnung (ihr Grinsen
interpretierte ich als Aufforderung, die Bälle auszupacken), benannte ich den Eindruck,
dass die Ecke mit dem Vorhang so etwas wie ihr Wohlfühl-Rückzugsort sein könnte.
Ihre Antwort: „vielleicht“. Es verging einige Zeit, bis Ronja anfing mit den Füßen zu
wackeln. Ich rollte einen Ball in ihre Richtung und Ronja schob ihn sanft zurück in
meine Richtung. In dieser Weise gestaltete sie den Kontakt dieser Stunde, manche Bälle
behielt sie bei sich, um dann einige Bälle gleichzeitig zu mir zu werfen. Im Verlauf der
Therapiestunden suchte Ronja sich immer wieder den Vorhang.
In der vierten Stunde hatte ich mir zusätzlich zu den Bällen Stäbe mit Schaumstoff
(Batakas) zurecht gelegt. Ich hatte die Idee, ein Kommunikationsmedium zu nutzen, das
nicht wie die Bälle einen Körper verlassen muss, um Impulse an andere Körper
weiterzugeben, sondern eine Verlängerung des Armes darstellen kann. Um die Batakas
einsetzen zu können, musste der räumliche Abstand von bisher ca. fünf Metern
zwischen uns verringert werden. So fingen wir das gewohnte „Bälleschieben-Spiel“ an
und ich näherte mich verbal rückversichernd mit Nachfragen „ob das in Ordnung sei“.
Ronja antwortete mit dem bekannten grinsenden „vielleicht“. Mit ca. zwei Metern
Abstand nahm ich in tupfender Weise über die Batakas Kontakt zu ihrem Fuß auf. Die
Kontaktaufnahme über die Peripherie erschien logischerweise weniger bedrohlich und
das Tupfen sollte Ronjas Stoßen mit der Variation des Krafteinsatzes aufgreifen. Die
37
Batakas gingen schnell in Ronjas Besitz über.
In der fünften Stunde richtete Ronja ihre Bewegungen in der mittleren Raumebene aus.
Sie wickelte die Bälle, wie bisher sich selbst in den Vorhang, in Tücher ein und
schleuderte sie mittels Zentrifugalkraft gegen eine an der Wand stehende Matte. Die
Bewegung des Armes vollzog sich in der Rad-Ebene (zweidimensionales
Bewegungsmuster). Ich spiegelte die Bewegungsqualität (Anspannungsrhythmus) und
benannte in anfeuernder Weise die Würfe, einer ging weit nach oben, einer verlief flach
zum Boden etc. Krafteinsatz und Durchsetzungsvermögen schienen in dieser und
weiteren Stunden im Vordergrund. Ronja gab mir Bälle und Tücher in die Hand und wir
eiferten mit den Würfen um die Wette. Als Ronja bemerkte, dass sie höher warf als ich,
sagte sie, „wer höher wirft, gewinnt“ und zählte die Punkte.
Die sechste, siebte und achte Stunde gestaltete Ronja in einer Mischung aus Raufen –
Fangen – Verstecken. Häufig dachte sie sich Spiele aus, bei denen sie nur gewinnen
konnte. Denn sie gab die Regeln vor. Ronja war nicht in der Lage, sich auf meine
Vorschläge einzulassen. Es wirkte wie ein Erüben von Erfolg. Die Körperspannung
während dieser Therapiestunden war flexibel wechselnd zwischen hoch und niedrig und
somit als Ressource zu betrachten. Ronjas Spontanbewegungen waren weiterhin geprägt
von überwiegend ankämpfenden Antrieben (direkt, stark, beschleunigend). Konvexe
Körperformen traten auf. Der Wechsel zwischen „Wachsen“ und „Schrumpfen“ vollzog
sich spielerisch (bipolarer Formenfluss). Insgesamt ergriff Ronja zunehmend Raum.
In dieser Zeit berichtete Ronjas Mutter, dass Ronja sich weigere, Schwimmturniere
mitzumachen, was sie nicht verstehe, da Ronja so gerne und gut schwimme.
Pläne und Motive: Das Bedürfnis zu gewinnen stand im Vordergrund.
