Begabte Sonderlinge - Spektrum der Wissenschaft

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tite lth e m a
e s say
Begabte Sonderlinge
In manchen Berufen sind milde Formen von Autismus durchaus von Vorteil,
glaubt der kanadische Neurowissenschaftler Laurent Mottron. In seinem
Forschungsteam arbeiten gleich mehrere vom Asperger-Syndrom Betroffene.
Von L au r e nt Mottro n
Au f ei n en B lic k
Defizit oder
Begabung?
1
Autismus ist eine
erblich bedingte
Hirnentwicklungs­
störung, die in vielen
Er­scheinungsformen
auftritt.
2
Weniger stark Be­
troffene zeigen
mitunter hohe Intelli­
genz, wenn sie nicht­
sprachliche IQ-Tests
absolvieren.
3
Im passenden Um­
feld können solche
»hochfunktionalen
Autisten« auch beruflich
erfolgreich sein – etwa
in der Forschung.
Lesen Si e au c h :
Von Beginn an anders
Autismusforscher
Fritz Poustka im Gespräch
(S. 32)
36
»A
utismus ist eine verhee-
betreut werden müssen. Die meisten gehen kei-
rende Störung«, so oder
ner geregelten Arbeit nach, manche können so-
ähnlich
beginnen
die
gar überhaupt nicht sprechen. Die Betroffenen
meis­ten
Forschungsan-
kämpfen damit, in einer Welt zurechtzukom-
träge und Medienberichte
men, die nicht ihren Prioritäten und Interessen
zum Thema. Meine Autisten sind anders. »Mei-
entspricht.
ne« Autisten, das sind vier Forschungsassistenten,
Doch in der richtigen Umgebung kommen
drei Studenten und ein Postdoc, die in unserem
Autisten mit einer milderen Ausprägung des
Labor die neuronalen Ursache des Autismus
Syndroms (siehe »Kurz erklärt«, S. 39) erstaun-
­ergründen. Diese acht Betroffenen in meinem
lich gut zurecht. Beispielsweise in der Forschung.
Team haben nicht die Aufgabe, persönliche Ein-
Während der letzten Jahre habe ich mit der Autis­
drücke zum Besten zu geben oder stu­pide irgend-
tin Michelle Dawson eng zusammengearbeitet.
welche Daten in eine Software ein­zugeben. Mit
Von ihrer Intelligenz und ihrer Hartnäckigkeit
ihren intellektuellen und charak­terlichen Eigen-
profitiert unser Team enorm.
arten bereichern sie unsere Arbeit – und zwar
nicht trotz, sondern wegen ihres Autismus.
Beeindruckender Lerneifer
Jeder kennt die spektakulären Berichte über
Ich traf Michelle zum ersten Mal bei einem ge-
Inselbegabte. So genannte Savants können sich
meinsamen Fernsehinterview. Als ihr Arbeitge-
etwa bei einem Rundflug im Helikopter ganze
ber von ihrer Diagnose erfuhr, bekam sie Pro-
Landschaften detailgenau einprägen oder Bü-
bleme auf dem Postamt, in dem sie damals be-
cher auswendig lernen. Keiner meiner Mitar­
schäftigt war. Daraufhin las sie sich alles greifbare
beiter ist ein Savant. Es sind »ganz gewöhnliche«
Wissen über die rechtliche Situation von Ange-
Autisten, die dennoch so manchen Nichtautisten
stellten mit Behinderungen an. Beeindruckt von
bei einer Reihe von Aufgaben überlegen sind.
