1 Vortrag: Ägypten 1919 bis 2013: Kulturkampf am Nil

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Vortrag:
Ägypten 1919 bis 2013:
Kulturkampf am Nil - Nationalismus, Islamismus
und Militärherrschaft in Ägypten (1919 bis 2013)
Dr. Jürgen Wasella
Zusammenfassung:
Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Herrschaft des Osmanischen Reichs über Ägypten, das
bereits seit 1882 de facto unter der Kontrolle der britischen Kolonialmacht stand. Gegen
diese Kolonialherrschaft entstand seit 1919 eine nationale Unabhängigkeitsbewegung, die
die 1922 die formale Unabhängigkeit des Landes erreichte.
Seitdem tobt am Nil der Kampf um die politische und kulturelle Seele Ägyptens: Unter den
Königen Fuad und Faruk dominierte ein Nationalismus, der die ägyptische Identität in der
Jahrtausende alten Hochkultur und der vorislamischen Vergangenheit verortete. Daneben
trat seit 1928 die Muslimbruderschaft als islamistische Massenbewegung auf und betonte
die Zugehörigkeit Ägyptens zur arabischen Welt sowie die islamische Identität des Landes.
Ein durch die Muslimbrüder unterstützter Volksaufstand wurde 1952 von einem
Militärputsch beendet, der König Faruk stürzte. Die Freien Offiziere unter Führung von
Gamal Abdel Nasser regierten Ägypten bis 1970 im Zeichen des Arabischen Sozialismus, der
einerseits die arabische Identität hervorkehrte, anderseits aber die Muslimbruderschaft
unterdrückte und bekämpfte. Präsident Sadat versuchte dann, die Muslimbrüder gegen die
Anhänger Nassers auszuspielen und wurde schließlich 1981 von Islamisten ermordet. Sein
Nachfolger Mubarak regierte ohne festgelegte ideologische Ausrichtung, bemäntelte seine
diktatorische Herrschaft mit rein kosmetischen demokratischen Reformen und ließ eine
immer stärkere Islamisierung der Gesellschaft zu.
Der Sturz Mubaraks im Jahr 2011 und der so genannte „Arabische Frühling“ wurde von
großen Hoffnungen der ägyptischen Zivilgesellschaft auf eine Demokratisierung begleitet.
Nach einer kurzen und chaotischen Regierung der Muslimbruderschaft unter Präsident
Mursi wiederholten sich 2013 die Ereignisse von 1952: Das Militär setzte sich an die Spitze
einer Volksbewegung gegen Mursi und griff erneut nach der Macht.
Inhalt:
 Das „albanische“ Königshaus und das koloniale
Erbe Ägyptens
 20er bis 40er Jahre:
Monarchie, Nationalismus und das Ende der
kolonialen Gesellschaft
 Der „Prätorianerstaat“ der 50er bis 70er Jahre
 Kleptokratie und Arabischer Frühling: Das Ende
der Ära Mubarak
 Ausblick: Zivilgesellschaft und neuer
Totalitarismus?
Grundlinien ägyptischer Geschichte:
 Über zweitausendjährige Fremdherrschaft seit der Perserzeit im 4. vorchristlichen
Jahrhundert bis zum Ende der albanischen Dynastie im Jahr 1952
 Dominanz innerhalb des jeweiligen Kulturraums
 Religiöse, kulturelle, politische und häufig auch militärische Führungsrolle Ägyptens
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Prolog 1: Napoleon in Ägypten:
 1798 – 1801: Beginn einer Ära direkten europäischen Einflußes
 1. Aug. 1798: Schlacht von Abukir
Prolog 2: Die „albanische“ Dynastie
 Muhammad Ali: Ägyptens Herauslösung aus dem
Osmanischen Reich
 Europäisierung und Öffnung (1848 bis 1882)
 Indirekter Kolonialismus (1882 - 1923)
 Muhammad Alli wird 1805 vom Sultan zum Statthalter
Ägyptens ernannt
 Massaker auf der Zitadelle (1811): Ermordung von 420
Mamluken-Beys
 Danach Verwaltungsreformen, Modernisierung der Landwirtschaft und der
Bewässerungssysteme, Aufbau einer schlagkräftigen Armee
 Aufbau einer schlagkräftigen Armee nach europäischem Vorbild
 Konflikt mit Istanbul: Muhammad Ali bricht mit dem Sultan (1830) und erobert Syrien