Systemregeln: Ich hatte den Eindruck, dass Ronja wenig Raum habe, um ihre
Persönlichkeit zu entfalten und im Rahmen der Pubertät sich selbst kennen zu lernen, da
bereits ein Bild ihrer Rolle als beispielsweise guter Schwimmerin existiere. Das
Moment Siegen und Gewinnen von Wettkämpfen war auf der emotionalen Ebene in den
Therapien deutlich spürbar. Fragen, wie `darf Ronja zu Hause gewinnen´ oder `ist das
ihrer Schwester vorbehalten´ oder `muss Ronja gewinnen´, blieben unbeantwortet.
Analyse der Genese und Hypothesen: Den Berichten der zuweisenden Kollegin war zu
entnehmen, dass möglicherweise eine Selbstwertproblematik vor dem Hintergrund
schwieriger familiärer Bedingungen durch die Trennung der Eltern mit einem
Loyalitätskonflikt vorliege, sodass differenzialdiagnostisch die Anpassungsstörungen
38
(F43.2) berücksichtigt wurden. Ronjas Mutter berichtete in der Anamnese, dass Ronja
eine Teilleistungsstörung in Form einer Lese-Rechtschreibstörung (ICD-10: F81.0) bei
durchschnittlicher Intelligenz diagnostiziert bekommen habe. In diesem Zusammenhang
habe es eine Empfehlung des Nachteilsausgleichs bzw. des Verzichts auf
Leistungsbewertung, um Folgeerscheinungen im seelischen Bereich (z. B.
Selbstwertverlust, Leistungsverweigerung, etc.) zu vermeiden bzw. in Grenzen zu
halten, gegeben. Vielleicht hatte Ronja soziale Isolation als Lösung entwickelt, um
Versagen zu vermeiden. Nach dieser Hypothese schien Versagen eine Bedrohung des
Selbstkonzeptes und des Selbstwertgefühls darzustellen. Es war zu vermuten, dass die
Bedrohung durch eine Bewertung von Außen sowie von Ronja selbst ausging.
Zielanalyse
In der Annahme, dass Ronja sich aus dem Kontakt zurückzog, um
Explorationsverhalten mit der möglichen Konsequenz der Zurückweisung ihrer Person
zu vermeiden, sollte das Ziel eine Angstreduktion in subjektiv bedrohlichen
Bewertungssituationen sein. In der therapeutischen Interaktion war es demnach
notwendig, Ronja die Erfahrung zu ermöglichen, dass Exploration eine Anerkennung
und ein Annehmen ihrer Person durch sich selbst sowie durch andere zur Folge haben
kann.
Mittelanalyse
Die Anerkennung der Person Ronja durch die Außenwelt, in diesem Fall die
Therapeutin, fand in der Tanztherapie u. a. statt durch Spiegeln ihrer
Bewegungsqualitäten. Die verbalisierte Erlaubnis, in ihrer nahen Kinesphäre und
konkaven Körperform zu verweilen und sie jederzeit wieder einnehmen zu können,
ohne einen Beziehungsabbruch zu riskieren, war nach meiner Einschätzung unbedingte
Voraussetzung für eine emotionale Stabilisierung, die Exploration ermöglichte. Diese
Situation war ein Schlüsselmoment der Therapie. Auf diesem Vertrauensverhältnis
aufbauend, konnte Ronja Exploration zeigen und die Erfahrung machen, dass ihre
Regeln und Vorstellungen angenommen wurden.
Das Annehmen der eigenen Person in Form einer starken inneren Zeugin, die auch
ungewohnte Bewegungskategorien ausprobiert und eigene Präferenzen (Beispiel
ankämpfende Antriebe) in der Bewegung variiert, sollte in der Tanztherapie durch die
Erweiterung des Bewegungsrepertoires (beispielsweise durch Ausprobieren erspürender
Antriebe) weiter geübt werden.
