Extraktionstherapie

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Die Extraktionstherapie entsteht durch Platzmangel oder ein
Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße. Die achsengerechte Einordnung aller Zähne im Knochen kann nur durch die
Extraktion bleibender Zähne gewährleistet werden. Nichtanlagen von Zähnen und die Dekompensation von Anomalien können
ebenfalls eine Extraktionstherapie erfordern. Die Extraktionstherapie wird mit orthodontischen Apparaturen durchgeführt.
Dabei hängt es wesentlich von der jeweiligen Anomalie ab, welche Mechanik eingesetzt wird. In unserem Behandlungskonzept
verwenden wir eine modifizierte Gleitbogenmechanik in den
meisten Angle-Klasse-I- und -III-Patienten (Abb. 1197). In Extraktionspatienten mit ausgeprägter Angle-Klasse II oder vertikalen Abweichungen ist häufig eine Teil- oder Segmentbogentechnik einzusetzen (Abb. 1195).
1194 Behandlungsmechanik
Extraktionstherapie: Modifi­
zierte Gleitbogenmechanik
Die modifizierte Gleitbogenmecha­
nik verwenden wir bei leichteren Ex­
traktionsfällen und den meisten Pati­
enten mit Angle-Klasse I oder III. Der
dentale Platzmangel ist in diesen Fäl­
len eher moderat und damit die Be­
wegungsstrecke geringer und die Be­
wegungsrichtung biomechanisch
günstiger. Die Gleitbogenmechanik
ist im klinischen Handling einfacher,
da sie besser kontrolliert werden
kann.
1195 Behandlungsmechanik
Extraktionstherapie:
Segmentbogentechnik
Die Segmentbogentechnik ist bei
schwierigen Extraktionsfällen und
der Behandlung erwachsener Patien­
ten indiziert. Durch die Teilbögen ist
eine kontrollierte Biomechanik mög­
lich. So wird ein Jiggling-Effekt ver­
mieden und Einzelzähne oder Zahn­
gruppen können mehr körperlich
bewegt werden. Zusätzlich können
zahngruppenspezifisch Kraft- und
Momentgröße gesteuert werden.
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Extraktionstherapie
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
■ Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
Die Extraktionstherapie ist die Folge von bestehendem Platzmangel, der nicht durch Distalisation, Protrusion oder Expansion
gelöst werden kann. Der Platzmangel kann durch primären, sekundären oder tertiären Engstand entstehen und bedeutet in seiner Konsequenz, dass nicht alle Zähne in den Zahnbogen eingeordnet werden können. Die Einordnung der Zähne in den
Zahnbogen ist wichtig für die Funktion und Ästhetik. Teil der Philosophie der Straight-Wire-Therapie ist die Ausrichtung der Zähne unter der Berücksichtigung von vorhandenem Knochen und
ihrer dreidimensionalen axialen Position nach den 6 Schlüsseln
der Okklusion durchzuführen (Andrews 1972). Die Grenzen der
Möglichkeit einer Einordnung ohne Extraktion ergeben sich aus
den individuellen anatomischen, genetischen und funktionellen
Gegebenheiten der Patienten (s. Kap. Grundsätzliche Problematiken in der Kieferorthopädie).
Sagittaler Engstand
Der sagittale Engstand entsteht durch Aufwanderungen der Seitenzähne. Er wird auch als sekundärer Engstand bezeichnet
(Northway et al. 1984).
1196 Problematik Extraktions­
therapie: Unterminierende
Resorption
Die unterminierende Resorption
führt zu einem sagittalen Platzver­
lust, da der 1. Molar eine falsche
Durchbruchsrichtung aufweist und
den 1. Milchmolaren unterminierend
resorbiert. In den meisten unserer
Patienten ist, insbesondere im Ober­
kiefer, der Ausprägungsgrad so groß,
dass eine Messingligatur nicht einge­
setzt werden kann. Die Extraktion
des Milchmolaren ist das Therapie­
mittel der Wahl.
1197 Problematik Extraktions­
therapie: Mesialwanderung
der Oberkiefermolaren
Durch unterminierende Resorption
oder frühzeitigen Verlust der Milch­
molaren im Oberkiefer wandern die
1. Molaren nach mesial. Hieraus ent­
steht bei einer ursprünglichen Klas­
se-I-Verzahnung eine Klasse II. Wan­
dern die Molaren 4 mm nach mesial,
ist bei ungünstigem Schädelaufbau
(vertikal oder retrognather Gesichtstyp) bei vielen Patienten bereits eine
Extraktionstherapie unausweichlich.
1198 Problematik Extraktions­
therapie: Milchmolaren im
Unterkiefer
Aus Kariesgründen kann im Unterkie­
fer eine Extraktion von Milchmolaren
erforderlich werden. Auch im Unter­
kiefer wandern die 1. bleibenden
Molaren aufgrund einer Mesialwan­
derungstendenz nach mesial und
führen zu einem sekundären oder sa­
gittalen Engstand. Bleibt dieser bis in
das späte Wechselgebiss bestehen,
kann bei 4 mm und ungünstigen ske­
lettalen Bedingungen (vertikaler
Schädelaufbau) eine Extraktionsthe­
rapie erforderlich werden.
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Sagittaler Engstand
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1199 Problematik Extraktions­
therapie: Mesialwanderung
der Unterkiefermolaren
Durch den frühzeitigen Verlust der
Milchmolaren im Unterkiefer und die
Mesialwanderung der 1. bleibenden
Molaren entsteht bei einer ursprüng­
lichen Klasse-I-Verzahnung eine den­
tale Klasse-III-Anomalie. Im späten
Wechselgebiss und bei fortgeschrit­
tenem Durchbruch der 2. Molaren ist
bei ungünstigen skelettalen Bedin­
gungen eine Extraktionstherapie
angezeigt.
Zeigt sich im OPT eine enge Keimla­
ge im posterioren Bereich in ausge­
prägtem Maße, sodass sich der Keim
des 2. Molaren über dem 1. Molaren
projiziert, besteht nach Björk (1977)
posterior zu wenig Platz, um alle
Zähne in den Zahnbogen einzuord­
nen. Gleiches gilt ebenfalls, wenn
der Keim des Weisheitszahns um
90 ° gedreht oberhalb des 2. Molaren
projiziert wird.
