Sozialperspektivität

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Micha Strack
Sozialperspektivität
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erschienen
im Universitätsverlag Göttingen 2004
Micha Strack
Sozialperspektivität
Theoretische Bezüge,
Forschungsmethodik
und wirtschaftliche Praktikabilität
eines beziehungsdiagnostischen
Konstrukts
Universitätsverlag Göttingen
2004
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Satz und Layout: Universitätsverlag
Umschlaggestaltung: Margo Bargheer
© 2004 Universitätsverlag Göttingen
http://univerlag.uni-goettingen.de
ISBN 3-930457-63-6
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1
1.1 Perspektivität als Beschränktheit und Perspektivenwechsel
als sozial-kognitive Kompetenz ......................................................................................... 1
1.2 Kognitive Balance, geteiltes Wissen, das Verhältnis zur Soziologie und
erste methodische Werkzeuge ............................................................................................ 6
1.3 Das ,Problem des Fremdpsychischen‘ ............................................................................... 23
2 Was denken die Anderen?
Konsens oder Dissens in der vermuteten Mehrheitsmeinung
29
2.1 Assimilative Perspektivendiskrepanz-Regulation ........................................................... 30
2.1.1 Der klassische False Consensus Effekt,
Studie I ,Wohnsitzanmeldung‘ und Studie II ,Wissenstransfer‘.................... 30
2.1.2 Die methodische Diskussion um
die Veridikalität des vermuteten Konsens ...................................................... 36
2.1.3 Die motivationale, die soziale und die kognitive Erklärung ......................... 47
2.2 Akzentuierende Perspektivendiskrepanz-Regulation ..................................................... 83
2.2.1 Die Familie der Dissensus-Effekte und
Studie III ,Die Pluralistic Ignorance zur Nationalmarke‘ ............................. 83
2.2.2 Methodische Einwände gegen theoretische Erklärungen ........................... 109
2.2.3 Ist die direkte oder die Metaperspektive inakkurat? Which to trust? ............ 117
2.3 Zwischenbilanz: assimilative und akzentuierende
Perspektivendiskrepanz-Regulation ............................................................................. 126
2.4 Das Zufriedenheitsparadox in der Mitarbeiterbefragung ............................................ 137
2.4.1 Das Zufriedenheitsparadox als Positive Illusion .......................................... 137
2.4.2 Studienserie IV: ,Die unzufriedenen Kollegen‘ ............................................ 146
3 Perspektiven im Raum komplementärer Werte
167
3.1 Entscheidungskonflikte, aristotelische Tugenden, der Wertekreis
und Studienserie V zur Selbst-Fremd-Akzentuierung ............................................... 170
3.2 Studie VI: Akzentuierung persönlicher und im Betrieb verwirklichter Werte Eine Mitarbeiterbefragung zum Value-Fit in der Industrie ....................................... 182
3.3 Studie VII: Akzentuierung persönlicher und in der Weiterbildung
propagierter Werte im Einfluss auf den Lernerfolg .......................................................192
3.4 Studie VIII: Value-Fit in der Vertrauensbeziehung zum Finanzberater ................ 200
4 Sozialperspektivische Beziehungsdiagnostik
als wirtschaftspsychologische Feedback-Methode
215
4.1 Sozialperspektivische Teamentwicklung ...................................................................... 216
4.1.1 Grundlagen sozialperspektivischer Beziehungsdiagnostik ......................... 216
4.1.2 Beiträge zur Teamentwicklung in Psychologischen Kleingruppen
aus Studienserie IX .......................................................................................... 229
v
Inhaltsverzeichnis
4.1.3 Studienserie IX: Die Analyse perspektivendifferenzierter
SYMLOG-Positionen im Social Relations Model ....................................... 245
4.2 Perspektivität der Führung ........................................................................................... 270
4.2.1 Dilemmata der Führung und die Situation von Management und
Organisation im Competing Values Model ..................................................
4.2.2 Praxis multiperspektivischer Führungskräfteentwicklung ..........................
4.2.2.1 Die Methode des 360°-Feedback ...........................................................
4.2.2.2 Zur Positivität und zu inhaltsspezifischen Diskrepanzen
von Selbst- und Fremdbild in der Managementbewertung .........................
4.2.2.3 Zu Bedingungen des Urteilerkonsens und der
Selbst-Fremd-Übereinstimmungskorrelation ............................................
4.2.2.4 Zu Auswirkungen von Konsens und Übereinstimmung:
Überprüfung der Wirksamkeit der 360°-Intervention .............................
