Bachelorarbeit Ressourcenallokation im Gesundheitswesen aus

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Bachelorarbeit
Ressourcenallokation im Gesundheitswesen aus
ethischer Perspektive
eingereicht von
Hudler Anna-Katharina
14. August 1983
zur Erlangung des akademischen Grades
Bachelor of Science (BSc)
der Gesundheits- und Pflegewissenschaft
an der
Medizinischen Universität Graz
Begutachterin:
Mag.phil. Dr.phil. Susanna Schaffer
Auenbruggerplatz 24
8036 Graz
Lehrveranstaltung:
„Evidence based nursing“
Graz, am 17. August 2013
EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet habe und die den
benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.
Weiters erkläre ich, dass ich diese Arbeit in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt habe.
Graz, am 17. August 2013
_____________________________
Unterschrift
I
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS .................................................................................................... III
ZUSAMMENFASSUNG ................................................................................................................ IV
SUMMARY ....................................................................................................................................... V
1
EINLEITUNG ............................................................................................................................. 1
2
AUFBAU UND LITERATURRECHERCHE ......................................................................... 2
3
DAS GESUNDHEITSWESEN – EIN THEMA FÜR DIE ETHIK? ..................................... 3
3.1
WAS IST ETHIK? ..................................................................................................................... 3
3.2
GERECHTIGKEIT ..................................................................................................................... 5
3.2.1 Verteilungsgerechtigkeit .................................................................................................... 5
3.2.2 Soziale Gerechtigkeit ......................................................................................................... 6
4
5
3.3
GESUNDHEITSWESEN – EINE BEGRIFFSBESTIMMUNG ............................................................. 6
3.4
RESSOURCENKNAPPHEIT IM GESUNDHEITSWESEN ................................................................. 8
STRATEGIEN IM UMGANG MIT DER RESSOURCENKNAPPHEIT.......................... 11
4.1
RESSOURCENAUFSTOCKUNG ................................................................................................ 11
4.2
RATIONALISIERUNG ............................................................................................................. 12
4.3
PRIORISIERUNG .................................................................................................................... 13
4.4
RATIONIERUNG..................................................................................................................... 16
4.5
RATIONALE ALLOKATION .................................................................................................... 19
ALLOKATION VON RESSOURCEN AUS ETHISCHER SICHT ................................... 21
5.1
ETHISCHE ASPEKTE DER PRIORITÄTENSETZUNG .................................................................. 22
5.1.1 Formale Kriterien einer gerechten Priorisierung ........................................................... 23
5.1.2 Inhaltliche Kriterien einer gerechten Priorisierung ........................................................ 24
5.2
ETHISCHE ASPEKTE DER RATIONIERUNG ............................................................................. 27
5.2.1 Grundlegende Rationierungs-Prinzipien ......................................................................... 28
5.2.2 Rationierungskriterien bei der Allokation von Gesundheitsgütern ................................. 29
FAZIT ............................................................................................................................................... 34
LITERATURVERZEICHNIS ........................................................................................................ 36
II
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABBILDUNG 1: RATIONIERUNG, RATIONALISIERUNG UND RATIONALE ALLOKATION (OFFERMANNS
2011, S. 35) ................................................................................................................................. 20
III
ZUSAMMENFASSUNG
In den Gesundheitssystemen der Länder mit moderner medizinischer Versorgung kommt es zu einer
steigenden Ressourcenknappheit. Die Schere zwischen den Einnahmen und den Ausgaben
innerhalb des Gesundheitswesens wird immer breiter. Schon heute kann die Nachfrage nach
Leistungen im Gesundheitssektor nicht mehr aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen gedeckt
werden, was zu einem zunehmenden Auseinanderdriften des medizinisch Möglichen mit dem
solidarisch Finanzierbaren kommt. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Ressourcenallokation
im Gesundheitswesen ist daher unumgänglich.
Im Umgang mit der Mittelknappheit im Gesundheitswesen gibt es eine Handvoll verschiedener
Lösungsansätze. Im Zentrum der Diskussionen stehen neben dem Begriff der Rationalisierung vor
allem auch die Begriffe der Priorisierung und Rationierung. Unter Rationalisierung kann das
Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven verstanden werden, welches zu einer
Effizienzsteigerung führt. Rationalisierungsmaßnahmen alleine werden jedoch nicht in der Lage
sein, den Kostendruck im Gesundheitswesen auszugleichen. Priorisierungen – die Anordnung
medizinischer Leistungen nach sinkender Wichtigkeit, und Rationierungen – das Vorenthalten von
Leistungen, können parallel dazu Anwendung finden. Obwohl Rationierung als das härteste
Instrument im Umgang mit knappen Gütern darstellt und möglichst vermieden werden sollte, findet
diese in verdeckter Form bereits in unseren Gesundheitssystemen statt.
Ein verantwortungsvoller Umgang mit begrenzten Mitteln im Gesundheitswesen zählt nicht nur zu
den ökonomischen und medizinischen, sondern auch zu den ethischen Herausforderungen der
Zukunft. Ein gerechter Zugang zur Gesundheitsversorgung, sowie das Festlegen ethischer Kriterien,
nach denen die Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen erfolgen soll, ist daher unerlässlich.
IV
SUMMARY
Today, there is a growing scarcity of recourses in healthcare systems of countries offering modern
medical care. The problem is not only that the gap between income and expenditures within the
health system is broadening but also that the demand within the health sector cannot be covered
anymore with the available resources. Consequently, there is an increasing divergence in those
aspects that are possible and those that are financeable. Therefore it is essential to face up to the
allocation of resources in the health system.
When dealing with shortages within the health system, there are a handful of possible approaches
like rationalization, prioritization and rationing. Rationalization can be described as the exploit of
profitability reserves in order to increase efficiency.
However, to deal with the increasing cost pressure further measures like prioritization (the
arrangement of medical services by decreasing importance) and the rationing (to withhold
performances) are needed. Even though rationing is the toughest instrument when dealing with
scarce resources and should therefore be avoided, it has already occurred in some areas of the
healthcare system.
A responsible use of scarce resources in the health system is not only an economic and medical
challenge but also an ethical one. For the future it is therefore indispensible to enable a justice
access to health care and to determine ethical criteria how resources can be distributed within the
health system.
V
1
EINLEITUNG
„Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.“ (Arthur Schopenhauer)
Die demografische Entwicklung und der technologische Fortschritt führen zu einer zunehmenden
Verknappung der finanziellen Ressourcen – und machen auch im Gesundheitswesen nicht Halt.
Diese Knappheit an Gesundheitsgütern und deren gerechte Verteilung zählen zu den komplexen
Herausforderungen der heutigen Medizin. Der steigenden Nachfrage nach Gesundheitsleistungen
steht – auch in Österreich – nur ein begrenztes Angebot gegenüber. „Ressourcenknappheit“ und
„Kostenexplosion“ sind im heutigen Gesundheitswesen keine Fremdwörter mehr.
Aus dieser Ressourcenknappheit und Kostenexplosion resultiert die schwierige Frage, ob das
Gesundheitswesen auch weiterhin die hohen Standards der medizinischen Versorgung zu halten
vermag, oder ob kostendämpfende Interventionen zu einer Begrenzung des Leistungskatalogs
führen müssen. Infolgedessen kommt es zunehmend zu einer innigen Konfrontation mit den
unangenehmen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, Rationalisierung, Rationierung und
Priorisierung medizinischer Leistungen.
Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch aus ethischer Betrachtungsweise stellt dies das
Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Aus gerechtigkeitsethischer Perspektive besteht
die Problematik nun darin, wie man diesen Herausforderungen in einer ethisch vertretbaren Art und
Weise entgegentreten soll, um einen fairen Zugang zu den Gesundheitsleistungen zu ermöglichen.
Es stellt sich nun die Frage, nach welchen Kriterien knappe Gesundheitsleistungen verteilt werden
sollen? Trotz vieler politischer Diskussionen rund um die Gesundheitsreformen ist es noch immer
problematisch zu erkennen, welche Kriterien geeignet sind für eine wirtschaftliche, aber auch
gerechte und ethisch vertretbare (Um-) Verteilung und Priorisierung von Gesundheitsleistungen.
Ziel dieser Bachelorarbeit ist es, einen Überblick über einzelne Möglichkeiten der Verteilung von
Gesundheitsressourcen zu geben. Es werden sowohl theoretische Grundlagen der
Ressourcenallokation im Gesundheitswesen als auch die Wichtigkeit des ethischen Aspektes in
diesem Bereich erläutert.
1
2
AUFBAU UND LITERATURRECHERCHE
Die vorliegende Bachelorarbeit ist in drei Kapitel aufgeteilt: „Das Gesundheitswesen – ein Thema
für die Ethik?“, „Strategien im Umgang mit der Ressourcenknappheit“ sowie
„Ressourcenallokation im Gesundheitswesen aus ethischer Perspektive“.
Im ersten Kapitel werden grundlegende Begriffe wie Ethik, Gerechtigkeit oder das
Gesundheitswesen definiert. Überdies werde ich auf die Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen
näher eingehen, um ein besseres Verständnis der Thematik zu erlangen.
Im zweiten Teil meiner Arbeit werden die einzelnen Strategien im Umgang mit der
Ressourcenknappheit dargestellt, voneinander abgegrenzt und näher erklärt.
Wie die ethische Perspektive bei der Ressourcenallokation im Speziellen aussieht wird im dritten
Kapitel erläutert. Hierbei richtet sich der Fokus insbesondere auf die Verteilungsverfahren
„Priorisierung“ und „Rationierung“.
Folgende Forschungsfragen sollen im Rahmen der Bachelorarbeit beantwortet werden:
-
»Welche Strategien im Umgang mit der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen gibt
es?« und
-
»Wie sind diese aus ethischer Perspektive zu betrachten?«
Hierfür habe ich wissenschaftliche, zur ausgewählten Thematik relevante Literatur aus den
Bibliotheken der Medizinischen Universität Graz und der Karl-Franzens-Universität Graz, aus der
Datenbanken Pubmed, sowie aus diversen E-Journals ausgewählt.
Die Ergebnisse meiner Arbeit werden im Rahmen der Schlussfolgerung beschrieben und reflektiert.
2
3
DAS GESUNDHEITSWESEN – EIN THEMA FÜR DIE ETHIK?
Eine philosophische Debatte über Gerechtigkeit und Gleichheit in der Gesundheitsversorgung ist
erforderlich – denn kein finanziell noch so gut ausgestattetes Gesundheitssystem der Welt kommt
daran vorbei, Leistungsbeschränkungen in der einen oder anderen Weise vorzunehmen (Gutmann
2006, S. 31).
Dieses Kapitel soll als Einführung in die Thematik „Ethik im Gesundheitswesen“ dienen, und
spiegelt die grundlegenden Aspekte wider. Es wird versucht, in kurzer und verständlicher Weise
den Begriff Ethik zu erläutern und von dem Begriff Gerechtigkeit zu differenzieren. Des Weiteren
wird ein kurzer Überblick über die Institution Gesundheitswesen, mit speziellem Fokus auf das
österreichische, gegeben. Abschließend wird die Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen näher
erörtert, um ein besseres Verständnis für die nachfolgenden Kapitel meiner Arbeit zu geben.
3.1
Was ist Ethik?
„Wenn die moralischen Grundlagen des Handelns brüchig werden, wenn es fraglich wird, ob
moralische Richtlinien noch tragen, dann wird nach der Ethik gerufen.“ (Wallner 2004, S. 27)
Wallner (2004) bezeichnet Ethik als ein Krisenphänomen und spricht von einem boom. Dieser tritt
vor allem dann auf, wenn die Menschen mit neuen Herausforderungen konfrontiert sind, in denen
sie mit ihren bisherigen moralischen Wertvorstellungen keine ausreichende Entscheidung treffen
können. So beispielsweise in der Naturwissenschaft, der Biomedizin, der Ökologie oder in der
Wirtschaft (Wallner 2004, S. 27). Die gegenwärtigen Probleme benötigen eine tiefgreifende
ethische Orientierung (Quante 2008, S. 9). Doch ethische Überlegungen betreffen nicht nur
Moralphilosophen oder Ethiker (Pieper 1994, S. 17). Ethik ist etwas Alltägliches und Vertrautes.
Etwas, das uns im Alltag auf vielfältige Weise begegnet. Quante (2008) betrachtet es als „unsere
Lebensform“. Und doch fällt in diesen Zeiten eine ethische Orientierung schwer und für viele
scheint die Begründung ethischer Ansprüche unmöglich zu sein (Quante 2008, S. 10).
Aristoteles (384-322) war der erste, welcher die Ethik als eine eigenständige Disziplin der
Philosophie begründete. Die Bezeichnung „Ethik“ leitet sich vom griechischen Wort ethos her:
Gewohnheit, Sitte, Brauch (Andersen 2000, S. 1; Pieper 1994, S. 24f). Ethisch handelt dabei jener
Mensch, der sein Handeln auf der Grundlage von allgemein anerkannten Normen ausrichtet. Ethos
bedeutet aber auch Charakter: Wenn ethisches Handeln aus Einsicht und Überlegung erfolgt,
verfestigt es sich zur Grundhaltung der Tugend.
3
Diese beiden griechischen Ethos-Begriffe werden im lateinischen als mos (Sitte, Charakter)
bezeichnet, von welchem sich das deutsche Wort Moral (Sitte) herleitet. Zur Moral/ Sitte zählen
jene Handlungsmuster, welche – aufgrund wechselseitiger Anerkennung – von normativer
Bedeutung sind. Diese beiden Ausdrücke kommen in ihrer Bedeutung dem nahe, was unter
Gewohnheit, Sitte und Brauch gemeint ist. Die Abstrakta Moralität/ Sittlichkeit hingegen
entsprechen mehr dem Ethos-Begriff „Charakter“: die Qualität einer Handlung, die sich als
Anspruch des Guten verpflichtet weiß.
Die Ethik befasst sich mit alle dem Moralischen zusammenhängende Probleme auf einer
allgemeineren Ebene. Sie rekonstruiert rein formal die als Voraussetzung gesehenen Bedingungen,
damit eine Handlung als moralisch bezeichnet werden kann. Die Ethik setzt nicht fest, was das Gute
ist, fällt keine moralischen Urteile. Sie begründet, sagt wie man dazu kommt, etwas als gut zu
bewerten: Sie betreibt nicht selbst Moral, sondern spricht über Moral (Pieper 1994, S. 23–26).
