Wien gilt in Europa als Vorbild

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STUTTGART 21
STUTTGARTER ZEITUNG
Donnerstag, 9. Juli 2015 | Nr. 155
Stadt der Zukunft
Im Wettbewerb um Fachkräfte und kreative Köpfe gewinnen die Metropolen, während der ländliche Raum unter Bevölkerungsschwund leidet.
Probleme wie die ärztliche Versorgung in der Provinz und die steigenden Mieten in der Stadt beschäftigen Stadtplaner und Architekten in ganz Europa.
Parks und
Wasserspiele für
attraktive Städte
Der Architekt
Herbert Dreiseitl leitet ein Labor
für lebenswerten Städtebau.
Städteplanung
ie wird der Mensch geprägt von
der Stadt, in der er lebt? Diese
Frage treibt den Architekten
Herbert Dreiseitl aus Überlingen am Bodensee um. In einem Vortrag hat er beim
StZ-Kongress über seine Vorstellung von
einer lebenswerten Stadt gesprochen.
Dreiseitl hat weltweit Projekte verwirklicht und gilt als Vorreiter einer Städteplanung, die mit Parks
und Wasseranlagen attraktive Freiräume für
Stadtbewohner schaffen will. Seine Geschichte ist auch eine
Erfolgsgeschichte: Aus
dem Ein-Mann-Büro Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth
des 60-Jährigen, der „Grünflächen
nie an einer Universi- bei der
tät studiert hat, ist
längst ein großes Planung nicht
Unternehmen gewor- zu bedenken
den. Seine Agentur hat rächt sich.“
ihren Hauptsitz in
Überlingen, daneben Herbert Dreiseitl,
Architekt
gibt es Niederlassungen in Singapur, China
und den USA. Die Mitarbeiter arbeiten an
Projekten in Großstädten wie Abu Dhabi
und New York – aber auch in Freiburg und
Koblenz hat man schon Parkanlagen gestaltet.
Vor zwei Jahren hat sich Dreiseitls Atelier mit der Rambøll-Gruppe zusammengeschlossen, einem weltweit agierenden Ingenieur-Beratungsunternehmen mit Sitz
in Kopenhagen, dessen Jahresumsatz 2014
rund eine Milliarde Euro betrug.
Seitdem leitet Dreiseitl ein „Labor für
lebenswerten Städtebau“, das eng mit Forschungseinrichtungen kooperiert. Für die
Forscher um Dreiseitl ist es vor allem ein
Faktor, der eine Stadt lebenswert macht:
der Raum zwischen den Gebäuden. Grünflächen im Verbund mit Brunnen und Wasserspielen sind das Kapital der Zukunft, ist
sich Dreiseitl sicher: „Wenn das bei der Planung nicht berücksichtigt wird, rächt es
sich. Die Menschen werden krank ohne
Freiraum und Grün.“
fst
W
Gebannte Zuhörerschar: Michael Ludwig (rechts), Stadtrat für Wohnen in Wien, spricht über bezahlbaren Wohnraum in seiner Stadt. Südewo-Chef Christian Jaeger, Reiner Klingholz
Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth
vom Berlin-Institut, Unternehmensberater Dirk Weiss und StZ-Redakteurin Barbara Thurner-Fromm (von links) lauschen interessiert.
Wien gilt in Europa als Vorbild
Talentierte Menschen zieht es in die attraktiven Metropolen. Am Beispiel der österreichischen Hauptstadt wird deutlich,
dass bezahlbares Wohnen in einer wachsenden Großstadt offenbar doch möglich gemacht werden kann. Von Sven Hahn
Wohnungsbau
ie gelingt es einer Stadt, sich im tig sei jedoch, dass diese Menschen zwiWettbewerb um die klügsten schenzeitlich sehr viel mobiler seien, als das
Köpfe durchzusetzen? Was Arbeitnehmer vor wenigen Jahren noch
geschieht mit den Regionen, aus denen waren. Für die Städte, die den Kampf um
diese aufstrebenden Stadtmenschen Talente und Fachkräfte gewinnen wollten,
kommen? Und wie finden die neuen stelle sich sogleich die Frage, wo die neuen
Einwohner in den attraktiven Metropolen Bürger dann wohnen sollen. Eine ZuwandeEuropas eine bezahlbare
rung von Besserverdienern
Wohnung? Das sind die Fra- „Die Kreativen
habe in aller Regel eine Explogen, die am zweiten Tag des sind der Schlüssel
sion der Mieten und ImmobiKongresses „Stadt der Zu- für den wirtschaft- lienpreise zur Folge.