4.2.2.5 Plädoyer für die Metaperspektive ............................................................
4.2.3 Studie X: Die Metaperspektive in der Upward-Beurteilung .......................
4.2.3.1 Ziele und Design ...................................................................................
4.2.3.2 Metaperspektivisch vermutete Mitarbeiterurteile ......................................
4.2.3.3 Zur Akkuratheit der Metaperspektive von Führungskräften ...................
271
284
284
288
306
314
325
331
332
335
343
4.3 Zwischenbilanz und Ausweitung der Sozialperspektivischen Beziehungsdiagnostik .....358
5 Sozialperspektivische Imagepositionierung von Unternehmen
369
als Entwicklungstreatment für kundenorientiertes Management
5.1 Kundenorientierung und Perspektivenübernahme ...........................................................369
5.1.1 Pionierstudien zur Leistungsbewertung:
Wie realistisch ist das Unternehmensselbstbild? .......................................... 371
5.1.2 Studie XI: Leistungsbewertung in der
Anbieter-Kundendienst-Kunden – Beziehung ............................................ 381
5.1.3 Billig oder kundenorientiert – Wie wichtig ist der Preis? ............................ 385
5.2 Pilotstudie XII zur Anbieter-Kunden – Beziehung im Wertekreis ............................ 391
5.3 Studienserie XIII zur Anbieter-Kunden – Beziehung
im Kundenorientierungs- und im Organisationskulturkreis ......................................... 395
5.3.1
5.3.2
5.3.3
5.3.4
Competing Values der Kundenorientierung....................................................395
Designs der Studien XIII ...................................................................................404
Branchenvergleiche und die Frage nach Value-Fit im BtB-Geschäft ..........409
Zur Akkuratheit der evaluativen Anbieter-Metaperspektive
und der Preis-Leistungs-Positionierung ...........................................................416
5.3.5 Sozialperspektivische Anbieter-Positionierung im
Kundenorientierungskreis und die Akzentuierung der Wettbewerber ........423
6 Ausblick
vi
441
Literaturverzeichnis
465
Abbildungs- & Tabellenverzeichnisse
495
Zusammenfassung
509
1
Einleitung
1.1 Perspektivität als Beschränktheit und
Perspektivenwechsel als sozial-kognitive Kompetenz
Mit dem Term „Sozialperspektivität“ wird ein Forschungsgebiet überschrieben,
welches das entwicklungs- und sozialpsychologische Konstrukt der ,Metaperspektive‘ (engl.: metaperception) und den Vorgang der Perspektivenübernahme
(Perspektivenwechsel, ,theory of mind‘) mit dem ,alten‘ Begriff des sozialen
Selbst (das ,Mich‘ - mein Ich im Spiegel der anderen, James 1891:293ff)
verbindet (z.B. Fassheber 1977, 1999, et al. 1995). Die soziale
Perspektivenübernahme bezeichnet die wohl genuin menschliche Fähigkeit, sich
Wahrnehmungen, Gedanken und Meinungen anderer Personen vorstellen zu
können. Eine Metaperspektive einzunehmen erfordert, aus der Bindung an die
eigene Ich-Hier-Jetzt Position kognitiv herauszutreten und in die Perspektive
anderer Personen wechseln zu können – oder auch in eine Perspektive, wie sie
durch eine andere, ggf. ideelle Situation bedingt wäre, durch einen Zeitpunkt in
der Zukunft oder einen nach einem alternativen geschichtlichen Verlauf (kontrafaktisches Denken: ,was aber wäre wenn ... ‘). Derlei verschiedenartige
Perspektiven miteinander vergleichen, auf einander beziehen und zu einer multiperspektivischen Vorstellung integrieren zu können, stellt eine maßgebliche
Komponente menschlicher Intelligenz dar. Erst die Fähigkeit zum kognitiven
Wechsel in andere Situationen und die Perspektive anderer Personen, anwesender Interaktionspartner ebenso wie der von Mitgliedern abstrakter sozialer
Kategorien (der Leserschaft, ,des Kunden‘, der zukünftigen Generationen),
erlaubt ein intelligentes strategisches Handeln. Soziales Handeln ist an eigenen Zielen
und an anderen Personen orientiert (Geulen 1982); ihre vermuteten Reaktionen,
Bewertungen und Intentionen werden in die eigene Handlungsplanung, die
1
Kapitel 1
kooperative oder kompetitive Ziele verfolgen mag, einbezogen. Mit der
Positionierung der Sozialperspektivität in Begriffsfeldern von Strategie und
Intelligenz wird sie in Zeiten der Auseinandersetzung Bestandteil des öffentlichen Diskurses. So beispielsweise im Frühjahr 2003 im Streit um die
Legitimität des Irak-Kriegs:
„Das moderne Selbstverständnis ist ... durch einen egalitären Universalismus geprägt,
der zur Dezentrierung der jeweils eigenen Perspektive anhält; er nötigt dazu, die eigene
Sicht an den Deutungsperspektiven der gleichberechtigten anderen zu entrelativieren“
(Jürgen Habermas in der FAZ, 17.04.2003). Es gehe hier um die Erkenntnis, „das
Gerechtigkeit nicht exportiert werden kann, sondern im Streit der Parteien durch
gegenseitige Perspektivenübernahme entsteht“ (SPIEGEL-Online, 16.04.2003 im
Vorgriff auf die FAZ vom 17.).
Die politische Philosophie kommt mit dem Perspektivenübernahme-Vorgang
dem Konzept gesellschaftlichen Konsens als Bestandteil von Legitimität (Legitimation, lex= Recht) näher; die Diskursethik von Habermas und Apel basiert auf
dem konsenstheoretischen Wahrheitsbegriff („potentielle Zustimmung aller
anderen“): Zweckrationalität soll in der pluralen Gesellschaft durch Verständigungsrationalität ersetzt werden.
Für die Fachdisziplin der Psychologie sind Rationalität und Legitimation wegen
ihres normativen Geltungsanspruchs schwierige Begriffe (s. Kap. 1.2), über
Konsens und Perspektivenübernahme als empirisch zugängliche Konkretionen
aber besteht mit der Philosophie ein reger Austausch (Habermas bspw. bezieht sich
auf die Entwicklungspsychologie von Kohlberg und Selman). In dieser Arbeit
sollen empirische Zugänge zur Perspektivität aus Sozial- und Wirtschaftspsychologie zusammengestellt, erweitert und kritisch diskutiert werden.