Die Ethik als Wissenschaft vom moralischen Handeln (Pieper 1994, S. 17) beschäftigt sich mit dem
Verhältnis von Moral und Moralität im Kontext menschlicher Praxis. Ethik wird somit auch als eine
Theorie moralischen Handelns angesehen, mit Fokus auf die Beziehung des Gedachten zum
Handeln. Das bedeutet, dass das durch die Ethik vermittelte Wissen taterzeugend sein soll, welches
sich nur in der Praxis bewährt. Die Praxis ist somit nicht nur Voraussetzung sondern auch Ziel der
Ethik (Pieper 1994, S. 57f). Andersen (2000) beschreibt auf der Grundlage von Aristoteles
Überlegungen die Ethik als „eine kritische Reflexion über unsere Vorstellungen von der richtigen
oder guten menschlichen Handlungsweise bzw. Lebensführung.“ (Andersen 2000, S. 2)
In der Ethik werden im Groben zwei Ebenen ethischer Herangehensweisen unterschieden: die
deskriptive und die normative Methode. In der deskriptiven Methode werden Handlungs- und
Verhaltensweisen in einer Gruppe von Menschen untersucht, um ihre Wertvorstellungen zu
erfahren (Pieper 1994, S. 12f). Diese Kategorie der Ethik beschreibt also, nach welchen Normen
eine Gesellschaft oder Gemeinschaft sich orientiert bzw. lebt. Demgegenüber geht es in der
normativen Ethik um eine ethische Überlegung, welche eine Stellungnahme enthält, wie etwa eine
Verteidigung oder das Abweisen einer Norm (Andersen 2000, S. 7–9). Diese Form der Ethik muss
Kriterien schaffen, die ermöglichen moralische Handlungen ohne Vorwegnahme zu beurteilen.
Normative Methoden in der Ethik dürfen keine direkten Handlungszuweisungen geben, wie etwa „
In der Sachlage A muss b getan werden“. Das deskriptive (beschreibende) Verfahren hält also fest
was der Fall ist, das normative (vorschreibende) Verfahren was der Fall sein soll (Pieper 1994,
S. 13). Ein Beispiel der deskriptiven Ethik: „Mitglieder der katholischen Kirche betrachten
Abtreibung nach pränataler Diagnostik als falsch“ (Andersen 2000, S. 7). Hingegen dazu ein
4
Beispiel der normativen Ethik: „Es ist verwerflich, nach einer pränatalen Diagnostik abzutreiben,
denn es ist eine Übertretung der fundamentalen Norm, dass man einen anderen Menschen nicht
töten darf.“ (Andersen 2000, S. 9)
3.2
Gerechtigkeit
Gerechtigkeit ist ein Grundbegriff der Ethik. Er dient dazu, soziale Beziehungen, menschliche
Handlungen und gesellschaftliche Ordnungen zu bewerten, d. h. zu legitimieren bzw. zu kritisieren.
„Gerechtigkeit“ ist wie viele andere derartige Begriffe inhaltlich nicht nur vage und diffus, sondern
auch sehr komplex und vielschichtig (Koller 2001, S. 19). Er ist ein umstrittenes Ideal und gehört
nicht nur zu den meist gebrauchten, sondern auch zu dem am meisten missbrauchten Begriffe der
moralischen Diskussion. Im Gesundheitswesen taucht der Gerechtigkeitsbegriff vor allem im
Zusammenhang mit der „Verteilungsgerechtigkeit“ bzw. der „sozialen Gerechtigkeit“ auf (Wallner
2004, S. 133).
3.2.1 Verteilungsgerechtigkeit
Aristoteles zufolge handelt es sich bei der Verteilungsgerechtigkeit um die proportional
angemessene Austeilung von Gütern im Gemeinwesen. Es gibt Diskussionen über die Verteilung
von Güter: welche werden vom Staat verteilt und welche nicht (z. B. die öffentliche
Gesundheitsversorgung), welche kommen in diesem Zusammenhang dem Gedanken der Gleichheit
zu und welche Verteilungskriterien (z. B. Alter, Nutzen) werden zugrunde gelegt? Für Diskussionen
sorgt auch die Frage, welche Rolle der Gleichheit der Verteilungsgerechtigkeit zukommt.
Hinsichtlich gewisser Aspekte, wie beispielsweise Menschsein, Würde oder Grundbedürfnisse, sind
faktisch alle Menschen gleich. Ungleich sind sie hingegen im Hinblick auf andere Aspekte wie etwa
Begabung, Verdienste oder Gesundheitszustand. Bei der Verteilungsgerechtigkeit geht es nun
darum, welche Aspekte bei der Austeilung von bestimmten Gütern nun jeweils relevant sind und
welche nicht (Dietz 2011, S. 266f). Im Gesundheitswesen ergeben sich Schwierigkeiten der
Verteilungsgerechtigkeit auf zwei Ebenen. Auf der Systemebene kommt es zur Konfrontation mit
der Frage nach den Grundprinzipien der Organisation einer gerechten Gesundheitsversorgung:
freier Markt oder zentral organisiertes öffentliches Gesundheitswesen? Bei einem (zumindest
teilweise) staatlich organisierten Gesundheitssystem kommt es auf einer nachgeordneten Ebene zu
einem weiteren Problem, welches die Frage aufwirft: Nach welchen Kriterien und Verfahren erfolgt
nun die gerechte Verteilung der knappen Ressourcen innerhalb des Systems (Marckmann 2008,
S. 888)? Dieser grundlegenden Frage der Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen werde ich
5
mich im fünften Kapitel „Ressourcenallokation im Gesundheitswesen aus ethischer Perspektive“
widmen.
3.2.2 Soziale Gerechtigkeit
Koller (2001) versteht unter sozialer Gerechtigkeit „die Gesamtheit aller jener Erfordernisse der
Gerechtigkeit (…), die auf die soziale Ordnung und die grundlegenden sozialen Verhältnisse ganzer
Gesellschaften Anwendung finden.“ (Koller 2001, S. 35) Dabei drückt das Beiwort „sozial“ aus,
dass es sich um etwas Gesellschaftliches handelt. Die soziale Gerechtigkeit im spezifischen Sinn
befasst sich mit neuen oder sich verschärfenden Problemen bzw. solchen, die erstmalig deutlich
bewusst werden (Höffe 2004, S. 85). Jeder Mensch hat Anspruch auf soziale Gerechtigkeit, welche
sich in Chancengerechtigkeit, Chancengleichheit sowie Bedürfnisgerechtigkeit ausdrückt. Dem
Verständnis von sozialer Gerechtigkeit zufolge werden Leistungen und Mittel nach Bedürfnis,
Gleichheit und Notwendigkeit verteilt. Gerechtigkeit als Gleichheit umfasst die Achtung der
Menschenwürde und infolgedessen ein Diskriminierungsverbot: Jeder Mensch hat das Recht auf
gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung unabhängig nach Rasse, Geschlecht, Hautfarbe,
Religion, Herkunft, Arbeit, Vermögen, etc. (Oduncu 2012, S. 362; Bobbert 2003, S. 8).
3.3
Gesundheitswesen – eine Begriffsbestimmung
Um sinnvoll ethisch reflektieren zu können ist das Wissen um die Handlungskontexte
unumgänglich. Das Gesundheitswesen stellt ein komplexes Gebilde mit einer Vielzahl von
Entscheidungsebenen dar. Zahlreiche Akteure und Akteurinnen agieren darin, erfüllen
unterschiedliche Aufgaben und verfolgen teils unterschiedliche Interessen und Ziele (Dietz 2011,
S. 26).
Wallner (2004) definiert den Begriff „Gesundheitswesen“ bzw. „Gesundheitssystem“ (engl. health
care system) – in Anlehnung an den europäischen Gesundheitsbericht der WHO von 2002 – als
Summe all jener Institutionen „die Güter und Dienstleistungen zur Erhaltung bzw.
Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit anbieten und erbringen, sowie jene Institutionen,
die dazu beitragen, dass Menschen mit ihrer Krankheit oder Behinderung ein Leben mit adäquater
Lebensqualität führen können“ (Wallner 2004, S. 8). Als vorrangiges Ziel und somit im
Mittelpunkt des Gesundheitswesens steht die Aufrechterhaltung sowie die Wiederherstellung der
Gesundheit und einer guten Lebensqualität von kranken Menschen durch professionelle Hilfe.
Darüber hinaus prägen weitere unterschiedliche, teils entgegengesetzte Ziele das moderne
Gesundheitssystem, wie etwa volkswirtschaftliche, wissenschaftliche, arbeitsmarktpolitische oder
sozialpolitische Ziele (Wallner 2007, S. 296–298). Als gemeinsames Ziel kann die Ermöglichung
6
der oft differenzierten Kooperationsgewinne durch institutionelle Regelungen betrachtet werden.
Diese Gewinne sollen letztlich zum Vorteil aller Beteiligten, in erster Linie jedoch für den
hilfsbedürftigen Menschen ausfallen (Wallner 2004, S. 9f). Aus ethischer Sicht ist nicht nur das
individuelle ärztliche Handeln, sondern auch das gesamte System, in welchem die ärztliche
Handlung abläuft, relevant (Wallner 2004, S. 30). Eine Problematik für die ethische
Betrachtungsweise ergibt sich in der Abgrenzung zwischen dem Gesundheitswesen und dem
Pflegewesen. Der Bereich des klassischen Gesundheitssystems umfasst in erster Linie die kurative
Medizin, zweitrangig die Rehabilitation und die Prävention. In den Zuständigkeitsbereich des
Pflegewesens werden die Langzeitversorgung alter Menschen und unheilbar Kranker zugeordnet.
Sowohl in kompetenzrechtlichen Regelungen, als auch bei der Finanzierung ist diese Trennung
gebräuchlich. Diese Abgrenzung ist jedoch in vielen Fällen einerseits ökonomisch ineffizient,
andererseits auch eine Belastung für alle Beteiligten (Wallner 2004, S. 8). Die oftmalig scharfe
Differenzierung zwischen intra- und extramuralem Bereich führt daher zu vielen
Doppelgleisigkeiten in der Arbeit von Ärzten und Ärztinnen im niedergelassenen Bereich und
Spitälern (Pöttler 2012, S. 13).
Im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen ist auch der Begriff „Gesundheitspolitik“ relevant.
Diese nimmt eine Managementfunktion ein und ist zuständig für die Steuerung und Koordination
des Gesundheitssystems. Hierbei wird differenziert zwischen Health polity (die institutionelle,
rechtliche Ordnung), Health policy (die normative, inhaltliche Dimension) und Health politics (die
prozessualen Entscheidungen) (Wallner 2007, S. 296–298). Der Politik-Bereich zählt zu einer jener
Gesellschaftsbereiche, welche zur Erhaltung des menschlichen Lebens beitragen und die Menschen
somit ihre Bestimmung erlangen können. In ihren Verantwortungsbereich fällt das Schaffen von
Rahmenbedingungen für ein friedliches und würdevolles Leben, sowie das Schaffen
nachvollziehbarer gesetzlicher Regelungen zur Ressourcenallokation im Gesundheitswesen, welche
sich an ein Leben in Friede und Würde orientieren. Dabei spielt der solidarische Sozialstaat –
insbesondere das Gesundheitswesen – eine entscheidende Rolle, da der gesellschaftliche Friede und
die Achtung der Menschenwürde durch die Vorenthaltung von Lebenschancen und die Billigung
von Armut aus Krankheitsgründen gefährdet sind (Dietz 2011, S. 381). Der Staat hat somit die
Pflicht, die medizinische und pflegerische Versorgung durch ein gut funktionierendes und
flächendeckendes, sowie für alle gleichermaßen und leicht zugängliches Gesundheitssystem zu
garantieren (Bobbert 2003, S. 10).
Wie viele Gesundheitssysteme in Europa ist auch das österreichische Gesundheitssystem mit neuen
Herausforderungen konfrontiert (Pöttler 2012, S. 13). Eine dieser Herausforderung stellt die
Finanzierung dar. Das Finanzierungsproblem rückt immer mehr in den Mittelpunkt und ist oft eine
7
zentrale Frage bei politischen Debatten um das Gesundheitswesen. Trotzdem darf das
Finanzierungsproblem nicht isoliert, sondern immer in Verbindung mit den anderen drei
Problembereichen moderner Gesundheitssysteme, dem Daten- und Controllingproblem,
Strukturproblem und Leistungsproblem, betrachtet werden (Wallner 2004, S. 193). Im Allgemeinen
gibt es mehrere Optionen, wie Gesundheitssysteme finanziert werden. Die Ausrichtung des
Gesundheitswesens kann sich zum Einen am freien Markt orientieren, wo die Steuerung über
Preise, Menge und Qualität erfolgt, und zum Anderen am Prinzip einer staatlichen Steuerung
aufgrund von Regeln und Plänen. Es existieren zahlreiche Mischformen mit einer Kombination
einzelner Mechanismen der beiden Ansätze – in reiner Form kommt keine dieser beiden Typen vor
(Offermanns 2011, S. 39).