ihrem Lerneifer lud ich sie ein, in meinem Labor
Als Arzt weiß ich nur zu gut, dass Autismus
zu assistieren. Bei der Durchsicht von Manus­
häufig eine schwere Behinderung darstellt. Diese
kripten machte sie wertvolle Anmerkungen, die
erblich bedingte Hirnentwicklungsstörung er-
mir zeigten, dass sie sämtliche Literaturangaben
schwert viele Alltagsaktivitäten oder macht sie
durchgearbeitet hatte. Je mehr sie las, desto
sogar völlig unmöglich. Acht von zehn Men-
mehr lernte sie über das Thema. Vor nunmehr elf
schen mit dieser Diagnose sind in ihrer Kommu-
Jahren bot ich ihr eine Forschungsstelle an. Seit-
nikation und im sozialen Umgang so einge-
dem haben wir zusammen mehr als ein Dutzend
schränkt (siehe »Rätselhafter Boom der Diagno-
Fachartikel und Buchkapitel verfasst.
sen«, S. 39), dass sie auch als Erwachsene noch
Michelle regt uns dazu an, traditionelle An-
von ihren Eltern abhängig sind oder von anderen
sichten und Denkansätze zum Autismus zu hinGuG 3_2013
VII Photo / Jessica Dimmock
terfragen – nicht zuletzt die Vorstellung, Autis-
draußen. Das ist auffällig, ermöglicht es den be-
mus stelle zwangsläufig ein Problem dar, das ge-
treffenden Kindern aber, ohne Sprache zu kom-
löst werden müsse. Autismus ist definiert durch
munizieren.
eine Reihe von Negativsymptomen wie Sprach-
Selbst Forscher sind den Betroffenen gegen-
störungen, soziale Einschränkungen oder Stereo-
über oft voreingenommen. Sie interpretieren
type im Verhalten. Mögliche Vorteile gehören
Abweichungen in der Hirnaktivität von Autisten
­jedoch nicht zu den Diagnosekriterien. Die meis­
meist als Defizit oder legen ein verändertes Kor-
ten Hilfs- und Therapieprogramme zielen da-
texvolumen kurzerhand als Nachteil aus – egal,
rauf ab, autistisches Verhalten abzustellen, und
ob die Großhirnrinde nun dicker oder dünner
schreiben etwa Kindern einen ganz bestimmten
ausfällt als erwartet. Und wenn die Testkandi­
Entwicklungsverlauf vor. Die Art und Weise, wie
daten bei bestimmten Aufgaben besser ab-
Autisten ticken, hat darin keinen Platz.
schneiden als Kontrollprobanden, gilt dies als
Bei selbstschädigendem Verhalten, wenn Kinder etwa mit dem Kopf gegen die Wand schlagen,
überschießende
Kompensation
Mängel.
Zweifellos arbeiten die Gehirne von Autisten
nehmen sich Autisten aber lediglich ungewöhn-
anders. Insbesondere die Zentren für verbale
lich, nicht unbedingt problematisch. Typisch ist
Kommunikation sind bei ihnen deutlich schwä-
zum Beispiel, dass sie andere um etwas bitten,
cher erregbar. Betrachten Nichtautisten bei-
indem sie deren Hand bewegen. Ein Kind legt
spielsweise das Bild einer Säge, aktiviert das im
etwa die Hand der Mutter auf den Kühlschrank,
Gehirn sowohl Regionen der visuellen als auch
wenn es zu essen bekommen will, oder auf die
der sprachlichen Verarbeitung. Bei Autisten feu-
Türklinke, um zu signalisieren: Ich will nach
ern die für das Sehen zuständigen Netzwerke je-
Die Autistin Michelle
Dawson forscht im Team
von Laurent Mottron
(links) an der Université
de Montréal, Kanada.
bestehender
ist ein Eingreifen fraglos erforderlich. Häufig be-
www.gehirn-und-geist.de
Kollegin mit dem
gewissen Etwas
37
tite lth e ma e s say
»Ich bin davon
überzeugt, dass
viele Autisten
unter geeigneten
Umständen
bereit und fähig
wären, wertvolle
Bei­träge für die
­Gesellschaft zu
leisten«
Laurent Mottron
Was in den Gehirnen von Autisten anders ist
W
as dem Autismus neuro-
unterschwelliges Imitieren und
dem Frontalhirn die normale
nal zu Grunde liegt, ist
Verstehen fremder Absichten
Reizverarbeitung behindern.
immer noch ungeklärt. Forscher
ermögliche – so die Theorie.
