Thomas Hoppe - KDA Nordkirche

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Prof. Dr. Thomas Hoppe
Professur fuer Katholische Sozialethik
Helmut-Schmidt-Universitaet Hamburg
Wie kann mehr Gerechtigkeit
in der Arbeitsgesellschaft geschaffen werden?
Impulsreferat für das
Spitzengespräch der evangelischen Landeskirchen, der katholischen Kirche
und der Gewerkschaften in Norddeutschland
Lübeck 14. 4. 2008
I.
Einige Befunde zur gegebenen Situation
GW1 (2): Solidarität und Gerechtigkeit sind notwendiger denn je. Tiefe Risse
gehen durch unser Land: vor allem der von der Massenarbeitslosigkeit
hervorgerufene Riss, aber auch der wachsende Riss zwischen Wohlstand und
Armut oder der noch längst nicht geschlossene Riss zwischen Ost und West.
Doch Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene
Wertschätzung. Dem Egoismus auf der individuellen Ebene entspricht die
Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr partikulares Interesse dem
Gemeinwohl rigoros vorzuordnen. Manche würden der regulativen Idee der
Gerechtigkeit gern den Abschied geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich
der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein. Für die
Kirchen und Christen stellt dieser Befund eine große Herausforderung dar.
Denn Solidarität und Gerechtigkeit gehören zum Herzstück jeder biblischen und
christlichen Ethik.
Zu beobachten sind vor allem zwei Trends der gesellschaftlichen und politischen
Entwicklung:
- Gesellschaftliche Entsolidarisierungstendenzen: Steigende Zuwächse in den
oberen Einkommensgruppen, zeitgleich zu einer Verringerung staatlicher
Transferleistungen mit der Gefahr zunehmender Verarmung, gerade auch bei
Kindern und Jugendlichen bzw. Familien mit mehreren Kindern. Ein Beispiel ist die
Debatte um Schulspeisungen für Hunderttausende von Kindern in Deutschland, die
nicht das Geld haben, um an Ganztagsschulen das Mittagessen zu bezahlen.
- Abbau von Schutzmechanismen bzw. sozialer Sicherungssysteme durch politische
Entscheidungen: So läuft etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
von Anfang April 2008 auf eine Gefährdung sozialer Grundrechte im Namen der
1. Abkürzung für das Gemeinsame Wort des Rates der EKD und der Deutschen
Bischofskonferenz 1997 „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, zit. m.
Randziffern.
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Dienstleistungs- und Wettbewerbsfreiheit hinaus. Bisher waren diese Freiheiten
durch nationale Schutzrechte für die Arbeitnehmer oder die Umwelt begrenzt, die
auch für Auftragsnahmen durch ausländische Unternehmen verbindlich waren. Dies
bot Schutz in solchen Staaten, in denen Löhne und Gehälter gesetzlich geregelt
waren, dies galt auch im Fall Niedersachsen, der nun entschieden wurde. Der
Europäische Gerichtshof verlangt nun aber, dass das entsprechende Schutzgesetz
gegen Billigkonkurrenz gekippt wird, weil es sich auf Tarifabsprachen, nicht auf
gesetzlich geregelte Mindestlöhne abstützt. Wo diese bestehen, gibt es insoweit
auch künftig einen gesetzlichen Schutz gegen Lohndumping, jedoch in anderen
Bereichen nicht.
II. Zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit
GW (11): Grundlegend muss die Erneuerung der wirtschaftlichen Ordnung auf
ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten
Marktwirtschaft zielen. Wer die natürlichen Grundlagen des Lebens nicht
bewahrt, zieht aller wirtschaftlichen Aktivität den Boden unter den Füßen weg.
Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene
Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum
müssen zur sozialen die ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten.
In seinem Kommentar zur Sozialenzyklika Pius XI. Quadragesimo anno (1931) hatte
Oswald von Nell-Breuning dafür plädiert, den Begriff "soziale Gerechtigkeit" im
Anschluss an Otto Schilling als ein Synonym für "Gemeinwohlgerechtigkeit"
aufzufassen2. Näherungsweise kann für Nell-Breuning soziale Gerechtigkeit als ein
Topos verstanden werden, der die "Erfüllung alles dessen [zum Gegenstand hat], was,
ohne in Rechtsregeln gefasst zu sein, aus allgemeinen naturgesetzlichen
Rechtsgrundsätzen, insbesondere aus dem obersten Rechtsgrundsatz des
Gemeinschaftslebens: bonum commune esse servandum, als Folgerung sich ergibt"3.