In der Psychologie ist taxonomisch zunächst weiterhin umstritten, ob man
die von Thorndike 1920 (Neuringer 1991) anerkannte Soziale Intelligenz von der
generellen abgrenzen oder ihr unterordnen sollte; er selbst scheint diese Frage
recht schnell zugunsten der Integration beantwortet zu haben (Thorndike &
Stein 1937, z.n. Sechrest & Jackson 1961); zu erneuten Versuchen von J.P. Guilford,
H. Gardener oder D. Goleman, eine Soziale, Interpersonelle oder Emotionale
Intelligenz oder Kompetenz als eigenständige Konstrukte zu etablieren, siehe
z.B. Romney & Pyryt (1999), Pfeiffer (2001). Um sich aus der Beschränktheit
der eigenen Perspektive lösen zu können, ist die Raum-Zeit-Unabhängigkeit des
Denkens, d.h. generelle Intelligenz zumindest notwendig. Im ,Klassiker‘ unter
den Aufgaben zur räumlichen Perspektivenübernahme, dem Drei-Berge-Versuch
von Jean Piaget, wird die ontogenetische Entwicklung der Kompetenz deutlich:
Während Kinder im präoperativen Stadium noch weitgehend egozentrische
Beschreibungen der experimentellen Vista geben („In Wirklichkeit bringt das
Kind seine eigene Perspektive zum Ausdruck, so als könnten die Berge
überhaupt nur unter seinem Blickwinkel gesehen werden“ Piaget & Inhelder
2
Kapitel 1
1947/1981:80), gelingt älteren Kindern die notwendige Dezentrierung und damit
der kognitive Wechsel in die Perspektive des Gegenübers. Die Kompetenzzunahme in der Vorschulkindheit ist mittlerweile gut abgesichert (Metaanalyse
Wellmann et al. 2001). Dass es auch intelligenten Erwachsenen schwer fallen
kann, einen räumlich-visuell suboptimalen Standpunkt kognitiv auszugleichen,
zeigen Experimente zur Raumkognition und angewandte sportpsychologische
Studien (z.B. geometrische Analysen der Abseitsfehler von Linienrichtern am
Rand des Fußballfelds, Oudejans et al. 2000; s.a. Plessner & Raab 1999). Ob im
hohen Alter mit einem Kompetenzrückgang zu rechnen ist oder sich Weisheit mit
ihrer sozialperspektivischen Kompetenz erhält, ist umstritten (Hasselhorn 1999,
Staudinger 1999, Maylor et al. 2002).
Für die Sozialperspektivitätsforschung, die sich auf soziale Targets, Perspektiven anderer Personen und zumeist auch soziale Inhalte der Reflexion (Einstellungen, Meinungen) konzentrieren will, bleibt die visuell-räumliche Wahrnehmung zunächst eine paradigmatische Metapher. Wie an den genannten
Beispielen deutlich wurde, nähert sich auch die Psychologie dem Perspektivitätskonstrukt nämlich über die Darlegung der Beschränktheit der Wahrnehmung von
einem Standpunkt aus.
„Kenn ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiße ich´s Wahrheit.
Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige“
(Goethe, z.n. Mauhtner 1910/o.J.:2).
Das Problem perspektivengebundener Erkenntnis ist
ein Thema der Aufklärung, das angestrebte aperspektivische Weltbild (und eine perspektivfreie Wissenschaft) soll die empiristisch-individuelle Beschränkung
durch allgemeines Wissen verdrängen. Zunächst aber
führt eine Multiperspektivität Realität im Plural und
damit den ,moralischen Relativismus ‘1 ein.
Mit Abbildung 1_1 hat Ernst Mach in einer zeichnerischen Studie ,scherzhaft illustriert‘ (1903:16), wie
beschränkt und non-kanonisch eine buchstäbliche
Selbstwahrnehmung ausfallen müsste2, z.B. dadurch,
„daß er [der Leib] nur theilweise und insbesondere
ohne Kopf gesehen wird“ (a.a.O.).
1
2
Abb. 1_1:
Perspektivengebundenheit.
(Selbstanschauung, etwa 1870,
Mach 1903:15).
Mit der Erkenntnis, dass die eigenen Werte nur aus eigener Perspektive verbindlich sind, werden
sie ,relativ‘, Moralwächter befürchten einen Moralverfall (s. Mauhtner 1910/o.J.), Habermas´
,Entrelativierung‘ (s.o.) ist gleichbedeutend mit der Selbsterkenntnis der Relativität.
Dabei ist das Blickfeld immerhin stark erweitert, hier wohl auf einen Sehwinkel von gut 150°, die
Nahdistanzkonstruktion muss das Naheliegende ,überdimensioniert‘ abbilden (Kalkofen 2003).
3
Kapitel 1
Für Manches ist die eigene Perspektive denkbar ungeeignet. Mit einer vergleichbaren Argumentation hatte George Herbert Mead (1863-1931) versucht,
Wilhelm Wundts Theorie der phylogenetischen Sprachentwicklung aus Handgesten zu überwinden: Sprache müsse sich doch eher direkt aus Lauten
entwickelt haben, weil nur akustische Zeichenträger mit dem von Hockett später
(1960/1973) ,Allseitsabstrahlung‘ genannten Merkmal sicherstellen, dass sie
dieselbe Bedeutung beim Sender hervorrufen können wie beim Empfänger
(während man seine Handgesten ja ,nur von hinten‘ sehen kann – die kanonische
Ansicht scheint die sozial geteilte zu sein!).
Die Metapher der räumlich-visuellen Perspektivität war für die Phänomene
der affektiven Perspektiveneinnahme (Empathie, Einfühlung, Mitgefühl) und
des kognitiven Perspektivenwechsels (Intentionsattribution, theory of mind)
zunächst fruchtbar; Piagets Forschungsprogramm erfasste alle diese
Kompetenzen. Nachfolgend wurden Unterschiede jedoch immer deutlicher.
Affektive Perspektivenübernahme gelingt dreijährigen Kindern (Borke
1971/1982), der Carpenter-Effekt lässt sich bei Hominiden beobachten und in
seinen neuronalen Grundlagen identifizieren (,mirror‘-Zellen, Gallese &
Goldman 1998, z.n. Adams 2001:389). Solche Empathie kann sich aber wohl
nur einstellen, wenn die Targetperson (oder zumindest ein Zeichen ihres
Gefühlsausdrucks) unmittelbar anwesend ist (bottom up – Ansatz, vgl. Kap.