Laut dem dritten Modell reagie-
diskutieren drei Erklärungsmo-
Spiegelneurone im menschli-
ren autistische Gehirne hoch-
delle. Nach dem einen handelt
chen Gehirn zu untersuchen,
sensibel auf Außenreize und
es sich beim Autismus um eine
ist allerdings schwierig.
schirmen sich davon ab. Wie das
Störung des Spiegelneuronen-
Der zweite Ansatz besagt,
systems. Diese in den 1990er
dass extrem starke Verknüp-
Jahren bei Affen entdeckten
fungen (»Hyperkonnektivität«)
Nervenzellen simulieren beob­
etwa zwischen der Emotionen
achtete Handlungen, was
verarbeitenden Amygdala und
niert, ist bislang offen.
(Markram, K., Markram, H.: The Intense
World Theory. A Unifying Theory of
Neurobiology of Autism. In: Frontiers in
Human Neuroscience 4, 224, 2010)
doch deutlich stärker als jene, die für Sprache zu-
ich selbst war lange der Meinung, verbale Tests
ständig sind.
seien das beste Maß für Intelligenz. Doch das er-
Diese Spezialisierung der Hirnfunktion kann
scheint mir heute sehr fragwürdig.
aber durchaus auch eine Leistungssteigerung be-
Die intellektuellen Einbußen von Autisten er-
deuten. Laut verschiedener Studien bewältigen
scheinen häufig gravierend – doch liegt das wo-
Autisten Wahrnehmungsaufgaben wie etwa das
möglich auch daran, dass wir sie immer noch zu
Erkennen eines Musters in einer verwirrenden
oft mit ungeeigneten Maßstäben messen. Bei
Umgebung mitunter besser als Durchschnitts­
einem Hörbehinderten würden wir, ohne zu zö-
probanden. Auch beim Hören (etwa bei der Un-
gern, jene Teile eines Intelligenztests ausschlie-
terscheidung von Tonhöhen), beim Entdecken
ßen, die sich nicht mittels Zeichensprache erläu-
regelmäßiger Strukturen und beim geistigen
tern lassen. Warum sollten wir nicht das Gleiche
­Umbau komplexer dreidimensionaler Formen
für Autisten tun?
übertreffen manche hochfunktionelle Autisten
Autismus
und Gewalt
auf zellulärer Ebene funktio-
Gesunde. Sie erzielen sogar höhere Werte im Ra-
Faire Intelligenztests erforderlich
ven-Matrizentest, einem klassischen Intelligenz-
Nur etwa jeder zehnte von ihnen leidet zugleich
test, bei dem die Teilnehmer fortlaufende visu-
an einer neurologischen Erkrankung, die sich auf
Seit dem Amoklauf eines
angeblich am AspergerSyndrom erkrankten
20-Jährigen im US-ame­
rikanischen Newtown
wird in der Öffentlichkeit
die Gewaltbereitschaft
von Autisten hitzig diskutiert. Anhaltspunkte für
eine erhöhte Kriminali­
tätsneigung unter Autis­
ten gibt es jedoch nicht.
Vielmehr sind sie selbst
häufig Opfer von Mob­
bing und Gewalt.
elle Mus­ter vervollständigen. In einem Expe­
die Intelligenz auswirkt, wie etwa das »fragile X-
riment meiner Arbeitsgruppe benötigten die
Syndrom«, das das Risiko einer geistigen Behin-
untersuchten Autisten für diesen Test im Schnitt
derung erhöht. Autismus geht also nicht zwangs-
40 Prozent weniger Zeit als andere Teilnehmer.
läufig mit intellektuellen Einbußen einher. Um
Mehr Informationen
beim Bundesverband zur
Förderung von Menschen
mit Autismus:
www.autismus.de
38
Vor einigen Jahren verglichen meine Kollegen
die tatsächliche Behinderung zu ermessen, soll­
und ich die Leistungen von Autisten, Nicht­
ten Wissenschaftler nur solche Tests verwenden,
autisten und Kindern in zwei verschiedenen
die ohne verbale Erklärungen auskommen.