1201 Problematik Extraktions­
therapie: Keimlage
Das OPT dieses Patienten zeigt im
posterioren Bereich (im Gegensatz
zu Abb. 1200) eine günstige Keimla­
ge. Bei prognostisch günstigem
Wachstum (neutrales oder horizon­
tales Wachstumsmuster) und recht­
zeitigem Therapiebeginn ist eine sa­
gittale Platzbeschaffung und
Einordnung aller Zähne in den Zahn­
bogen zu erwarten.
1202 Problematik Extraktions­
therapie: Distalisations­
abschätzung
FH
NL
× mm
ML
Zur Abschätzung eines möglichen
Platzgewinns durch Distalisation ist
die sagittale Messung am FRS von
der posterioren Begrenzung des Mo­
laren bis zur Pterygoidsenkrechten
hilfreich. Der Sollwert wird durch das
Alter des Patienten ± 3 mm ermittelt
und mit dem gemessenen Ist-Wert
verglichen. Die Differenz stellt das
posteriore Platzangebot dar (nach
Ricketts et al. 1982).
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1200 Problematik Extraktions­
therapie: Keimlage
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
Der sekundäre Engstand wird durch unterminierende Resorption der 1. Milchmolaren durch die 1. bleibenden Molaren oder
durch frühzeitigen Verlust der 2. Milchmolaren aus Kariesgründen verursacht (Abb. 1196 –Abb. 1199). Als weitere Kausa kann
ein sagittaler Engstand entstehen, wenn die 2. Milchmolaren aufgrund einer Nichtanlage in eine starke Infraposition gelangen und
der Milchzahn keine sagittale Abstützung für den 1. bleibenden
Molar darstellt. Der sagittale Engstand kann ein- oder beidseitig
und im Ober- oder Unterkiefer vorkommen und führt zu einer
verkleinerten Stützzone mit einer Veränderung des Okklusionsbefunds. Eine ursprüngliche Klasse-I-Verzahnung wird dann bei
Kausa im Oberkiefer zu einer Klasse II (Abb. 1196 u. Abb. 1197)
und bei Kausa im Unterkiefer zu einer Klasse-III-Anomalie
(Abb. 1198 u. Abb. 1199). Eine Klasse-II-Anomalie kann bei Kausa
im Oberkiefer verstärkt oder durch Aufwanderungen im Unterkiefer abgeschwächt werden. Klasse-III-Anomalien werden durch
Aufwanderungen der Molaren im Oberkiefer abgeschwächt oder
zu einer Klasse I und bei Molarenaufwanderungen im Unterkiefer
verstärkt. Differenzialdiagnostisch ist für die Extraktionstherapie
der retromolare Raum entscheidend (Abb. 1200–Abb. 1202). Ist
nicht genügend Platz vorhanden, kann der Engstand nur durch
Extraktion von bleibenden Zähnen ausgeglichen werden.
1203 Problematik Extraktions­
therapie: Transversaler
Engstand, primärer Engstand
Bei der Patientin besteht neben dem
transversalen Engstand auch ein
Missverhältnis zwischen Zahn- und
Kiefergröße (primärer Engstand). Die
transversale Expansion im Oberkiefer
alleine kann das Platzproblem der
Patientin nicht lösen.
1204 Problematik Extraktions­
therapie: Transversale
Expansion, GNE
Der transversale Engstand der Pati­
entin ergibt sich aufgrund der knö­
chernen Situation und der daraus re­
sultierenden transversalen
Achsenposition (nach Schwarz 1961)
im Ober- und Unterkiefer (links). Un­
abhängig von der Extraktionsent­
scheidung ist eine GNE erforderlich
(rechts).
1205 Problematik Extraktions­
therapie: Nach GNE
Nach durchgeführter GNE wird deut­
lich, dass durch transversale Expansi­
on eine Extraktionstherapie nicht
vermieden werden kann. Gleiches
gilt für Expansionen durch orthodon­
tische Bögen. Die Extraktionsent­
scheidung ergibt sich aus dem pri­
mären Engstand und der
Achsenposition der Inzisivi. Der Schä­
delaufbau der Patientin ist vertikal.
1206 Problematik Extraktionsthe­
rapie: Prämolarenextraktion
Für die Korrektur des Missverhältnis­
ses zwischen Zahn- und Kiefergröße
ist die Extraktion der 1. Prämolaren
das Mittel der Wahl, da die Fronten
aufgerichtet und therapeutisch eine
modifizierte Gleitbogenmechanik
angewendet werden kann.
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Transversaler Engstand
Der transversale Engstand ist meist durch knöcherne Verhältnisse verursacht. Insbesondere bei Klasse-II-Anomalien, Patienten
mit vertikalem Schädelaufbau und offenem Biss kann ein transversaler Engstand oder Schmalkiefer auftreten. Als Folge des
transversal geringen Knochenangebots kippen die Seitenzähne
im Oberkiefer nach vestibulär (Abb. 1203 u. Abb. 1204). Ist der
Oberkiefer als Schmalkiefer betroffen, kompensiert der Unterkiefer häufig mit einer Lingualkippung der Seitenzähne. Ein distaler
Zwangsbiss oder Kreuzbiss ist bei vielen Patienten die Folge, da
die Zähne nicht mehr suffizient okkludieren können. Bei KlasseIII-Anomalien kann eine Lingualkippung der Unterkiefermolaren
aufgrund eines zu großen Unterkiefers bestehen. Das Ausmaß
der GNE richtet sich demnach nach der axialen Position, dem
transversalen Engstand im Oberkiefer und dem Ausmaß der erforderlichen vestibulären Aufrichtung im Unterkiefer oder einer
Kombination aus beidem (Abb. 1209). Die WALA-Ridge, WilsonKurve und Achsenposition der Seitenzähne im Oberkiefer können zur Bestimmung des transversalen Engstands eingesetzt
werden (Andrews u. Andrews 2000, Wilson 1911, Bocquet-Moreau et al. 2005) (Abb. 1207). Die Korrektur des transversalen
Engstands erreicht jedoch nur bedingt sagittalen Platzgewinn
und ersetzt nicht die Extraktionsentscheidung (Abb. 1203–
Abb. 1206). Die intercanine Distanz im Unterkiefer sollte in der
orthodontischen Phase nicht durch Expansion verändert werden
(Abb. 1208) (Stöckli 1994, Moorrees 1959).