In Österreich gewährleistet die solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens allen Menschen
einen gerechten Zugang zu den Gesundheitsleistungen. Die Mittel zur Finanzierung erfolgen aus
einkommensabhängigen Sozialversicherungsbeiträgen, steuerfinanzierten öffentlichen Geldern,
privaten direkten und indirekten Kostenbeteiligungen, als auch aus privaten Versicherungsprämien
(Pöttler 2012, S. 196). Die Gesundheitsausgaben in Österreich betrugen laut System of Health
Accounts (SHA) im Jahr 2011 insgesamt 32,4 Mrd. Euro, und sind gegenüber dem Jahr 2010 um
813 Mio. Euro (2,6%) gestiegen (Statistik Austria 2013). Aber auch andere Länder, u. a. unser
Nachbarland Deutschland, sind mit einem chronischen Finanzierungdefizit im Gesundheitswesen
konfrontiert – verursacht durch sinkende Einnahmen bei gleichzeitig steigenden Ausgaben. Die
Ursachen dafür sind vielfältig und komplex. Zu den wesentlichen zählen auf der einen Seite der
demografische Wandel mit der alternden Gesellschaft und die daraus korrelierende zunehmende
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Auf der anderen Seite treibt auch der medizinischtechnische Fortschritt mit den neuen diagnostischen und therapeutischen Verfahren die
Gesundheitsausgaben in die Höhe. Zeitgleich zu diesen steigenden Ausgaben kommt es zu stetig
sinkenden Einnahmen aufgrund einer sinkenden Lohnquote (Oduncu 2012, S. 359f). Der Preis der
Gesamtheit des medizinisch Machbaren ist enorm gestiegen, und die großzügige Ausdehnung der
gesetzlich gebotenen Leistungen macht die Medizin zum „Opfer ihres Erfolgs“. So erlebt die
Gesellschaft eine Kostenexplosion nicht allein aufgrund von Faktoren wie steigende
Lebenserwartung, wirtschaftlich-sozialer Fortschritt oder Einnahmerückgang der Krankenkassen,
sondern auch aufgrund einer Leistungsexplosion (Höffe 2002, S. 210f).
3.4
Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen
Die Knappheit an Gesundheitsgütern und deren gerechte Verteilung zählen zu den großen ethischen
Herausforderungen der modernen Medizin. Die Entstehung dieser Knappheit im Gesundheitswesen
8
resultiert daraus, dass die Nachfrage an Gesundheitsleistungen das Angebot übersteigt. Diese
steigende Nachfrage wird zurückgeführt auf den medizinisch-technischen Fortschritt, den
demografischen Wandel und das steigende Sozialprodukt (Marckmann 2005, S. 179f). Marckmann
(2010a) betont, dass die Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen auf Wertsetzungen beruht,
„die zum einen vom medizinischen Entwicklungsstand und der ökonomischen Leistungsfähigkeit
der Gesellschaft abhängen, zum anderen aber auf die grundlegende Frage verweisen, wie viel wir
bereit sind, für die Gesundheitsversorgung im Vergleich zu anderen Gütern auszugeben.“
(Marckmann 2010a, S. 11) Die Ressourcenknappheit fängt bereits bei langen Wartezeiten an: egal
ob nun in Praxisräumen, bei ambulanten oder bei stationären Behandlungen. Sie spiegelt sich bei
Altersbegrenzungen wieder, wie z. B. in England, oder zeigt sich im Umstand, dass der
Finanzrahmen für einfache Therapien bis hin zu teuren Arzneimittel bereits lange vor Jahresende
ausgeschöpft ist (Höffe 2002, S. 206f).
Es stellt sich im Hinblick auf die steigende Nachfrage an Gesundheitsgütern die Frage, ob die
Verteilung nicht durch den freien Markt erfolgen sollte. Preisentwicklungen könnten zu einem
Ausgleich von Nachfrage und Angebot führen, und eine staatliche Regulierung und Kostenkontrolle
ließe sich vermeiden. Nicht allein gerechtigkeitsethische, sondern auch ökonomische Argumente
sprechen jedoch dagegen. Eine optimale Ressourcenverteilung kann auf den Märkten für
Gesundheitsgüter nur mit Hilfe einer Regulierung erreicht werden. Ohne diese Regulierung käme es
zum Marktversagen. Ein Grund dafür liegt in der eingeschränkten Konsumentensouveränität. Für
Menschen, welche sich in einer existentiellen Notlage befinden ist der Vergleich von Angeboten
und das Treffen einer rationalen Auswahl erschwert. Zumal die Entscheidung von Behandlungen
meist den Ärzten und Ärztinnen obliegt. Darüber hinaus fehlt eine ausreichende Markttransparenz,
um Qualität und Preise verschiedener Angebote zu vergleichen. Bei vielen Leistungen kann die
Qualität vor Inanspruchnahme nicht überprüft werden. Zudem gibt es Gesundheitsleistungen mit
positiv externen Effekten (wie z. B. die Behandlung ansteckender Erkrankungen) welche zu einer
Unterkonsumption führen würde. Gerechtigkeitsethisch betrachtet ist die Gesundheit ein besonders
grundlegendes Gut, welches zur Erreichung von Plänen und Zielen benötigt wird. Sowohl eine
gerechte Ressourcenverteilung als auch ein gleicher Versorgungszugang kann innerhalb der
Gesellschaft als Grundbedingung für die Chancengleichheit angesehen werden. Ein freier Markt
hätte jedoch eine ungerechte Verteilung der Gesundheitsgüter zur Folge, da diese dann von der
Zahlungsfähigkeit abhängig wäre und es so in vielen Fällen zu einer Ausgrenzung sozial
Schwächerer käme. Anhand der hohen Zahl der Nicht- und Unterversicherten in den USA kann
gezeigt werden, dass die Sicherstellung eines Zuganges zu Gesundheitsleistungen für alle in einem
9
marktlich orientierten System ohne staatlich garantierte Basisversorgung äußerst schwer ist
(Marckmann 2005, S. 181–184).
Der höhere Versorgungsbedarf mit steigenden Ausgaben bei zugleich sinkenden Einnahmen führt
dazu, dass es zu einem zunehmenden Auseinanderdriften des medizinisch Möglichen mit dem
solidarisch Finanzierbaren kommen wird (Marckmann 2010a, S. 8). In Zukunft ist absehbar, dass
nicht mehr alle Leistungen für alle zugänglich gemacht werden können. Zahlreiche
Gesundheitsreformen in den letzten Jahrzehnten spiegeln diese Problematik und das Bemühen der
Politik um die Bekämpfung diese Defizites sowie der Steuerung der Kostenexplosion wider
(Oduncu 2012, S. 359). Zur Aufrechterhaltung einer, für alle Bürger und Bürgerinnen geltenden,
staatlich organisierten und solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung auf hohem Niveau wäre
es notwendig, die unterschiedlich diskutierten Reformvorschläge auf ihr Sachgemäßheit und
Menschengerechtigkeit hin zu überprüfen (Dietz 2011, S. 237f). Obwohl Leistungsbegrenzungen in
gewissem Maße in allen Staaten mit solidarischer Grundversorgung bereits anzutreffen sind, variiert
die Akzeptanz von Seiten der Bevölkerung und ist abhängig von den sozialen Erwartungen und
Wahrnehmungen, kulturellen Grundprägungen sowie vom Ausmaß der vorhandenen Versorgung
und der geplanten Einschränkungen. Trotz einheitlichen medizinischen Wissensstands belegt ein
Vergleich von medizinischen Einzelleistungen in europäischen Ländern die Unterschiede der
staatlichen Ausgestaltung des Leistungsangebotes. Auch kulturelle und historische Kontexte haben
einen Einfluss auf die Instrumente, Wege und Kriterien der Leistungsbegrenzung in den einzelnen
Ländern. Erfahrungen einzelner Staaten können als Hilfe betrachtet werden, jedoch gibt es kein
sogenanntes Erfolgsmodell, welches 1:1 auf ein anderes Land übertragen werden kann (Deutscher
Ethikrat 2011, S. 24–27).
Während sich bereits in einigen Ländern (wie z. B. in England oder Schweden) eine Rationierungsbzw. Priorisierungsdebatte etablierte, werden diese Themen in der deutschen Gesundheitspolitik
weiterhin tabuisiert (Staber, Rothgang 2010, S. 16). Auf Dauer werden sich solche Debatten über
(gerechte) Verteilungsentscheidungen im Gesundheitswesen jedoch nicht verhindern lassen
(Deutscher Ethikrat 2011, S. 18). Es stellt sich nun also nicht mehr die Frage ob, sondern wie
Leistungen einzuschränken sind, sodass diese Begrenzungen auch ethisch vertretbar sind
(Marckmann 2010a, S. 11f). Eine Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen muss hierbei
praxis- und lösungsorientiert sein und sich auf das Machbare und konkrete Erfordernisse beziehen
(Groß et al 2010, S. 134). Ein verantwortungsvoller Umgang mit knappen Ressourcen wird somit in
Zukunft nicht nur aus ethischer, sondern auch aus medizinischer und ökonomischer Sicht eine
Herausforderung darstellen (Marckmann 2005, S. 196).
10
4
STRATEGIEN IM UMGANG MIT DER RESSOURCENKNAPPHEIT
Politische Diskussionen um die Gesundheitsreformen sowie um einen ökonomischen Einsatz der
Ressourcen im Gesundheitssystem sind nicht neu (Güntert 1998, S. 160). Seit mehr als einem
Jahrzehnt wird nach Lösungen betreffend die Finanzlage im Gesundheitswesen gesucht. Zahlreiche
Budgetbeschränkungen und Mittelkürzungen führen dazu, dass Allokationsentscheidungen unter
starken finanziellen Restriktionen erfolgt werden müssen (Bobbert 2003, S. 7). Die zur Verfügung
stehenden Mittel reichen für die große Nachfrage nicht aus, und so gerät das Gesundheitswesen
zunehmend unter Druck (Offermanns 2011, S. 33). Argumente der Vernunft erfordern aus diesem
Grund Lösungsansätze im Umgang mit knappen Gütern. Um einen Überblick über die Strategien zu
erhalten, werden im folgenden Kapitel die Begriffe „Ressourcenaufstockung“, „Rationalisierung“,
„Priorisierung“, „Rationierung“ und „rationale Allokation“ voneinander abgegrenzt und näher
erklärt.
4.1
Ressourcenaufstockung
Die wohl naheliegendste Option zur Vermeidung einer Konfrontation mit dem Ressourcen- und
Rationierungsproblem wäre die Ausdehnung der Mittel. Allokationsentscheidungen könnten – bis
auf Fällen der absoluten Knappheit (wie z. B. bei Organtransplantaten) – dadurch zwar nicht
gänzlich vermieden, jedoch erleichtert werden. Es ist anzunehmen, dass die Gesellschaft einem
solchen politischen Schritt gegenüber nicht vollkommen abgeneigt wäre – vorausgesetzt, er würde
keine exzessive Form annehmen. So kann eine moderate Erhöhung der Finanzmittel durch
Anhebung der Krankenversicherungsbeiträge bzw. der Beitragsbemessungsgrundlage, oder eine
Erweiterung der Beitragsbemessungsgrundlage über das Lohneinkommen hinaus erfolgen. Sofern
diese jedoch extremer bzw. in einem solidarisch finanzierten Modell durch zusätzliche
Einnahmequellen ausfallen würden, würde eine Ressourcenaufstockung von der Bevölkerung wohl
kritischer betrachtet werden. Solche Einnahmequellen könnten sich negativ auswirken auf die Höhe
der Steuern, auf die Beitragsgrundlage oder auf die Pensionsversicherungsbeiträge. Diese
Maßnahmen wären in einem solidarisch-öffentlich finanzierten Gesundheitssystem zwar
realisierbar, doch bereits die Vorschläge spiegeln das gesellschaftliche Konfliktpotenzial wider,
welches mit einer Ressourcenaufstockung einhergehen kann (Wallner 2004, S. 250f). Auch eine
Ausdehnung der Ressourcen im Gesundheitswesen durch eine Mittelumschichtung aus anderen
staatlichen Sektoren ist nicht sinnvoll. Außerdem wären Kürzungen in anderen Bereichen, wie etwa
im Bildungssektor, im Umwelt- oder Arbeitsschutz oder auch eine Reduzierung von sozialen
Leistungen nicht nur ethisch unvertretbar, sondern hätten auch negative Auswirkungen auf den
Gesundheitszustand der Bevölkerung (Groß et al 2010, S. 134).
11
Aus ethischer Perspektive ist eine Einschränkung der Gesundheitsausgaben grundsätzlich
gerechtfertigt, eine Steigerung der Finanzmittel ist hingegen keine Dauerlösung (Marckmann 2005,
S. 196).
4.2
Rationalisierung
Rationalisierung bedeutet Effizienzsteigerung: Durch die Ausschöpfung von
Wirtschaftlichkeitsreserven kommt es zu einer Verbesserung der Effizienz der medizinischen
Versorgung. Rationalisierungen zielen darauf ab, bei gleichen Mitteln den medizinischen Effekt zu
erhöhen (Maximalprinzip) bzw. bei geringeren Mitteln das Versorgungsniveau zu halten
(Minimalprinzip) (Marckmann 2005, S. 187; Deutscher Ethikrat 2011, S. 18). „Rationalisierung
kann als ständiger Prozeß zur Steigerung von Effizienz, d. h. Wirtschaftlichkeit und Produktivität,
aufgefaßt werden, welcher alle Bereiche der betrieblichen Leistungserstellung umfaßt“ (Güntert
1998, S. 160). Durch Optimierung der Input-Relation tragen Rationalisierungsmaßnahmen zur
Nutzenmaximierung bei (Güntert 1998, S. 160), d. h. dass ein bewusster Einsatz von Ressourcen
zur bestmöglichen Erreichung von Zielen führt. Wenn im Gesundheitssystem ein Teil der
Ressourcen nun unwirtschaftlich eingesetzt wird ist dies nicht mehr alleinig ein ökonomisches
Problem, sondern betrifft auch den Bereich der Ethik (Wallner 2004, S. 164f). Im
Gesundheitswesen liegt ein Rationalisierungspotenzial dann vor, wenn Leistungen erstens
unwirksam, zweitens weniger wirksam als Alternativmaßnahmen mit denselben Kosten oder
drittens nicht wirksamer als kostengünstigere Alternativen sind (Wallner 2004, S. 165). Dadurch
kann es zu Einsparungen kommen, ohne gleichzeitige Verringerung der Versorgungsqualität bzw.
Vorenthaltung medizinischer Maßnahmen (Oduncu 2012, S. 306). Rationalisierungsmaßnahmen
sind ethisch unbedenklich, wenn die Versorgung der Betroffenen dadurch aufrechterhalten bleibt
und sich nicht verschlechtert. Objektiv unnötige, überflüssige oder sogar schädliche Leistungen
sollten durch organisatorische und verwaltungstechnische Strukturmaßnahmen gestrichen und die
Ressourcen effizienter eingesetzt werden. Wenn jedoch aus rein ökonomischem Gesichtspunkt
rationalisiert wird und vom Verbessern oder Erreichen des „Ergebnisses“ die Rede ist, ist eine
Rationalisierung ethisch bedenklich. Dabei wird das Ergebnis nämlich nicht mehr auf den
Einzelnen bezogen, sondern auf die Gesamtheit aller Patienten und Patientinnen. Eine
effizienzorientierte Mittelverwendung in diesem Sinne führt zu einer Verschlechterung bzw.