39
Erprobung und Bewertung
Das Ergebnis einer Intervision zur Zwischenbilanz war der Wechsel von Ronja aus dem
Einzelsetting in eine passende neu entstehende Gruppe. Wir hatten den Eindruck, dass
Ronja sich ausreichend mit dem Raum und der tanztherapeutischen Situation vertraut
gemacht hatte. In Absprache mit ihr besuchte sie zweimalig die Gruppe. Leider war ein
Fortführen, das eigentlich von allen Beteiligten erwünscht gewesen wäre, aufgrund
schulischer Termine nicht möglich.
Ronja nutzte die Gruppensituation sehr gut. In einem kämpferischen Spiel zeigte sie
hervorragende soziale Kompetenzen. Im Spiel mit Erwachsenen (Therapeutin und
Praktikantin) wurde sie sehr heftig und intensiv in ihren Bewegungen. Ihre aus der
Einzelsituation bekannten Bewegungsmuster traten auf. Sie zeigte Aggressionen in
angemessener Form. Wie angemessen Ronja mittlerweile Kraft einsetzen konnte, zeigte
sich im Kampf mit der Mitpatientin, die kleiner und zierlicher als die Erwachsenen war.
Im Spiel mit der gleichaltrigen Mitpatientin bewegte Ronja sich zurückhaltender und
sanfter, leichte und runde Bewegungen (dreidimensionales Bewegungsmuster) waren zu
beobachten. Es wirkte, als sei ihr bewusst, dass die Mitpatientin im Unterschied zu den
Erwachsenen Ronjas Heftigkeit eventuell nicht halten könnte. Die Mitpatientin bezog
Ronja in ihr Spiel mit ein und akzeptierte deren Regeln. Die Mitpatientin durfte gegen
Ronja gewinnen. In der Abschiedssituation reflektierte Ronja ihre Entwicklung der
letzten Wochen sowie ihre aktuelle gezeigten Eigenschaften und ihr Verhalten verbal in
angemessener Form.
Zusammenfassung:
Ronja wirkte wie ein pubertierendes Mädchen, das wenig Raum zur Entfaltung seiner
Persönlichkeit und wenig Übung in angemessenem Krafteinsatz hatte. U. a. in der Folge
dieser Einschränkungen schien sie sich Rückzug als Problemlösestrategie gesucht zu
haben. Das Bedürfnis nach Kontakt und im Verlauf der Tanztherapie sichtbar auch die
Kompetenzen, Kontakt gut gestalten zu können, schienen vorhanden. Ronja konnte in
die Gruppe integriert werden und zeigte dort Lustgewinn am gemeinsamen Spiel. Als
Übergang in diese erfolgreiche Entwicklung schien Ronja die Erlaubnis, Abgrenzung
und Aggression zeigen zu können, gebraucht zu haben. Die Therapie von zehn Stunden
bildet nur einen kleinen Ausschnitt der Persona Ronja ab. Zudem bleibt das Thema
Leistung und Erfolg unter familiendynamischen Aspekten angesprochen bzw. bewegt,
aber unbearbeitet. Es wäre wünschenswert, Ronja einen entsprechenden Raum im
weiteren Verlauf ihrer pubertären Entwicklung zur Verfügung zu stellen.
40
4. Zusammenfassung und Diskussion
Die Tanztherapie ist neben anderen Indikationen geeignet zur Behandlung der
Kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen bei Kindern und
Jugendlichen (zur Einschränkung der Generalisierbarbeit dieses Ergebnisses s.
Einleitung dieser Arbeit).
Der Fall Ronja zeigt die Schwierigkeit der Behandlung von Patienten, die vordergründig
keine Eigenmotivation mitbringen und die Verbalisierung meiden. Insbesondere die
Ausführungen von Klein (1993), dass es darum gehe, den Patienten zu vermitteln, dass
sie sein dürfen, wie sie sind und erst eine ausreichende emotionale Sicherheit in der
therapeutischen Situation eine Erweiterung der Bewegungskategorien ermöglicht, gaben
mir wichtige Impulse für die Therapiegestaltung.
Wahrscheinlich ist aus der Arbeit auch deutlich geworden, dass ich eine Therapeutin
bin, die Struktur als Orientierung bevorzugt. Diesbezüglich kommen mir Laban,
Kestenberg und Bartling et al. mit ihren (Bewegungs-)Analysen sehr entgegen. In
diesen Strukturen nicht zu rigide zu werden und den individuellen Beziehungsaspekt
salutogenetisch und phänomenologisch zu berücksichtigen, ist mir gleichfalls wichtig.
