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Nach dem Ersten Weltkrieg sahen sich die Araber im Nahen Osten um
die durch die Westalliierten geweckte Hoffnung betrogen, nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs würde ein durch Großbritannien und Frankreich abgesicherter arabischer Gesamtstaat entstehen.
Eine arabische Nationalbewegung, welche die Fessel des Osmanischen Reiches abwerfen wollte, war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Erst im Ersten Weltkrieg ergab sich für deren Protagonisten die Chance, sich mit der Hilfe von Briten und Franzosen von der
osmanischen Herrschaft zu befreien.
Großbritannien unterstützte den Aufstand gegen die Osmanen. Dank
des britischen Geheimdienstoffiziers Thomas Edward Lawrence, besser
bekannt als Lawrence von Arabien, kam es im Januar 1917 durch die
Einnahme der Hafenstadt El-Wajh zu einer entscheidenen Wende auf
dem arabischen Kriegsschauplatz zugunsten der Entente. Mit seinen Erinnerungen »Seven Pillars of Wisdom« (1926) hinterließ Lawrence ein
wichtiges literarisches Zeugnis des Ersten Weltkriegs. Die »Befreiungsmission« der Entente entpuppte sich allerdings nur allzu rasch als die
Aufteilung des Nahen Ostens in Einfluss- und Mandatsgebiete, die bis
in die 1940er-Jahre andauern sollte. – Im Bild die Hollywoodstars Peter
O‘Toole (als Lawrence von Arabien, Mitte), Anthony Quinn (rechts) und
Omar Sharif in der oscargekrönten Verfilmung »Lawrence von Arabien«
von 1962.
Der Nahe Osten und der Libanon
nach dem Ersten Weltkrieg
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die arabischen Einwohner
des Nahen Ostens und Nordafrikas in der Regel Untertanen des
osmanischen Sultans, als Kalif für viele gleichzeitig ein religiöser
Führer. Zwar entstanden in dieser Zeit Anfänge einer arabischen
Nationalbewegung, die letztlich – ohne zentrale Führung – eher
als Antwort auf den jungtürkischen Nationalismus zu sehen sind
(vgl. den Beitrag von Mehmet Hacısalihoğlu). Die grundlegende Konfrontation des Ersten Weltkriegs zwischen der Entente
und den Mi�elmächten, zu denen auch das Osmanische Reich
gehörte, eröffnete den arabischen Loslösungsbestrebungen die
Möglichkeit, sich von den Ententemächten Großbritannien und
Frankreich unterstützen zu lassen.
Tatsächlich rückten arabische Nationalinteressen erst in dem
Moment in das Blickfeld der Entente, als der Sultan in seiner Eigenscha� als Kalif zum »Heiligen Krieg« (Dschihad) gegen die
ungläubigen Feinde aufrief. London suchte jetzt nach einer arabisch-muslimischen Persönlichkeit, die dem osmanischen Aufruf
zum Dschihad die Gefolgscha� entziehen sollte. Der britische
Vorschlag, das Kalifat wieder »in arabische Hände« zu legen,
wurde vom Scherifen Hussein von Mekka aus der Prophetenfamilie der Haschimiten (Bani Haschim) bereitwillig aufgenommen. Er wollte nicht nur arabischer Kalif werden, sondern zielte auch auf die immer noch vakante Position des Führers eines
kün�igen arabischen Einheitsstaates. Deshalb nahm er einen
lebha�en Briefwechsel mit dem Hochkommissar des britischen
Protektorats Ägypten, Henry McMahon, auf. McMahon entsandte seinerseits Emissäre, allen voran Thomas Edward Lawrence
(Lawrence von Arabien), um die Araber unter Führung des Scherifen zum offenen Aufstand gegen die Osmanen zu bewegen. Als
Gegenleistung für die nun tatsächlich einsetzende militärische
Unterstützung sicherte die britische Regierung die Gewährung
eines unabhängigen arabischen Staates nach dem Sieg über das
Osmanische Reich zu. Nach dessen Kapitulation am 30. Oktober
1918 ha�en die aufständischen Araber also allen Grund, von der
Einlösung der britischen Versprechungen auszugehen. Sie konn59
I. Historische Entwicklungen
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Der Nahe Osten nach dem Ersten Weltkrieg
ten nicht wissen, dass sich London schon 1916 mit Paris über die
Au�eilung der arabischen Provinzen des einstigen Großreiches
geeinigt ha�e.
