Düsternisse im Rittersaal

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Kunst
Düsternisse im Rittersaal
SPIEGEL-Redakteur Jürgen Hohmeyer über den Maler und Bildhauer Georg Baselitz
Ein Bild ist keine Socke, doch das Loch in der
Socke ist fast schon ein Bild.
Baselitz
ls Kind sah er, im Traum, ein
„großes Haus voller dunkler Bilder“. Was auf den Bildern dargestellt war, konnte er nicht erkennen.
Aber er wußte: Er selber hatte sie gemalt.
Für Georg Baselitz, 56, mußte es
wohl so kommen: Er bewohnt ein wahrhaft großes Haus, Schloß Derneburg bei
Hildesheim, und malt dort so ausdauernd, ja besessen, als wollte er den Riesenbau tatsächlich mit seinen Bildern
füllen – mit mächtigen Leinwänden von
zunehmend schwärzlichem Kolorit und
auch von dunklem Sinn.
Die Motive des Malers sind, sogar für
ihn selbst, oft ähnlich schwer zu fassen
wie Traumvisionen oder frühe Erinnerungen. „Mir fliegt das nicht zu“, sagt
Baselitz und führt den Besucher vor die
jüngsten 13-Quadratmeter-Formate im
turnhallengroßen Rittersaal, „ich nehme das von unten.“ Er schürft im Verschütteten.
Unruhige Farbgründe lassen spüren,
daß sich in ihnen viele Schichten überlagern wie auf den Grabungsfeldern von
Archäologen. Über dem düsteren Fond
spannt sich zumeist ein Liniennetz figürlicher Strichzeichnungen. Und an der
Oberfläche schwimmen dann wohl dicke
weiße Farbtupfer wie Sahnehäubchen
auf der Suppe – ein beliebiges, abstraktes Muster?
Da widerspricht der Maler. Noch in
dem Getüpfel sieht er „Punkt, Punkt,
Komma, Strich“, also das Einmaleins
der Welt- und Figurendarstellung.
Vom Motiv kommt Baselitz nicht los,
auch wenn er gern behauptet, es sei „als
Inhalt uninteressant“, und wenn die
Substanz der Bilder angeblich nur im
formalen Aufbau, in Kontrast oder Zusammenklang der Farben und in der
ruppigen Pinselführung liegt.
Werner Schmalenbach, Ex-Direktor
der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, schwärmt: „Ein toller Maler!“ Aber
einfach ist bei Baselitz gar nichts.
Das Untergründige, Schwerblütige
seiner Kunst, das bisweilen als „teutonisch“ empfunden wird, hat schon manchen Kritiker verschreckt, freilich auch
– und zu Recht – einen großen Kreis Bewunderer angezogen.
A
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Atelierecke mit „Bildsechzehn“ (1993)
Künstler Baselitz in Derneburg, Werke: Mit Punkt, Punkt, Komma, Strich und
Auf den Besten- und Bestsellerlisten
zeitgenössischer Kunst rangiert Baselitz
in der Spitzengruppe (Hauptwerke erzielen Preise bis über eine Million Dollar), und in den Schausälen ist er ein internationaler Star. Vorigen Sommer hat
das hochangesehene dänische Louisiana-Museum seine neuen Bilder gezeigt,
für 1996 plant das Guggenheim Museum
in New York eine Retrospektive. Diesen Monat sind deutsche Ausstellungsmacher dran.
So eröffnet das Saarland-Museum in
Saarbrücken am kommenden Sonntag
einen Überblick mit Baselitz-Werken
der achtziger und neunziger Jahre. Außer Gemälden, Zeichnungen, Druckgrafiken sind dort auch Holzskulpturen
„Männlicher Torso“ (1993)
Vor seinem „Bildeinundzwanzig“ (1993)
„Mädchen kommt – Markus“ (1987)
„Hose“ (1990)
„Mutter und Kind“ (1985)
Spaghetti aus der Farbtube werden die Helden und Plagegeister von einst noch einmal beschworen, kopfüber und gezähmt
zu sehen – eine erst 1980 angefangene,
doch seither erblühte Nebenproduktion
des Künstlers. Ganz den Skulpturen ist
vom 18. Februar an eine Ausstellung
der Hamburger Kunsthalle gewidmet*.
* Saarbrücken bis 4. April. Katalog (Verlag Hatje)
256 Seiten; 48 (im Buchhandel 88) Mark. Hamburg bis 17. April. Katalog (Verlag Cantz) 88 Seiten; circa 30 (58) Mark.
Der Bildhauer-Autodidakt mutet sich
dicke Brocken zu – so mächtige Baumstämme, daß er damit im Hof seines
Schlosses, das ursprünglich ein Kloster
war, schon in mittelalterliche Äbtissinnengräber eingebrochen ist.