1207 Problematik Extraktions­
therapie: WALA­Ridge
Die WALA-Ridge ist ein gutes klini­
sches diagnostisches Mittel für die
Beurteilung des transversalen Kno­
chenangebots (Andrews u. Andrews
2000). Bei Aufsicht auf den Kiefer ist
bei guten knöchernen Verhältnissen
die WALA-Ridge sichtbar und die Sei­
tenzähne können aufgerichtet wer­
den. Ist die WALA-Ridge nicht sicht­
bar, sollte auf eine posteriore
Expansion verzichtet werden.
1208 Problematik Extraktions­
therapie: Intercanine Distanz
im Unterkiefer
Die intercanine Distanz im Unterkie­
fer darf nur in Ausnahmefällen bei
Patienten mit Deckbiss verändert
werden (Mitte). Eine anteriore trans­
versale Dehnung im Unterkiefer rezi­
diviert und ist daher kontraindiziert
(Stöckli 1976, Moorrees 1959). In
der orthodontischen Therapie sind
deshalb individualisierte Bögen ein­
zusetzen. Eine anteriore Dehnung im
Unterkiefer kann nur durch eine Dis­
traktion erfolgen.
1209 Problematik Extraktions­
therapie: Wilson­Kurve
Anhand der Achsenposition im Ober­
kiefer (Schwarz 1961) und der Dar­
stellung der Wilson-Kurve (Wilson
1911) wird das Ausmaß der erforder­
lichen transversalen Dehnung im
Oberkiefer deutlich. Für den Oberkie­
fer ist eine bukkale Wurzel- und im
Unterkiefer eine vestibuläre Kronen­
bewegung erforderlich. Auch in Ex­
traktionsfällen setzen wir bei diesen
Patienten immer eine GNE ein.
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Transversaler Engstand
467
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
Primärer Engstand
Der primäre Engstand ergibt sich aus einer Persistenz des Knospenzustands der Keimanlagen (Howe et al. 1983). Ursächlich
hierfür ist ein Missverhältnis von Zahn- und Kiefergröße. Ein
wichtiger diagnostischer Hinweis ist in der Modellanalyse der
SIOK (Summe der mesiodentalen Breite der Inzisivi im Oberkiefer). Ist der SIOK ≥ 34 mm, kann von einem Missverhältnis zwischen Zahn- und Kiefergröße ausgegangen werden. Besteht eine
solche Zahnbreitendiskrepanz bzw. sind die mesiodistalen Breiten der Zähne im Zahnbogen zu groß, ist eine Extraktionstherapie indiziert (Abb. 1203–Abb. 1206). Eine Kompensation ist limitiert durch die Achsenposition der Frontzähne. Eine Einordnung
aller Zähne in den Zahnbogen hätte eine Protrusionsstellung der
Inzisivi zur Folge. Bei kleiner apikaler Basis transversal und sagittal kann dies zu Gingivadehiszenzen führen und ist daher nicht
indiziert (Abb. 1212). Insbesondere im Unterkiefer ist die vestibuläre Knochenlamelle sehr dünn (Abb. 1210 u. Abb. 1211). Zusätzlich ist zu beachten, dass bei orthodontischen Bewegungen
von mehr als 3° eine instabile Zahnposition eingestellt wird (Alexander 2008, Elms et al. 1996 a, b, Glenn et al. 1987). Der Kontrolle der Inzisivi im Unterkiefer kommt in der orthdontischen
Therapie eine besondere Bedeutung zu (Alexander 2008). Neben
den knöchernen Parametern, die die Achsenposition der Frontzähne vorgeben, sind funktionelle Gegebenheiten wie Lippenschluss, Wangen- und Zungenfunktion zu berücksichtigen (Alexander 2011).
1210 Problematik Extraktions­
therapie: Kompensation,
primärer Engstand
Bei Patienten mit Engständen ent­
steht besonders während der Nivel­
lierung ein proklinierender Effekt. Im
ungünstigen Fall kann, wie bei dieser
Patientin, der Zahn vestibulär aus
dem Knochen bewegt werden. Die
Kompensation eines Extraktionsfalls
durch Protrusion eines achsenge­
recht oder bereits protrudierten Zah­
nes ist nicht indiziert.
1211 Problematik Extraktions­
therapie: Kompensation,
primärer Engstand
Bei dem erwachsenen Patienten er­
folgte eine Korrektur des Engstands
durch Slicen mit einer Lingualappara­
tur. Trotzdem entstand durch die zu­
sätzliche Anwendung von Klasse-IIZügen ein proklinierender Effekt, der
zu einer Gingivarezession führte. In
Grenzfällen zur Extraktion sollte da­
her auf reine Gleitbogenmechaniken
verzichtet werden.
1212 Problematik Extraktions­
therapie: Kompensation,
transversaler Engstand
Wird ein transversaler oder primärer
Engstand durch eine unkontrollierte
Kippung nach bukkal mit orthodonti­
schen Bögen und nicht über eine
GNE durchgeführt, können Dehiszen­
zen auch bukkal entstehen, wenn die
apikale Basis klein und das transver­
sale Knochenangebot gering ist. Die
Kompensation eines Extraktionsfalls
durch Dehnung ist daher nicht indi­
ziert.
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Tertiärer Engstand
Der tertiäre Engstand ist eine Anomalie bei erwachsenen Patienten und bezieht sich auf den Frontengstand, insbesondere im Unterkiefer. Die Ursachen hierfür sind multifaktoriell und bis heute
nicht eindeutig geklärt. Der tertiäre Engstand kann sowohl bei
orthodontischen Patienten mit Extraktion als auch bei Nonextraktionspatienten auftreten, wenngleich prozentual der tertiäre
Engstand in den Extraktionspatienten etwas seltener vorkam
(Dausch-Neumann 1988, Forsberg 1988, Dreyer u. Klink-Heckmann 1988, Lindqvist u. Thilander 1982). Aber auch nicht orthodontisch behandelte Patienten können im Erwachsenenalter einen Engstand entwickeln (Abb. 1213) (Meng et al. 1985).
Die Extraktionstherapie kann einen tertiären Engstand nicht
vermeiden. Der tertiäre Engstand ist damit eine neue Anomalie
im Erwachsenenalter. Einflussfaktoren wie die fehlenden Attrition, noch ablaufende Wachstumsprozesse und eine zunehmende
Verwindung des Unterkiefers durch Zunahme der Masseterfunktion werden diskutiert (Koeck u. Sander 1978). Der Weisheitszahn hat dagegen keinen wesentlichen Einfluss, (Gouvianakis u.