­Arten von Intelligenztests: nonverbale wie den
Natürlich wirkt sich Autismus auch auf an­dere
Raven-Matrizentest sowie Verfahren, die münd-
Funktionen wie Kommunikation, Sozialverhalten
liche ­Anweisungen und Antworten erfordern.
und motorische Fähigkeiten aus. Das will ich kei-
Nichtautisten schnitten in beiden Testvarianten
neswegs abtun. Aber die meisten Arbeitgeber
etwa gleich gut ab. Wer in dem einen Test 50 Pro-
wissen gar nicht, über welche Fähigkeiten Autis­
zent der Teilnehmer hinter sich ließ, erreichte
ten verfügen können. Ich bin davon überzeugt,
auch im anderen ungefähr dieses Niveau. Au-
dass viele Betroffene unter geeigneten Umstän-
tisten erzielten im nonverbalen Test dagegen viel
den bereit und fähig wären, wertvolle Beiträge
bessere Resultate: Sie lagen bis zu 90 Prozent­
für die Gesellschaft zu leisten. Das Problem be-
ränge höher als in der verbalen Variante. Auch
steht freilich darin, den richtigen Job zu finden.
GuG 3_2013
In der Forschung könnten viele Autisten
durchaus eine sinnvolle Beschäftigung finden.
alle furchtbar ähnlich – Michelle aber kann sie
KU RZ E R KL Ä RT
spielend auseinanderhalten.
Der Begriff Autismus
wurde 1911 von dem
Schweizer Psychiater
Eugen Bleuler (1857 – 1939) geprägt. Er be­
schrieb damit soziale
Zurückgezogenheit als
Kennzeichen der Schizo­
phrenie. Inzwischen gilt
es als eigenständiges
Krankheitsbild. Experten
sprechen heute von der
Autismusspektrum­
störung (ASS), denn Art
und Schwere der Beein­
trächtigung können sich
von Fall zu Fall stark
unterscheiden.
Das nach dem öster­
reichischen Arzt Hans
Asperger (1906 – 1980)
benannte Asperger-Syndrom ist eine milde Form
von Autismus, die sich
durch Schwächen im
sozialen Umgang sowie
stereotypes Verhalten
auszeichnet, bei gleich­
zeitig meist normaler
Intelligenz. Die bislang
eigenständige Diagnose
soll zukünftig jedoch
aufgegeben werden. Hauptkriterium des
hochfunktionalen Autismus ist eine durch­
schnittliche bis erhöhte
Intelligenz trotz verzö­
gerten Spracherwerbs.
Die autistischen Symptome sind dabei ähnlich
wie beim Asperger-Syn­
drom, weshalb eine
Abgrenzung schwierig
ist. Treten autistische
Züge erst nach dem
dritten Lebensjahr oder
nur eingeschränkt zu
Tage, spricht man auch
von atypischem Autismus. Offiziell firmieren
Sonderformen des
Autismus als »tief greifende Entwicklungs­
störung – nicht näher
bezeichnet«. In dieser
Kategorie war in den
letzten Jahren der größte
Anstieg der Fallzahlen zu
verzeichnen (Grafik links).
Sie sind oft an mathematisch beschreibbaren In-
Da Fakten für Asperger-Autisten absoluten
formationen, an Strukturen und Mustern inte-
Vorrang haben, lassen sie sich kaum von Neben-
ressiert – den Grundlagen für wissenschaftliches
sächlichkeiten ablenken. Sie ziehen es vor, im
Denken. Durch ihr hohes Konzentrationsvermö-
Verborgenen zu arbeiten, und würden ihre Ideen
gen können sie sich autodidaktisch Themen er-
bedenkenlos im Internet verbreiten, statt sie in
arbeiten.