Erst mit der Plastik wird der Kosmos
des Künstlers rund: Massig ausladende
Form von körperlicher Schwere steht
gegen taumelnde Phantasiegespinste
und stellt die Baselitz-Bilderwelt auf
kräftige Füße. Denn auf Leinwand und
Papier zeigt er (seit 1969) ja alle Figuren
oder Gegenstände kopfüber – wer jemals auch nur flüchtig von Baselitz gehört hat, weiß zumindest dies.
Ungezählt sind die sarkastischen
Kommentare über die eigentümliche
DER SPIEGEL 6/1994
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KULTUR
Maler-Gewohnheit, ungezählt die Layout-Pannen bei der Wiedergabe der
Werke. In Ausstellungen verrenken die
Besucher sich die Hälse, Katalogleser
drehen die Bildseiten rasch mal um.
Doch Baselitz besteht darauf, sich mit
seinem Kunstgriff neue Sehweisen und
Maler-Freiheiten zu eröffnen: Die herrschende Oben-Unten-Konvention sei
„Beschiß“, eine Verwechslung von Bild
und Wirklichkeit. Zeichnende Kinder
fielen darauf nicht herein und drehten
ihr Blatt nach Belieben; nur Erwachsene machten „Papier mit Nägeln fest“.
Konsequenterweise ist das von Baselitz gesuchte „Neusehland“ (so jetzt der
Saarbrücker Ausstellungskatalog) keineswegs bloß ein Reich der sturen Antipoden. Es ist eine verwirrende Kunstwelt: Da scheinen die Haare eines
„Orangenessers“ auch einmal der
Schwerkraft außerhalb des Bildes nachzugeben; oder das Getränk eines „Buckligen Trinkers“ kleckert nach unten, obwohl im Bildmotiv das wahre Unten
oben wäre.
Solange Baselitz seine Großformate
malt, sind Oben und Unten ohnehin
aufgehoben. Er breitet die Leinwand
auf den Boden des Rittersaals, pinselt
und schüttet Malschicht über Malschicht, verteilt Farbe mit den Händen
oder drückt sie spaghettiartig aus der
Tube, kratzt mit Fingern oder Pinselstiel Konturen in den weichen Grund.
Unvermeidlich tritt dabei, aus wechselnden Richtungen, der Künstler selbst ins
Bild und hinterläßt den Abdruck seiner
Turnschuhsohlen. Malerei wird Spurensicherung.
„Ich bin in keinem Streß“, sagt Baselitz versonnen. „Meistens sitze ich rum
und grübele.“ Kein Modell erwartet ihn,
seine Motive entnimmt er dem eigenen
Werk und malt sie „irgendwie flatterig
und losgelöst, offener, dekorativer“
noch einmal, nämlich ohne die „Zappligkeit“ von früher, ohne den wütenden
Drang zur Provokation. Unterwegs zum
Alterswerk? „Das Gefühl habe ich.“
Sein Gedächtnis funktioniert fast fotografisch. Baselitz mußte ein 1975 entstandenes „Schlafzimmer“-Bild, das ihn
und Ehefrau Elke als Kopfüber-Akte
darstellt, noch sehr genau vor Augen
und im Handgelenk haben, um die
Komposition direkt aus der Farbtube
nachzuzeichnen, während er auf der
Großleinwand „herumtapste“, die er
gar nicht recht überblicken konnte.
Auch dieses Werk, nun trocken als
„Bildsechzehn“ einer 1991 begonnenen
Reihe katalogisiert, ist in Schichten angelegt. An einer Stelle öffnet sogar eine
Art „Loch im Vorhang“ (Baselitz) den
Blick in die Tiefe, als ziele er auf die
bald 20 Jahre ältere Malerei. Auch die
Metapher von einer durchgewetzten
Socke, die gestopft wird oder eben
nicht, drängt sich auf.
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„Orangenesser III“ (1981)
„Sonderling“ (1993)
„Tanz ums Kreuz“ (1983) in der Kirche in Luttrum
Baselitz-Werke: Bildermalen statt Psychoanalyse
„Die Geister plagen nicht mehr, aber
sie sind noch da.“ Als schemenhafte
Strichfiguren irrlichtern durch Baselitz’
neue Bilder jene „Helden“ oder „Freunde“, die, noch kopfoben, zuerst Mitte
der sechziger Jahre erschienen waren:
heruntergekommene Prototypen zwischen Wandervogel und Kriegsheimkehrer. Nur genaueres Zusehen offenbart, daß solch ein Kerl auch in einer
grüngesäumten „Hose“ von 1993 steckt
– und daß die, wieder mal, offensteht.