Die französischen und britischen Diplomaten Charles F.G.
Picot bzw. Sir Mark Sykes ha�en dazu »blaue« Gebiete gekennzeichnet, die französischer Kontrolle zu unterstellen waren,
und »rote« Territorien, die in die Einflusszone Großbritanniens
übergehen sollten (Sykes-Picot-Abkommen). Aus gutem Grund
hielten beide Mächte das Abkommen geheim, denn es bedeutete nichts weniger als den Bruch aller Zusagen gegenüber den
Arabern. Bis zum Kriegsende war London natürlich an der Aufrechterhaltung der Fiktion von der britisch-arabischen Waffenbrüderscha� interessiert. Noch im Januar 1918 ha�e die britische
Regierung, gemeinsam mit der französischen, eine Deklaration
über die »Befreiungsmission« verfasst, die den »von den Türken
unterdrückten Völkern« die Souveränität nach dem »Sieg über
den gemeinsamen Feind« verhieß. Die Deklaration kann auch
als Reaktion auf den im gleichen Monat verkündeten 14-PunktePlan des US-Präsidenten Woodrow Wilson verstanden werden,
der in London und Paris als Fehdehandschuh eines weiteren
Mitbewerbers um die Neuordnung der Region mit ihren vermuteten reichen Erdölschätzen interpretiert wurde. Aber erst als
nach der Oktoberrevolution die neuen Machthaber in Russland
1918 die Bestimmungen des Sykes-Picot-Abkommens publik
machten, war die Fiktion der »Befreiungsmission« nicht länger
aufrechtzuerhalten.
Arabische Staatsbildung
im Scha�en des Verrats
Im September 1918 war Faisal I., der Sohn des Scherifen Hussein,
an der Spitze der mit der britischen Orientarmee unter General
Edmund Allenby verbündeten arabischen Truppen in Damaskus einmarschiert. Da ihm das Sykes-Picot-Abkommen noch
nicht bekannt war, schickte er sich umgehend an, die syrische
Metropole auch zur Hauptstadt des nun zu errichtenden arabischen Reiches zu machen. Am 5. Oktober 1918 ernannte er einen
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I. Historische Entwicklungen
»Direktorenrat«, quasi eine provisorische Regierung. Gemäß der Bestimmungen des Sykes-Picot-Abkommens,
die Syrien Frankreich zugesprochen
ha�en, begann am 22. Oktober der
britische Rückzug aus Syrien und
der Ersatz durch französische Truppen, der am 1. November 1919 abgeschlossen war. Jetzt konnten Faisal
und die arabische Nationalbewegung
nicht länger die Augen vor der Tatsache verschließen, dass die britischen
Verbündeten offensichtlich nicht gedachten, den während des Krieges
Lawrence von Arabien,
eingegangenen Vertrag einzuhalten.
ca. 1915
Vielmehr deutete sich die Ersetzung
der osmanischen Fremdherrscha� durch eine neue, europäischwestliche an.
Nicht nur in Syrien, sondern auch in anderen arabischen Regionen – von Irak im Osten über Ägypten im Zentrum bis Marokko im Westen – erhoben sich darau�in die Bewohner gegen
die sich abzeichnende koloniale Unterdrückung. Britische, französische und spanische Truppen konnten die he�igen Aufstände
in ihren jeweiligen Einflussgebieten zwar blutig niederschlagen,
aber der Westen ha�e seine »Unschuld« endgültig verloren.
