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Die Tür geht auf, und schon steht er mitten im Aufnahmestudio: einer der
bedeutendsten russischen Komponisten, Ehrenprofessor des Moskauer und des St.
Petersburger Konservatoriums, Träger höchster nationaler und internationaler
Auszeichnungen, langjähriger Vorsitzender des russischen Komponistenverbandes
(und als solcher der unmittelbare Nachfolger und Wunschkandidat von Dmitri
Schostakowitsch) – Rodion Shchedrin. Mit seinem jugendlichen und lebendigen
Auftreten ist ihm sein Alter kaum anzumerken. Der aufmerksame, freundliche Blick
vermittelt unverfälschtes Interesse für sein Gegenüber. Er setzt sich mit den Noten
neben uns – sein Lob ist aufrichtig und ermunternd, die Kritik sachlich und
bereichernd. Die Aufnahme wird für uns zu einer Begegnung mit einem großen
Musiker und liebenswürdigen Menschen.
„Die innere Freiheit“
„Der Mensch muss immer auf seine innere Freiheit bauen. Auf die Freiheit, die dir
niemand gibt, die du aus dir selbst heraus schaffen musst! Wenn man diese Freiheit
nicht besitzt, egal in welchem politischen System, ist man kein Künstler.“ Diese in
einem Interview geäußerten Worte Shchedrins sind keine leere Deklaration, sondern
sein wichtigstes Lebens- und Schaffensprinzip. Seit 1992 teilt er seine Zeit zwischen
verschiedenen Ländern, lebt abwechselnd in Moskau, München und Litauen, wobei
er sich vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem Mainzer Schott-Verlag mit
Deutschland verbunden fühlt. Im Unterschied zu manchen Musiker-Kollegen, die –
kaum im Westen angekommen – sich als verfolgte Dissidenten präsentierten, hat
Shchedrin nie versucht, aus seinen Lebensumständen politisch Kapital zu schlagen.
Dabei war er seinerzeit der einzige Musiker, der sich nach der Invasion der
Sowjettruppen in der Tschechoslowakei 1968 weigerte, diese Untat mit seiner
Unterschrift zu billigen. Nicht zufällig engagierte er sich dann während der
Gorbatschow-Ära als Parlamentarier in der Reformbewegung. Für die weltweite
Verbreitung seiner Werke sollten jedoch nicht derartige Tatsachen eine fördernde
Rolle spielen, sondern ausschließlich die Qualität seiner Musik, die Interpreten wie
Lorin Maazel, Mstislav Rostropovich, Mariss Jansons, Maxim Vengerov und viele
andere anzieht.
Genauso kompromisslos zeigt sich Shchedrin, wenn es sich um die modischen
Avantgarde-Strömungen des westlichen Musikbetriebs handelt. „Ich habe mich nie
einer dieser kleinen musikalischen Religionen verschrieben“, sagt er unverblümt und
setzt seine Kritik der „Diktatur der Avantgarde“ fort: „Wenn Sie zur Premiere eines
‚Avantgarde-Werkes’ gehen, wissen Sie bestens, was Sie erwartet. Weder Melodie
noch Rhythmus, weil es ‚peinlich’ ist, so zu schreiben. Und wozu soll man dann
überhaupt hingehen, wenn es kein Geheimnis mehr gibt? So hat die moderne Musik
ihren Zuhörer verloren, sich in den kleinen Festival-Ghettos isoliert.“ Auch wenn
Shchedrin sich mit den kompositionstechnischen Neuerungen der Avantgarde aktiv
auseinandersetzt, bleibt für ihn die eigene künstlerische Individualität (die er
„Intuition“ nennt) stets ausschlaggebend. Die innere Freiheit ist für ihn also auch in
ästhetischer Hinsicht von existenzieller Bedeutung.
Es ist vor allem die russische Musikkultur im weitesten Sinne, die Shchedrins
Ästhetik und seine Musiksprache beeinflusste. „Russland bedeutet mir unglaublich
viel… Ich selbst bin ganz einfach Russlands Sohn – und möchte mich von diesen
Wurzeln auch niemals lösen“, bekennt er und protestiert energisch, wenn er als
Emigrant bezeichnet wird. In der Tat: eine lebendige Verbindung des Komponisten
zu Russland, zu seinen Traditionen und seiner Sprache ist nie abgebrochen. In einer
musikalischen Familie aufgewachsen, studierte Shchedrin am traditionsreichen
Moskauer Konservatorium und nahm neben der professionellen Ausbildung auch
vielfältige Impulse der volkstümlichen Musikkultur auf, angefangen von der
Bauernfolklore bis hin zur Zirkusmusik. Besonders wichtig war für ihn der
Chorgesang der russisch-orthodoxen Kirche, der ihm seit frühester Kindheit durch
die religiöse Atmosphäre zu Hause vertraut war.