1.3); kognitive Perspektivenübernahme aber ist bezüglich nichtanwesender
Personen und abstrakter sozialer Kategorien (die Leserschaft, ,der Kunde‘, die
zukünftigen Generationen, Habermas ,Weltgesellschaft‘) möglich und erfordert
wohl eine gefühlsneutrale Haltung divergenten Denkens, die bei starker
Empathie herabgesetzt sein könnte (Steins & Wicklund 1993, Steins 2000:706f,
Batson et al. 1997). Die mit neueren neuropsychologischen Methoden bisher
erbrachten Befunde deuten gleichwohl auf allgemeinpsychologische
Gemeinsamkeiten räumlichen und kognitiven Perspektivenwechsels (Aktivierung medial-frontaler Areale, Frith & Frith 2001, unter Beteiligung rechtskortikaler Regionen, Vogeley et al. 2002). Die Existenz einer intermodalen
Kompetenz-Disposition (die über den g-Faktor der Intelligenz hinausgeht) lässt
sich zum vorliegenden Zeitpunkt dennoch bezweifeln; die differentielle
Interkorrelation der verschiedenen Verfahren ist zu gering. Dennoch schleicht
sich die Intermodalitäts-Annahme immer wieder einmal ein, beispielsweise,
wenn die aus Wicklunds Theorie objektiver Selbstaufmerksamkeit („if one takes
this distinction literally“ Hass 1984:789) abgeleitete Aufgabe, sich den
Buchstaben ,E‘ derart auf die Stirn zu zeichnen, dass ein Gegenüber ihn korrekt
ablesen kann (mit einem Blick auf Abb. 1_1 wird das Schwierigkeitsmoment der
Aufgabe evident), als Operationalisierung derjenigen PerspektivenübernahmePerformanz eingesetzt wird, die mit dem Ausmaß von Partnerschaftskonflikten
mit der Targetperson kovariieren soll (Steins & Wicklund 1996, Steins 2000).
Das Buchstaben-Zeichnen auf der Haut des eigenen Körpers wurde im 19. Jh.
4
Kapitel 1
von E.H. Weber ausführlich3 als Beispiel der Wirkung interner Bezugsgrößen
diskutiert, die Lotzes Lokal-Zeichen-Theorie der Raumwahrnehmung widersprächen (Helson 1964:309f). Reliabilität und Inhaltsvalidität des BuchstabenZeichnens erscheinen m.E. doch zu gering4, als dass es als Maß sozialer
Intelligenz (bzw. deren Performanz) in Frage kommen dürfte. In dieser Arbeit
wird daher die Trennung von räumlich-visueller, affektiver und kognitiver
Perspektivenübernahme beibehalten und nur die kognitive betrachtet.
3
4
Helson (1964:309f) zitiert aus einem Verf. im deutschen Original nicht zugänglichen Beitrag 'Effect of internal norm on recognition of forms' für die Leipziger 'Verhandlungen der königlich
sächsischen Gesellschaft der Wissenschaft, Mathematisch-Physikalische Klasse, pp. 99-100.' Webers Kapitel 'A new-old illusion' : "We have accustomed ourselves to remember letters as they are
usually given visually and as we write them. We do not recognize an / ¬ / when we see it written reversed /¼ / and we recognize it just as little when we see it written upside down / ª/ ore written upside
down and reversed / º /. One might think that it wouldn't matter on the skin how the letter is written
so far as recognizing it is concerned but this is not the case. On the forehead L has to be written ¼ , and
of the back of the head, ¬ , on the abdomen, º , and on the rump, ª , in order for it to appear right and
to be recognized most easily. We think of letters written on our forehead as if we saw them from
behind-forwards (von hinten nach vorne), that is in the direction we usually look. We feel the letter
as if the skin on the forehead was transparent and we read it reversed on the surface of the frontal
bone. A letter inscribed on the back of the head is not read as if we read the surface turned toward
the occipital bone but if we were standing behind our self’s and were looking at the surface of the
skin on the back of the head. On the abdomen it has to be written with its beginnings toward the
feet and with the loop end towards the head, as if it were written on a paper laid on the abdomen
in such a way that we could read best by looking downward from above" (Weber, 1851, üb. d.
Helson 1964:309f). Helson berichtet über eigenen Versuche mit der Stirn und den Zahlen 3 und 4:
zunächst würden sie spiegelverkehrt geschrieben, den Pbn. falle aber auf, das irgendetwas nicht
stimme. Dann könne der virtuelle Standpunkt ohne Schwierigkeiten gewechselt werden. „After
some practice one can adopt either stance and see the pattern either way“ (1964:310). Auf anderen
Körperteilen sei WEBERs Mitteilung nicht leicht replizierbar, beklagt er dann noch.
„Only the physical perspective of an observer is at issue in this analysis“ (Hass 1984:789). „The
spontaneous aspect of the measure is important: The participant has to write the letter very
quickly, and perspective-taking is not explicitly requested; thus, the possibilities of ceiling effects
and social desirability effects are ruled out“ (Steins 2000:696). Versuchspersonen habe mehrere
Buchstaben hintereinander, sich z.B. abwechselnd den Versuchsleiterinnen und bspw. einer Zeichnung ihres Expartners zuzuwendend, „for that persons´s perspective“ auf ihre Stirn zu schreiben –
die Erfahrungen der Verf. mit Studierenden erbrachten Varianz nur beim jeweiligen Erstversuch.
5
Kapitel 1
1.2 Kognitive Balance, geteiltes Wissen, das Verhältnis
zur Soziologie und erste methodische Werkzeuge
Obwohl sich der Perspektivitätsbegriff im Index von Wirtschafts- und Sozialpsychologischen Lehrbüchern nur selten findet, wird als erste These dieser Arbeit
formuliert, dass der Metaperspektive in Grundlagenmodellen der Sozialen Wahrnehmung und der Einstellung, des sozialen Einflusses und der Interaktion, sowie in
Anwendungsgebieten wie bspw. der beruflichen Identifikation und der Kundenorientierung eine große, wenn auch nicht immer explizit gemachte Rolle zukommt.
Als Ordnungsrahmen wird hier die Balancetheorie von Fritz Heider gewählt, mit
der sich die Beteiligung metaperspektivischer Kognitionen an drei Phänomenbereichen darstellen lässt: erstens sind sie Bedingung der Entwicklung von
Sympathie, von Zugehörigkeit, Identifikation und Compliance (oder entsprechend negativen sozialen Beziehungserlebens). Zweitens lässt sich der soziale
Einfluss modellieren, der Kerngegenstände der Disziplinen Sozialpsychologie
und Soziologie konstituiert und viel zu einer Wirtschaftspsychologie beizutragen
hat. Drittens enthält die Balancetheorie bereits eine Vorhersage über das
Zustandekommen kognitiver Metaperspektiven.
„All examples refer to p´s life space. this is true even of oLP which therefore means: p
thinks that o likes or admires p.“ (Heider 1946:108).