In dieser Sicht kann die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit von Fall zu Fall
unterschiedliche inhaltliche Gesichtspunkte aus den Bereichen der klassischen
Sonderformen der Gerechtigkeit (distributiva, commutativa, legalis) bezeichnen und
miteinander verbinden. Die faktische Nähe zur distributiven Gerechtigkeit erweist sich
als keineswegs zufällig, weil es immer wieder vor allem Defizite in diesem Bereich sind,
2. Vgl. Oswald von Nell-Breuning, Die soziale Enzyklika. Erläuterungen zum Weltrundschreiben
Papst Pius' XI. über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932, 169f.
3. In: Wörterbuch der Politik III, Freiburg 1949, 32 (zit. nach Joachim Giers, Zum Begriff der
justitia socialis. Ergebnisse der theologischen Diskussion seit dem Erscheinen der Enzyklika
"Quadragesimo anno" 1931, in: Münchener Theologische Zeitschrift 7 [1956] 61-74, hier 67).
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die begründen, warum eine vorfindliche soziale Struktur unter der Forderung nach
sozialer Gerechtigkeit zu kritisieren ist.
Zugleich
eröffnet
die
Bestimmung
sozialer
Gerechtigkeit
als
Gemeinwohlgerechtigkeit Räume für die Thematisierung von Gerechtigkeitsproblemen
nicht nur im Hinblick auf den Staat, sondern auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure.
Dies wird dort zunehmend wichtig, wo aus verschiedenen Gründen jedenfalls die Rolle
des Staates, wenn nicht sogar die der Politik generell immer weiter reduziert und die
Verantwortung für soziale Zuträglichkeit oder Unzuträglichkeit der obwaltenden
Verhältnisse entsprechend stärker auf Institutionen im zivilgesellschaftlichen Bereich
bzw. im privatwirtschaftlichen Sektor verlagert wird. Soziale Gerechtigkeit als
Gemeinwohlgerechtigkeit verweist jedoch ebenso auf die gerechtigkeitsrelevanten
Auswirkungen der Politik eines Nationalstaats jenseits seiner territorialen Grenzen – mit
anderen Worten: Ob eine Politik dem Gemeinwohl dient, ist unter der Fragestellung zu
beurteilen, ob in ihr für jeden Betroffenen der Schutz und die tatsächliche
Nutzungsmöglichkeit solcher elementarer Rechte gewährleistet sind. Im Friedenswort
der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union vom März 1999
spiegelt sich diese, die nationalstaatliche Perspektive transzendierende, Einsicht in der
Formulierung: "... die Perspektive eines solchen übernationalen Gemeinwohls lässt uns
erkennen, wo nationalstaatliche Interessenverfolgung ihre Legitimität einbüßt, weil sie
elementare Rechte und Interessen anderer verletzt und so leicht zu neuer
Ungerechtigkeit oder zur Festschreibung überkommener Unrechtsverhältnisse führt"4.
Maßstab der Legitimität politischen Agierens sind also dessen konkrete Auswirkungen
auf jene Minimalbedingungen menschenwürdiger Existenz, auf die alle Mitglieder der
Menschheitsfamilie einen Anspruch haben.
III.
Die Paradigmenabhängigkeit aktueller Gefährdungen des Gemeinwohls
durch ökonomische Prozesse
GW (9): Eine Wirtschafts- und Sozialordnung kommt nicht ohne Rahmen
gebende rechtliche Normierungen und Institutionen aus. Appelle genügen
nicht. Dieser Einsicht hat das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Rechnung
getragen. Es wird in der Bundesrepublik Deutschland seit fünf Jahrzehnten
erfolgreich praktiziert. Die Freiheit des Marktes und der soziale Ausgleich
waren dabei die beiden tragenden Säulen. Die Kirchen sehen im Konzept der
Sozialen Marktwirtschaft weiterhin - auch für die andauernde, mit großen
Härten verbundene wirtschaftliche Konsolidierung der neuen Bundesländer und
4. Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Union, Wahrheit, Erinnerung und
Solidarität - Schlüssel zu Frieden und Versöhnung. Wort der ComECE zum Frieden, Brüssel
11. 3. 1999, Nr. 21.
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für die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Einigung - den geeigneten
Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das
Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung
sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler. Heute ist
die Gefahr groß, dass die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der sozialen
Sicherung gestärkt werden soll. Nicht nur als Anwalt der Schwachen, auch als
Anwalt der Vernunft warnen die Kirchen davor, den Pfeiler der sozialen
Sicherung zu untergraben.