Drescher 1987, Kahl-Nieke 1996, Little 1999). Die Extraktionstherapie der Prämolaren nur im Oberkiefer ist nur in Ausnahmefällen indiziert, da die meisten Patienten sekundär im Follow up
einen tertiären Engstand aufweisen (Abb. 1214). Auch die Extraktion eines Frontzahns zur Engstandkorrektur bei jugendlichen
Patienten ist kontraindiziert, da trotzdem ein tertiärer Engstand
entstehen kann (Abb. 1215).
1213 Problematik Extraktions­
therapie: Tertiärer Engstand,
ohne Extraktion
Auch bei Patienten, bei denen keine
kieferorthopädische Therapie durch­
geführt wurde, kann ein tertiärer
Engstand entstehen. Daher sollte im
jugendlichen Alter ein Engstand
nicht durch umfangreiches Slicen
therapiert werden, damit im Erwach­
senenalter eine biologisch günstige,
konservative und wenig invasive The­
rapie durchgeführt werden kann.
1214 Problematik Extraktions­
therapie: Tertiärer Engstand,
Extraktion 14, 24
Bei alleiniger Extraktion im Oberkie­
fer zeigen die meisten unserer Pati­
enten im Follow up einen tertiären
Engstand oder bei festsitzenden Re­
tainern einen Kopf- oder Kreuzbiss
der Front. Die Prämolarenextraktion
nur im Oberkiefer sollte nur mit ein­
geschränkter Indikation angewendet
werden, wenn weder Protrusion
noch Engstand im Unterkiefer vorlie­
gen.
1215 Problematik Extraktions­
therapie: Tertiärer Engstand,
Extraktion 14, 24, 31
Die Extraktionstherapie sollte am
Schluss der Behandlung möglichst
eine harmonische Breitenrelation
zwischen Ober- und Unterkiefer auf­
weisen, andernfalls ist ein Wieder­
auftreten des Engstands wahrschein­
lich. Frontzahnextraktionen sollten
aufgrund eines möglichen tertiären
Engstands nicht vor dem 45. Lebens­
jahr durchgeführt werden.
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Tertiärer Engstand
469
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
Extraktionskriterien
Extraktionsentscheidung
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Die Extraktionskriterien ergeben sich aus dem Platzmangel an
sich, der durch ein Missverhältnis von Kiefer- und Zahngröße,
Mesialwanderung der Seitenzähne und Einengung der Stützzone, Protrusion der Front, Platzbedarf zur Nivellierung der
Spee-Kurve und Platzbedarf bei dentalen Mittenabweichungen
entstehen kann. Aber auch der Schädelaufbau oder das Wachstumsmuster und das vorhandene Knochenangebot fließen mit
ein. Platzbeschaffende Maßnahmen bei vertikalem Wachstumstyp sind für die Therapie häufig aufgrund des bissöffnenden Effekts nur eingeschränkt indiziert.
1216 Extraktionskriterien
Neben den Engständen sind für die
Extraktionsentscheidung der Eng­
stand im Stützonenbereich (mesiale
Aufwanderungen) und die sagittale
und axiale Position der Frontzähne
zu berücksichtigen. Der Fronteng­
stand im Oberkiefer ohne Protrusion
kann, bei geringerem Ausprägungs­
grad, durch die GNE in vielen Fällen
gelöst werden. Engstand und Protru­
sion im Oberkiefer können in der
Angle-Klasse II, bei dentaler Klasse II
und moderater skelettaler Klasse II
durch Distalisation therapiert wer­
den. Ist der Schädelaufbau jedoch
vertikal, ist eine größere Distalisati­
on, aufgrund des bissöffnenden
Effektes, nicht möglich. ln der AngleKlasse I oder III besteht die Möglichkeit der alleinigen Distalisation im
Oberkiefer nicht. Bei bialveolär pro­
trudierten Fronten mit Engstand ist
unabhängig von der Angle-Klasse
und Wachstumstyp eine Extraktions­
therapie indiziert.
Extraktionskriterium
Diagnose
Extraktion
Nonextraktion
Stützzoneneinengung im Oberkiefer
• Distalisation bringt Bissöff­
nung bei vertikalem Schä­
delaufbau
• Distalisation der Molaren bei neut­
ralem oder horizontalem Schädelaufbau, auch über größere Stre­
cken (8 mm) möglich
Stützzoneneinengung im Oberkiefer
Unterkiefer 1NB ≤ 25° und 1NB ≤ 4 mm
• Distalisation öffnet den Biss
• Oberkiefer Distalisation
• Unterkiefer Protrusion
Frontengstand im Unterkiefer
1NB > 25° und 1NB > 4 mm
• Platzbeschaffung durch
Protrusion nicht möglich
• keine Nonextraktionstherapie, da
Platzbeschaffung im Unterkiefer
nicht möglich
Stützzoneneinengung im Ober- und
Unterkiefer 1NB > 25°; 1NB > 4 mm
• Distalisation öffnet den Biss
• keine Protrusion möglich
• keine Nonextraktionstherapie
möglich durch Unterkieferprotrusi­
on
Frontengstand im Oberkiefer mit
Schmalkiefer
• bei größerem Platzbedarf
Dehnen nicht ausreichend
• bei geringerem Platzbedarf kann
durch Dehnung Engstand korrigiert
werden
Angle-Klasse I, Zahnbogenengstand der
Ober- und Unterkieferfront, retrudierte
Fronten 1NA < 22°, 1NA < 4 mm, 1NB <
25°, 1NB < 4 mm
• unerwünschte Bissöffnung
durch Protrusion
• Protrusion und transversale Erwei­
terung ergeben Platz
ausgeprägte Bolton-Diskrepanz
• ab 2. Standardabweichung
Extraktion
• kann bis 4 mm durch Slicen kom­
pensiert werden
Angle-Klasse II, protrudierte Fronten
1NA > 22°, 1NA > 4 mm, 1NB > 25°,
1NB > 4 mm
• bei sagittal kleiner apikaler
Basis Extraktion
• keine Nonextraktionstherapie
möglich, da bialveoläre Protrusion
1217 Extraktionskriterien:
Achsenposition der Fronten
Die Achsenposition der Inzisivi ist ne­
ben dem Engstand ein wichtiges Kri­
terium für die Extraktionsentschei­
dung. Bei stark abweichenden
Kieferbasen (NL-NSL und ML-NSL)
kann dies jedoch verfälscht sein und
1NL und 1ML sind dann die diagnos­
tischen Winkel, die die korrekte Ach­
se zur Kieferbasis widerspiegeln.