kunft“ der Stuttgarter Zeitung
Nicht so in Wien. Michael
lichen Erfolg.“
diskutiert wurden.
Ludwig, der Stadtrat für Woh„Die kreativen Köpfe sind Dirk Weiss,
nen, Wohnbau und Stadtder entscheidende Schlüssel Unternehmensberater
erneuerung, zeichnet für ein
für den dauerhaften wirteinzigartiges Modell verantschaftlichen Erfolg“, sagte Dirk Weiss, wortlich. Die österreichische Hauptstadt
Projektmanager bei der Beratungsagentur sei zwar auf der einen Seite eine der am
Roland Berger. Berlin sei dafür das beste schnellsten wachsenden Städte Europas,
Beispiel, so Weiss. Doch anstelle von tradi- sagte er, zugleich belege Wien in internationellen Werten wie Jobsicherheit tionalen Studien und Umfragen zum Thestünden bei der aktuellen Generation der ma Lebensqualität stets Spitzenplätze.
kreativen Köpfe Faktoren wie Lebensquali- Trotzdem bewegten sich die Mieten für
tät und die Herausforderung im Beruf an einen Großteil der Wohnungen zwischen
erster Stelle. Als Beispiel für diese Gruppe 4,35 und 7,50 Euro pro Quadratmeter. Zum
Menschen nannte Weiss den Yuccie – eine Vergleich: In Stuttgart liegt die Miete einer
Abkürzung für Young Urban Creatives (zu neuen Sozialwohnung in der Regel bereits
Deutsch: junge kreative Stadtmenschen). über den genannten 7,50 Euro. Der Grund
„Es sind eigentlich Hipster mit Bart, Tat- für diese erstaunlich moderaten Preise sei
toos, buntem Hemd und enger Jeans, die einfach: „62 Prozent der Bevölkerung leben
mit ihrer guten Ausbildung ordentliches bei uns in einer geförderten Wohnung“, erGeld verdienen wollen“, sagte der Projekt- klärte Ludwig. Die Stadt ist eine der größmanager mit einem Augenzwinkern. Wich- ten Immobilienbesitzerinnen Europas,
W
kauft aktiv Grundstücke auf und setzt seit der Geschäftsführung des Wohnungsunterdem Ende des Ersten Weltkriegs auf eine nehmens Südewo. „Der politische Einfluss
und immer mehr Bürgerbeteiligungen treisoziale Wohnungspolitik.
Mit rund 1,8 Millionen Einwohnern und ben die ohnehin schon hohen Baukosten
einem Wohnungsbestand von etwa 960 000 weiter nach oben“, sagte er. „Wir konnten
Einheiten ist Wien die mit weitem Abstand durch das Einbinden der Bürger Baukosten
größte Stadt Österreichs. 220 000 Wohn- senken“, entgegnete der Wiener Stadtrat.
einheiten sind derzeit Eigentum der Stadt,
Die Erkenntnis, dass es bei der Wandeweitere 200 000 werden mit öffentlichen rung gut ausgebildeter Menschen vom Land
Mitteln gefördert. Mehr als 640 Millionen in die Stadt nicht nur Gewinner geben kann,
Euro im Jahr fließen in den geförderten bestätigte Reiner Klingholz, der geschäftsWohnungsbau. „Wir übergeführende Direktor des Berlinben im Jahr teilweise 10 000 „Wir übergeben
Instituts. „Der ländliche Raum
geförderte Wohnungen an die im Jahr teilweise
hat Probleme mit dem BevölMieter“, berichtete Ludwig.
10 000 geförderte kerungsrückgang“, sagte er.