Bereits Quadragesimo anno stellte fest: Man würde es sich zu einfach machen, wenn
man die Gründe für das negative Erscheinungsbild des Kapitalismus auf moralische
Defekte bei einzelnen wirtschaftlichen Akteuren reduzierte. Dessen Systemlogik ist es
vielmehr, die dieses Erscheinungsbild geradezu erwarten lässt. Sie dürfte - wenn
ungehindert durch eine wirksame staatliche Ordnungspolitik - nicht nur eine fortgesetzte
Absenkung des moralischen Niveaus im Bereich der Ökonomie, sondern auch eine
Intensivierung politischer Konflikte bis hin zu kriegerischen Verwicklungen zwischen
Staaten zur Folge haben (vgl. Nr. 108). Konsequenterweise beklagt deswegen der Text
die zu beobachtende Schwächung des Staates, dessen Gesetzgebungs- und
Exekutivkompetenz ein Gegengewicht gegen diese Entwicklungen bilden könnte.
Die Befürwortung einer Stärkung staatlicher Gesamtverantwortung gegenüber der
Wirtschaft ist aber nicht nur Ausdruck des Bemühens, an einem insgesamt
zustimmungsfähigen System partielle Korrekturen anzubringen. Vielmehr läuft sie auf
eine Antithese zur liberalen Grundüberzeugung hinaus, dass der Wohlstand der Völker
und Nationen am ehesten durch eine möglichst ungehinderte Handelsfreiheit erreicht
werden könne, die ein hohes Maß an Ungleichheit bewusst in Kauf nehme und vor
allem unkorrigiert durch nichtökonomische Eingriffe lasse. Die meisten der
beobachtbaren negativen Entwicklungen werden in der liberalen Sicht letztlich auf einen
Mangel an Marktfreiheit zurückgeführt, den es durch noch weitergehende
Deregulierungen zu beseitigen gelte. Negative Wirkungen werden gerade nicht, wie bei
Pius und seinen Nachfolgern, als Hinweis auf prinzipielle konzeptionelle Defizite einer
liberalen Ordnungstheorie gedeutet. Mit anderen Worten: Hinter der vordergründig
politischen Auseinandersetzung um die Folgen des Kapitalismus wird ein
sozialwissenschaftlicher Paradigmenstreit erkennbar. Die Vertreter einer liberalen
Theorie setzen sich dabei mit dem Hinweis, dass gerade das von ihnen favorisierte
Prinzip des Wirtschaftens seine überlegene Effizienz und damit auch seine soziale
Vorteilhaftigkeit längst nachgewiesen habe, gegen ethische Einwände im Namen
sozialer Gerechtigkeit zur Wehr.
Das Fatale an dieser Konstellation liegt darin, dass über die Unzuträglichkeit
bestimmter wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen - beispielsweise über das
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Ausbleiben einer wirksamen Verringerung der Arbeitslosenquote - auch dann
Einverständnis herrschen kann, wenn wegen der dargestellten theoretischen
Grunddifferenz die jeweiligen Vorschläge zur Abhilfe tendenziell in entgegen gesetzte
Richtungen gehen. Vertreter des Liberalismus sehen sich nicht gezwungen, die
Legitimität der zentralen sozialpolitischen Ziele, für die seit der Enzyklika Leos XIII.
Rerum novarum (1891) die lehramtliche Sozialverkündigung und die wissenschaftliche
Sozialethik immer wieder eingetreten sind, prinzipiell in Frage zu stellen. Der Streit
beginnt unterhalb dieser Ebene - dort, wo wissenschaftliche Erklärungsansätze für
sozialpolitische Defizite miteinander konkurrieren, teilweise selbst innerhalb der
ökonomischen Fachdebatte. Erinnert sei nur daran, wie vor etlichen Jahren darüber
diskutiert wurde, ob rezessiven Tendenzen und einem allmählichen Anstieg der
Arbeitslosenquote nun primär binnen-oder vornehmlich außenwirtschaftliche Ursachen
zugrunde lägen. Hochkomplexe empirische Sachverhalte haben häufig eine
unvermeidlich scheinende Urteilsunsicherheit auf Seiten der Analytiker zur Folge, die
sich unmittelbar darauf auswirken kann, welche Überzeugungsgewissheiten die
Vertreter unterschiedlicher theoretischer Positionen zu verteidigen vermögen und wie
lange.