Absenkung des Versorgungsniveaus für bestimmte Personen, was zu ethisch brisanten Fragen der
Verteilungsgerechtigkeit führt. Die Schwierigkeit der Differenzierung zwischen
Rationalisierungsmaßnahmen im Sinne der Beseitigung von Überflüssigem und
Rationalisierungsmaßnahmen, bei denen es auch Benachteiligte gibt, ist groß. Ein Beispiel dafür ist
12
die Reduktion von Spitälern: in den Augen der einen würde durch eine Reduktion die
Versorgungsqualität sinken (eingeschränkte Erreichbarkeit des Krankenhauses), in den Augen
anderer würde hingegen die Versorgungsqualität steigen (Spezialisierung auf ein Kerngebiet und
somit kompetenteres Ärzteteam vor Ort) (Deutscher Ethikrat 2011, S. 18–20).
Trotz all dem Einsatz effizienzsteigender Maßnahmen wird dieser wohl nicht ausreichen um die
steigende Kostenentwicklung unter Kontrolle zu halten (Oduncu 2012, S. 360). Ferner ist auch in
politischer Hinsicht Rationalisierung kein leichtes Unterfangen. Das Versorgungssystem ist
komplex: Versuche von Steuerungen führen zu Umgehungsstrategien und Nebenwirkungen.
Außerdem verdient an jeder „Verschwendung“ irgendeine Gruppe, welche jegliche Einsparungen
verhindern möchte. Denn: Sparen sollen die Anderen! Fließend sind die Grenzen zwischen
Rationalisierung und Rationierung, und häufig schlägt Rationalisierung in Rationierung um. Das
Kernproblem liegt darin, dass eine Strategie, welche ausschließlich auf Rationalisierung setzt,
immer Gefahr läuft eine implizite Rationierung (siehe Kapitel 4.4) zu bewirken. Denn
Rationalisierungsinstrumente entscheiden nicht über die Verwendung der zur Verfügung stehenden
Mittel, sondern überlassen dies dem Versorgungsalltag. Neben Rationalisierungsbemühungen kann
es somit auch leicht zu Leistungseinschränkungen von Seiten der Leistungserbringer kommen,
welche vielfältige Formen annehmen können. So kann es z. B. zu Verkürzungen von
Besprechungszeiten kommen, zum Verzicht einer teuren Arzneimittelverordnung bis hin zum
Stellenabbau von Pflegepersonal. Grundsätzlich gilt, dass die Rationalisierung als ein bevorzugter
Schritt gegenüber der Rationierung zu betrachten ist (engl. efficiency first) (Huster 2011, S. 28–30).
Angesichts der solidarisch aufgebrachten und knappen Finanzmittel ist es von hoher Priorität die
erreichbaren Effizienzreserven im Gesundheitssystem auszuschöpfen. Andernfalls würden gewissen
Patientengruppen sinnvolle medizinische Interventionen verweigert werden, während Finanzmittel
in solche Maßnahmen investiert werden, welche sich auch ohne Nachteile für die Patienten und
Patientinnen einsparen ließen (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2750f). Aufgrund der
besonderen Bedeutung von Gesundheit wäre es ethisch unzulässig, Maßnahmen zur Rationierung
einzusetzen oder auch nur zu befürworten, bevor nicht die ethisch unproblematischen
Rationalisierungsreserven ausgeschöpft sind (Schmidt 2001, S. 292; Deutscher Ethikrat 2011,
S. 20).
4.3
Priorisierung
„Wenn Leistungseinschränkungen auf Dauer unumgänglich sind, eine implizite Rationierung aber
möglichst vermieden werden soll, bleibt dem Gemeinwesen nichts anderes übrig, als über
Versorgungsprioritäten nachzudenken und diese in einem transparenten Verfahren festzulegen.“
13
(Huster 2011, S. 34) In Anlehnung an die Definition der Zentralen Ethikkommission wird
Priorisierung als die „explizite Festlegung einer Vorrangigkeit gewisser Indikationen,
Patientengruppen oder Verfahren vor anderen“ verstanden. Priorisierung ist nicht gleichzustellen
mit Rationierung, sondern sollte dieser vielmehr vorausgehen (Zentrale Ethikkommission 2000,
A-1017). Bei der Priorisierung kommt es zur Erstellung einer mehrstufigen Rangreihe. Am obersten
Ende der Liste werden Interventionen gesetzt, welche „unverzichtbar“, also am notwendigsten und
dringendsten erscheinen und somit höchste Priorität haben. Diese werden infolgedessen auf alle
Fälle zur Verfügung gestellt, währenddessen Maßnahmen am unteren Ende an Bedeutung
abnehmen und auf welche demnach bei Ressourcenknappheit verzichtet werden kann (Oduncu
2012, S. 361). Grundsätzlich werden zwei Formen der Priorisierung medizinischer Maßnahmen
unterschieden: die horizontale und die vertikale. Die horizontale Form der Prioritätensetzung findet
zwischen unterschiedlichen Bereichen statt, wie etwa zwischen politischen Ebenen, zwischen
Leistungserbringern oder zwischen Krankheitsbildern. Im Falle eines stationären
Leistungserbringers beispielsweise bedeutet eine horizontale Priorisierung die Zuteilung der
finanziellen Ressourcen zwischen den einzelnen Fachbereichen. Bei der vertikalen Form hingegen
wird innerhalb eines abgegrenzten Versorgungsbereiches (wie z. B. Krebs- oder Herzerkrankungen
und ihre Behandlungsmöglichkeiten) priorisiert (Oberender, Schwegel 2011, S. 143).
Eine Prioritätensetzung bietet zwei Anwendungsperspektiven im Gesundheitswesen: Einerseits
besteht die Möglichkeit, Versorgungskataloge in Gebieten mit hohem Stellenwert zu erweitern, was
wiederum zu einer besseren Versorgungsqualität führen kann. Andererseits können
Leistungsbereiche mit geringer Priorität und Nutzen eingeschränkt werden. In diesem Fall führt die
Priorisierung zwar zu einer Leistungseinschränkung, leistet dabei jedoch einen Beitrag zu einer
gezielten Ausgabenkontrolle im Gesundheitssystem. Leistungen werden aus den jeweiligen
Versorgungsgebieten gestrichen, wenn nicht ausreichend Ressourcen verfügbar sind. Die
Entscheidung darüber ist wiederum eine rein politische und nicht rückzuschließen auf das
Priorisierungsverfahren, d. h.: Priorisierungen führen nicht unmittelbar zu Rationierungen!
Vielmehr sollte der Sinn ein möglichst zielgenauer und fairer Einsatz von knappen Mitteln sein.
Prioritätensetzungen bieten somit die Möglichkeit, Versorgungsqualität und Gesundheitsausgaben
nach klar definierten Kriterien gegeneinander abzuwägen und tragen zu einer optimalen
Verwendung begrenzter Gesundheitsmittel bei (Marckmann 2010b, S. 867f; Huster 2011, S. 34f).
In einem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem spielen Priorisierungen eine wichtige Rolle um
knappe Gesundheitsgüter möglichste effektiv einzusetzen. Dabei sind auch Effektivitäts- und
Effizienz-Überlegungen im Sinne von EBM (Evidence Based Medicine) und HTA (Health
Technology Assessments) essentiell (Wallner 2004, S. 249).
14
Angesichts der anfangs aufgezeigten Herausforderungen scheint ein gesellschaftlicher und
politischer Diskurs über eine Priorisierung von medizinischen Leistungen dringend notwendig. Es
gilt dafür zu sorgen, die solidarisch aufgebrachten Mittel richtig einzusetzen: welche Leistungen
und Indikationen, sowie Versorgungsziele und Gesundheitsstörungen haben oberste Priorität, und
welche sind als nachrangig zu bewerten? Nach welchen Kriterien ist vorzugehen und wer ist dafür
zuständig? Es bedarf ein größeres Problembewusstsein über die Knappheit der
Gesundheitsressourcen innerhalb der Politik und auch der Gesellschaft, damit eine Priorisierung
auch Erfolg haben kann. Da eine solche Schwerpunktsetzung vielfältige Wertentscheidungen
voraussetzt ist ein öffentlicher Diskurs nötig, um Entscheidungen darüber zu treffen wie die
Ressourcen in erster Linie verwendet werden sollen. Der Prozess der Priorisierung soll auf
verschiedenen Ebenen des Gesundheitswesen in gleichem Maße verankert sein: in der Politik, der
Gesellschaft und der Wissenschaft. Hierfür sind Institutionen erforderlich, welche einerseits die
wissenschaftliche Evidenz über Nutzen und Kosten medizinischer Leistungen evaluieren und
andererseits den politischen Diskurs nachhaltig implementieren. Um den gesellschaftlichen und
politischen Diskussionsprozess anzukurbeln, wäre nach Auffassung der Zentralen Ethikkommission
die Etablierung einer nationalen Prioritätenkommission empfehlenswert. Diese hätte zur Aufgabe,
allgemeine Grundsätze für eine Prioritätensetzung in der Gesundheitsversorgung zu erarbeiten. Ob
Prioritäten nun in Form von Leitlinien oder in Form von verbindlichen Richtlinien in die Praxis
umgesetzt werden sollten, und wie eine unerlässliche Partizipation der Bevölkerung am besten
erfolgen könnte, würde ebenfalls in dessen Aufgabenbereich fallen. Zuletzt sollte auch der klare
politische Wille vorhanden sein, die Ergebnisse der nationalen Kommission, unter
Berücksichtigung internationaler Erfahrungen, in die Praxis umzusetzen (Zentrale Ethikkommission
2007, A-2753).
Sowohl in der Priorisierungsdebatte, als auch in ihrer praktischen Umsetzung sind uns einige
Länder weit voraus. Diese Länder, wie etwa Schweden, Finnland, Dänemark, England aber auch
Kanada und Neuseeland, haben Verfahren und Kriterien zur Priorisierung entwickelt und gesetzlich
verankert. Internationalen Erfahrungen zufolge kann Priorisierung als ein längerfristiger, auch
politischer und gesellschaftlicher Prozess betrachtet werden. Viele Länder setzen Priorisierung nicht
nur als Instrument zum Umgang mit Leistungsbeschränkungen ein, sondern haben gleichzeitig auch
das Ziel vor Augen, Leistungen auszuweiten. So hat sich beispielsweise in Schweden aus einem
Priorisierungsprojekt ein effizientes Steuerungsinstrument unter Mitwirkung und Führung der
Ärzteschaft entwickelt (Oduncu 2012, S. 361; Offermanns 2011, S. 37f).
Trotz der vielen positiven Erfahrungen anderer Länder mit Priorisierungsverfahren darf zuletzt
nicht vergessen werden, dass die Organisation der Gesundheitssysteme in den einzelnen Ländern –
15
auch innerhalb der europäischen – sehr unterschiedlich ist. Eine Übernahme der
Priorisierungskriterien ist nur begrenzt möglich, da auch die jeweilige Versorgungskultur und
-tradition einen maßgeblichen Einfluss auf deren Akzeptanz hat. Gesundheitssystemvergleiche
stellen daher mehr eine Hilfe zur Fehlervermeidung als fertige Lösungskonzepte dar (Huster 2011,
S. 36).
Keine der unterschiedlichen Priorisierungsansätze in den westlichen Ländern verlief ohne
vorangegangene öffentliche Diskussion. Dies ist auch gerechtfertigt, da es zum Paradigmenwechsel
vom Ideal einer vollständigen, bedarfsgerechten und sofortigen Gesundheitsversorgung für die
gesamte Bevölkerung hin zu einer öffentlich finanzierten und sichergestellten Versorgung mit dem
Wesentlichsten – ebenfalls für alle – kommt. Die Einführung neuer Verfahrensweisen ist
grundsätzlich immer riskant und auch beängstigend für alle, auch wenn sie in gewisser Weise gut
akzeptiert und entgegengenommen werden. Denn egal um welches Auswahlverfahren oder -prinzip
es sich handelt: keines davon ist ohne Fehler. Und doch beruht jedes Gesundheitssystem in
welchem Priorisierungen durchgeführt werden, auf dem Prinzip der Solidarität, auch wenn dieses in
„unwichtigeren“ Bereichen teils begrenzt wurde. Überall findet sich eine Kombination aus
ethischen Prinzipien und Qualitätskriterien einer medizinischen Versorgung (also Notwendigkeit,
Wirksamkeit und meist auch Kosteneffektivität). Die Prinzipien bieten eine breite
Umsetzungsmöglichkeit, stellen aber auch eine wichtige Diskussionsgrundlage sowie die Basis für
weitere Regulierungen und Gesetzgebungen dar (Busse, Hoffmann 2010, S. 887). Umso wichtiger
ist daher eine offene Priorisierungsdebatte über knappe Gesundheitsgüter, um nach ethischen
Gesichtspunkten zu strukturieren und finanzielle Ressourcen sinnvoll und transparent zu verteilen
(Oduncu 2011, S. 361).
4.4
Rationierung
Der Begriff „Rationierung“ ist vielfältig und uneinheitlich, und eine Rationierung von Leistungen
kann in verschiedener Art und Weise vorkommen (Wallner 2004, S. 246f). Im Generellen wird
unter diesem Begriff „die Verweigerung des, bzw. die Erschwerung des Zugangs zu medizinischen
und pflegerischen Maßnahmen, die einen unbestrittenen Nutzen haben“ verstanden (Offermanns
2011, S. 34). Die Zentrale Ethikkommission definiert den Begriff „Rationierung“ folgendermaßen:
„Rationierung ist gegeben, wenn aus medizinischer Sicht notwendige oder zweckmäßige
medizinische Maßnahmen aus finanziellen Gründen offen oder verborgen vorenthalten werden.“
(Zentrale Ethikkommission 2000, A-1017) Bei dieser Art von Begrenzung medizinisch nützlicher
Maßnahmen handelt es sich um eine recht problematische Strategie, da Leistungen vorenthalten
16
werden, welche sich positiv auf die Lebensqualität und/ oder Lebenserwartung auswirken
(Marckmann 2010a, S. 8).