In Syrien kam es neben dem militärischen Widerstand gegen
die Besatzer auch zu Wahlen. Der aus ihnen hervorgegangene
»Syrische Nationalkongress« erklärte am 8. März 1920 die Unabhängigkeit Syriens und Emir Faisal zum König. Die europäischen Kolonialmächte fürchteten einen Präzedenzfall und
wollten die Syrer deshalb keinesfalls gewähren lassen. Unter
dem Eindruck der revolutionären Nachkriegsunruhen in Europa und dem Nahen Osten, Lenins Machtübernahme in Russland
sowie der amerikanischen Offerten an die arabische Nationalbewegung nahmen London und Paris zwar von direkter Kolonialherrscha� Abstand, ließen sich aber vom Völkerbund, den sie
dominierten, am 20. April 1920 in San Remo »Mandate« über die
begehrten Gebiete erteilen. Dadurch wurde die Fremdherrscha�
mit dem Vorwand bemäntelt, die fraglichen Länder auf die Un-
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Der Nahe Osten nach dem Ersten Weltkrieg
abhängigkeit »vorzubereiten«. In leichter Abänderung des
Sykes-Picot-Abkommens erfolgte darau�in eine Dreiteilung
Syriens in Palästina, Libanon und »Rest-Syrien«, wobei die beiden letztgenannten Regionen unter französisches, Palästina
– ebenso wie der östliche Nachbar Irak – unter britisches Mandat fielen. In diesem Gefüge war für Faisal kein Platz mehr. Am
28. Juli 1920 unterlag er südlich von Damaskus französischen
Truppen und floh ins italienische Exil.
Seine ehemaligen britischen Verbündeten fanden jedoch bald
eine neue Verwendung für ihn, als sie ihn am 21. August 1921
zum König von Irak machten. Fast gleichzeitig bestätigten sie
auch die Herrscha� seines Bruders Abdallah über Transjordanien. Ihr Vater, Scherif Hussein, musste hingegen 1924 vor Ibn
Saud, dem Begründer des modernen Saudi-Arabiens, kapitulieren. Letztlich war die Bestallung Faisals symptomatisch für das
europäische Mandatssystem. Anhaltender Widerstand der Einheimischen ließ Großbritannien und Frankreich in der Folgezeit
zunehmend zu indirekter Herrscha� Zuflucht nehmen. So erreichten mehrere arabische Staaten die formale Unabhängigkeit
schon vor dem Zweiten Weltkrieg, die faktische aber in der Regel
erst lange danach. Zwischen den Kriegen bildeten sich zwei
neue, nichtsdestoweniger grundlegende Sichtweisen oder vielmehr Paradigmen in der arabischen Welt heraus. Erstens avancierte der Westen in Gestalt seiner prominenten Kolonialmächte
zum Hauptgegner, und zweitens fand der Kampf der arabischen
Nationalbewegung – ungeachtet aller gegenteiligen Beteuerungen – nicht mehr in einem gesamt-, das heißt panarabischen
Kontext, sondern im Rahmen der von eben jenen Kolonialmächten gezogenen nationalstaatlichen Grenzen sta�.
Fallbeispiel Libanon
Die französische Politik hinsichtlich ihrer Mandate in der Levante, den Ländern des östlichen Mi�elmeerraums, war derjenigen
gegenüber dem geografisch näher gelegenen Maghreb mit der
Siedlungskolonie Algerien untergeordnet. Neben der Kontrolle
des öffentlichen Lebens und der Nutzung der wirtscha�lichen
Kapazitäten des Mandatsgebiets waren die Kolonialbeamten
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I. Historische Entwicklungen
von Paris instruiert worden, Konfessionen und Volksgruppen
gegeneinander auszuspielen. Sonderbedingungen für Minderheiten wie die Drusen oder die Alawiten sollten eine Solidarisierung mit der arabischen respektive sunnitischen Mehrheitsbevölkerung verhindern. Die maronitischen Christen Libanons
erho�en sich den größten Nutzen aus dieser Politik. Im Grunde
genommen erwarteten sie eine Neuauflage des 1864 infolge von
antichristlichen Pogromen angenommenen Statuts (Statute Organique), wonach der osmanische Sultan einen christlichen Gouverneur Libanons ernennt, der erhebliche Vollmachten besitzt.
Das Statut wurde von den Großmächten, insbesondere Frankreich, garantiert, war aber mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hinfällig geworden.
Die Franzosen entsprachen diesen Wünschen nur zum Teil.