Balance in der Repräsentation sozialer Beziehungen variiert, weil die Gefühle
einer Person P gegenüber einer oder mehreren anderen, O(ther), von dem von P
mit O angenommenen Konsens
P
über Sachverhalte und MeiP[x]
P[x]
P[O]
nungsgegenstände X abhängig sind:
P[O]
X
P[O[x]]
P[O[x]] O
P[O] = P[O[x]] ° P[x].
Metaperspektive
Wahrgenommene ÄhnlichFremdbild
keit in der Wertschätzung
Abb. 1_2: Einführung in die Perspektivennotation
oder vermutete gemeinsame
(nach Fassheber et al. 1990) am Beispiel der kognitiven POX-Triade
Ablehnung von X fördern
der Balancetheorie Heiders
Sympathie und Zugehörigkeit. Diese Theorie des ,Value-Fit‘ ist unter Bezug auf Lewin auch in der
aktuellen Arbeits- und Organisationspsychologie zu Themen von Zufriedenheit
und Motivation gut etabliert und wird in Kap. 3.2 (Studie VI) dargelegt.5 In
dieser Arbeit wird (wahrgenommene) Werteähnlichkeit als Initiatorin guter
5
6
Die Multiplikationsformel, in der die Balancierungstendenz des kognitiven Systems beschrieben
werden kann, ist dabei keineswegs nur metaphorisch gemeint: im eindimensionalen Einstellungsbegriff wird aus Minus mal Minus Plus, der wahrgenommene Konsens in der Ablehnung des Meinungsgegenstands führt zu einem positiven Fremdbild P[O]. Zur Diskussion der Multiplikation s.
Kap. 2.3, die Einführung der statistischen Umsetzung erfolgt in Kap. 3.2.
Kapitel 1
Beziehungen auch in marktpsychologischen Settings geprüft, so bei der
Prädiktion des Vertrauens von Kunden zu ihrem Finanzberater (Studie VIII,
Kap. 3.4) und in Business-to-Business Beziehungen (Studie XIIIb, Kap. 5.3).
Eine psychologische Beziehungsdiagnostik wird gut daran tun, sich auf die Heidersche
Balance-Tendenz zurückzubesinnen, und damit auf die Metaperspektive der von
P bei O vermuteten Repräsentation: P[O[x]]. Ein Beziehungsmanagement
hingegen wird versuchen, die aus einem wahrgenommenen Dissens resultierende
Ablehnung über die Erzeugung von Toleranz verhaltensirrelevant zu halten.
Habermas (2000) spricht in diesem Sinne von einer „Toleranzzumutung“, die
„die gesellschaftliche Destruktivität eines unversöhnlich fortbestehenden
Dissens auffangen“ soll, indem Handlungen gegen die anderen trotz guter Gründe
zurückzustellen sind. Heiders Balance-Theorie beschreibt insofern eine vorzivilisatorisch-automatische, in der kognitionspsychologischen Terminologie von
Zwei-Prozess-Modellen eher periphere (Informations-)Verarbeitung. Toleranz
und (gemäßigter) Wert-Relativismus werden als Weisheitskriterien (Baltes &
Staudinger 2000) der automatischen Balancierung entgegengesetzt.
Das zweite große Einsatzgebiet der Metaperspektive, das von sozialpsychologischen Lehrbüchern mit dem Term ,sozialer Einfluss‘ überschrieben wird,
kann die Balancetheorie ebenfalls mit einer einfachen Multiplikation skizzieren:
P[O[x]] ° P[O] = P[x]. In der Variable P[O] sorgen Freundschaft, Vertrauen zum
Kommunikator oder die wahrgenommene Legitimität seiner Position, sowie die
eigene Gruppen-, Organisations- oder Milieu-Zugehörigkeit – P[O] kann ja
ebenfalls als Einheitsrelation konzipiert werden – für die Compliance, die bspw.
in der Theory of Reasoned Action von Fishbein & Ajzen über die Übernahme
der metaperspektivisch antizipierten Meinungen anderer entscheidet und damit
die Einstellungs-Verhaltensrelation um einen sozialen Prädiktor erweitert. Das
Fishbein & Ajzen – Modell stellt eine solide Verbindung von Sozialperspektivitäts- und Einstellungsforschung her, auch wenn Metaanalysen der sogenannten subjektiven Norm6 nur eine moderate Verhaltensrelevanz bescheinigen
(Shephard 1988, Eckes & Six 1994, Hausenblas & Carron 1997, u.a.; mit hoher
Variabilität zwischen Verhaltensbereichen Six 1998, Finlay et al. 1997, Trafimow
& Finlay 2001, et al. 2002). Auch zu ihrer temporären Determination liegen
konsistente Befunde vor (z.B. Ybarra & Tarafimow 1998). Dass die differentielle
Korrelation mit der Verhaltensintention gewöhnlich niedriger ausfällt als die des
selbst angegebenen Nutzens, könnte ihrerseits wieder Auswirkung einer sozialen
Norm der Selbstbestimmung sein; in Kap. 2.2 werden entsprechende ideologiekritische Positionen und ihre Befunde diskutiert, sowie über Versuche berichtet,
6
Eine zunächst seltsam anmutende Kontradiktion, die aber der Moderation des sozialen Einflusses
durch die persönliche Compliance-Motivation Rechnung trägt. Über die individuumsbezogene
Wirksamkeit sozialer Normen wird es im Folgenden ausführlich gehen.
7
Kapitel 1
eine ,indirekte‘ Messung des sozialen Einflusses über die bei anderen vermutete
Normabhängigkeit vom sozialen Einfluss auf die Antworten zu befreien.