Die Stadt Wien steht aufVor allem der Handel in den
grund ihrer einzigartigen För- Wohnungen
Dörfern leide, „und die Komderpolitik von Seiten der Euro- an die Mieter.“
munen haben auch weniger
päischen Union in der Kritik. Michael Ludwig, Stadtrat
Steuereinnahmen“, sagte ReiDer Vorwurf lautet auf Wett- für Wohnen in Wien
ner Klingholz. Um Problemen
bewerbsverzerrung. „Die EU
wie etwa dem Ärztemangel auf
sagt, dass geförderter Wohdem Land entgegenzuwirken,
nungsbau allein für sozial Schwache gedacht brauche es jedoch kreative Lösungen und
ist“, erläuterte Ludwig. „Das sehe ich anders. weniger Bürokratie. Der Direktor berichtete
Ich hätte gern noch mehr Direktoren und von einer Zahnärztin, die mit einer mobilen
Manager als Bewohner in unseren kommu- Praxis zu behandlungsbedürftigen Mennalen Wohnungen.“ Je mehr Besserverdie- schen kommt. Diesen Service dürfe die Mener in den geförderten Einheiten lebten, dizinerin jedoch aufgrund gesetzlicher Vorumso höher sei in der Gesellschaft die Ak- gaben nur einmal in der Woche anbieten.
zeptanz für diese Form der Politik.
„Und sie konnte diese Arbeit lange Jahre
Kritik an den auch in Deutschland wach- nicht abrechnen, da diese Art der Versorsenden Vorgaben im Wohnungsbau äußerte gung bei der Kasse nicht vorgesehen war“,
hingegen Christian Jaeger, der Vorsitzende sagte Klingholz.
Wenn Architekten sich durchsetzen
s sind Gebäude, die eine Stadt prägen. Aber wie sie aussehen und wirken, ist Sache der Architekten. Mit
großer Offenheit schilderte der Architekt
Marten Wassmann – Partner bei Benthem
Crouwel Architects (Amsterdam, Aachen)
– wie er sich im Sinne von urbaner Lebensqualität gegen die Vorgaben der Bauherren
auflehnte. Manchmal gewann er einen
Wettbewerb, obwohl er gegen die Vorgaben
verstieß: zum Beispiel beim Forum Mittelrhein in Koblenz, wo es galt, ein „innerstädtisches Loch zu stopfen“ mit einem Einkaufszentrum, Bibliothek, Touristeninfo
sowie Museum. „Unser Vorschlag sah komplett anders aus als der des Auftraggebers“,
sagte Wassmann. Statt eines massiven Einzelbaus ordnete er mehrere Gebäude an,
die wie Kiesel im Flussbett von den Passanten umspült werden können und verschiedene Funktionen haben. Auch der Verlauf
der alten Stadtmauer sei einbezogen worden, obwohl das nicht verlangt worden sei.
Herausragende Bauten stifteten Identität und strahlten in den Stadtraum, sagte
Wassmann. An Projekten demonstrierte er,
wie er die Aufwertung des öffentlichen
Raums versucht hat. Ein Beispiel sei die Er-
E
Herausragende Gebäude strahlen in den öffentlichen Raum
einer Stadt. Sie stiften Identität für die Bürger. Von Christoph Link
Bauen
weiterung des Stedelijk-Museums in Amsterdam, für das sich der Bauherr einen
„Kasten“ als Anbau gewünscht habe, um
die Fläche zu verdoppeln. Die Architekten
erfüllten die quantitative Vorgabe, sahen
durch das ursprüngliche Modell aber die
am Museum liegende Freifläche bedroht.
„Wir wollten, dass der Platz in seiner Qualität erhalten bleibt.“ Wassmann verlegte
einen Teil des Komplexes unter die Erde,
hob den kleineren in die Höhe, sodass sich
der Anbau nach außen öffnet. Im Entwurf
war auf das Einzeichnen der Stützen verzichtet worden. „Sonst hätten wir den
Wettbewerb nicht gewonnen“, sagte der
Architekt schmunzelnd.