renommierten Journalen zu veröffentlichen. Ihr
Michelle Dawson hat keinen wissenschaftli-
sonderbares Verhalten bereitet vor allem im zwi-
chen Abschluss und eignete sich über die Jahre
schenmenschlichen Umgang Schwierigkeiten,
dennoch genug Wissen an, um heute selbststän-
was sie für den Verkauf oder Kundenservice nicht
dig Studien durchzuführen. Autisten wie sie fal-
geeignet erscheinen lässt. Idealerweise brauchen
len auch oft nicht so leicht auf die Trugschlüsse
autistische Menschen eine Art Vermittler, der sie
der Erinnerung herein. Das kann in der Wissen-
in Situationen unterstützt, die sie ängstigen:
schaft äußerst hilfreich sein. Für mich sind zum
etwa plötzliche Planänderungen oder Kritik.
Beispiel die verschiedenen Methoden zur Unter-
Der enge Kontakt mit Michelle Dawson und
suchung der Gesichtserkennung bei Autismus
anderen Betroffenen hat mich gelehrt, dass Au-
Rätselhafter Boom der Diagnosen
M
ediziner und Psycholo-
0,64 Prozent der 5- bis 17-Jäh-
eine Tendenz, mangelnde ­Ein-
gen haben sich auf drei
rigen, darunter viermal mehr
fühlung oder »kauziges« Ver-
wesentliche Kriterien geeinigt,
Jungen als Mädchen. Umwelt-
halten von Menschen zu patho-
die erfüllt sein müssen, damit
gifte oder auch Impfstoffe
logisieren (siehe Interview
eine Störung aus dem Autis-
werden zwar als mögliche
S. 40). Doch nicht jeder Eigen-
musspektrum vorliegt: Starke,
Verursacher diskutiert, verläss-
brötler leidet an Autismus. Die
durchgängige Einschränkungen
liche Belege für diese Annahme
bislang als Asperger-Syndrom
in der Kommunikation und im
gibt es jedoch nicht.
bekannte, mildere Ausprägung
sozialen Umgang, eng be-
Vielmehr ist wohl die wach-
wird in der neuen, fünften
grenzte Vorlieben und Interes-
sende Aufmerksamkeit und
Aus­gabe des DSM (»Diagnos­
sen sowie stereotype Verhal-
Toleranz gegenüber der Störung
tical and Statistical Manual«)
tensweisen. Diese Kennzeichen
für die steigenden Fallzahlen
im »Autismusspektrum« subsu-
müssen schon von früher
verantwortlich. Hinzu kommt
miert (siehe auch rechts).
Kindheit an vorliegen, da die
In den letzten Jahren stieg
die Zahl der Autismusdiagnosen in den westlichen Indus­trie­
ländern deutlich (siehe Grafik).
War in den USA Anfang der
1990er Jahren noch weniger als
eines von 1000 Kindern betroffen, so lag die Quote 2008
bei 1 zu 88 – Tendenz steigend.
Epidemiologen bezifferten die
Verbreitung in Europa 2011 mit
www.gehirn-und-geist.de
12
10
8
6
4
2
0
1984
1988
1992
1996
Jahr
2000
2004
2008
Gehirn und Geist, nach: Hughes, V.: Complex Disorder. In: Nature 491, S. S2–S3, 2012
Dafürhalten erblich bedingt ist.
autistische Kinder in den USA ( je 1000)
Störung nach allgemeinem
39
titelth e ma e s say
Stan dpu n kt
»Hochfunktionaler Autismus ist eine Modediagnose«
D
ie Kinder- und Jugend­
allem das Kriterium der durch-
falsch therapiert wird. Da
psychologin Inge Kamp-
gängigen, seit früher Kindheit
Autismus als nicht heilbar gilt,
Becker von der Universität
an bestehenden Beeinträch­
werden die Anforderungen
Marburg warnt davor, das
tigungen wurde immer mehr
möglicherweise herabgesetzt
Etikett »Autismus« allzu frei-
aufgeweicht. Die Diagnose
und das Kind nicht optimal
giebig zu verteilen. Es handle
»hochfunktioneller Autismus«
gefördert.
sich um eine erblich bedingte
ist auf dem besten Weg, eine
Was raten Sie stattdessen?