Die Themen der sozialen Zugehörigkeit und des sozialen Einflusses sind
Psychologie und Soziologie gemeinsam. Gesellschaftliche Ordnung – das
soziologische Explanandum – wird nicht über unidirektionale Sozialisation
gesichert, die Normen und ihre Verbindlichkeit sind vom Subjekt selbst allein
oder sozial konstruiert. Normen werden im Symbolischen Interaktionismus als
emergente Eigenschaft wechselseitiger Orientierung an den bei anderen vermuteten
Reaktionen, Meinungen und Erwartungen (z.B. Berger & Luckmann 1969/1989)
modelliert, die als ,soziale Selbstverständlichkeiten‘ (Hofstätter z.B. 1972:42ff),
als geteiltes Wissen bei vielen Individuen verbreitet sind und über die Annahme,
dass sie geteilt seien, ihre Verbindlichkeit erlangen.
Die verwendeten Begriffe des ,geteilten Wissens‘ und der ,Emergenz‘
bedürfen einer etwas ausführlicheren Erläuterung. Zunächst fühlt sich die
Sozialpsychologie, wenn von Psychologie und Soziologie gleichzeitig die Rede
ist, mit der identitätskritischen Frage nach der ,richtigen‘ Art, ihre Gegenstände
zu konstituieren, konfrontiert. Wo verortet sich die vorgelegte Arbeit? Lange
Zeit war das Verhältnis beider Fächer nur durch Abgrenzung gekennzeichnet:
schon Wundt mühte sich in der vom ihm mit Bedacht sog. Völkerpsychologie,
einer befürchteten Gleichsetzung der sozialen Psychologie mit der Soziologie
entgegenzuwirken (1900/1911:3). Während ihrer Etablierung hat die Sozialpsychologie sich das Erleben und Verhalten von Individuen zum Aufnahmekriterium ernannt (s. Kap. 4.1.1). Diese Beschränkung wird zwar häufig kritisiert;
die eigene Fachsozialisation hat aber wohl mit sich gebracht, dass sie als
Kuhnsches paradigmatisches Fachverständnis oder ,individuelle Soziale Repräsentation‘ für role-taking und role-making der Verf. weiterhin verbindlich ist.
In den 1960er Jahren begann mit Gergens Zurückweisung des Naturwissenschafts-Vorbilds für die Sozialpsychologie eine erneute und recht bewegte
Fachdiskussion, die u.a. eine Enttäuschung über eine (nach dem Ende der
behavioristischen Phase erneute) Elimination von Bedeutung im Informationsverarbeitungsparadigma deutlich werden ließ (z.B. Forgas 1981, Graumann
1979, 1988, Ickes & Gonzales 1996, Witte 1987, Moscovici 1995:304f, Flick
1995). Zwar ist das Problem der Integration psychologischer und soziologischer
Perspektiven (oder ,Lager‘) wohl nicht gelöst – in Kapitel 2.1.3 beginnend
werden den – aus soziologischer Sicht typisch psychologischen – Hypothesen motivational und kognitiv ,verzerrter‘ Perspektivenkonstruktion soziologische (sog.
soziale) der kommunikativen Wissensverteilung gegenübergestellt. Die Sozialpsychologie hat sich aber selbst zunehmend differenziert und hat, durch
Größenzunahme und Differenzierung bedingt, eine höhere PluralismusAkzeptanz entwickelt. Heutzutage lässt sich zumindest als These formulieren,
dass die differenzierte Sozialpsychologie mit der Erkenntnis historischkultureller Gebundenheit relevanter Inhalte handlungswirksamen Alltagswissens,
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Kapitel 1
Subjektiver Theorien, Normen und Ideologien (bspw. des Self-Serving Bias nur
in individualistischen Kulturen: Heine et al. 1999; Egoismus-Mythos: Miller
1999, s. Kap. 2.2.1), sowie der Gebundenheit der Erklärungsmechanismen selbst
(konventionale Erklärungen nach Poole & McPhee 1985/1994) ausreichend gut
zurecht kommt. Beispielsweise hat schon Witte (1978) Annahmen zur Wirkung
sozialen Einflusses in Kleingruppen, die bei den Versuchspersonen selbst
verbreitet sind, explizit als eine der Variablen eines integrierenden Modells von
Gruppenprozessen aufgenommen:
„Kenntnis über die Theorie ... kann also dazu führen, dass an naiven Vpn. festgestellte
Gesetze nicht mehr gültig sind, ... [dies ist] für eine ,emanzipatorische Wirkung‘ der
Psychologie bedeutsam“ (Witte 1978:138).
Mit dem Axiom dieses „anthropomorphen Menschenbilds“ wird erkannt, das
sich das Untersuchungsgebiet mit „den Kenntnissen über die eigenen Gesetzmäßigkeiten verändern kann“ (a.a.O.:166). Auch in Kerntheorien des Social
Cognition Paradigmas kann mittlerweile ein Versuchspersonenerwartungseffekt
– eine Metaperspektive der Schreibung7 Vp[V l *[Vp]] – als Prozess kontrollierter
Informationsverarbeitung modelliert werden, oder die systematischen Unterschiede in individualistischen und kollektivistischen Kulturen vorherrschender
Selbstkonzepte als variierende Zugänglichkeit independenten (dispositionalen)
und interdependenten (sozial kontextuellen) Selbstwissens (Hannover &
Kühnen 2002, s. Kap. 2). Das Perspektivitätskonstrukt wird sich somit in beiden
sozialpsychologischen Lagern ,verankern‘ lassen können8:
In der psychologischen (individuumzentrierten) Sozialpsychologie beschreibt
das Perspektivitätskonstrukt, wie oben eingeführt, vornehmlich die Beschränktheit sozialer Wahrnehmung und die Irrtümer, die bei Perspektivenwechsel zu
verzeichnen sind (Kapitel 2 wird ihnen gewidmet sein). So ist auch den meisten
kognitiven Theorien der Selbstwahrnehmung, angefangen von der James-Lange
Hypothese, über die attributionalen Theorien der Selbst- und Emotionswahrnehmung von Bem oder Schachter & Singer, bis hin zu modernen wie der
Selbstkategorisierungstheorie von Thurner oder der des Dynamischen Selbst
von Hannover die Beschränktheit der Perspektive auf das Selbst gemeinsam.