In seinen „Helden“ hat Baselitz damals Halbgötter verketzert (und buch-
stäblich zerstückelt), wie sie dem in der
D D R Heranwachsenden aus sowjetischen Bürgerkriegsromanen von Isaak
Babel bis Michail Scholochow entgegengetreten waren. Die Unversöhnlichkeit,
mit der er sich immer wieder von den
Autoritäten seiner Jugend lossagte, verrät ein schweres Trauma.
Seltsam unentschlossen freilich hat
der Künstler sein Pseudonym gewählt.
Den ererbten, mit lästigen Schulerinnerungen verknüpften Familiennamen,
Kern, wollte der Lehrersohn gern lossein; auch ersparte das den Angehöri-
„Das Motiv: Giraffe“ (1988)
gen Schande, wenn er anderswo „Krakeel“ machte. Aber dann nannte er sich
nach seinem sächsischen Heimatdorf
Deutschbaselitz. Der klare Schnitt blieb
aus.
„Was der Region zugehört“, will der
Maler „nicht löschen“. Obwohl er ganze
Monate an seinem Zweitwohnsitz in einer italienischen Riviera-Villa verbringt, sieht er seine Figuren immer nur
im „Norden“ und „Osten“ zu Hause.
Doch selber heimzukehren, auch nur
besuchsweise, dazu lädt ihn der Bürgermeister von Deutschbaselitz vergebens
ein.
Der Zynismus der DDR-Obrigkeit
bündelt sich für Baselitz in der grotesken Schlußepisode seines Ost-Berliner
Kunststudiums: In der Gesellschaftskunde-Klausur hatte er gelehrig die erwünschten Sprüche hingeschrieben und
dafür eine Eins kassiert. Als er jedoch in
den anschließenden Semesterferien Bilder à la Picasso malte, war auch die
Klausur nur noch Fünf. Der Student,
dem der Tagebau empfohlen wurde,
ging, 1957, lieber nach Westen.
Angepaßt hat Baselitz sich auch dort
nicht. Unter der Vorherrschaft der internationalen Abstraktion suchte er sich
seine Anregungen bei Außenseitern wie
dem französischen „art brut“-Verkünder Jean Dubuffet und dem exzentrischen Dichter Antonin Artaud, bei den
Naiven und psychisch Kranken.
Auf Baselitz-Bildern wucherten anatomische Fragmente, reckten und ringelten sich obskure Phalluskolonien.
Das Gemälde „Die große Nacht im Eimer“, auf dem ein beige-graues Männchen sichtlich unfroh seinen stabartigen
Penis handhabt, erregte 1963 einen
West-Berliner Staatsanwalt.
Schlichte Illustrationen aus der Innenwelt des Malers waren die anstößigen
Visionen kaum, sondern vor allem Bilder nach Bildern; aber doch auch Signale für Obsession, Frustration und seeliDER SPIEGEL 6/1994
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sche Spannung. Im Kopfstand der Motive und in der Lockerheit des reifen Baselitz-Stils werden alle Zeichen versteckt und entschärft, ohne wirklich zu
verschwinden. Ginge er zum Psychoanalytiker, so vermutet der Künstler, könnte er gleich das Malen aufgeben.
Er selber jedenfalls hat keine Erklärung dafür, daß von ihm geschätzte Kollegen, die er nicht eigentlich porträtiert,
sondern eher wie auf Ikonen darstellt,
sich bei dieser Prozedur allemal in blonde Frauen verwandeln. Freund Lüpertz
etwa wurde bei „Mädchen kommt –
Markus“ mit dieser Metamorphose verfremdet. Baselitz in Person hängt als androgyne „Giraffe“ mit dunklem Bart
und maisgelber Tolle ins Bild – wobei
der Stengelhals obendrein an obszön
sprießende Motive der Frühzeit gemahnt.
Das Phallische ist auch dann ein Leitmotiv des Künstlers, wenn es, am Ende,
wegfällt. Bei seiner Bildhauerarbeit hat
der Künstler voriges Jahr einen „Männlichen Torso“ glatt kastriert. Baselitz
rückt seinem Skulpturen-Material mit
Kettensäge und Axt zuleibe, um wuchtige Großformen und expressiv zersplitterte Oberflächen bemüht. Trotz der rabiaten Technik war es ihm gelungen,
dem rauhen Rumpf ein Geschlechtsteil
stehenzulassen. Nur stach das Ding, wie
er dann fand, formal allzu grob hervor
und mußte deswegen fallen.