Bei der Rationierung von Leistungen können mehrere Formen unterschieden werden:
Scharfe versus schwache Rationierung: Bei der „scharfen“ Form werden gewisse
Personen(gruppen) von Leistungszuteilungen gänzlich ausgeschlossen und können sich den Zugang
auch finanziell nicht erwerben. Hingegen wird bei der „schwachen“ Rationierung lediglich der
Leistungszugang erschwert (z. B. Wartelisten, Zuzahlungssystem) sowie die private Erwerbung von
Leistungen ist möglich.
Harte versus weiche Rationierung: Im Gegensatz zur „weichen“ Rationierung, kann bei der
„harten“ die Menge der Ressourcen nicht ausgedehnt werden (z. B. Transplantationsmedizin). Im
Gesundheitswesen gängiger ist die „weiche“: hier besteht zwar eine Ressourcenbegrenzung, diese
ist prinzipiell jedoch dehnbar (z. B. durch politische Prozesse oder Verhandlungen).
Personenorientierte versus ressourcenorientierte Rationierung: Bei der
„personenorientierten“ Form werden bestimmte Personen(gruppen) aufgrund von Kriterien (z. B.
Risikogruppen, Alter, Menschen mit gewissen Vorerkrankungen etc.) explizit von Leistungen
ausgeschlossen. Bei der „ressourcenorientierten“ Rationierung dagegen sollen die zur Verfügung
stehenden Ressourcen gleichmäßig und fair auf die Bevölkerung verteilt werden, sodass niemandem
a priori der Zugang zu Leistungen verweigert wird. Hintergrund dieser Dichotomie ist die
Entschärfung des ethischen Konfliktes bei den Rationierungsentscheidungen. Es kommt zur
Steigerung der statistischen Erkrankungs- und Sterbewahrscheinlichkeit. Dies führt allerdings nicht
zur Beseitigung, sondern nur zu einer Verschiebung des ethischen Konflikts.
Offene/explizite versus verdeckte/implizite Rationierung: Diese Unterscheidung bezieht sich
auf die Frage des öffentlichen Bewusstseins der Rationierungsproblematik. Sind die Problematik
und die Kriterien zur Zuteilung knapper Ressourcen öffentlich bekannt und festgelegt, so handelt es
sich um die „offene/explizite“ Rationierung. Diese öffentliche Auseinandersetzung und Transparenz
fehlen bei der „verdeckten/impliziten“ Form. Erforderliche Rationierungsentscheidungen aufgrund
begrenzter Ressourcen werden in der Regel allein den Health Professionals vor Ort überlassen
(Güntert 2011, S. 161f; Offermanns 2011, S. 34–36; Wallner 2004, S. 246).
Diese unterschiedlichen Arten von Rationierung zeigen, dass für deren Umsetzung teils starke
Eingriffe in die Grundrechte von Nöten wären. Eine gesellschaftliche Debatte ist unumgänglich,
denn ohne diese kann eine Rationierung nur verdeckt durchgeführt werden (Offermanns 2011,
S. 36f). Empirische Studien belegen, dass Gesundheitsleistungen bereits heute schon rationiert
werden (Marckmann 2010a, S. 12; Wallner 2004, S. 245) und nach einigen ärztlichen
Einschätzungen sind diese zum Teil schon an der Tagesordnung. So zum Beispiel zeigt eine
17
repräsentative Umfrage in deutschen Krankenhäusern, dass bereits über dreiviertel der befragten
Ärzte und Ärztinnen (n=1137) aus den Fachbereichen Intensivmedizin und Kardiologie aus
Kostengründen auf nützliche Leistungen verzichten. Allerdings tritt diese Rationierung (noch)
selten auf: nur 13% der befragten Personen gaben an, mindestens einmal pro Woche nützliche
Interventionen vorenthalten zu müssen (Strech et al. 2009, S. 1261–1264).
Eine solche Strategie der verdeckten bzw. impliziten Rationierung ist aus mehreren Gründen
bedenklich und weist gravierende Nachteile auf. Ein Kernproblem liegt zum einen in der
Intransparenz, welche auch zu Belastungen der Arzt/ Ärztin-Patient/ Patientin-Beziehung führen
kann. Wenn aus finanziellen, anstatt medizinischen Gründen Leistungen vorenthalten werden, wird
das Vertrauen gegenüber dem medizinischen Personal verloren gehen. Außerdem widerspricht es
dem Grundgedanken des Rechtsstaats, dass das ärztliche Team Entscheidungen darüber fällt,
welche Menschen aufgrund eines begrenzten Budgets gesetzlich zustehende Behandlungen erhalten
und welche nicht. Zum anderen führen verdeckte Rationierungen dazu, dass über den am
sinnvollsten Einsatz der knappen Ressourcen nicht rational überlegt wird. Dies führt häufig zu
Einsparungen an Orten mit dem meist „geringsten Widerstand“. So wird beispielsweise auf der
einen Seite Personal gekürzt, und auf der anderen Seite ein modernes Technologiegerät angeschafft.
Die implizite Rationierung bringt willkürlich auch die „Frage der sozialen Gerechtigkeit“ mit sich.
Es besteht die Gefahr, dass informelle soziale Zugangsunterschiede durch verdeckte
Rationierungsverfahren verschärft werden, und so kranke Menschen aus gehoberen bzw.
gebildeteren sozialen Schichten bei der Versorgung bevorzugt werden. In weiterer Folge darf auch
die Auswirkung einer impliziten Rationierung auf in der Zukunft drohende Generationenkonflikte
nicht vergessen werden. Hier sind zum einen die ältere Generation, die insbesondere auf gute
medizinische Versorgung angewiesen ist, und zum anderen die jüngere Generation, die die
finanzielle Hauptlast trägt (Huster 2011, S. 31–33; Breyer 2006, S. 154). Die explizite Rationierung
weist gegenüber der impliziten den Vorteil der Gleichbehandlung aller Patienten und Patientinnen
auf. Deren Transparenz und Konsistenz der Verteilungsentscheidungen erhöht somit auch die
gesellschaftliche Akzeptanz von Rationierungsmaßnahmen. Außerdem entlasten offene
Leistungsbegrenzungen durch ihre verbindlichen Vorgaben das zuvor erwähnte Arzt/ ÄrztinPatient/ Patientin-Verhältnis und führen infolgedessen zu weniger Entscheidungs- und
Interessenskonflikten auf ärztlicher Seite. Im Weiteren werden bei expliziten Rationierungen in
Form von Standardisierungen sowohl die Versorgungskosten als auch die Versorgungsqualität
gleichermaßen gesteuert, was wiederum zu einer besseren Identifizierung von kostensparenden
Qualitätsverbesserungen (Rationalisierungen) führt (Marckmann 2005, S. 193f).
18
Rationierung im Gesundheitssystem ist also kein neues Phänomen. Bereits seit mindestens zwei
Jahrzehnten wird in den industrialisierten Staaten der westlichen Welt darüber diskutiert. Die
Gesundheitssysteme befinden sich in einer „Krise“ – eingeschränkte finanzielle Ressourcen
erscheinen eine Rationierung von Leistungen unumgänglich (Bahro et al. 2001; 45f). Eine
öffentliche Rationalisierungsdebatte existiert bisher nur an wenigen Orten, wie z. B. im USBundesstaat Oregon (Bahro et al. 2001, S. 50) oder in England, wo eine Rationierung von
Leistungen unter vorheriger offen gelegter Kosten-Nutzen-Betrachtung auch gesellschaftlich
akzeptiert wird. Dabei hat das britische Gesundheitssystem weniger Ressourcen zur Verfügung als
beispielsweise das österreichische oder deutsche System – und schneidet international trotz allem
genauso gut ab. Denn durch die begrenzten Ressourcen wird verstärkt auf die Effizienz und
Effektivität der Leistungen geachtet. Weder im österreichischen, noch im deutschen
Gesundheitssystem findet eine solche Rationierungsdiskussion in ausreichendem Maße statt
(Offermanns 2011, S. 34–36).
4.5
Rationale Allokation
Allokation bedeutet die alternative Verteilung begrenzter Ressourcen (Wallner 2004, S. 247). Mieth
(2004) definiert den Begriff der Allokation sehr präzise als „die Ansiedlung und Verteilung von
Maßnahmen, Regeln, Verfahren und Institutionen im Gesundheitswesen, die zugleich unter
rechtebasierten Ansprüchen und unter Knappheitsbedingungen stehen.“ (Mieth 2004, S. 83)
Diskussionen rund um die Allokation setzten sich mit den Fragen der Mittelverteilung auseinander:
Welche Anzahl von Ressourcen sollte ein Staat für das Gesundheitssystem bereitstellen, und wie
sind diese auf den Teilbereichen der medizinischen Versorgung zu verteilen? Wie sollten diese
Ressourcen in den Teilbereichen in weiterer Folge auf Patienten- und Patientinnengruppen und
schließlich auf die einzelnen Betroffenen verteilt werden? Hinter diesen Fragen häufen sich
unzählige weitere Fragen, was wiederum verdeutlicht, dass es sich bei solchen
Allokationsdiskussionen um Debatten über ethische Grundlagen des Staates handelt (Dietz 2011,
S. 12).
Im Zusammenhang mit dem Begriff der Allokation etablierte sich der Begriff der „rationalen
Allokation“ und wird in ein Dreiecksverhältnis zu Rationierung und Rationalisierung gesetzt. Eine
rationale Ressourcenallokation im Gesundheitswesen versucht, eine verdeckte Rationierung und
infolgedessen eine Ausgrenzung von gewissen Personengruppen zu verhindern. Die rationale
Allokation wir als eine Strategie bezeichnet, welche auf die Steigerung des systemischen
Gesamtnutzens des Gesundheitssystems, sowie auf das Erreichen eines gesellschaftlichen
Wohlfahrtsoptimums abzielt. Dabei kommt es zu rationalen Entscheidungen über den
19
bestmöglichen Einsatz von begrenzt verfügbaren finanziellen, materiellen und strukturellen
Ressourcen. Dies kann für das Individuum auf der Mikro-Ebene durchaus als eine direkte
Rationierung empfunden werden, kommt aber einer Rationalisierung auf der Makro-Ebene näher.
In Relation mit der Priorisierung nimmt der Begriff der rationalen Allokation eine wichtige Rolle in
der Bewältigung des Rationierungsproblems ein (Offermanns 2011, S. 37; Wallner 2004, S. 247).
Der Ressourcenknappheit kann durch eine rationale Allokation im Sinne einer Priorisierung
entgegengewirkt werden: wesentlichen Versorgungsbereichen und effektiven
Versorgungsleistungen werden mehr finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt als anderen
Bereichen und Leistungen. Damit diese Strategie zur Ressourcenknappheit ethisch legitimiert
werden kann, ist jedoch ein voraussetzungsreicher Prioritätensetzungs-Prozess vonnöten (Wallner
2004, S. 263).
Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen Rationierung, Rationalisierung und
rationale Allokation dient die visuelle Darstellung dieses Dreiecksverhältnisses in Abbildung 1.
Abbildung 1: Rationierung, Rationalisierung und rationale Allokation (Offermanns 2011, S. 35)
20
5
ALLOKATION VON RESSOURCEN AUS ETHISCHER SICHT
Immer mehr kommt es zur Forderung einer Entwicklung und Umsetzung einer gerechten
Ressourcenallokation. Konkrete Verteilungskriterien müssen erarbeitet werden, welche als
Orientierungshilfe zum Ausschluss medizinischer Leistungen aus dem Leistungskatalog im Rahmen
von Priorisierungs- und Rationierungsverfahren dienen. Die Komplexität der Debatte um Kriterien
und Grundlagen für eine gerechte Verteilung wird zunehmend verdeutlicht durch die hohe Anzahl
an unterschiedlichen Verteilungskriterien und häufig resultierende Uneinigkeit in den westlichen
Ländern mit nationalen Verteilungsverfahren (Buyx et al. 2006, S. 9). Es ist vonnöten, dass sich die
Politik mit diesem Thema öffentlich auseinandersetzt, und auch eine Klärung der Rolle von
Priorisierung und Rationierung ist von großer Dringlichkeit (Staber, Rothgang 2010, S. 20).
Im Folgenden wird ein Überblick über ethische Aspekte der Priorisierung und Rationierung
gegeben. Häufig gehen in der Literatur jedoch die Verteilungskriterien beider Verfahren einher,
sodass Kriterien oftmals nicht ausschließlich der Priorisierung oder Rationierung zugeordnet
werden können.
Entscheidungen zur Ressourcenallokation im Gesundheitswesen haben nach Annahme der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf der Basis von drei Grundkonzepten zu erfolgen. Dazu
zählt zum einen der Wert (Value), d. h. in welchem Verhältnis stehen die Gesundheitsausgaben zu
den damit erlangten Ergebnissen. Zum anderen die Erschwinglichkeit (Affordability): das
Verhältnis der Ausgaben zu den individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen. Im Weiteren
spielt auch die Gleichheit (Equity) – der Einfluss der Finanzierung und Verteilung der
Gesundheitsleistungen auf unterschiedliche Gruppen – eine Rolle (Brüggenjürgen 2010, S. 890).
Auch der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit steht bei Diskussionen um eine gerechte
Ressourcenallokation im Vordergrund. Dabei kommt dem Gedanken der Gleichheit eine besondere
Bedeutung zu. Vor allem beim Thema Gesundheit und bei der Verteilung von Gesundheitsgütern
haben Gleichheit und Gerechtigkeit in der Gesellschaft eine hohe Priorität. Hierbei wird
unterschieden zwischen der Forderung nach einem (staatlich organisierten) gleichen Zugang zu
medizinischen Leistungen und der Forderung nach einem Beitrag medizinischer Leistungen zur
Chancengleichheit.