Auf den ersten Blick mag diese Situation im Blick auf den Begründungsbedarf
zentraler sozialethischer Anliegen als entlastend wahrgenommen werden. Wo wichtige
Zielbestimmungen bejaht werden können, ohne dass dies folgenreich für die Frage
wird, wie weit sich bisherige eigene Positionen weiterhin behaupten lassen, dort
reduzieren sich zumindest die Vermittlungsprobleme in andere als kirchliche oder
sozialethische Kontexte hinein. Doch mit dieser Entlastungswirkung geht zugleich die
Gefahr einher, dass nicht thematisiert wird, worin sich die Position der katholischen
Soziallehre von einer liberalen Grundauffassung des Wirtschaftsgeschehens bleibend
unterscheidet. Direkter formuliert: Wenn alle strittigen Fragen der konkreten
Anwendung sozialethischer Prinzipien in Diskurszusammenhänge verwiesen werden,
für die die Sozialethik einen eigenen Kompetenzanspruch immer weiter meint
zurücknehmen zu müssen, wobei an deren Stelle dann weitgehend lediglich
ökonomische Expertise tritt, dort geraten auch bisher für wichtig gehaltene inhaltliche
Entfaltungen solcher Prinzipien - und zumal die Verweisung der Realisierungsaufgabe
an andere Akteure als die wirtschaftlichen selbst - immer mehr in den Verdacht, in
erster Linie zum Ausweis mangelnder ökonomischer Kompetenz zu geraten.
Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Zu einiger Prominenz ist in der letzten
Zeit die Formel gelangt, sozial sei alles, was Beschäftigung schaffe. In einer Zeit, in der
für zahlreiche Langzeitarbeitslose kaum Wiedereinstellungschancen bestehen und das
Schicksal, arbeitslos zu werden, immer mehr Menschen auf nahezu allen sozialen
Ebenen bedroht, wird man es sich dreimal überlegen, bevor man ein solches Motto
kritisiert. Eine wirksame Beschäftigungspolitik ist ohne jeden Zweifel ein hohes Gut.
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Doch wurde seit den Anfängen kirchlicher Sozialverkündigung stets betont, dass es
nicht nur das Ergebnis ist, was zählt, sondern auch, auf welche Weise und um welchen
Preis es zustande kommt. Deswegen widmen sich die Sozialenzykliken wie die
Pastoralkonstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) nicht
nur der Benennung sozialer Probleme und dem Hinweis auf ihre Tragweite, sondern sie
unternehmen auch eine Analyse ihrer Entstehungszusammenhänge und bauen auf
diese einen Katalog konkreter ordnungs- und sozialpolitischer Forderungen auf. Einem
solchen Zugriff gegenüber erweist sich das zitierte Motto als unterkomplex; es steht in
Gefahr, diejenigen qualifizierenden Rahmenbedingungen zu vernachlässigen, unter
denen Strukturreformen erst das Attribut verdienen können, einen Beitrag zu mehr
sozialer Gerechtigkeit zu leisten. Die Maxime, sozial sei alles, was Beschäftigung
schaffe, scheint z.B. mit Beschäftigungsverhältnissen vereinbar, die auf die Entstehung
einer neuen Klasse von "working poor" hinausliefen. Schon Rerum novarum hatte
demgegenüber klar gestellt, Kennzeichen eines gerechten Lohnes sei es, dass der
Arbeiter davon tatsächlich existieren könne (vgl. Nr. 34), und die Sozialenzyklika
Johannes' XXIII. Mater et Magistra (1961) beklagte, "dass in vielen Ländern und
ganzen Erdteilen zahllosen Arbeitern ein Lohn gezahlt wird, der ihnen selbst und ihren
Familien wirklich menschenunwürdige Lebensbedingungen aufzwingt" (Nr. 68).
Doch gerade wo es um die Analyse und die darauf fußenden Empfehlungen geht,
bleibt heute die erkenntnistheoretische Frage bedrängend, wie man sich vergewissern
kann, von einem zutreffenden Vorverständnis der Problematik auszugehen. Zumindest
lässt sich so viel sagen: Wird einem einmal bewusst, von welchen empirisch nur sehr
bedingt prüfbaren Grundannahmen her Theorien entworfen werden, die, wenn
umgesetzt, die denkbar weitestreichenden Auswirkungen für eine große Zahl von
Betroffenen mit sich bringen, so leuchtet auch die Ideologieanfälligkeit auf, die sich mit
solchen Annahmen verbindet. Schon deswegen ist ihnen mit Skepsis zu begegnen und
um so mehr darauf zu sehen, welche konkreten Veränderungen sie tatsächlich zur
Folge haben, sobald sie politisch implementiert werden.