Das Ergebnis der Operation ist ein
packendes Stück Skulptur, doppelt irritierend neben seinem Pendant, einem
„Weiblichen Torso“, von dem es sich
nur diskret unterscheidet, vor allem
durch etwas kantigere, für einen Mann
aber verblüffend volle Brüste. Beide
Werke hat der Maler-Bildhauer partienweise blutrot eingefärbt: Geburt, Menstruation und Verstümmelung werden
suggestiv angedeutet.
Kaum verwunderlich, daß dieser
Künstler Ärgernis erregt, wenn er nun
auch noch in den sakralen Raum vordringt. Über die Kunstgeschichte, nicht
über die Kirche, hat er sich religiöse
Motive angeeignet, und ein mutiger Gemeindepfarrer hat ihn bewogen, ein
Kreuzigungsbild in die Dorfkapelle von
Luttrum nahe bei Schloß Derneburg zu
schenken.
Da hängt der Heiland nun kopfüber,
so wie traditionell nur der gemarterte
Apostel Petrus dargestellt wird. Das Altarbild stört durch ungeschlachte Formen und laute Farben die Harmonie des
bescheidenen, spätbarock dekorierten Raumes und regt viele Landleute
auf.
So unangemessen ist das gar nicht:
Den Umsturz haben Religion und Kunst
im besten Fall gemeinsam. Die Küsterin
weiß es von einem auswärtigen Besucher: „Jesus hat auch alles auf den Kopf
gestellt.“
Y
Theater
Festliches
Schweigen
Peter Handke beklagt die Sprachlosigkeit der Welt in einem Kinofilm und in seinem Erfolgsstück,
das Luc Bondy neu gedeutet hat.
em Dichter, so scheint es, gehen
die Worte aus. Vor zwei Jahren
hat Peter Handke die Theaterwelt
mit dem Schau-Spiel „Die Stunde da wir
nichts voneinander wußten“ überrascht
– einem ganz und gar sprachlosen Stück,
in dem die Schauspieler nur gestikulierend über die Bühne schnüren.
D
Nach dem vertrödelten Nachmittag
auf der Piazza schrieb Handke in gut
zwei Sommerwochen sein „Stunden“Stück, und auf einmal bedeutete die
Piazza tatsächlich die ganze Welt – jedenfalls auf dem Theater.
Knapp 60 Seiten lang gibt Handke
wortreich Regieanweisungen für sein
stummes Schau-Spiel. Hunderte von
Menschen kommen und gehen. Sie bewegen sich aufeinander zu, blicken sich
an und wieder aneinander vorbei, berühren sich, erstarren, verachten, begehren sich, kämpfen, lieben – und sagen kein einziges Wort.
Feuerwehrleute, ein Koch, ein Chirurg, Schwangere, Soldaten, Bergsteiger,
Gören, Greise. Dazwischen tummeln
sich ein paar sehr alte Bekannte: Abraham und Isaak, Moses und Äneas, Tarzan und Papageno – auch sie rücksichtslos zum Schweigen gebracht.
Nach der grellen Uraufführung in
Wien durch Claus Peymann vor knapp
zwei Jahren und zwei weiteren Deutun-
Bondys Berliner Handke-Inszenierung: Und sagen kein einziges Wort
Und diese neue schweigende Welt beschwört Handke, 51, nun auch in einem
aktuellen Film, der unter dem Titel
„Die Abwesenheit“ demnächst in deutsche Kinos kommt. In beiden KunstStücken zelebriert der österreichische
Sensibilissimus die Unfähigkeit der
Menschen, sinnvoll miteinander zu
kommunizieren.
Die Vision einer verstummenden
Menschheit suchte den Dichter ausgerechnet auf einem belebten italienischen
Kleinstadt-Platz heim. Stundenlang saß
er dort bei kühlem Wein und kam „ins
Schauen“. Plötzlich wurde für den Voyeur des Alltäglichen „alles zeichenhaft“,
als ob „die kleinsten Vorgänge“ des Lebens auf einmal „die Welt bedeuteten“.
gen in Bochum und Freiburg wagte Starregisseur Luc Bondy in der Berliner
Schaubühne am vergangenen Donnerstag eine tragikomische Version von
Handkes Hommage auf das Schweigen.
Gilles Aillaud baute ihm dafür einen
großflächigen Bühnen-Raum, weit entfernt von der flirrenden Heiterkeit italienischer Idylle, wie sie Karl-Ernst
Herrmann in Wien beschwor. Aillauds
Szenerie erinnert an die fahle Ärmlichkeit nordafrikanischer Küstenorte.
Kein kurzfristiges Urlaubs-Utopia für
zivilisationsmüde
Gesamtschullehrer,
mehr ein verstörender Elendsort: links
ein weißer, fensterloser Kubus mit einer
Tür, rechts eine halb unter einer
schmutzigen Plane versteckte CitroënDER SPIEGEL 6/1994
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