Meinen Blick auf diese im Einzelfall eher uneindeutigen und somit für mich
verunsichernden Konzepte durfte ich schärfen während meiner Tätigkeit im Projekt
„Körpersprache von Tanz und Bewegung“ von Prof. Dr. Sabine C. Koch, Prof. Dr. Dr.
Thomas Fuchs und Prof. Dr. Cornelia Müller. Diese insgesamt theoriegeleiteten
Konzepte konnte ich in meiner sechs-jährigen Tanztherapieausbildung am Frankfurter
Institut für Tanztherapie bewegen, erleben und erfahren, sodass nach meinem Eindruck
ein ganzheitlicher Ansatz entstanden ist. So gesehen stellt diese Abschlussarbeit meiner
Therapieausbildung eine mehr oder weniger detaillierte Darstellung meines aktuellen
(tanz-)therapeutischen Wissens dar.
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit tauchte die Frage der Veröffentlichung der Arbeit
unter dem Aspekt ethischer Fragestellungen auf. Die Daten sind anonymisiert, es war
aber denkbar, dass Ronja selbst bzw. ihre Familie bei Sichtung der Arbeit bemerken,
dass sie beschrieben wird. Daher erschien es ethisch wichtig, Ronja und ihre Familie zu
informieren und ein Einverständnis der anonymisierten Veröffentlichung einzuholen.
Ein therapeutisches Nachgespräch sollte das geschriebene Wort in einen mündlich
41
besprochenen Kontext der Therapie stellen und Ronja bzw. ihrer Familie die
Möglichkeit geben, Rückfragen zu stellen. In diesem therapeutischen Gespräch wurden
die aus der Therapie bisher unbeantworteten Fragen aufgegriffen. Diese Abschlussarbeit
meiner Therapieausbildung war somit selbst zu einem therapeutischen Instrument
geworden.
42
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Berufsverband der TanztherapeutInnen Deutschlands e.V. – Internetseite. Tanztherapie:
Prozess, Ziele, Indikationen und Arbeitsfelder. Gelesen am 11.12.2013, auf
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43
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Mayer-Ostrow, J. (2006). Authentic Movement und die Kunst Zeuge zu sein. Zeitschrift
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ein Modellversuch. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel Verlag.
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Klinische Psychologie & Psychotherapie (S. 349-382). Heidelberg: Springer
Medizin Verlag.
44
Anhang
A
Eine einführende Beschreibung einzelner tanztherapeutischer
Ansätze
B
KMP-Flußbilder
45
A
Eine einführende Beschreibung einzelner tanztherapeutischer
Ansätze
Authentische Bewegung: eine Methode, die auch in der Jung´schen Analyse eingesetzt
und u. a. durch Mary Whitehouse und Dr. Janet Adler geprägt wurde. Mit geschlossenen
Augen und meist ohne Musik bewegt sich der Körper und wird gleichzeitig bewegt. Die
Bewegerin richtet ihre Aufmerksamkeit nach Innen und folgt ihren Körperimpulsen.
Dadurch werden unbewusste Inhalte in Bewegung verkörpert und sichtbar. Mit der
Übung von Authentischer Bewegung entwickelt sich eine Wachsamkeit / innere Zeugin
gegenüber der eigenen bewussten sowie unbewussten Welt von Psyche, Soma und
Emotionen. Diese Entwicklung geschieht durch eine allmähliche Internalisierung einer
während der Authentischen Bewegung anwesenden äußeren Zeugin. Die äußere Zeugin
ist für die Bewegerin präsent und handelt als Container, der einen sicheren Raum für die
Authentische Bewegung bietet. Dabei begegnet die äußere Zeugin ihrer eigenen Welt
sowie der Welt der Bewegerin ohne einzugreifen. Nach der Bewegung werden die
Erfahrungen besprochen oder in anderen Formen verdeutlicht (vgl. Mayer-Ostrow, J.,
2006*).