Methodisch hätte dies Konsequenzen für die Beweislastregelung: Wenn bestimmte
ökonomische Empfehlungen dazu führen, dass diejenigen Personengruppen, die in
einer gegebenen sozialen Struktur bereits am meisten benachteiligt sind, dadurch in
Abhängigkeit und Not verbleiben oder überhaupt erst in solche Verhältnisse
hineingeraten, dann ergibt sich für denjenigen, der die Hinnehmbarkeit solcher
Auswirkungen vertritt, eine Begründungsanforderung, die über die Bekräftigung einer
liberalen Grundoption weit hinausreicht. Wenn man einmal an die auch sozialethisch
überlegene Qualität der Steuerung durch deregulierte Märkte glaubt, erweisen sich
zumeist auch alle weiteren Forderungen im Rahmen dieses Paradigmas als
konsequent. Um dessen Problematik aufzuweisen, bedarf es daher einer anderen
Vorgehensweise als des üblicherweise begegnenden Versuchs, lediglich durch eine
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Kritik, die dem Paradigma immanent bleibt, partielle Korrekturen durchzusetzen und
wenigstens die schlimmsten Unzuträglichkeiten halbwegs abzufedern.
Angesichts der stets vorhandenen Alternative, sozialethisch negativ zu wertende
Effekte politisch zu korrigieren, lautet dann aber die sachgemäße Frage nicht
"Politische Steuerung oder Marktlogik?", sondern es muss um eine den veränderten
nationalstaatlichen und internationalen Handlungsbedingungen angemessene
Verhältnisbestimmung zwischen beiden Bezugssystemen gehen. Deren Maßstab
wiederum kann nur durch eine ethische Vergewisserung gewonnen werden, in der
deutlich wird, dass Politik und Ökonomie unter einer sie verbindenden
Grundverpflichtung stehen: zu verhindern, dass aus sozialer Ungleichheit neue Formen
sozialer Unfreiheit werden5. Daher gilt es nicht nur zu rechtfertigen, ob und wie weit
man in die Autonomie des Marktgeschehens eingreifen darf, sondern ebenso, bis zu
welchem Grad ein Abseits-Stehen zulässig ist, wenn dieser Markt zu Ergebnissen führt,
die offensichtlich mit demjenigen normativen Anforderungsprofil kollidieren, das mit der
Rede von sozialer Gerechtigkeit auf eine prägnante Formel gebracht wurde.
IV.Zur Aufgabe der Rückgewinnung politischer Gesamtverantwortung auch für
den Bereich der Ökonomie
Ein angemessener Zugriff wird daher auch künftig den Bereich der Ökonomie als ein
Teilsystem innerhalb eines komplexeren Verweisungszusammenhangs zu betrachten
haben, dessen Binnenlogik zwar berücksichtigt, von ihren tatsächlichen, das
Ökonomische weit übergreifenden Effekten her aber zugleich relativiert werden muss.
Erst dann wird es auch theoretisch möglich, die Politik als eigenständige Größe wieder
in ihr Recht zu setzen, statt sie lediglich zur Funktion der ökonomischen Rationalität
werden zu lassen. Politik soll vielmehr ihre korrektivische Funktion als Sachwalterin
derjenigen Interessen wahrnehmen, die innerhalb der Entscheidungslogik einzelner
Unternehmen kaum angemessen zur Geltung gebracht werden können - nicht nur im
Hinblick auf die Sicherstellung eines hinreichenden Maßes an Verteilungs- und
Chancengerechtigkeit, sondern auch hinsichtlich des Schutzes anderer "globaler
öffentlicher Güter"6, speziell der natürlichen Lebensgrundlagen. Mit "Politik" ist dabei
nicht lediglich die Politik der Regierungen heutiger Nationalstaaten gemeint, sondern
ebenso das differenzierte Spektrum politischer Aktion, wie es im Bereich der
Zivilgesellschaft, der Nichtregierungsorganisationen, aber ebenso auf der
supranationalen Ebene verfasster Institutionen anzutreffen ist. Auch für Institutionen wie
5. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wie viel Staat die Gesellschaft braucht, in: Süddeutsche
Zeitung 8. 11. 1999, 12.
6. Vgl. Inge Kaul / Isabelle Grunberg / Marc A. Stern (Hg.) für das Entwicklungsprogramm der
Vereinten Nationen (UNDP), Globale öffentliche Güter. Internationale Zusammenarbeit im
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Weltbank, IWF oder WTO ergeben sich daraus erweiterte Aufgabenstellungen
innerhalb eines Rechtsrahmens, der an die aktuellen internationalen Verhältnisse
angepasst werden muss.