 Sieg über das osmanische Heer bei Konya (1839)
 Muhammad Ali erhält den Titel Khedive (1840) und damit die erbliche
Statthalterschaft über Ägypten
 Ismail (1863-1879): Der „ungeduldige Europäisierer“
 Verschwenderische Hofhaltung, Staatsbankrott, wachsende britische Einflussnahme
 Nominell bleibt Ägypten Provinz des osmanischen Reichs
 Lord Comer (1883-1914): Britischer Generalgouverneur - Politik für die Interessen
der europäischen Gläubiger, Deckung des Baumwollbedarfs Englands – Planmäßige
Deindustrialisierung Ägyptens
Prolog 3: Ägypten im ersten Weltkrieg
 1914: Ägypten wird mit Kriegseintritt der Türkei
britisches Protektorat
 Suezkanal wird direkter Kontrolle Englands
unterstellt
 Nationalistische Unruhen in Alexandria und
Kairo
 1919 ägyptische Delegation (wafd) auf der
Konferenz von Versailles der Zugang verwehrt
Die unvollständige Unabhängigkeit (1923 - 1952)
 1922: Nach anhaltenden Unruhen erklärt England
Ägypten für unabhängig, behält aber weitreichende
militärische und politische Kontrolle
 1923: Ägypten wird unter König Fuad und
Premierminister Saad Zaghlul konstitutionelle
Monarchie
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Das liberale Zeitalter (1919 bis 1930)
 Die Anziehungskraft der kolonialen Gesellschaft
 Die Wafd-Partei: Hervorgegangen aus der
Delegation (Arab. wafd), die auf der
Friedenskonferenz von Versailles ägyptische
Forderungen vertrat
 Der islamische Modernismus
 Die Entstehung islamistischer Massenbewegungen
 Bürgerliche Gesellschaft und Bildungs-expansion in
den Städten
 Produktivste kulturelle Phase
Der Islamische Modernismus: Vereinbarkeit
von Islam und Moderne
 Jamal ad-Din al-Afghani (1838-1897), iranischer Exilpolitiker
 Muhammad Abduh (1849-1905), Schüler Afghanis und späterer Großmufti von
Ägypten
 AUSGANGSFRAGE: Wie kann man die geistigen
Grundlagen der islamischen Zivilisation wieder so
stark machen, dass sie der westlichen Expansion
Widerstand leisten kann?
 Zeigen, dass sich moderne Werte wie Rationalität
und Wissenschaftlichkeit auch aus den Quellen der
islamischen Religion ableiten lassen
 Beweisen, dass man auch als gläubiger Muslim in
einer modernen Gesellschaft leben und erfolgreich
sein kann
 Spaltung der Gesellschaft in einen verwestlichten
und einen traditionellen Teil verhindern
Die Salafiya der 20er und 30er Jahre
 „Defensiver Modernismus“ – Vorbild Europa ist durch den Kolonialismus und die
Weltwirtschaftskrise diskreditiert
 „Rückwärtsgewandte Utopie“ – Vorbild der salaf salih (Weggefährten des Propheten)
und Besinnung auf den „Urislam“ von Medina
Weltwirtschaftskrise und Rückbesinnung
 1928: Gründung der
Muslimbruderschaft in Ismailiya
 Rückgang der Aufnahmefähigkeit
der kolonialen Gesellschaft
 Antwort: Salafiya als
Rückwärtsgewandte Utopie
 Massenbewegungen der 30er Jahre
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Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit
 1936-1952
König Faruq
 Zweiter Weltkrieg: Verhängung des Kriegsrechts –
Einsetzung England-freundlicher Regierungen
 1945 bis 1952: Politische Instabilität,
„Weimaer Zustände“
1952: Der Putsch der Freien Offiziere
 1952: Unblutiger Staatsstreich,
König Faruk muß ins Exil abdanken, Verfassung wird aufgehoben, Parlament und
Parteien aufgelöst, Republik ausgerufen, erster Präsident: General Naguib
 Verabschiedung einer Landreform, die gegen die Großgrundbesitzer als Stützen des
alten Regimes gerichtet ist
 1953: Bruch zwischen Nasser und Naguib, Nasser löst ihn in allen Ämtern ab
50er und 60er Jahre: Der Nasserismus
 Arabischer Sozialismus
 „Prätorianerstaat“