Wenn dann noch in Kapitel 1.3 nachgezeichnet wird, dass man die Sicht anderer
eigentlich nur aus der Übertragung der eigenen Erfahrungen und Ansichten
gewinnen könne, scheint von der oben gepriesenen Perspektivendezentrierungsfähigkeit nicht viel übrig geblieben zu sein. Dieses Pendeln zwischen
Funktionalitäts- und Defizitanalyse wird die gesamte Arbeit begleiten.
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die Sternmarkierung der Klammer, *[ , spezifiziert das Kognizieren als Wünschen, s. Tab. 1_1.
Der Begriff der ,Verankerung‘ (in bereits bekanntem Wissen) beschreibt zusammen mit dem der
vereinfachenden ,Objektivierung‘ Prozesse der Veränderung von Wissen (z.B. von Theorien) während seiner Diffusion in Soziale Repräsentationen anderer Gruppen.
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Kapitel 1
Erkenntnistheoretischer Pessimismus ist nicht nur (aus Perspektive der
Soziologie) für die Psychologie typisch (Weisheitspsychologinnen sehen ihre
,Positive Psychologie‘ in der Minderheitenposition, Staudinger 2002), für die
Thematisierung der Perspektivität ist er vielleicht sogar konstituierend. Aus
dieser Sicht lassen sich Konvergenzen oder Unterschiede zwischen den
Perspektiven verschiedener Personen A und B(9) auf den gleichen Sachverhalt X,
A[x] ≠ B[x], nur annehmen, weil diese als individuelle, mehr oder weniger
autochthone, geschlossene, autopoetische kognitive Systeme betrachtet werden
(Heiders Balancetheorie gibt ein gutes Beispiel für die mögliche Geschlossenheit
kognitiver Systeme, Konsistenztheorien werden auch als erste Generation der
Systemtheorie bezeichnet). Denn nur bei interpersonellen Unterschieden sind
Perspektivenübernahme A[B[x]] und Dezentrierung A[B[x]] ≠ A[x] nützlich
(bspw. als Habermassche politische Tugend oder als Bestandteil strategischen
Planens); nur dann wird die Frage nach der Akkuratheit der Metaperspektive
A[B[x]] =? B[x] notwendig. Wäre alles Wissen geteilt, gäbe es keine
Sozialperspektivitätsforschung – das in Kap. 1.3 vorzuführende ,Problem des
Fremdpsychischen‘ beruht auf diesem invidualistischen Axiom.
Unter dieser Voraussetzung scheint die Soziologie zunächst nur eine der auf
einem sehr operationalen Niveau konkurrierenden Erklärungen für Perspektivenkonstellationen und einige angenehme Vereinfachungen zu liefern. Die
Psychologie müsste ohne soziologische Begriffe die individuelle Entwicklung,
Erfahrung und kognitive Konstruktion bei den beteiligten Personen nachzeichnen, all dies lässt sich über deren Zugehörigkeit zu bestimmten Milieus, die
Einnahme verschiedener (z.B. beruflicher) Rollen und das Mitwirken an verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen komprimiert beschreiben. Aus
soziologischer Perspektive greift die hinter der Dankbarkeit für die Zusammenfassungsleistung stehende reduktionistische Haltung aber zu kurz, denn auf
Ebene des Individuums lässt sich die Entwicklung von gesellschaftlichen
Errungenschaften wie „Sprache, Mythos & Sitte“ (Wundt) oder von
Kollektivbewusstsein (Durkheim) nicht erklären10. Die von Wundt phylogenetisch für notwendig gehaltene „Wechselwirkung vieler“ (1913:3)11 erscheint der
Psychologie nicht präzise genug ausgedrückt, ein ,Kollektivbewusstsein‘ geht ihr
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In der verwendeten Perspektivennotation können die kognizierenden Personen durch beliebige
Buchstaben notiert werden; Es gibt deutsche Variante von Ich & Andere mit I[A[x]] = „Ich glaube
(oder das Individuum glaubt), der (oder die) Andere(n) meint(en) X“. Hier werden Heiders P & O
als abstrakte Namen bevorzugt. Teilweise werden aber auch Personennamen A und B (evtl. C, D, ...)
verwendet, wenn keine von ihnen vor den anderen privilegiert ist. Auch spezifische Abkürzungen
wie Vp für Versuchsperson in Vp[VL[x]] oder MA für Mitarbeiter usw. werden fallweise eingeführt.
Eckart (1997:107) meint, Wundts Völkerpsychologie habe Durkheim beeinflusst.
Die Gegenstände der Völkerpsychologie sind ,geistige Erzeugnisse‘, „die aus der Gemeinschaft des
menschlichen Lebens hervorgehen und die nicht aus den Eigenschaften des menschlichen Bewusstseins allein zu erklären sind, weil sie die Wechselwirkung vieler voraussetzen“ (1913:3).