"Autehntic Movement ist bewegte Imagination, Meditation und
Kommunikationstraining zugleich." (*Mayer-Ostrow, J., 2006. Authentic
Movement und die Kunst Zeuge zu sein. Zeitschrift für Tanztherapie Körperpsychotherapie. Claus Richter Verlag, 23/2006, 13. Jahrgang).
Bewegungsarbeit nach Laban: jede Bewegung hat eine innerpsychische Resonanz.
Laban beschreibt Bewegungs-Efforts (Raum, Kraft, Zeit und Fluss) und acht
Antriebsaktionen (Drücken, Flattern, Stoßen, Schweben, Wringen, Tupfen, Peitschen
und Gleiten). Das Praxismodell beschreibt den therapeutischen Wechsel immer über
lediglich EINE Effortänderung, beispielsweise vom Flattern (leicht-flexibelPLÖTZLICH) zum Schweben (leicht-flexibel-ALLMÄHLICH). Der therapeutische
Wechsel dient u. a. der Erweiterung des Bewegungsrepertoires und somit auch der
innerpsychischen Resonanz.
Chace-Kreis: eine Kreistechnik, bei der die Therapeutin Bewegungsmuster und
Stimmungen der Teilnehmer aufgreift, spiegelt und modifiziert. Dabei kann sie die
Bewegung beschreiben und den Namen der Person, von der die Bewegung initiiert
46
wurde, benennen. Die Gruppe kann die Bewegungen übernehmen, also ebenfalls
spiegeln, sodass gemeinsam gestaltete Bewegungen entstehen. Für die einzelnen
Teilnehmer entwickelt sich das Gefühl des "Gesehenwerdens" sowie eine
Verdeutlichung der eigenen Bewegungsstrukturen und der Rolle des Patienten in der
Gruppe. Gruppenthemen manifestieren sich in Bewegung und können dann verbal
aufgenommen werden. Bei diesem gruppendynamisch orientierten Ansatz ist der
(gemeinsame) Rhythmus wichtig.
Kestenberg: die Bewegungsarbeit nach Kestenberg wird mit einzelnen Klienten aber
auch in Eltern-Kind-Dyaden eingesetzt. Sie dient der Analyse persönlicher Präferenzen
sowie der Interaktionsanalyse zwischen Eltern und Kind oder auch Partnern. Das KMP
gibt dem Praktiker vielfältige Arbeitshypothesen an die Hand zu den Bereichen:
Bedürfnisse, Temperament, Affekt, Lernstile, Abwehrmechanismen, Antriebe, Affekt
und Einstellung gegenüber Selbst und Objekten/Personen, einfache und komplexe
Relationen mit der Umwelt/Personen wie sie sich jeweils in Bewegung äußern. Durch
den entwicklungspsychologischen Bezug lassen sich Verbindungen zu frühen Störungen
herstellen und bearbeiten.
Körperbildarbeit: Körperbilder können im therapeutischen Setting gemalt und
besprochen werden und sich über die Zeit verändern. Sie können im großen
Widerspruch zur Realität stehen oder fragmentiert sein (z. B. bei Anorexie). Ziel der
Arbeit mit Körperbildern ist die Integration und Hilfestellung zur Identitätsentwicklung.
Der eigene Körper als Mittel zur Autonomiegewinnung (vgl. Knauß , A. R., 1998*).
"Um zu einem stabilen Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl zu gelangen, ist
es wichtig, eine klare Vorstellung zum Körper-Ich zu entwickeln." (*Knauß, A.
R., 1998. Kreativitätstherapie und Intermedialer Transfer in der Tanztherapie.
Zeitschrift für Tanztherapie - Körperpsychotherapie. Claus Richter Verlag,
8/1998, 5. Jahrgang).
[Zur Begriffsdefinition von Körperbild und Körperschema s. Lausberg, H. (2009);
Bewegungsanalyse in der Diagnostik von Körperschema- und Körperbildstörungen. In
P. Joraschky, T. Loew & F. Röhricht (Hrsg.), Körpererleben und Körperbild (S. 125133). Stuttgart: Schattauer.]
47
B
KMP-Flußbilder
48
49
50
51
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