Im September 1920 schufen sie den Staat »Großlibanon«, der
neben der ehemaligen osmanischen Provinz auch Tyros, Beirut,
Sidon, Baalbek, die Bekaa-Ebene und Teile des Hermongebirges
umfasste und einem französischen Hochkommissar unterstellt
war. Die Ausdehnung veränderte unter anderem das konfessionelle Gefüge: Die Christen verloren die Bevölkerungsmehrheit.
Nebenbei offenbarten die Franzosen damit ein erhebliches Maß
an zynischem Pragmatismus, denn es ging ihnen mitnichten um
die Förderung der »christlichen Glaubensbrüder«, sondern um
die Grundlagen für eine erfolgreiche Politik des »Teile und Herrsche«. Prompt forderten arabische Patrioten muslimischen Glaubens ein Zurückstutzen Libanons auf die ursprüngliche Größe,
später die gänzliche Auflösung, weil sie – zu Recht oder nicht
– eine immer stärkere Zerstückelung des nach wie vor erho�en
arabischen Einheitsstaates befürchteten. Vor diesem Hintergrund
nimmt es weder wunder, dass ein großer syrischer Aufstand von
1925/26 auch auf Libanon übergriff, noch dass einflussreiche
Fraktionen der politischen Klasse Syriens bis in die Gegenwart
ein eigenständiges Existenzrecht Libanons in Abrede stellen.
Bereits 1922 ha�e der Hochkommissar ein »Repräsentatives
Ratskollegium« ernannt und mit der Ausarbeitung einer Verfassung betraut. Aufgrund der skizzierten innergesellscha�lichen
Widersprüche dauerte es jedoch vier Jahre, bis 1926 die Verfassung vorlag und Grundlage für die Ausrufung der Republik
Libanon werden konnte. Die französische Dominanz blieb aller64
Der Nahe Osten nach dem Ersten Weltkrieg
dings bestehen. Der libanesische Staatsapparat war mit französischen »Ratgebern« durchsetzt, ohne deren Einwilligung keine
Entscheidung gefällt werden konnte. Daneben existierte das
Hochkommissariat mit seiner Befehlsgewalt über Militär und
eigene Zivilverwaltung weiter. Der Dualismus schuf zahllose
Missverständnisse und Kompetenzüberschneidungen, kurzum
eine labile innenpolitische Lage. 1932 wurde die Verfassung
aufgehoben, die meisten Machtbefugnisse gingen auf den libanesischen Präsidenten über. Danach begannen Verhandlungen
mit Paris über die Modalitäten einer Beendigung des Mandats.
Das 1936 vereinbarte Abkommen hielt nur bis 1939, ehe es – bedingt durch die Vorkriegssituation in Europa – von Frankreich
aufgelöst wurde. Im November 1941 proklamierte der regionale Kommandeur der Truppen des »Freien Frankreich«, General
George Catroux, die Souveränität Libanons. Als das 1943 zusammengetretene libanesische Parlament darau�in einen zügigen
Transfer der französischen Vollmachten an den libanesischen
Staat forderte, verha�eten französische Truppen dessen Präsidenten sowie einige Minister und lösten das Parlament auf. Auf
alliierten Druck hin mussten die Franzosen diese Entscheidung
allerdings rückgängig machen.
Wegen der erneuten Übernahme der Amtsgeschä�e durch
eine libanesische Regierung gilt 1943 auch als Geburtsjahr des
ungeschriebenen »Nationalpakts«, der – auf der Grundlage einer
Volkszählung aus dem Jahr 1932 – festlegte, dass der Staatspräsident ein Maronit, der Ministerpräsident ein Sunnit und der
Parlamentssprecher ein Schiit sein solle. Die starke Stellung des
Präsidenten widersprach in den folgenden Jahrzehnten zunehmend der konfessionellen Zusammensetzung des Landes; der
Widerspruch mündete 1975 in den Bürgerkrieg.
Zwischen 1943 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam
es zu weiteren langwierigen französisch-libanesischen Verhandlungen. Die faktische Unabhängigkeit Libanons wurde erst 1946
mit dem Abzug der letzten französischen Truppen erreicht.
Henner Fürtig
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