Inzwischen mehren sich die Anzeichen dafür, dass in der Wirtschaftspolitik eine
allmähliche Abkehr vom vorherrschenden Paradigma stattfindet. Die Skepsis auch von
Ökonomen gegenüber den vielbeschworenen „Selbstheilungskräften“ des Marktes
nimmt zu, was sich in jüngster Zeit an der Reaktion auf die Auswirkungen der
aktuellen internationalen Finanzkrise ablesen lässt, in der der Ruf nach einer
Rückgewinnung staatlicher Rahmensetzungs- und Steuerungskompetenzen immer
lauter wird. Die entscheidende Frage lautet freilich zum einen, wie diese Stärkung
bzw. Rückgewinnung politischer Entscheidungskompetenzen zu realisieren wäre,
und zum anderen, wie man zugleich Vorsorge dagegen trifft, dass sie nicht ihrerseits
neue Unzuträglichkeiten bewirkt, an die man sich etwa im Zusammenhang mit
bestimmten Phänomenen zentraler Verwaltungswirtschaften erinnert.
Eine Orientierung an einem sachgemäßen Verständnis von Subsidiarität kann hier
hilfreich sein. Das Sozialwort von 1997 führte zur inhaltlichen Bestimmung dieses
sozialethischen Prinzips aus:
GW (27): Subsidiarität ist nach seinem ursprünglichen Sinn ein Prinzip, das die
Einzelperson und die kleinen und mittleren Einheiten davor schützt, dass ihnen
entzogen wird, was sie aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten
können. Ein anderer Akzent wird hingegen dort gesetzt, wo unter Berufung auf
das Subsidiaritätsprinzip Aufgaben nach unten abgegeben und dann
ehrenamtliche Leistungen eingefordert und Risiken sowie Kosten auf den
einzelnen übertragen werden. Bei der Subsidiarität geht es darum, die
Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu
schützen und zu unterstützen, nicht jedoch, ihnen wachsende Risiken
zuzuschieben. Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat
gehören insofern zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung
befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den einzelnen mit seiner sozialen
Sicherung allein lassen.
In dieser Perspektive wirkt eine zurück gewonnene politische Gesamtverantwortung
auch für ökonomisches Handeln gerade nicht Freiheit erdrückend, sondern im
Gegenteil Freiheit ermöglichend für alle am wirtschaftlichen Interaktionsprozess
Beteiligten. Sie versteht es als ihre Verpflichtung, beständig zu prüfen, wo die Folgen
solchen Handelns zu Korrekturen Anlass geben, weil sie Grundforderungen der
Solidarität gegenüber Personen und Gruppen verletzen, die auf der Verliererseite des
21. Jahrhundert, New York/Oxford: Oxford Univ. Press 1999.
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ökonomischen Wettbewerbs stehen. Zugleich bedarf es auf Seiten der Konsumenten
einer „ökonomischen Kultur“ umsichtigen Kaufverhaltens, also auch moralischer
Aufklärung, nicht nur einer effektiveren Gesetzgebung. Dabei bedingt das Ethos der
wirtschaftlichen Akteure auch die Effizienz der Regeln, denn es ist offensichtlich,
„dass um der Effizienz der Rahmenregeln willen ethische Prinzipien erforderlich sind,
die für die Selbstbindung von Verbrauchern und Unternehmen an
Verhaltensstandards sorgen“7. Auch diesen Zusammenhang unterstreicht das
Sozialwort:
GW (12): Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist
moralisch viel anspruchsvoller, als im Allgemeinen bewusst ist. Die Strukturen
müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie
tragende und stützende Kultur. Der individuelle Eigennutz, ein entscheidendes
Strukturelement der Marktwirtschaft, kann verkommen zum zerstörerischen
Egoismus. … Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine
gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben.
Denn eines macht der Blick zurück auf die sozialpolitischen Entwicklungen der letzten
150 Jahre in bleibender Weise deutlich: Nur in einem Ordnungsrahmen, in dem
rechtliche Schutznormen nicht nur definiert, sondern auch verlässlich durchgesetzt
werden können, kann der Einzelne damit rechnen, nicht lediglich einem Spiel
weitgehend anonym werdender Kräfte preisgegeben zu werden. Wenn überhaupt,
dann kann sich im Rahmen einer solchen, nur politisch zu garantierenden
Ordnungsstruktur das Vertrauen herausbilden, auch dann nicht unterzugehen, wenn
man jedenfalls auf absehbare Zeit zu den Verlierern ökonomischer Prozesse zählt. Für
den sozialen Frieden einer Gesellschaft ist dieses Vertrauen aber von
ausschlaggebender Bedeutung.