Die Forderung nach einem gleichen Zugang bezieht sich in erster Linie auf eine Grundversorgung,
wobei die Schwierigkeit vor allem darin besteht, einen Konsens bei der Abgrenzung zu finden: wo
fängt die Grundversorgung an und wo hört sie auf? Nach welchen Priorisierungskriterien erfolgt die
Versorgung? Welche Standards werden bestimmt? Wie werden die einzelnen medizinischen
Interventionen hinsichtlich Zweckmäßigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit bewertet?
21
Hingegen dazu steht die Forderung nach einem Beitrag medizinischer Leistungen zur
Chancengleichheit (d. h. Gleichheit bezüglich des Ergebnisses) vor der schwierigen Frage, welche
Ebene von Gleichheit angestrebt werden soll (z. B. billiges Hörimplantat versus teures Hörimplantat
bei Menschen mit Hörproblemen: Reicht eines zur Verfolgung einer Unterhaltung oder muss die
Person damit ein Symphonieorchester verzerrungsfrei hören können?). Außerdem kommt es zur
Frage nach der Umverteilung, wenn eine vollständige Ergebnisgleichheit (z. B. bei
schwerstbehinderten Kindern) nicht herstellbar ist. Wie viele Mittel sollen zum Ausgleich dafür
aufgebracht werden? Es gibt eine Vielzahl von Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit mit
unterschiedlichen Ansätzen (Dietz 2011, S. 271f), auf welche ich in der Arbeit jedoch nicht näher
eingehen werde.
5.1
Ethische Aspekte der Prioritätensetzung
Primär sollten sich Prioritätensetzungen in der Gesundheitsversorgung nicht nur an den
wirtschaftlichen, sondern auch an den ethischen und rechtlichen Maßstäben orientieren. Bei der
Verteilung im Gesundheitssystem ist der Zugang zu einer Basisversorgung für die gesamte
Bevölkerung als gerechter zu betrachten als ein Zugang zu allen verfügbaren Gesundheitsleistungen
für nur einen Teil der Gesellschaft. Aller Rationalisierungsbemühungen zu Trotz werden sich
Priorisierungen nicht vermeiden lassen, welche maßgeblich nach explizit festgelegten Kriterien und
Verfahren erfolgen sollen (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2750f). Eine offene Festlegung von
Leistungsbeschränkungen und Versorgungsprioritäten in der Medizin ist jedoch alles andere als
einfach und denkbare Verteilungsprinzipien werden vielfach intensiv diskutiert. Einige
Priorisierungskriterien sind bereits umstritten. So der Grundsatz, dass der Anspruch auf
medizinische Versorgungsleistungen individuell abhängig davon ist, wie viel der Betroffene selbst
für die eigene Gesundheit beigetragen hat (z. B. Ausübung gefährlicher Sportarten, ungesunde
Lebensweise etc.). Ähnlich stark umstritten ist auch das Kriterium der Altersgrenze. Trotz der
ethischen und ordnungspolitischen Vorteile aufgrund dessen, dass sie für alle gleichermaßen gelten,
wird dieses politisch und juristisch abgelehnt. Als sinnvoll anerkannte Kriterien hingegen gelten
jene der Zentralen Ethikkommission (Huster 2011, S. 39).
Die Zentrale Ethikkommission unterscheidet bei der Schwerpunktsetzung in der medizinischen
Versorgung zwischen formalen und inhaltlichen Kriterien. Während sich die formalen Kriterien auf
das Verfahren der Prioritätensetzung beziehen, bieten die inhaltlichen Kriterien eine Orientierung
bei der Festlegung von Versorgungsprioritäten (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2751). Die
formalen Kriterien stellen eine Voraussetzung dafür dar, dass sich die inhaltlichen Kriterien
entfalten können (Oduncu 2012, S. 361).
22
5.1.1 Formale Kriterien einer gerechten Priorisierung
Um einen Erfolg in der praktischen Umsetzung zu erzielen sowie die verfassungsrechtliche
Legitimität von Priorisierungen aufrechtzuerhalten, ist ein faires Verfahren unentbehrlich. Die im
Folgenden näher erläuterten formalen Kriterien sind vonnöten für eine gerechte Prioritätensetzung
und lassen sich auch unter dem Aspekt des Grundrechtsschutzes begründen:

Transparenz: Priorisierungen sollten so erfolgen, dass Kriterien klar erkennbar und Verfahren
öffentlich zugänglich sind.

Begründung: Jede Priorisierung sollte nachvollziehbar begründet sein.

Evidenzbasierung: Jeder Vorschlag in puncto Prioritätensetzung sollte die zur Verfügung
stehende wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich folgender Aspekte berücksichtigen:
Wirksamkeit, Notwendigkeit, Nutzen- und Schadenpotenzial sowie der zu erwartenden Kosten
der eingebrachten Leistungen. Hierbei ist das Involvieren von Fachpersonal aus medizinischen
und anderen Disziplinen notwendig.

Konsistenz: Um die gleiche Behandlung von kranken Menschen in vergleichbaren
medizinischen Situationen zu gewährleisten, sollten Priorisierungskriterien und -regeln in allen
Fällen gleichermaßen angewendet werden.

Legitimität: Demokratisch legitimierte Institutionen sollten zuständig sein für bindende
Priorisierungsentscheidungen.

Offenlegung und Ausgleich von Interessenskonflikten: Verfahren und Entscheidungen von
Prioritätensetzungen sollten so geregelt sein, dass sowohl Interessenskonflikte offen gelegt als
auch involvierte Interessen in einen dementsprechenden Ausgleich gebracht werden.

Wirksamer Rechtsschutz: In jenen Fällen, in welchen Personen Leistungen infolge von
Priorisierungsentscheidungen verwehrt werden, sollte es die Möglichkeit eines verfügbaren
Widerspruchs- und Klageverfahren geben.

Regulierung: Diese Voraussetzung einer gerechten Priorisierung sollte durch staatliche
Regulierung oder freiwillige Selbstkontrolle gesichert und umgesetzt werden (Zentrale
Ethikkommission 2007, A-2751).

Partizipationsmöglichkeiten: Nach Expertenmeinungen sollte über diese aufgezählten Kriterien
der Zentrale Ethikkommission hinaus auch die Bevölkerung involviert werden, damit
Betroffene die Möglichkeit erhalten sich am Entscheidungsprozess zu beteiligen. Dies inkludiert
23
auch die Übermittlung von Information über Leistungsumfang und den zugrunde liegenden
Kriterien an Versicherte und Patienten/ Patientinnen, sowie relevante Begründungen und die
Zugänglichkeit dieser (Fuchs 2010, S. 438).
5.1.2 Inhaltliche Kriterien einer gerechten Priorisierung
Formale Kriterien sind verfassungsrechtlich zwar vonnöten, für eine ganzheitliche Betrachtung
jedoch nicht ausreichend. Inhaltliche ethische und rechtliche Begründungen sind Voraussetzungen
für eine gerechte Festlegung medizinischer Versorgungsprioritäten. Die Zentrale Ethikkommission
schlägt daher vor, medizinische Leistungen anhand der folgenden drei Kriterien zu priorisieren:
(1) Medizinische Bedürftigkeit
(2) Erwarteter medizinischer Nutzen
(3) Kosteneffektivität (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2751).
Als weitere Kriterien der Prioritätensetzung können noch
(4) die Wartezeit und
(5) das Losverfahren hinzugezählt werden.
Die Rangordnung der Kriterien ergibt sich aus der ethischen Bewertung unter Berücksichtigung der
fundamentalen Prinzipien der Menschenwürde, des Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzips, der
Gerechtigkeit, des Gleichheitsgebots, des Lebensschutzes und der Lebenswertindifferenz.
Ad 1: Das Kriterium der medizinischen Bedürftigkeit hat, als Rechtfertigung für die
Behandlung und Allokation medizinischer Leistungen, Priorität vor allen anderen Kriterien. Es ist
sozusagen die Kopplung zwischen Gefährlichkeit und Schweregrad der zugrunde liegenden
Erkrankung sowie Dringlichkeit der Behandlung (Oduncu 2012, S. 363f). Die Zentrale
Ethikkommission entwickelte basierend auf verfassungsrechtlicher und ethischer Überlegungen ein
Stufenmodell zulässiger Priorisierungskriterien, welches in Bezug auf das vorrangige
Bedürftigkeitskriterium unterschiedlich starke Leistungsansprüche begründet. Die medizinische
Bedürftigkeit orientiert sich dabei an den normativen Maßstäben vor allem „das aus der
Menschenwürde (Art. 1 GG) folgende medizinische Existenzminimum, die staatliche Schutzpflicht
für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) sowie die verschiedenen Ausprägungen des
Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 I-III GG).“ (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2751) Diese
Priorisierungskriterien beziehen sich auf medizinische Interventionen und gelten als Prinzipien und
Abwägungskriterien gesellschaftlicher Entscheidungen. So können aufgrund des Rahmencharakters
dieser Zuordnung Besonderheiten des Einzelfalles oder besonders betroffener Gruppen ein
24
Abweichen erforderlich machen. Dieses Stufenkonzept besteht aus vier Ebenen und ist wie folgt
aufgebaut:

Auf Stufe 1 steht der Lebensschutz und Schutz vor schwerem Leid und Schmerzen: Oberste
Priorität hat die Lebenserhaltung. Nach dem Grundsatz der Menschenwürde ist auch die
Schutzpflicht der Menschen vor erheblichem Schmerz und Leid auf dieser Ebene eingegliedert.

Bei Stufe 2 handelt es sich um den Schutz vor dem Ausfall oder der Beeinträchtigung
wesentlicher Organe und Körperfunktionen. Dem Grundrecht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit (Art. 2 II GG) zufolge ist trotz Ressourcenknappheit dafür Sorge zu tragen, dass
eine medizinische Leistungen gegeben und dadurch Ausfälle oder Beeinträchtigungen
wesentlicher Organe, Gliedmaßen oder körperliche sowie seelische Funktionen (z. B.
Erblindung, Gehörverlust) verhindert werden. Die Entscheidung darüber, wie relevant die
einzelnen Risiken und Schädigungen sind, ist abhängig von dessen Bedeutung für den
ungestörten Ablauf von Lebensaktivitäten und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

Stufe 3 ist der Schutz vor weniger schwerwiegenden oder nur vorübergehenden
Beeinträchtigungen des Wohlbefindens. Diese Ebene hat ihren Fokus auf weniger gravierende
Beeinträchtigungen der Gesundheit gerichtet. Von großer Bedeutung ist hier vor allem die
Mitwirkungsbereitschaft und -befähigung der Patienten und Patientinnen

In Stufe 4, der letzten Ebene des Stufenkonzepts, geht es um die Verbesserung und Stärkung
von Körperfunktionen. Hier kann es um die Vervollkommnung der Körperfunktionen, wie etwa
Fitness, Ansehnlichkeit und Wohlbefinden, kommen.
Aus ethischer und verfassungsrechtlicher Sicht schließt dieses Stufenmodell auf den ersten beiden
Stufen eine Differenzierung nach Art und Umfang des Versicherungsschutzes oder der
Zahlungsfähigkeit aus. Im Weiteren wird vom Grundgesetz auf allen Stufen eine Differenzierung
nach Geschlecht, Rasse, Abstammung, Glaube, Sprache, Herkunft, Heimat, politischer und
religiöser Anschauung sowie Behinderung ausgeschlossen. Darüber hinaus schließen das
allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als auch die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU eine
Differenzierung nach Alter und sexueller Orientierung aus (Zentrale Ethikkommission 2007,
A-2751f).
Ad 2: Der zu erwartende medizinische Nutzen stellt ein weiteres Kriterium zur Priorisierung
dar. Zunächst sollten jene Leistungen begrenzt werden, welche den geringsten Nettonutzen für die
betroffenen Personen aufweisen (Marckmann 2008, S. 893). Die generelle und einfallbezogene
Wirksamkeit sowie die Nutzen- und Schadenspotenziale der medizinischen Interventionen stellen
25
wesentliche Kriterien für die Rechtfertigung eines Versorgungsbedarfs dar. D. h.: die
Behandlungsmethode muss einen nachweisbaren positiven Nutzen auf den Krankheitsverlauf
aufweisen (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2752). Nach Auffassung der evidenzbasierten
Medizin kommen dabei nur Daten und Ergebnisse aus wissenschaftlichen Methoden (z. B. aus
randomisierten kontrollierten klinischen Studien) in Betracht. Medizinische Leistungen ohne oder
mit nur marginaler Wirksamkeit sind ethisch nicht begründbar und verschärfen zusätzlich das
Finanzierungsproblem und die Mittelknappheit (Oduncu 2012, S. 363). Da nicht in allen Fällen
ausreichend wissenschaftliche Daten vorliegen, können in Ausnahmefällen auch Ergebnisse aus
Beobachtungsstudien oder aus sorgfältig dokumentierten individuellen Heilversuchen herangezogen
werden. Eine evidenzbasierte Datenlage ist vor allem bei seltenen Erkrankungen unzureichend und
lückenhaft, weswegen diese Situationen besonders berücksichtigt werden müssen. An diesen
Kriterien von Wirksamkeit und Nutzen müssen sich alle Bereiche der Medizin messen lassen, so
auch die Rehabilitation und Prävention.
Ad 3: Das Kriterium der Kosteneffektivität dient dazu, bei begrenzt verfügbaren Ressourcen
den maximal erreichbaren gesundheitlichen Effekt (gemessen in Form von Zugewinn an Lebenszeit
oder Lebensqualität) zu erreichen. Frei werdende Ressourcen aus unterbundenen ungünstigen
Kosten-Nutzen-Profilen können anderwärtig bei Versorgungsleistungen mit einem besseren KostenNutzen-Verhältnis zum Einsatz kommen. Indirekt kann dieses Vorgehen die
Verteilungsgerechtigkeit erhöhen, sofern nicht nur der Nutzen, sondern auch die Kosten-NutzenRelation gesundheitsökonomisch evaluiert wurde. Dennoch ist eine alleinig an der
Kosteneffektivität orientierte Priorisierung aus ethischen sowie politischen Aspekten nicht
vertretbar (Zentrale Ethikkommission 2007, A-2752). Kosteneffektive Interventionen sind zwar aus
Gründen der Effizienzsteigerung und Rationalisierung jenen Interventionen mit geringerer
Kosteneffektivität vorzuziehen, allerdings darf nicht vergessen werden, dass das Kriterium der
medizinischen Bedürftigkeit in jedem Fall Vorrang hat gegenüber dem Kriterium der
Kosteneffektivität.