Mesialwanderung der Seitenzähne
Protrusion der Frontzähne
verstärkte Spee-Kurve und ungünstige Achsenposition der Frontzähne
dentale Mittenabweichung
Missverhältnis Zahn-, Kiefergröße
ausgeprägte Engstände
ausgeprägte Bolton-Diskrepanz
dentale Kompensation offener Biss, Angle-Klasse II
Karies
Ausgleichsextraktion bei Nichtanlage
N
S
N
S
NL
NL
ML
ML
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470
Extraktionskriterien
gen Zusammenhang mit dem noch stattfindenden Wachstum,
insbesondere im Unterkiefer, bei dem jugendlichen oder jungen
erwachsenen Patienten (Björk 1969). Die Möglichkeiten der
Platzgewinnung durch Protrusion sind daher auch individuell
eingeschränkt. Therapeutische Maßnahmen zur Platzgewinnung
sind funktionell, anatomisch und biomechanisch nach dem Schädelaufbau der Patienten zu selektieren (Tab. 1218). Platzbeschaffende Maßnahmen bei vertikalem Schädelaufbau führen entweder zu einer unerwünschten Bisshebung oder sind weniger
effektiv. Auch die therapeutischen Maßnahmen unterscheiden
sich in ihrer Effizienz bei vertikalem oder horizontalem Schädelaufbau.
therapeutische
Maßnahme
neutraler/horizontaler Schädelaufbau
vertikaler Schädelaufbau
transversale
Dehnung
• mit aktiven Platten oder GNE möglich
• Bissöffnung erwünscht
• GNE
• Dehnung mit aktiven Platten öffnet den
Biss
Protrusion der
Frontzähne
• sagittal häufig ausreichend apikale Basis
• Bissöffnung erwünscht
• sagittale kleine apikale Basis
• Bissöffnung muss kontrolliert werden
Distalisation
• retromolar häufig genügend Platz, Distali­
sation 1 Pb unproblematisch
• Distalisationsmechaniken können einge­
setzt werden
• retromolar wenig Platz, nur geringe Dista­
lisation möglich (2 bis maximal 4 mm).
• Eingeschränkte orthodontische Mechani­
ken
Funktionskiefer­
orthopädie
• Alle funktionskieferorthopädischen Appa­
raturen können eingesetzt werden.
• skelettale Anomalien Sander-II- oder -III-Ap­
paratur
• Sander-II-Apparatur
• Sander-III-Apparatur
• Federaktivator
Extraktionstherapie
• bei frühem Behandlungsbeginn und 2-Pha­
sen-Therapie in 80–90% der Patienten
Nonextraktionstherapie möglich
• aufgrund der eingeschränkten Mechani­
ken zur Platzbeschaffung häufiger Extrakti­
on 40%–50%
Straight-WireMechanik
• Andrews-Technik
• Benett-McLaughlin-Trevesi-Technik (Gleit­
bogenmechanik)
• Benett-McLaughlin-Trevesi-Technik (modifi­
zierte Gleitbogenmechanik/Teilbogentech­
nik
• High-Torque-Brackets
Setzen der
Brackets
• 0,5 mm weiter inzisal zur Korrektur des
Overbites
• 0,5 mm weiter apikal zur Korrektur des
Overbites
• bei Extraktionspatienten Mitte klinische
Krone
1218 Einfluss des Schädelaufbaus
oder Wachstumsmusters auf
die Therapie­ und Extrakti­
onsentscheidung
Das Wachstumsmuster oder der
Schädelaufbau der Patienten haben
einen Einfluss auf die Extraktionsent­
scheidung. Therapeutische Maßnah­
men zur Platzbeschaffung wie trans­
versale Dehnung, Protrusion der
Front und Distalisation der Molaren
sind bei einem vertikalen Schädelauf­
bau nur eingeschränkt indiziert. Dies
steht in einem engen Zusammen­
hang mit der knöchernen Situation
dieser Patienten. Bei Patienten mit
einem horizontalen Schädelaufbau
ist das Knochenangebot meist trans­
versal und sagittal ausreichend für
die Durchführung von Zahnbewe­
gungen in allen 3 Ebenen des Rau­
mes. Bei vertikalem Schädelaufbau
findet sich bei ausgeprägten Patien­
ten eine kleine knöcherne Basis
transversal und sagittal. Dies
schränkt neben der Tendenz zum of­
fenen Biss die therapeutischen Bewe­
gungsmöglichkeiten erheblich ein.
Zusätzlich kommt hinzu, dass kon­
servative Mechaniken bei Patienten
mit vertikalem Schädelaufbau zur
Platzbeschaffung weniger effektiv
sind. Aus diesen Gründen ist die
Möglichkeit, Patienten mit vertika­
lem Schädelaufbau per Nonextrakti­
on zu behandeln, eingeschränkt und
die Indikation zur Extraktion wird bei
bestehendem Platzmangel eher ge­
stellt. Bei ausgeprägtem Platzmangel
ist die Extraktionstherapie auch bei
horizontalem Schädelaufbau erfor­
derlich.
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Die einfachste Möglichkeit, Platz in der orthodontischen Therapie zu gewinnen, ist die Protrusion oder Proklination der Frontzähne im Ober- und Unterkiefer. Gleichzeitig ist jedoch die anatomisch vorgegebene Position der Zähne im Knochen zu
gewährleisten. Daher kommt der Betrachtung der Frontzahnachsen eine besondere Bedeutung zu (Tab. 1216). Nicht jede bestehende Frontzahnprotrusion führt dabei zu Extraktionsentscheidung. Zusätzliche Parameter wie Engstand und oder die Funktion
der Muskulatur und der Schädelaufbau der Patientin fließen mit
ein. Langzeituntersuchungen von orthodontisch behandelteten
Patienten zeigen, dass sich die Frontzahnachsen tendenziell in
die Ausgangsposition oder darüber hinaus aufrichten (Little et al.