Dies lässt sich bereits durch einen einfachen Blick auf aktuelle Konflikte innerhalb
der Gesellschaften im EU-Europa überprüfen: Wer tatsächlich oder vermeintlich auf der
Verliererseite steht, gerät in große Gefahr, auf diese Situation mit Schuldzuweisungen
an die angebliche ausländische Konkurrenz um Wohnungen und Arbeitsplätze zu
reagieren, die durch unterschiedliche Erscheinungsformen internationaler Migration
entstehe. In den meisten Fällen stellt sich zwar der Sachverhalt wesentlich komplexer
dar und straft eine solche Einfachlogik Lügen. Diese Tatsache vermag aber den
sozialen Auswirkungen solcher oftmals falscher Vorstellungsmuster kaum etwas von
ihrer Brisanz, ja Gefährlichkeit zu nehmen. Wenn es sich Gesellschaft und Politik
leisten zu können glauben, große Teile ihrer Bürgerschaft nicht mehr dagegen zu
sichern, von wichtigen Dimensionen der Teilhabe am sozialen Leben dauerhaft
ausgeschlossen zu sein, dann läuft dies nicht nur auf eine "praktizierte Leugnung von
7. Ludger Heidbrink, Ich konsumiere, also bin ich, in: Die Zeit Nr. 16 / 10. 4. 2008, 60.
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sozialen Grundwerten"8 hinaus. Es wird auch riskiert, Wasser auf die Mühlen derer zu
leiten, die solche politischen Versäumnisse zu einer ihrer wichtigsten argumentativen
Stützen im Kampf gegen eine freiheitlich-soziale Gesellschaftsform überhaupt machen.
Aktuelle soziologische Studien9 über die Entwicklung rechter bis rechtsextremer Milieus
in Deutschland warnen vor einer weiteren Zunahme autoritärer Orientierungen gerade
bei Menschen in prekären Lebensverhältnissen, wenn sich bei ihnen der Eindruck
verfestige, dass schwerwiegende soziale Probleme im Rahmen demokratischer
Ordnungen nicht befriedigend lösbar seien und keine Aussichten bestünden, die
eigene, in vielfacher Hinsicht als unbefriedigend empfundene wirtschaftliche und
soziale Situation zu verbessern.
In diesem Zusammenhang kommt einer weiteren Aussage des Sozialworts von 1997
große Bedeutung zu:
GW (25) Sozialer Ausgleich und soziale Balance sind auch dann gefordert,
wenn die Lasten neu verteilt werden. Veränderungen und Anpassungen des
Sozialstaats dürfen nicht nur und auch nicht in erster Linie den
Geringerverdienenden, den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern
zugemutet werden. Das Gerechtigkeitsempfinden wird empfindlich gestört,
wenn nicht zur gleichen Zeit bei denen Abstriche gemacht werden, die sie ohne
Not verkraften können, und entschiedene Anstrengungen zur Bekämpfung von
Steuerhinterziehung und Steuerflucht unternommen werden.
V.
Spannungen und Zielkonflikte zwischen der innergesellschaftlichen und der
internationalen Dimension sozialer Gerechtigkeit
Abschließend sei ein Blick auf die entwicklungspolitische Diskussion geworfen, um an
diesem Beispiel zu verdeutlichen, in welcher Weise das Eintreten für soziale
Gerechtigkeit auch im internationalen Bereich heute Kontur gewinnen kann und vor
welche Schwierigkeiten sich Versuche politischer Implementierung gestellt sehen.
Wählt man zum Ausgangspunkt der sozialethischen Argumentation die „Option“ - oder,
wie es in der Enzyklika Johannes Pauls II. Sollicitudo Rei Socialis (1987) heißt: die
"vorrangige Liebe" (Nr. 42) - für die Armen und entwirft von hier aus einen Begriff von
Entwicklung, der über ökonomische Kategorien hinausreicht, dann kann mit der
Enzyklika Centesimus annus (1991) formulieren: "Die Armen verlangen das Recht, an
8. Ralf Dahrendorf, An der Schwelle zum autoritären Jahrhundert, in: Die Zeit Nr. 47 / 14. 11.
1997, 15.