 Arabischer Nationalismus
 Militärdiktatur
 Zentrale Rolle des Militärrats
 Keine zivile Kontrolle
 Wirtschaftliche Eigeninteressen der Streitkräfte,
„Staat im Staate“
 Trennung von Religion und Staat
 Bruch mit den Muslimbrüdern
 Unterdrückung der Muslimbruderschaft
 Enge Anlehnung an die Sowjetunion,
 Staat als Entwicklungsagentur
Euphorie und Versagen des Nachkolonialismus
 Suez-Krise (1956): Politischer Triumph Nassers
 Kampf gegen die „koloniale Hinterlassenschaft“ Israel als Existenzgrundlage des
jungen Militärregimes
 Ziel bleibt „die Juden ins Meer zu treiben“
 Enorme Aufrüstung beider Seiten im Schatten des
Kalten Krieges
1967: Die Mutter aller Niederlagen
 Juni 1967: Nasser sperrt die Straße von Tirana für
den israelischen Schiffsverkehr
 Präventivschlag der israelischen Armee führt zur
vollständigen Niederlage der vereinigten
ägyptischen, syrischen und jordanischen Truppen
 Israelische Besetzung der Westbank, der
Golanhöhen, des Gazastreifens und des Sinai
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 Ende des Traums von einer gesamtarabischen Nationalkultur
 Verlust an Glaubwürdigkeit der säkularen Entwicklungswege
 Verlust der Glaubwürdigkeit der
arabischen Regierungen und
deren Propaganda
 Die ideologischen –Ismen werden diskreditiert
 Wiedererwachen islamistischer Strömungen, die in der Euphorie der
Unabhängigkeitsbewegung in den Hintergrund gedrängt waren
Sadat und die Islamisten (1970 – 1981)
 1970: Muslimbrüder als Gegengewicht zu den arabischen Sozialisten
 Generalamnestie, Betonung des „islamischen“ Charakters des Staates
 Durch Kritik an Camp David und der sadatschen Wirtschaftspolitik zuerst
Entfremdung, dann Fundamentalopposition
 Radikale Abspaltungen der Muslimbruderschaft verwandeln sich in eine
gewaltbereite Widerstandsbewegung
Die Ära Mubarak (1981 – 2011):
 Zunächst bescheidene Ansätze einer gelenkten Demokratie
 „Friedensdividende“: Westliche finanzielle Unterstützung
 Verschärfung des Gegensatzes Staat – islamistische Opposition
 Desintegration von Staat und Gesellschaft
 Kleptokratie auf Ägyptisch: Netzwerke der Protektion, Korruption im
Alltag
 Islamisierung in der Ära Mubarak: Konservative „Islamisierung von untern“,
Konzentration auf äußere Kennzeichen und Symbole
 Konzentration auf moralische Fragen und auf äußerliche Umgangsformen (Schleier,
Kleidung, Verbote)
 Immer mehr Lebensbereichen wird das Etikett „Islamisch“ angeheftet
 Dominanz des islamischen Diskurses in der Öffentlichkeit
 Tabuisierung – Verbreitung eines Klimas der Angst und der geistigen Unfreiheit
 Verlässlichkeit und Stabilität
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Der „arabische Frühling“ (2011)
 Verlust des Informationsmonopols
 Der Kessel kocht: Gesellschaftlicher Aufbruch seit 2004
 Aufgestauter Frust einer ganzen Generation
 Die PPP-Formel: Poverty, Participation, Pride
 „Formative Experience“: Gesellschaft erlebt eine nie gekannte Gestaltungskraft
Die kurze Herrschaft Präsindent Mursis (2012/13)
 Pest und Cholera: Die Wahlen von 2012 Mohammed Mursi vs. Ahmed Shafiq
 Muhammad Mursi: Machtmissbrauch und
Unfähigkeit
 Eingriffe in das Rechtssystem:
Sondervollmachten, Einschüchterung von
Oppositionellen
 Ernennung von Adel Assad al-Chajat zum
Gouverneur von Luxor
 Rigide islamistische Kulturpolitik, Einschränkung der Meinungsfreiheit
 Katastrophale Wirtschaftspolitik
2013: Revolution oder Putsch?
 Die Mutter aller Demonstrationen
 Déja vu? – Das Militär umarmt den Volksaufstand
 Der „Prätorianer-Staat“ kehrt zurück
 „Ägypten ist as-Sisi, as-Sisi ist Ägypten!“
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