1981, Lombardi 1972, Siatkowski 1974). Dies steht in einem en-
471
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
VTO
schem Bewegungsplan der Einzelzähne und Zahnsegmente
(McLaughlin und Bennett 1999). Insbesondere in Klasse-II-Anomalien ist bei größeren Platzdefiziten eine zusätzliche Distalisation der Oberkiefer-Molaren erforderlich (Abb. 1220 –Abb. 1223).
Während der orthodontischen Extraktionstherapie ist ein visualisierter Bewegungsplan ein wichtiges Hilfsmittel (Abb. 1219).
Für die Extraktionsentscheidung ist eine genaue Platzanalyse erforderlich. Dabei muss entschieden werden, wie das Verhältnis
von Platzbedarf und Platzangebot ist und ob der Platzbedarf
durch therapeutische Maßnahmen Distalisation, Protrusion, Expansion und Slicen ausgeglichen werden kann oder ob eine Extraktionstherapie erforderlich ist. Das VTO (Visual Treatment Objectives) (Abb. 1219) ist die Visualisierung des bestehenden
Platzmangels, die sich aus der Diagnostik der Modellanalyse und
Kephalometrie ergibt, und der Therapieplan mit orthodonti-
Vorteile VTO
• Platzangebot/Platzbedarfsanalyse
• Einbezug der Molaren zur Einstellung einer Angle-Klasse I
• Bewegungsplan für orthodontische Therapie
1219 VTO
Bei Anwendung des VTO (McLaugh­
lin u. Bennett 1999) wird primär der
Anfangsbefund der Okklusion festge­
halten und die Molarenposition in ei­
nem dem Zahnarztschema vergleich­
baren Schaubild eingetragen.
Mittenabweichungen der Front wer­
den ebenfalls notiert. So kann später
die Molarenposition bei der Platzbe­
darfsanalyse und dem orthodonti­
schen Bewegungsplan bei Extrakti­
onspatienten berücksichtigt werden.
In einem weiteren Schritt werden
Platzangebot (+) und Platzbedarf (-)
eingetragen. Das Platzdefizit ergibt
sich durch gemessene Engstände in
der Front (3–3) und im Seitenzahn­
bereich (6–6), dental der Mittenab­
weichung (Frontmittenverschie­
bung), Protrusion der Front und
Nivellierung der Spee-Kurve. Das
Platzangebot ergibt sich durch Lee­
way Space, Mittenabweichung und
Retrusion der Front.
Anfangsbefund Okklusion
1 mm
1/2 Pb
Molarenposition
Platzanalyse
Platzangebot (+)
Platzbedarf (–)
1. Korrektur der Mittenabweichung
(Frontmitte), Ober- und Unterkiefer
2. Platzbedarf für UK-Eckzähne 3–3
(Beispiel 10 mm)
3. Bewegung des 1. UnterkieferMolaren für den Lückenschluss (Dif­
ferenz aus Platzangebot durch Ex­
traktion [7 mm] und Bewegung des
3ers [5 mm]; 7 mm – 5 mm = 2 mm)
5. Bewegung des OK-Eckzahns (Ex­
traktionslücke [7 mm] + Distalisation
OK-Molar [2 mm] = 9 mm)
Beispiel:
Die Analyse zeigt visualisiert, dass
vor der orthodontischen Therapie
eine Distalisation der Molaren erfor­
derlich ist und die Molaren im Ober­
kiefer maximal verankert werden
müssen.
Molarenposition
Frontmitte
(UK 1 mm rechts)
Der orthodontische Bewegungsplan
wird anhand eines Schaubilds festge­
halten. Folgende Parameter werden
eingetragen:
4. Bewegung des OK-Molaren (Diffe­
renz Angle-Klasse II und Mesialisie­
rung UK-Molar, bei Klasse II ½ Pb
[Prämolarenbreite] 4 mm – 2 mm
= 2 mm)
1/2 Pb
Bewegungsplan
Eckzahn
Molar
2
–3
–1
–3
–1
–2
–2
–1
–1
+1
–1
–5
–5
–5
–5
3×3
Engstand UK
6×6
Protrosion/
Retrusion
Nivellierung
Spee-Kurve
Mittellinie
3×3
total UK
6×6
Mitte
9
Eckzahn
Molar
2
9
(7)
(7)
(7)
(7)
1
5
2
5
2
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472
VTO
473
1220 Problematik Extraktions­
therapie: Zusätzliche
Distalisation im Oberkiefer
Trotz Extraktionstherapie kann es bei
Angle-Klasse-II-Patienten und Protru­
sion und Engstand der Unterkiefer­
front zu einem zusätzlichen Distalisa­
tionsbedarf im Oberkiefer kommen.
Der Platz, der durch Extraktion der
Prämolaren gewonnen wird, wird
durch die Retrusion der Unterkiefer­
front aufgebraucht. Dies macht bei
Angle-Klasse II eine zusätzliche Dista­
lisation im Oberkiefer erforderlich.
Die zusätzlich erforderliche Distalisa­
tion kann in diesen schwierigen
Extraktionspatienten vor der ortho­
dontischen Therapie mit
Distalisationsapparaturen oder wäh­
rend der Führungsphase der ortho­
dontischen Behandlung mit NiTiDruckfedern erfolgen. Aufgrund der
Distalrotation und Nebeneffekte der
Front (Protrusion) ist jedoch das Aus­
maß der Distalisation in der Füh­
rungsphase auf 2–3 mm begrenzt.
Die Oberkieferfront wird über KlasseII-Züge verankert.
1222 Problematik Extraktions­
therapie: Distalisation Ober­
kiefer, NiTi­Druckfeder,
Mikroschraube und TPA
Wird die NiTi-Druckfeder mit einer
Mikroschraube kombiniert, kann zu­
sätzlich ein TPA eingesetzt werden.
Die Front muss nicht über Klasse-IIZüge verankert werden. Dies ist bei
vertikalem Schädelaufbau oder, wie
bei dieser Patientin, bei parodonta­
len Problemen in der Front von Vor­
teil. Eine Distalisation des 1. und 2.
Molaren kann bei Angle-Klasse II und
Extraktion bis 4 mm erfolgen.