Ad 4 und 5: Neben diesen drei aufgezählten relevanten Kriterien der Priorisierung können
nachrangig auch die Kriterien der Wartelisten (zeitliche Priorisierung) oder Losverfahren eine
Rolle spielen. Diese können dann in Betracht gezogen werden, wenn bei mehreren Patienten und
Patientinnen dieselben jeweils relevanten Kriterien vorliegen. Das Kriterium der Wartelisten bietet
den Vorteil, dass es sich in der Gesellschaft gut durchgesetzt hat und es im Allgemeinen als
gerechtes Verfahren akzeptiert wird. Sind nun alle aufgelisteten Kriterien in gleicher Weise erfüllt,
kann in nächster Folge das Kriterium des Losverfahrens eingesetzt werden, welches vor allem von
besonderer Chancengleichheit und Fairness geprägt ist (Oduncu 2012, S. 363f).
26
Die große ethische Herausforderung besteht nun darin, die Priorisierungskriterien so zu gewichten,
dass auch die prozeduralen Gerechtigkeitsstandards nicht außer Acht gelassen werden um so die
Rechtmäßigkeit der Entscheidungen zu bewahren. Priorisierungsentscheidungen sollten in erster
Linie auf eine ausgewogene Abwägung aller Verteilungskriterien abzielen, wobei auch aus
ethischer Sicht eine Kombination der Kriterien am vertretbarsten erscheint. Insbesondere dem
Festlegen des Schwerpunktkriteriums Kosteneffektivität kommt eine besondere Bedeutung zu.
Generell sollten Versorgungsleistungen, welche im Vergleich zu finanziell günstigeren Alternativen
bei beträchtlichen Zusatzkosten einen minimalen Nutzengewinn aufweisen als Erstes begrenzt
werden. Dennoch ist das Bestimmen fixer Grenzwerte nicht zielführend und stellt somit keine
Lösung dar. Je nachdem wie schwerwiegend die Erkrankung ist und welche
Alternativmöglichkeiten es gibt, sollte bei ungünstigen Kosten-Effektivitäts-Verhältnissen die
ethische Begründungslast steigen. So sollten auch Leistungen mit fehlenden Alternativen finanziert
werden, um „teure“ Patienten und Patientinnen nicht gänzlich von der medizinischen Versorgung
auszugrenzen (Fuchs 2010, S. 439; Marckmann 2008, S. 893). Das Problem besteht oftmals darin,
dass ausgerechnet bei schweren und somit sehr teuren Krankheiten der Nutzen einer Behandlung
gering oder fraglich und zusätzlich dazu auch sehr teuer sein kann. Es besteht oft das Problem, dass
die Kriterien in ganz unterschiedliche Richtungen weisen, was in weiterer Folge die Frage aufwirft,
in welchem Verhältnis die Kriterien zueinander stehen (Huster 2011, S. 40).
5.2
Ethische Aspekte der Rationierung
Wenn nun eine Aufstockung der Ressourcen ethisch und ökonomisch nicht vertretbar ist
(Marckmann 2008, S. 891) und alle noch so vernünftigen Rationalisierungen und Priorisierungen
im Sinne einer rationalen Allokation ausgeschöpft sind, bleibt als Alternative die Begrenzung des
Leistungsumfanges: die Rationierung (Wallner 2004, S. 251). Aus ethischem Gesichtspunkt
betrachtend stellt sich die Frage, wie und wann Rationierungen aus Gerechtigkeitsgründen in der
allgemein zugänglichen Gesundheitsversorgung erfolgen sollen (Mack 2001, S. 19). Sowohl das
ärztliche und pflegerische Personal vor Ort, als auch die übergeordneten Leitungsorgane
(Krankenanstalten-, Krankenkassenleitung, Regierung) müssen Rechenschaft über ihr
Allokationsentscheidungen ablegen. Normative Leitlinien sind dabei vonnöten, um sich daran zu
orientieren, nach welchen Kriterien Ressourcen im Gesundheitswesen verteilt werden (Wallner
2004, S: 251).
Eine Auseinandersetzung mit Rationierungskriterien ist aus mehreren Gründen dringend notwendig:
Erstens werden aktuell zahlreiche Diskussionen darüber geführt, wobei die ethischen Aspekt den
gesundökonomischen gegenüber häufig vernachlässigt werden, zweitens sind verdeckte
27
Rationierungen, wie bereits in Kapitel 4.4. erwähnt, schon heute an der Tagesordnung, und drittens
sollten unvermeidbare und sinnvolle Rationierungen nach nachvollziehbaren und ethisch
akzeptablen Kriterien erfolgen. In anderen europäischen Ländern wurden solche Diskussionen
bereits Anfang der neunziger Jahre geführt, wobei die Ergebnisse zu Rationierungskriterien ebenso
verschieden sind wie jene zu den Kriterien der Prioritätensetzung. Grundlegend in diesem
Zusammenhang ist auch die Frage nach den Entscheidungsinstanzen. In solidarisch finanzierten
Gesundheitssystemen kommen nur demokratisch legitimierte Institutionen (Gesetzgeber) als
Entscheidungsträger infrage, wobei dieser die Unterstützung medizinischer, ökonomischer und
ethischer Expertenteams bedarf (Dietz 2011, S. 364–369). Im Weiteren hängen die
Entscheidungsinstanzen der Rationierung mit den verschiedenen Entscheidungsebenen zusammen.
Engelhardt differenziert dabei zwischen vier Allokationsebenen:
I.
Makroallokation auf hoher Ebene: Festlegung des Anteiles des Gesundheitsbudgets am
Gesamtbudget
II.
Makroallokation auf unterer Ebene: Verteilung der medizinischen Ressourcen auf die
Teilbereiche der medizinischen Versorgung (z. B. zwischen präventiver, kurativer,
rehabilitativer Medizin und Pflege, stationärer und ambulanter Versorgung)
III.
Mikroallokation auf oberer Ebene: Verteilung der medizinischen Ressourcen auf
Patientengruppen
IV.
Mikroallokation auf unterer Ebene: Verteilung der medizinischen Ressourcen auf einzelne
Patienten und Patientinnen, sogenannte „Rationierung am Krankenbett“
Generell sollten Entscheidungen über Rationierungen nicht auf den untersten, sondern auf höheren
Ebenen erfolgen. Unter anderem aus dem Grund, da solche Entscheidungen direkt am Krankenbett
die ethischen Entscheidungskompetenzen der Ärzte und Ärztinnen häufig überfordern und auch zu
Lasten der Arzt/ Ärztin-Patient/ Patientin-Beziehung geht. Außerdem ist die Finanzierung des
Gesundheitssystems Aufgabe der Gesundheitspolitik, und dem ärztlichen Personal sollte nur eine
eingegrenzte Verantwortung für übergeordnete Kosten-Nutzen-Rechnungen auferlegt werden
(Dietz 2011, S. 369f; Bobbert 2003, S. 11f).
5.2.1 Grundlegende Rationierungs-Prinzipien
Als grundlegende Prinzipien für die Zuteilung lassen sich zunächst vier Kategorien unterscheiden:
(1) Bedürfnis-Prinzipien: diese sind vor allem innerhalb von Gesundheitsberufen präsent und
lassen sich gliedern in die Zuteilung nach Ausmaß:
-
der momentanen Lebensgefährdung (rule of rescue)
28
-
der momentanen Krankheit (Beeinträchtigungen und Schmerzen)
-
der lebenslangen Krankheit
-
der momentanen Nutzenchance
-
der lebenslangen Nutzenchance
-
der Kosten, um die Nutzenchance auszuschöpfen.
(2) Maximierungs-Prinzipien haben zum Ziel, die begrenzt verfügbaren Mittel so zuzuteilen, um
somit den größtmöglichen Nutzen zu erreichen. Diese Strategie kann zwei unterschiedliche
Ziele anstreben:
-
Zum Einen die Maximierung der Volksgesundheit, d. h. die größtmögliche Gesundheit
für die größtmögliche Anzahl der Bevölkerung.
-
Zum Anderen die Maximierung des Wohlbefindens, geltend als Voraussetzung für ein
gutes Leben.
(3) Egalitäre-Prinzipien verfolgen das Ziel der Gleichheit unter den Menschen. Es gibt zwei
Ansatzpunkte dessen, worin die Gleichheit bestehen soll:
-
Die Rationierung der Ressourcen kann auf der einen Seite so erfolgen, dass es zu einer
gleichmäßigen Verteilung einer lebenslangen Gesundheitswahrscheinlichkeit kommt.
Dabei steht die Überzeugung, dass alle Menschen einen Anspruch auf ein ähnlich
langes und gesundes Leben haben im Vordergrund.
-
Auf der anderen Seite kann Gleichheit als Chancengleichheit gesehen werden. Diese
zielt auf mehr individuelle Freiheit und Autonomie in gesundheitlichen
Entscheidungen ab.
(4) Kombinations-Prinzipien: Hier kann entweder eine Hierarchie oder eine Güterabwägung
innerhalb der Prinzipien angenommen werden:
-
Es kann zur Kombination aus dem Maximierungs- und Egalitäts-Prinzip kommen, oder
-
zu einer Kombination aus dem Bedürfnis- und Maximierungs-Prinzip.
Einer repräsentativen Studie zufolge würde die Bevölkerung die Kombination aller drei Kategorien
mit Überprüfung einer differenzierten Güterabwägung befürworten, sodass keinem Prinzip eine
Vorrangstelle zukäme (Wallner 2004, S. 252f).
5.2.2 Rationierungskriterien bei der Allokation von Gesundheitsgütern
Es gibt unterschiedliche Kriterienmodelle zur Rationierung medizinischer Leistungen. Einen
umfassenden Überblick über eine große Zahl möglicher Rationierungskriterien bietet Diez (2011).
29
Er unterteilt diese in insgesamt vier Kategorien, in welchen die Rationierungskriterien in sinnvoller
Art und Weise zugeordnet sind: patientenbezogene Kriterien, medizinische Kriterien, politische
Kriterien und ökonomische Kriterien (Dietz 2011, S. 370). Diese Kriterien fließen in
unterschiedlicher Weise, je nach Gewichtung und Begründung, in eine Vielzahl von
Allokationsentscheidungen im Gesundheits- und Pflegesystem ein. In der Regel werden sich die
einzelnen Akteure und Akteurinnen auf den verschiedenen Ebenen auf unterschiedliche Kriterien
berufen. Um zu einer ethisch zu rechtfertigende Entscheidung zu gelangen, muss eine
Ressourcenallokation aufgrund mehrerer Kriterien zustande kommen (Wallner 2004, S. 253).
Zu den patientenbezogenen Kriterien zählen Alter, Lebensstil, sozialer Wert, soziale
Bedürftigkeit und Überlebenschance (Dietz 2011, S. 370). Vor allem das Alterskriterium ist eines
der am häufigsten und am kontroversesten diskutierten Rationierungskriterien (Kamm 2006, S. 59).
Selbst wenn eine steigende Lebenserwartung höhere Kosten mit sich führen würde und wenn durch
dieses Kriterium erhebliche Einsparungen möglich wären, wäre das Alter als Verteilungskriterium
nicht legitim. Weiterhin ist zu bedenken, dass der individuelle Zustand eines Menschen nicht allein
vom Alter abhängig ist (Dietz 2011, S. 275). Jeder Mensch, unabhängig von seiner
Leistungsfähigkeit oder Lebensphase, hat Anspruch auf eine Gesundheitsversorgung (Bobbert
2003, S. 11). Das Alterskriterium darf daher in einem grundrechtsgeprägten Verfassungsstaat kein
ausschließliches Kriterium darstellen, bei der Beurteilung eines konkreten Falls darf es jedoch als
ein Kriterium unter mehreren herangezogen werden (Wallner 2004, S. 253).
Das Kriterium Lebensstil orientiert sich am Gesundheitsverhalten und der Lebensweise des
Menschen. Jene Leistungen der solidarischen Finanzierung, die durch einen anderen Lebensstil (wie
z. B. Nichtrauchen) hätten vermieden werden können, sollten für diese Personen aus dem
Leistungskatalog ausgeschlossen werden. Trotz der gewissen Eigenverantwortung des Individuums
seiner Gesundheit gegenüber ist es mit dem ärztlichen Ethos nicht vereinbar, ihn für einen
ungesunden Lebensstil im Nachhinein zu bestrafen
Die Kürzung von Leistungen bei jenen Personengruppen, die für die Gesellschaft als weniger
„nützlich“ gelten, ein nur geringes oder kein Erwerbseinkommen aufweisen, usw. fällt unter das
Kriterium sozialer Wert (Dietz 2011, S. 371f). Dieses Kriterium bevorzugt Personen mit einem
größeren sozialen Wert für die Gesellschaft und benachteiligt Personen aus bestimmten
Bevölkerungsgruppen(z. B. Kriminelle oder Menschen mit Behinderungen). Somit ist es als
unmoralisch, diskriminierend und als in die Praxis nicht umsetzbar zu betrachten (Feuerstein 1998,
S. 202), da es in keiner Weise zu jedem universalen Verständnis von Menschenwürde entspricht.
Beim Kriterium soziale Bedürftigkeit können zwei Varianten in Betracht gezogen werden:
Einerseits plädiert dieses Kriterium dafür, Leistungen bei weniger bedürftigen Personen zu kürzen,
30
d. h. welche eher in der Lage sind sich die anfallenden Behandlungen privat zu leisten. Diese
Variante steht jedoch in Spannung zum Versicherungsmodell und ist nicht vereinbar mit dem
Gedanken der Leistungsgerechtigkeit. Andererseits steht das Kriterium dafür, Leistungen mit
minimalen Kosten für den Einzelnen von der solidarischen Finanzierung auszuschließen, sodass
keiner durch deren private Finanzierung armutsgefährdet ist. Diese Variante kann zwar als rechtlich
und ethisch akzeptabel betrachtet werden, ist allerdings in Bezug auf das Einsparungspotenzial
weniger von Interesse.