Großbauten erfüllen auch städtebauliche Aufgaben: Beim Bau der Central Station von Rotterdam hatte Wassmanns Büro
zwei durch die Gleise getrennte Stadtviertel – einen mit weltstädtischem Antlitz im
Süden, einen mit bürgerlicher Wohnbebauung im Norden – zusammenzufügen.
Das Büro gewann mit einer Halle, die sich
mit einem gewaltigen Dreiecksdach gen
Süden öffnet, nach Norden aber kleinteilig
wirkt. Beide Elemente werden durch Alleen verbunden. „Es ist ein Vorteil, wenn
Städte, Architekten und Entwickler an
einem Strang ziehen“, sagte Wassmann.
Über die Sinnstiftung von Architektur,
die sich durch ihre Langsamkeit und
Schwere von der rasanten Dynamik und
der „pornografischen Transparenz“ der digitalen Welt unterscheidet, philosophierte
der Architekt Alexander Schwarz (Berlin).
Für ein „I like“ auf Facebook bedürfe es
nicht des Verweilens. Die Architektur aber,
eine „kommende Kulturtechnik“, erfülle
die neue Sehnsucht nach der „Einmaligkeit
des Bleibens“, den ein Ort zurücklasse.
Schwarz stellte seinen zeitlos schönen
Brunnenbau im Leipziger Nikolai-Kirchhof vor, den viele Bürger kennen, aber von
dem die wenigsten wissen, wann er entstanden ist. Nicht nur Einzelbauten, auch
die Gestaltung aufgelassener Industrieparks kann Identitäten stiften. So schilderte Martin Tönnes vom Regionalverband
Ruhr, welch hohen Anklang der Emscher
Landschaftspark und das Weltkulturerbe
Zeche Zollverein in der Bevölkerung gefunden haben. Im Ruhrgebiet wartet übrigens
viel Arbeit auf Architekten: 2100 Hektar
sind noch als „Wohnreserven“ frei.
E-Mobilität
Stuttgart als
Schaufenster
„Ohne attraktive Städte können wir kein
attraktiver Standort bleiben“, sagte Landeswirtschaftsminister Nils Schmid (SPD)
in seinem Vortrag beim StZ-Kongress.
Schmid skizzierte Herausforderungen für
die Entwicklung der Städte und des Wirtschaftsstandortes Baden-Württemberg.
Die Landesregierung habe bereits sehr
große Summen für die städtebauliche Entwicklung zur Verfügung gestellt. Ein Beispiel sei die Konversion militärischer Flächen etwa in Ludwigsburg oder im Scharnhäuser Park. „Dieser Erfolg zeigt, dass Konversion auch städtebauliche Zukunftsentwicklungen aufzeigen kann“, sagte Schmid.
Ein Augenmerk liege auf bezahlbarem
Wohnraum in innerstädtischen Lagen.
„Nicht nur Besserverdienende, sondern
auch Krankenschwestern oder Polizisten
sollen in der Innenstadt wohnen können“,
erklärte der Wirtschaftsminister. Allerdings habe die Politik in diesem Bereich
bisweilen nur begrenzte Möglichkeiten.
Mit Blick auf den Verkehr in Stuttgart
unterstrich Schmid den Ausbau von neuen
Formen der Mobilität im urbanen Raum.
„Ich spüre das jeden Tag, wenn ich mich auf
der B 27 von Reutlingen nach Stuttgart
quäle.“ Es gelte angesichts dieser Situation,
in den großen Städten des Landes moderne
Verkehrsleitsysteme zu entwickeln und im
Alltag einzusetzen. Zukunftschancen sieht
Schmid beim Carsharing. „Stuttgart ist in
diesem Bereich eines der Schaufenster für
E-Mobilität“, sagte Schmid mit Blick auf
die Flotte von Car2go.
kkr
// StZ-Online
Marten Wassmann macht den Bauherrn oft
Gegenvorschläge. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth
Artikelarchiv, Fotostrecken, Videos:
informieren Sie sich umfassend über
den Kongress im Internet unter
http://stzlinx.de/zukunftskongress
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