1223 Problematik Extraktions­
therapie: Distalisation
Oberkiefer, Gleitbogen
Mit einem zusätzlich gebogenen Teil­
bogen aus einem runden Laborstahl­
draht kann ebenfalls über eine Klas­
se-II-Zug-Mechanik ein geringer
Distalisationseffekt von 2 mm erzielt
werden. Die Limitation bei Extrakti­
onspatienten ergibt sich aus der Kon­
traindikation von Klasse-II-Zügen bei
vertikalem Schädelaufbau und der
zeitlich zu begrenzenden Anwen­
dung von Klasse-II-Zügen.
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1221 Problematik Extraktions­
therapie: Distalisation Ober­
kiefer, NiTi­Druckfeder
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
Restlücken
Nach Extraktionstherapie können Restlücken zurückbleiben. Die
Ursachen hierfür können unterschiedlich sein. In der Anfangsdiagnostik oder spätestens vor dem Lückenschluss sollte bei Extraktionspatienten eine Bolton-Analyse durchgeführt werden, um
etwaige Adhäsivaufbauten mit einzuplanen. Restlücken können
auch entstehen, wenn trotz Extraktionstherapie im Unterkiefer
noch eine Protrusion der Front besteht. Für den Lückenschluss
müsste die Oberkieferfront ebenfalls übertorquet werden. Obwohl die Ätiologie der Gingivaduplikatur kontrovers diskutiert
wird (Reichert et al. 2012, Wehrbein et al. 1993, 1995), konnten
wir bei unseren Patienten beobachten, dass zu schnelle Bewe-
gungen von Zähnen durch Ketten oder Klasse-II-Züge zu Gingivaduplikaturen und einer Öffnung der Extraktionslücke führen
können (Abb. 1224–Abb. 1226).
Restlücken nach Extraktionstherapie
• Bolton-Diskrepanz (zu schmale Schneidezähne im Oberkiefer)
• Protrusion der Unterkieferfront (kein Lückenschluss im Oberkiefer mög­
lich)
• Gingivaduplikaturen
• zu schnelle Bewegung der Zähne
1224 Problematik Extraktions­
therapie: Restlücken
Bei dem Patienten wurde im Ober­
kiefer ein Frontengstand durch Ex­
traktion von 2 Prämolaren durchge­
führt und mit einer orthodontischen
Straight-Wire-Apparatur die Lücken
geschlossen. Bei dem Patienten lag
eine Bolton-Diskrepanz vor, die so­
wohl die anteriore als auch posterio­
re Ratio betrifft. Die Prämolaren im
Oberkiefer sind schmal.
1225 Problematik Extraktions­
therapie: Restlücken
Bei dem Patienten zeigt sich im Ver­
lauf der Retention eine Öffnung der
Extraktionslücke posterior des Eck­
zahns. Ober- und Unterkieferfront
sind über einen festsitzenden Retai­
ner stabilisiert. Da die Okklusion kor­
rekt ist, kann die Lücke nur durch ei­
nen Aufbau am Prämolaren und
Eckzahn geschlossen werden. Die Re­
tention kann dann bis zum Prämola­
ren expandiert werden.
1226 Problematik Extraktionsthe­
rapie: Gingivaduplikaturen
Als Nebeneffekt des Lückenschlusses
bei Extraktionspatienten können Gin­
givaduplikaturen auftreten. Diese
führen nach Entfernung der ortho­
dontischen Apparatur zu einer Öff­
nung der Extraktionslücke und sind
daher zu vermeiden. Bei Auftreten
müssen sie chirurgisch entfernt und
die Lücke dann geschlossen werden.
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474
Resorptionen
Bei der Extraktionstherapie werden die Zähne, insbesondere bei
der Klasse-II-Anomalie, im Oberkiefer über größere Strecken bewegt. Dies ist ein Risikofaktor für Resorptionen (Taner et al.
1999). Die Kompensation von Klasse-II-Anomalien im permanenten Gebiss durch Extraktionstherapie wird daher in unserem
Behandlungskonzept auf einen Overjet von 3–4 mm begrenzt.
Auch der Tiefbiss kann in einem Extraktionspatienten das Ausmaß oder die Strecke der Wurzelbewegung erhöhen. Zur Reduktion der auftretenden Spannungen an der Wurzelspitze gehen
wir in unserem Behandlungskonzept zweiphasig vor. Im ersten
Schritt wird die Front vor der Kontraktionsphase intrudiert. In
der zweiten Phase wird dann die Front retrahiert. Dies ist nur
möglich, wenn die Front nicht protrudiert steht, da protrudierte
Inzisivi nur unzureichend intrudiert werden können (s. Kap. Behandlung des Tiefbisses). Gleichzeitig werden durch initiale Intrusion vor der Retraktion Frühkontakte und Jiggling der Inzisivi
während der Retraktion vermieden (Abb. 1227–Abb. 1229).
Orthodontische Resorptionsrisiken: Extraktionstherapie
• Overjet ≥ 3–4 mm, zu schmale Schneidezähne im Oberkiefer
• Tiefbiss
• Bewegungsstrecke der Wurzeln im Oberkiefer
• allgemeine, nicht extraktionsspezifische Gründe (s. Kap. Grundsätzliche
Problematiken in der Kieferorthopädie)
1227 Problematik Extraktions­
therapie: Orthodontische
Resorptionsrisiken
Bei der Patientin zeigt sich eine
Angle-Klasse II/1 mit stark vergrößer­
tem Overjet. Sagittal besteht eine
kleine apikale Basis. Zur Kompensation der Klasse-II-Anomalie wurden
im Oberkiefer 2 Prämolaren extra­
hiert und die Front retrahiert. Bei ei­
nem Overjet von ≥ 3–4 mm besteht
ein erhöhtes Risiko für Resorptionen.
1228 Problematik Extraktions­
therapie: Röntgenbilder vor
und nach der orthodonti­
schen Extraktionstherapie
Die Einzelaufnahmen vor (links) und
nach der Korrektur der Klasse-II-Ano­
malie (rechts) zeigen bei der Patien­
tin im Bereich der Oberkieferfront
Resorptionen. Neben allgemeinen
Faktoren ist die große Bewegungs­
strecke sagittal und vertikal ein
zusätzlicher Faktor. Bei achsenge­
rechten Inzisivi und skelettaler Kom­
ponente ist bei Klasse-II-Anomalien
die orthognathe Chirurgie zu bevor­
zugen.