„Ich bin im Moment vor allem glücklich“
Gefragt nach den Bedingungen seiner schöpferischen Arbeit, beruft sich Shchedrin
auf Schostakowitsch, der zu sagen pflegte: „Man kann auch in einer Hundehütte
komponieren, vorausgesetzt, man hat Gedanken im Kopf.“ „Das Komponieren ist
wie Liebe“, fügt Shchedrin hinzu. „Wie schlecht es einem auch gehen mag, wie viele
Sorgen man auch haben mag, wenn man sich verliebt, tritt alles andere in den
Hintergrund, es existiert nur der Gegenstand der Liebe.“ Es ist jedoch nicht zu
übersehen, dass der Komponist gerade seit Beginn der 1990er Jahre – als er
imstande war, sich vom Moskauer Alltag zu lösen, – eine äußerst fruchtbare Periode
erlebt.
Die vorliegende CD stellt drei Kammermusikkompositionen vor, die alle Mitte der
1990er Jahre entstanden sind und verschiedene kontrastreiche Facetten von
Shchedrins Schaffen repräsentieren. Das Piano Terzetto von 1995 wurde im Auftrag
der Pariser „L’Association Parade“ komponiert. Die beiden Sätze des Trios tragen
programmatische Titelbezeichnungen. Der erste Satz Frühstück im Freien
transformiert dem Komponisten zufolge „gewissermaßen musikalisch ein in der
Malerei bereits zum Klassiker gewordenes, lyrisches Sujet“. Denkt man dabei an das
bekannte Bild von Édouard Manet mit einer nackten Dame in Gesellschaft zweier
wohlgekleideter Herren, so erscheint die Andeutung des Komponisten zunächst
etwas rätselhaft. Wenn man allerdings die untergründige Botschaft des Bildes
beachtet – Sinnlichkeit, die sich von den gesellschaftlichen Konventionen befreit und
aus einem klassizistisch pastoralen Rahmen herausbricht – so wird Shchedrins
Gedanke verständlicher. Auch in seiner Musik vermögen klassizistische Allusionen
und spröde Klänge die versteckte Leidenschaft nicht zu verdecken. Im Unterschied
zu Manets Bild, dessen ironische Note kaum zu übersehen ist, ist Shchedrins
Frühstück im Freien jedoch eher durch eine leicht melancholische, nostalgische
Stimmung geprägt.
Offensichtlicher ist die Programmidee des zweiten Satzes Parade à la russe. Dem
Auftraggeber verpflichtet, knüpft diese Musik gleichzeitig an die berühmte „Parade“
von Eric Satie an, wie auch an die Ästhetik seines Librettisten Jean Cocteau mit
klanglichen Idealen von Schärfe, Kühle und mechanischer Härte. Shchedrins
musikalische Groteske ist allerdings durch und durch russisch. Ähnlich wie einige
Jahre zuvor in seinem Konzert für Orchester Nr. 3 „Alte Musik der russischen
Provinzzirkusse“ zitiert er hier ein Lied, das von den Instrumentalisten sogar
gesungen werden soll. Waren es im Orchesterkonzert die berühmten „Schwarzen
Augen“, so bildet im Klaviertrio das alte russische Soldatenlied „Nachtigall,
Nachtigall, Vögelchen“ den Höhepunkt des Satzes: es wird von allen drei Musikern
aus voller Kehle und auf dem Hintergrund von ohrenbetäubend lauten, dissonanten
Akkorden gegrölt. Anschließend wird das Geschehen aber erneut in ein
nostalgisches Flair getaucht.
Die ein Jahr nach dem Trio entstandene Sonate für Violoncello und Klavier wurde
1997 von Mstislav Rostropovich und dem Komponisten uraufgeführt. Im Unterschied
zum Trio enthält die Sonate keine programmatischen Hinweise. Die Konzeption des
monumentalen dreisätzigen Zyklus ist ungewöhnlich. Die Strenge und die an Askese
grenzende Konzentration des ersten langsamen Satzes erinnert an den späten
Schostakowitsch. Der zweite Satz ist eine Art verfremdete Serenade, wobei das
sinnliche Pathos der Cello-Melodie im seltsamen Kontrast zu den mechanischemotionslosen Begleitfiguren steht und von diesen quasi „aufgehoben“ wird. Das
wiederum langsame Finale beginnt mit einem düsteren „de profundis“ beider
Instrumente. Im Mittelteil steigert sich die lyrische Melodie vom dolcissimo bis zur
äußersten emotionalen Anspannung und scheitert schließlich an der Wiederkehr des
ersten Themas. Die harten, unerbittlichen Klänge der Schlussepisode nehmen
gleichsam die letzte Hoffnung.
Eine weitere bemerkenswerte Seite Shchedrins – seinen musikalischen Humor –
zeigen die 1997 geschriebenen Drei heiteren Stücke. Der Komponist bearbeitete für
Klaviertrio drei seiner früheren Klavierstücke – die berühmte Humoreske (1957)
sowie zwei Stücke aus dem „Heft für die Jugend“ von 1981: Gespräche (eine
rhythmisch und metrisch ungebundene Imitation lebendiger Sprachintonationen)
und Spielen wir eine Oper von Rossini (eine perfekte Stilkopie ohne jegliches Zitat).
In einem Gespräch aus jüngster Zeit äußerte Shchedrin spontan: „Ich bin im
Moment vor allem glücklich.“ Für uns, seine Interpreten, bleibt es zu hoffen, dass er
dadurch noch zu vielen meisterhaften Werken inspiriert wird und dass er sie nicht in
einer Hundehütte komponieren muss.
Jascha Nemtsov
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