9. Vgl. z.B. Richard Stöss, Rechtsextremismus im Wandel, Berlin 2007.
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der Nutzung der materiellen Güter teilzuhaben und ihre Arbeitsfähigkeit einzubringen,
um eine gerechtere und für alle glücklichere Welt aufzubauen ... Es geht nicht einfach
darum, alle Völker auf das Niveau zu heben, dessen sich heute die reichsten Länder
erfreuen. Es geht vielmehr darum, in solidarischer Zusammenarbeit ein
menschenwürdigeres Leben aufzubauen" (Nr. 28f.). Wie weit eine konkrete soziale
Situation dieser Zielperspektive entspricht, lässt sich dann vor allem daran ablesen, in
welchem Maße individuelle Menschenrechte in ihr realisiert sind. Das Plädoyer für die
Menschenrechte darf dabei nicht reduziert werden auf den Anspruch auf eine
staatsfreie Sphäre zur Entfaltung der Persönlichkeit; es schließt politische
Teilhabemöglichkeiten ebenso ein wie die Gewährleistung sozialer Mindeststandards,
die man zutreffend als "soziale Menschenrechte" bezeichnen kann. In der Enzyklika
Pacem in terris (1963) sprach Johannes XXIII. unter anderem davon, "dass der Mensch
das Recht auf Leben hat, auf die Unversehrtheit des Leibes sowie auf die geeigneten
Mittel zu angemessener Lebensführung. Dazu gehören Nahrung, Kleidung, Wohnung,
Erholung, ärztliche Behandlung ..., ein Recht auf Beistand ... im Falle von Krankheit,
Invalidität, Verwitwung, Alter, Arbeitslosigkeit oder wenn er ohne sein Verschulden
sonst der zum Leben notwendigen Dinge entbehren muss" (Nr. 11).
Angesichts jüngster Veröffentlichungen, die von einer sich dramatisch zuspitzenden
Ernährungskrise in vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt berichten, wird
deutlich, wie sehr diese elementaren Forderungen internationaler Gerechtigkeit auch in
der Gegenwart noch der Erfüllung harren. Zwischen der Schaffung von mehr
Gerechtigkeit im internationalen Rahmen und der Lösung von Gerechtigkeitsproblemen
innerhalb eines Staats bzw. einer Gesellschaft kann jedoch durchaus ein
Spannungsverhältnis bestehen. Wie würden Arbeitsmärkte und Arbeitnehmer
hierzulande reagieren, wenn tatsächlich in einem deutlich stärkeren Ausmaß als
bisher Zollschranken im internationalen Handel entfielen? Die Hartnäckigkeit, mit der
Staaten der EU in den WTO-Verhandlungen Marktöffnungen verweigern und
gleichzeitig den Export ihrer eigenen Produkte subventionieren, hemmt unmittelbar
die Chancen von Produzenten aus Entwicklungsländern, mit ihren Erzeugnissen
international konkurrenzfähig zu werden. Fatalerweise führt diese Situation zu einer
weiteren Erschwerung der WTO-Verhandlungen, weil das Bestreben von
Industrieländern, globale Sozial- und Umweltstandards durchzusetzen, auf ein tiefes
Misstrauen seitens vieler Entwicklungsländer stößt, ob nicht auf diesem Weg
lediglich bereits gegebene Marktvorteile der Industrieländer festgeschrieben werden
sollen.
Auch zu dieser Frage hatte sich das Sozialwort der Kirchen deutlich positioniert:
GW (33): […] Globalisierung ereignet sich […] nicht wie eine Naturgewalt,
sondern muss im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestaltet werden.
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Sie kann zahlreichen wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern neue Chancen
geben. Die Chancen bestehen freilich nur so lange, wie die reichen Länder
bereit sind, ihre Märkte offenzuhalten und weiter zu öffnen. Das verlangt den
Menschen in Deutschland Umstellungen ab und ist für manche
Wirtschaftszweige mit Einbußen verbunden. Die Kirchen treten in dieser
Situation dafür ein, auch eine solche Entwicklung zu bejahen und zu fördern.
Man kann nicht zuerst nach Chancen wirtschaftlicher Entwicklung für die
ärmeren Länder rufen, aber dann zurückzucken, wenn es einen selbst etwas
kostet. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der ärmeren Länder zu
fördern, ist zudem nicht nur ein Gebot weltweiter Solidarität und Gerechtigkeit,
es ist auch ein Gebot des Selbstinteresses: Es ist unerlässlich, um die
Fluchtursachen zu bekämpfen. Es ist Teil einer vorausschauenden
Friedenspolitik.
Was können gesellschaftliche Akteure tun, um jenen Strukturwandel im eigenen Land
zu ermöglichen und zu begleiten, der unerlässlich ist, wenn den Forderungen des
Sozialwortes Rechnung getragen werden soll? Auch diese Frage sollte in einem Dialog
zwischen Kirchen und Gewerkschaften ausdrücklich reflektiert werden – bietet er doch
die Gelegenheit, über Wege zu mehr Gerechtigkeit in grundsätzlicher, konzeptionell
orientierter Weise miteinander ins Gespräch zu kommen.
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