1229 Problematik Extraktions­
therapie: Resorptionen,
2­Phasen­Therapie
Zur Reduktion der Bewegungsstre­
cke in Extraktionsfällen wenden wir
bei Klasse-II-Anomalien und im
Wachstum befindlichen jugendlichen
Patienten die 2-Phasen-Therapie an
und versuchen, ausschließlich durch
orthodontsche Maßnahmen, die
Kompensation eines großen Overjets
zu vermeiden. Die systematische Ex­
traktionstherapie kann dabei auch
bei vertikalem Schädelaufbau mit
der Sander-II-Apparatur kombiniert
werden.
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Resorptionen
475
Kieferorthopädische Problematik der Extraktionstherapie
Segmentbogentechnik
Die Segmentbogentechnik setzen wir bei Extraktionspatienten
mit Protrusion und Engstand, Zahnbewegungen ≥ 4 mm, ausgeprägter Angle-Klasse II und Overjet von ≥ 4 mm ein (Abb. 1230–
Abb. 1232). Durch die Segmentbogentechnik wird in diesen Fällen sichergestellt, dass ein Jiggling und damit eine biologisch
ungünstige Zahnbewegung vermieden wird. Bei größeren Bewegungsstrecken ermöglicht der Teilbogen, die in der Gleitbogenmechanik ungünstigen Friktionskräfte zwischen Bogen und Bracket während der Führungsphase zu vermeiden. Damit ist es
möglich, einen Großteil der Patienten ohne maximale Verankerung zu therapieren.
Indikation Segmentbogentechnik mit Extraktionstherapie
• Protrusion und Engstand der Front
• Zahnbewegung ≥ 4 mm
• Angle-Klasse II > ½ Prämolarenbreite (Pb)
• Retraktion der Front ≥ 4 mm
• ausgeprägter Tiefbiss
1230 Problematik Extraktions­
therapie: Segmentbogen­
technik, Eckzahnretraktion
Teilbögen können zur Distalisation
des Eckzahns in Extraktionspatienten
eingesetzt werden. Die Indikation er­
gibt sich bei Protrusion und Eng­
stand der Front und großen Bewe­
gungsstrecken. Durch den Teilbogen
können die Friktionskräfte zudem re­
duziert werden. Dies erleichtert in
den meisten Patienten die Veranke­
rung und verbessert die Effizienz der
Zahnbewegung.
1231 Problematik Extraktions­
therapie: Segmentbogen­
technik, Intrusion
Insbesondere in der Extraktionsthe­
rapie ist vor der Retraktion der Front
eine Intrusion der Inzisivi erforderlich
oder die vertikale Relation der Front
darf zumindest nicht verloren gehen,
auch bei vertikalem Schädelaufbau.
Dies berücksichtigen wir bereits in
der Nivellierung mit NiTi-Tip-backMechaniken, wenn Teilbögen zur Dis­
talisation eingesetzt werden. Bei der
Gleitbogenmechanik können NiTiOverlay-Bögen distal der seitlichen
Frontzähne eingesetzt werden.
1232 Problematik Extraktionsthe­
rapie: Segmentbogentech­
nik, segmentierte Intrusion
Eine segmentierte Intrusion ist in Ex­
traktionsfällen erforderlich, in denen
ein ausgeprägter Tiefbiss vorliegt
und durch eine Overlay-Technik nicht
genügend vertikaler Effekt erzielt
werden kann oder die Achsenpositi­
on der Inzisivi so ungünstig ist, dass
durch konventionelle Techniken kein
Intrusionseffekt zu erwarten ist. In
unserem Patientengut sind dies vor­
wiegend erwachsene Patienten.
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476
Modifizierte Gleitbogenmechanik
Die modifizierte Gleitbogenmechanik ist in unserem Behandlungskonzept eine Gleitbogenmechanik mit vereinfachten Teilbogenkomponenten, damit die Zähne kontrolliert und ausschließlich in eine Richtung bewegt werden (Abb. 1233 u.
Abb. 1234). Die Teilbögen verhindern, dass während der Nivellierung die Zähne unkontrolliert protrudiert werden. Dies kann
beim Slicen oder bei der Distalisation der Eckzähne eingesetzt
werden. Die reine Gleitbogenmechanik ist nur in Patienten mit
Protrusion ohne Engstand der Front, Retrusion der Front, Bewegungsstrecken am Bogen bis 3 mm und vorwiegend der AngleKlassen I und III indiziert (Abb. 1235).
Indikation modifizierte Gleitbogenmechanik
• Protrusion ohne Engstand der Front
• Retrusion der Front
• Angle-Klasse I
• Angle-Klasse III
• Retraktion der Front bis 3 mm
1233 Problematik Extraktionsthe­
rapie: Modifizierte Gleitbo­
genmechanik, Frontengstand
Bei einem Frontengstand mit ach­
sengerechten oder protrudierten In­
zisivi ist eine modifizierte Gleitbo­
genmechanik indiziert, um die
Inzisivi nicht unkontrolliert während
der Nivellierung zu protrudieren. Bei
der Patientin wird während der Nivel­
lierung im Unterkiefer mit Teilbögen
das Platzdefizit (Bolton-Diskrepanz)
durch Slicen ausgeglichen.
1234 Problematik Extraktions­
therapie: Modifizierte
Gleitbogenmechanik,
Frontprotrusion
Die Patientin wird mit einer modifi­
zierten Teilbogenmechanik behan­
delt, da in einer früheren orthodonti­
schen Behandlung die Frontzähne,
insbesondere im Unterkiefer, stark
protrudiert wurden. Labial bestehen
dadurch bereits Gingivadehiszenzen
der Unterkiefer-Inzisivi. Während der
Distalisation der Eckzähne entsteht
durch die muskulären Effekte bereits
eine gewisse Retrusion der Front.
Dies erleichtert später die Kontrakti­
onsphase.
1235 Problematik Extraktions­
therapie: Gleitbogen­
mechanik, Frontretrusion,
achsengerechte Front
Die reine Gleitbogenmechanik kann
bei Patienten mit achsengerechten
oder retrudierten Fronten, geringer
Bewegungsstrecke und geringer ver­
tikaler Abweichung eingesetzt wer­
den. In der Regel sind dies
Extraktionspatienten mit Klasse-Ioder Klasse-III-Anomalien. Bei der
Klasse-III-Anomalie ist, vergleichbar
mit Klasse II im Unterkiefer, darauf
zu achten, dass die Front nicht un­
kontrolliert retrudiert.
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Modifizierte Gleitbogenmechanik
477
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