Kapitel 1
deutlich zu weit. In der Psychologie brauchen Repräsentationen ein
Trägersystem (Wundt 1900/191112; Hofstätter 1957b:318; Hiebsch & Vorweg
1972:16f; auch v. Cranach 1995:25 u.v.a.). Da die Soziologie in ihrem
Gegenstand nicht auf das Individuum eingeschränkt ist, darf sie die emergenten
Eigenschaften sozialer Interaktion (Graumann 1979:294) in Form von
Konstrukten wie den Public Representations in der Öffentlichen Meinung, dem
kollektiven Gedächtnis oder dem „dynamic polyphasic cognitive system“ (Foster
2001:15)13 auf kollektiver Ebene objektivieren; die Exorzierung des Volksgeistes kam
über die Psychologie nicht hinaus14. In der soziologischen Terminologie werden
Bedeutungen, Kommunikationen, kollektive oder Soziale Repräsentationen
zumindest grammatikalisch zu Subjekten, sie „kommunizieren miteinander,
verbinden und trennen sich und führen jede Menge neuer Aussagen und
Praktiken in das <spontane> Alltagsleben ein“ (Moscovici 1995:300) und
können „als latente Repräsentationen sich in psychischen Inhalten und in
symbolischen Handlungen äußern“ (a.a.O.:278), sie können auf mikrogenetischer Ebene durch Gespräche und auf soziogenetischer durch Medien
operieren (Foster 2001:3) oder (als deren einzige Elemente) Luhmanns Soziale
Systeme konstituieren. Objektivierende (oder subjektivierende) Sprachformen
sind unproblematisch, solange sie als solche interpretiert werden (z.B. die von
Adam Smith im 18. Jh. eingeführte ,ordnende Hand‘ bzw. „unsichtbare Hand
der Vorsehung“, Stavenhagen 1964:54). Auch in dieser Arbeit wird ,ein Kapitel
etwas beschreiben‘ und ,eine Abbildung etwas zeigen‘. Die Rede von Wissen als
einem ,überindividuellen Gebilde‘, dass sich in individuellem Wissen nur
unreliabel erfassen lässt (zu seiner Messung daher mehrere Informanten nötig
macht), wirft somit eine Variante des Kategorien-Problems im Universalienstreit
auf: Universalien, Allgemeinbegriffe können als nur sprachliche Abstraktion
(Nominalismus) eingeführt werden oder es kann im Gegenteil ihre ontologische
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„Die geistigen Entwicklungen, die durch das Zusammenleben der Glieder einer Volksgemeinschaft
entstehen, sind nicht minder tatsächliche Bestandteile der Wirklichkeit, wie die psychischen Vorgänge innerhalb des Einzelbewusstseins. Sie sind allerdings nichts was außerhalb individueller Seelen vor sich gehen könnte“ (1900/1911:10)
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Die Mischung von Bestandteilen verschiedener Wissensbereiche, die bei der Diffusion beispielsweise wissenschaftlicher Theorien über angewandte Disziplinen (wie die Wirtschaftspsychologie)
in das Alltags- (oder Management-)Wissen beobachtbar ist, hatte Moscovici (1961, z.n. Foster
2001:15) „Polyphasia“ genannt.
14
Und der Ausweg Bühlers (1927), der Psychologie neben dem Studium des Erlebens- und Benehmensaspekts auch das des Gebilde-Aspekts komplexer psychologischer Gegenständen aufzugeben, hat sich in der (mainstream) Psychologie nicht durchgesetzt, denn auch „Sachstrukturen
können nur soweit im menschlichen Handeln realisiert werden, wie sie im kognitiven System repräsentiert sind“ (Herrmann 1984:167).
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Kapitel 1
Realität behauptet werden.15 Der Nominalismusstreit wird allgemein dem Mittelalter zugewiesen (Nöth 1985:23, Mauthner 1910/o.J.), im Verhältnis von Sozialpsychologie und Soziologie ist er weiterhin lebendig.
Dieses gesagt, könnte sich die Theorie Sozialer Repräsentationen in der
Begegnung von Psychologie und Soziologie als eine Art Kompromiss anbieten16,
denn hier kann die (fachspezifische) Forderung nach Bindung von Repräsentationen an Personen eingehalten werden (nur Repräsentationsexemplare sind
beobachtbar), und dennoch können bspw. über die Mehrebenen-Konzeption
von Wissen (v.Cranach 1995) einige emergente Eigenschaften sozialer Systeme
dargestellt werden (was die ,soziologische Sozialpsychologie‘ und schon die
Völkerpsychologie beabsichtigten, Graumann 1979, vgl. Strack 1998:17). Die
Theorie der ,Représentations Sociales‘, die Serge Moscovici in den 1960er Jahren in
die soziologische Sozialpsychologie eingeführt hat, beschreibt Inhalt und Veränderung von sozial geteiltem (Alltags-)Wissen während seiner Diffusion durch
verschiedene Bevölkerungssegmente. Der Ansatz betont im Gegensatz zum
Informationsverarbeitungsparadigma der Social Cognition die Kategorien von Sinn
& Bedeutung (die man von der kognitiven Wende in der Sozialpsychologie einmal
erhofft hatte, Graumann 1988) und arbeitet mit interpretativen – sog. bedeutungs‘erhaltenden – Methoden (Interviews, focus groups, Medienanalyse). Erstes
Anwendungsbeispiel war die Diffusion und die durch sie verursachte Veränderung
des ,Wissens‘ einer wissenschaftlichen Theorie (der Psychoanalyse) in verschiedene
gesellschaftliche Funktionssysteme, Berufsgruppen und Alltagsbereiche (verwandt
sind Studien zu wirtschaftlichen Laientheorien, Kirchler 1999:100f).
Soziale Repräsentationen sind für die Perspektivitätsforschung aus mehreren
Gründen interessant. Die Sozialperspektivitätsforschung, die Theorie Sozialer
Repräsentationen und die Social Cognition Forschung weisen die oben in punkto Beschränktheit und Relativität angesprochene konstruktivistische Orientierung auf
(Durveen & De Rosa 1992). Konstruktivisten müssen auf Gewissheit verzichten, ihnen sollte Toleranz leichter fallen. Bei aufgefundener Differenzierung
Sozialer Repräsentation (Wissensunterschieden zwischen Gruppen) werden die
unvollständig geteilten Wissensbestandteile von der Forschung nicht als mehr oder
weniger wahr voreinander bevorzugt (Moscovici 1995:285, Foster 2001), die in der
Psychologie übliche Rede von Biases ist daher verpönt. Die Terminologie der
Sozialperspektivität versucht bei der Bewertung von interpersonellen Perspek15
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Vor dem Problem standen Logik und Psychologie bei der Definition von Begriffsintensionen
(Mauthner 1910/o.J.; Carnaps Unterscheidung von Extension und Intension wurde Bestandteil
der DIN-2230, Wille 1984). Die Lösung, sog. natürliche und sprachliche Kategorien intensional
über das Exemplar mit der höchsten Prototypikalität zu definieren (Spatz für Vogel usw. Rosch
1978), ist zwar praktisch, versagt aber bei nicht-anschaulichen Exemplaren. Vorteil der Klassifikationspsychologie ist, dass sie über das Trägersystem der Intensionsrepräsentation verfügt.
Die Theorie möchte „zugleich eine allgemeine Theorie gesellschaftlicher Phänomene und eine
spezielle Theorie psychischer Phänomene sein“ (Moscovici 1995:272).
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