Auch das letzte Kriterium dieser Kategorie – Überlebenschancen – ist in der Alltagsmedizin als
nicht akzeptabel einzustufen, da es für den Vorschlag steht, Menschen mit schlechteren
Überlebenschancen Leistungen vorzuenthalten.
Unter die medizinischen Kriterien fasst Dietz (2011) die Schwere der Erkrankung und die
Dringlichkeit der Behandlung, die Wirksamkeit sowie die Auswirkungen auf die Lebensqualität.
Diese gelten im Gegensatz zu den patientenbezogenen Kriterien als geeigneter und brauchbarer. Die
ersten beiden Kriterien, Schwere der Erkrankung und Dringlichkeit der Behandlung, stehen für den
Vorschlag, Behandlungen von weniger schwerwiegenden Krankheitszuständen aus der
Finanzierung auszuschließe, und die solidarisch aufgebrachten Mittel für Behandlungen von
Krankheitszuständen mit einem höheren Schweregrad zu verwenden. Im Hinblick auf die Ziele der
Medizin ist dieses Kriterium das wohl am nächsten liegende. So steht beispielsweise die
medizinische Versorgung von akut lebensbedrohlichen Krankheiten ganz oben auf der
Prioritätenliste und wird folglich zuletzt eingeschränkt. Für die weitere Überlegung von
Leistungsrationierungen in Bezug auf dieses medizinische Kriterium sind zusätzliche Kriterien
erforderlich, wie etwa bei dem Begriff „medizinische Notwendigkeit“ oder der Vorstellung von
Lebensqualität. Darüber hinaus müssen gewisse Fragen beantwortet werden, wie beispielsweise
welchen Stellenwert Prävention, Kuration, Rehabilitation und Palliation vergleichsweise zueinander
haben sollen, oder auch welchen Stellenwert die Behandlung psychisch erkrankter Menschen
zukommen soll.
Das Wirksamkeits-Kriterium ist ein Ausschlusskriterium, welches Leistungen mit einem
medizinisch geringen Nutzen vom Angebot des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems
ausschließt. Dabei handelt es sich um die Feststellung marginaler Wirksamkeit von Leistungen
unabhängig von den jeweiligen Leistungskosten. Unter marginaler Wirksamkeit ist nicht allein die
Wirkung von Leistungen zu verstehen, sondern im Grunde genommen die medizinisch nützliche
Wirkung (Dietz 2011, S. 372–373). Es stellt sich die Frage: Hat die medizinische Intervention einen
klinischen Nutzen oder Schaden für den kranken Menschen bzw. hat sie eine Auswirkung auf die
Lebenserwartungen und/oder Wohlbefinden? Hierfür werden die zentralen klinischen Parameter der
31
Lebensverlängerung und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität herangezogen (Buyx et al. 2009,
S. 91). Ob die Wirkung einer medizinischen Maßnahme nützlich ist, hängt auch maßgeblich mit den
jeweiligen Vorstellungen von der Bestimmung des Menschen (z. B. lebenserhaltende Interventionen
bei sterbenden Menschen) und von der Aufgabe der Medizin zusammen. Dieses
Ausschlusskriterium ist daher nicht als gleich zu betrachten mit jenem Kriterium, bei welchem es
zum Ausschluss unwirksamer Leistungen kommt. Das Kriterium marginaler Wirksamkeit stellt in
Bezug auf die Rationierung ein sachgemäßes und gerechtes Kriterium dar, da es weder
diskriminierend ist, noch übermäßig schmerzhafte Opfer vom Einzelnen abverlangt.
Als Konkretion des Wirksamkeitskriteriums steht das letzte Kriterium dieser Kategorie:
Auswirkungen auf die Lebensqualität. Der Vorschlag, Interventionen auszuschließen, welche sich
nur marginal positiv auf die Lebensqualität des Patienten und der Patientinnen auswirken, wird
häufig in Zusammenhang gebracht mit einer Infragestellung intensivmedizinischer
lebensverlängernder Maßnahmen. Durch die Gefahr einer Verwechslung von Lebenswert und
Lebensqualität sowie die subjektive Dimension der Lebensqualität wird dieses Kriterium im Sinne
eines Rationierungskriterium weniger in Betracht gezogen. Vielmehr wird angestrebt, dass der oder
die Betroffene freiwillig auf die Hochleistungsmedizin verzichtet. Sinnvoll hingegen kann das
Lebensqualitätskriterium bei der Bestimmung des Relevanzgrades einzelner Behandlungen für
gewisse politisch, der medizinischen Versorgung betreffend, festgelegte Ziele sein.
Unter häufig vertretene politische Kriterien fallen sowohl die Ermöglichung von Teilhabe oder
Chancengleichheit, die Gewährleistung einer Grundversorgung als auch Innovationsbegrenzung. Im
Hinblick auf die Festlegung von Rationierungskriterien kann sich die Politik nicht ewig ihrer
Verantwortung entziehen Entscheidungen über die Gewährleistung der Grundversorgung in ihrem
Sozialstaat zu fällen. Dies betrifft einerseits Leistungen, die in keinem Fall rationiert werden sollen,
andererseits die Frage, welche Ziele bei der Gesundheitsversorgung im Vordergrund stehen sollen
(z. B. Ermöglichung von Teilnahme an sozialer Kommunikation, Ermöglichung von
Handlungsfähigkeit oder Chancengleichheit).
Unter dem Rationierungskriterium Innovationsbegrenzung kann die Rationierung möglicher
zukünftiger medizinischer Leistungen durch die Hemmung ihrer Entwicklung bereits im Vorhinein
beschrieben werden. Hierbei handelt es sich um einen Bereich zwischen Rationierung und
Rationalisierung, der einen der zentralen und ethisch vorzugswürdigen politischen Dreh- und
Angelpunkt darstellt (Dietz 2011, S. 373–375). „Eine Vorenthaltung von Mitteln gegenüber der
medizinischen Forschung ist einer Vorenthaltung verfügbarer medizinisch notwendiger
Behandlungen gegenüber Patienten ethisch vorzuziehen, weil Letzteres im Unterschied zur Ersteren
eine Antastung der Menschenrechte impliziert.“ (Dietz 2011, S. 375f) Dabei sollten lediglich
32
Anreize gesetzt werden, wie etwa durch die Verschärfung der Zulassungsverfahren für
medizinische Produktinnovationen, und nicht die Forschungs- und unternehmerische Freiheit
unterbunden werden. Gegen dieses Kriterium der Innovationsbegrenzung sprechen allerdings das
öffentliches Interesse am medizinischen Fortschritt, die möglichen volkswirtschaftlichen Nachteile
und die Hoffnung kranker Menschen auf neue Behandlungsmöglichkeiten.
Bei den ökonomischen Kriterien handelt es sich um Kosten und Wirtschaftlichkeit (Effizienz).
Bei ersterem – dem Kosten-Kriterium – geht es darum, kostspielige Leistungen von der
solidarischen Finanzierung auszuschließen. Dieser Ansatz ist jedoch nicht in die Praxis umsetzbar,
da er nicht kompatibel mit den Zielen des Gesundheitswesens ist und den Sinn des gesamten
Solidarsystems konterkariert.
Demgegenüber gilt das Effizienz-Kriterium als ambivalent. Es steht im Sinne eines
Rationierungskriteriums für den Vorschlag, Interventionen mit einer schlechten Kosten-NutzenRelation von der solidarischen Finanzierung auszunehmen. Dieses Kriterium ist vor allem als
nachgeordnetes Rationierungskriterium (unter medizinischen und politischen Kriterien) sinnvoll zu
betrachten (Dietz 2011, S. 376).
33
FAZIT
Sowohl der demografische Wandel, als auch die Leistungsdynamik des technologischen Fortschritts
stellt das Gesundheitswesen vor erhebliche organisatorische und ökonomische Herausforderungen.
Die demografische Entwicklung mit einer Zunahme der Lebenserwartung führt u. a. zu stetig
steigenden Gesundheitsausgaben. Die technologische Wissensexplosion ermöglicht neue
Handlungsspielräume, erfordert aber auch eine komplexere Struktur. Es kommt nicht nur zu mehr
Angeboten und Leistungen, sondern auch zu einem erhöhten Ressourcenverbrauch. Mit diesen
eingesetzten Ressourcen nun effizienter umzugehen liegt im Verantwortungsbereich aller
Beteiligten des Gesundheitswesens auf welchen nunmehr ein gewisser ökonomischer Druck lastet
(Wallner 2007, S. 299).
Es werden zunehmend mehr medizinische Leistungen in Anspruch genommen. Damit diese auch
dauerhaft finanzierbar bleiben und in optimaler Weise verteilt werden, müssen Vorhaltungen
getroffen und Verbesserungspotentiale ausgeschöpft werden (Pöttler 2012, S. 13). Neue
Entscheidungswege über die Zuteilung von Gesundheitsressourcen müssen eingeschlagen werden,
um die in Zukunft verschärfende Mittelknappheit im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen
(Fuchs 2010, S. 440). Je nach Ressourcenverfügbarkeit und Verwendungsmöglichkeiten kommt es
zur Wahl des jeweiligen Instruments: Rationalisierung, Priorisierung oder Rationierung.
Rationalisierungsmaßnahmen stellen bei bestehenden Verwendungsmöglichkeiten und
angemessenen verfügbaren Mitteln einen passenden Weg zur Effizienzsteigerung dar. Bereits heute
findet sich im Gesundheitswesen eine Vielzahl an Rationalisierungsvorgaben. Parallel dazu können
Priorisierungs- und Rationierungsmaßnahmen angewendet werden. Im Unterschied zur
Rationalisierung kommt Priorisierung bei zunehmenden Verwendungsmöglichkeiten und
Verknappung der verfügbaren Mittel zum Einsatz. Rationierung ist im Weiteren eine notwendige
Folge der Priorisierung und ist als die drastischste Maßnahme in der Ressourcenallokation zu
betrachten (Oberender, Schwegel 2011, S. 141). Daher bedarf es einer kritischen Reflexion der
Strukturen und eine entsprechende Anpassung der neuen Anforderungen und Bedürfnisse um eine
Rationierung abzuwenden (Offermanns 2011, S. 64).
Für die Erörterung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens ist jedoch nicht nur
ökonomischer und medizinischer Sachverstand erforderlich, sondern auch eine ethische Reflexion.
Wenn die Finanzierung eines umfassenden medizinischen Versorgungssystems mit
uneingeschränkter medizinisch sinnvoller Leistungsinanspruchnahme nicht mehr möglich ist, ist
eine Diskussion über soziale Gerechtigkeit in Bezug auf die Gesundheitsversorgung vonnöten
(Deutscher Ethikrat 2011, S. 7f).
34
Nach der Einführung in die grundlegenden Begriffe zum Thema „Ethik im Gesundheitswesen“, lag
im darauf folgenden Kapitel der Schwerpunkt auf jenen Strategien, mit welchen das
Knappheitsproblem im Gesundheitswesen begegnet werden kann. Hierdurch konnte die erste
Forschungsfrage nach den Strategien im Umgang mit der Ressourcenknappheit beantwortet werden.
Demnach gibt es einige Methoden zur Ressourcenzuteilung im Gesundheitswesen, um der
zunehmenden Diskrepanz zwischen steigenden Ausgaben und sinkenden Einnahmen zu begegnen.
Die Forschungsfrage nach der ethischen Perspektive wird in einem dritten Kapitel umfassend
beleuchtet, in welchem das Hauptaugenmerk auf den ethischen Aspekten der Priorisierung und
Rationierung liegt. Dies zeigt, dass trotz der nötigen Einsparungsmaßnahmen die Ethik einen immer
größer werdenden Stellenwert einnimmt und Entscheidungen in Bezug auf Einschränkungen in der
Gesundheitsversorgung in großem Maße beeinflussen kann.
Resümierend kann gesagt werden, dass Ressourcenallokation im Gesundheitswesen kein leichtes
Unterfangen darstellt. Obwohl in einigen Ländern, darunter auch Österreich, Themen wie
Rationierung oder Priorisierung noch tabuisiert werden, werden sich Debatten über gerechte
Verteilungsentscheidungen zukünftig nicht vermeiden lassen. Trotz, oder vielleicht vor allem
wegen dieser Komplexität der Herausforderung an das Gesundheitswesen und der damit
verbundenen Probleme ist es wichtig, dass der ethische Aspekt nicht außer Acht gelassen wird.
Gesundheit zählt zum größten Gut des Menschen und gegenüber Krankheiten ist niemand immun.
Daher es ist auch verständlich, wenn Einschränkungen von Gesundheitsleistungen beängstigend
wirken und kritisch betrachtet werden. Umso wichtiger ist es, dass diese Leistungsbegrenzungen
nach gerechten Verteilungskriterien und fairen Verfahren erfolgen, und in einer transparenten und
nachvollziehbaren Weise dargelegt werden. Nur so kann das Bewusstsein um die begrenzten Mittel
im Gesundheitswesen geweckt werden, und es wird letztendlich möglich sein, dass
Leistungsbegrenzungen von der Bevölkerung gut akzeptiert und angenommen werden.
35
LITERATURVERZEICHNIS
Andersen S (2000) Einführung in die Ethik. Walter de Gruyter GmbH & Co, Berlin, New York.
Bahro M, Kämpf C, Strnad J (2001) Die Verteilungsgerechtigkeit medizinischer Leistungen. Ein
Beitrag zur Rationalisierungsdebatte aus wirtschaftsethischer Sicht. Ethik in der Medizin (13),
Springer-Verlag, S. 45 – 60.
Bobbert M (2003) Verteilung und Rationierung begrenzter Mittel im Gesundheitswesen: Eckpunkte
einer gerechten Gesundheitsversorgung. GGW 3 (7), Berlin, S. 7 – 13.
Breyer F (2006) Das Lebensalter als Abgrenzungskriterium für Grund- und Wahlleistungen in der
Gesetzlichen Krankenversicherung? In: Schöne-Seifert B, Buyx AM, Ach JS (Hrsg.) (2006)
Gerecht behandelt? Rationierung und Priorisierung im Gesundheitswesen. Mentis Verlag,
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