Hirnentwicklungsstörung.
Modediagnose zu werden, wie
Erstens: Natürlich gibt es
Besonders auf Kinder, die nur
das beim Burnout schon der
autistische Störungen. Sie sind
in sich gekehrt oder sonst wie
Fall ist. Viele Menschen verbin-
gravierend, aber zum Glück
eigen erscheinen, treffe die
den mit Autismus eine hohe
relativ selten. Man sollte
Diagnose oft nicht zu. Sie als
Intelligenz, wie es in Holly-
genau hinschauen, was hinter
krank zu etikettieren, fördere
woodfilmen oder auch im
mangelnder Kommunikation
eine Schonhaltung, die ihrer
Internet dargestellt wird. Das
oder stereotypem Verhalten
weiteren Entwicklung schade.
gibt der Störung ein positives
steckt, und eine spezifische
erfordert großes Engagement
INGE KAMP-BECKER ist
promovierte Psychologin und
leitet die Autismus-Ambulanz
an der Klinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie in Marburg.
Image, entspricht jedoch
Behandlung einleiten. Zwei-
von allen Seiten. Das unter-
Frau Dr. Kamp-Becker, warum
keineswegs der Realität.
tens braucht eine Therapie Zeit
scheidet Autismus vom Burn-
steigen die Autismuszahlen
Warum ist das bedenklich?
und die aktive Mitarbeit von
out: Bei Letzterem kommt der
seit Jahren an?
Macht es nicht erst die Dia-
allen Beteiligten. Autistische
Betroffene nach einer ent­
Die Zunahme betrifft in erster
gnose möglich, therapeutische
Störungen lassen sich zwar
sprechenden Auszeit und Neu­­-
Linie die Gruppe der »nicht
Hilfe zu bekommen?
nicht abstellen. Mit intensiven,
adjustierung wieder ins Lot.
näher bezeichneten« autisti-
Das ist richtig, aber eine spe-
verhaltenstherapeutischen
Autismus hat man – wenn
schen Störungen – darunter
zifische Behandlung setzt eine
Methoden kann man die
man ihn hat – ein Leben lang.
fallen solche, die nicht alle
korrekte Diagnose voraus.
Lebensqualität der Betroffenen
Kennzeichen der Störung in
Sonst kann das dazu führen,
und ihrer Familien jedoch
Die Fragen stellte GuG-­
vollem Umfang erfüllen. Vor
dass der Betreffende ganz
deutlich verbessern. Dies
Redaktionsleiter Steve Ayan.
Quellen
Dawson, M. et al.: The Level
and Nature of Autistic Intelligence. In: Psychological
Science 18, S. 657 – 662, 2007
Perreault, A. et al.: Increased
Sensitivity to Mirror Symmetry in Autism. In: PLoS One 6,
e19519, 2011
Weitere Literaturhinweise
im Internet: www.gehirnund-geist.de/artikel/1180950
40
tisten in vielen Fällen eher ein geeignetes Um-
len. Solche Programme müssten zunächst nach
feld brauchen als eine Therapie. Sollten wir Au-
denselben Standards getestet werden wie andere
tismus weniger als Krankheit betrachten, son-
Therapien!
dern mehr als Variante menschlichen Verhalten?
Wir sollten zudem nicht nur die mit Autismus
Ich denke, ja. Er lässt sich nicht einfach auf einen
verbundenen Defizite erforschen, sondern auch
»Fehler der Natur« reduzieren, der korrigiert
mögliche Stärken in den Blick nehmen. Was letzt-
werden muss.
lich für fast alle psychischen Störungen gilt, lässt
Um ein neues Medikament auf den Markt zu
bringen, müssen Forscher zahlreiche Untersuchungen durchführen, unter anderem rando­
misierte, kontrollierte Wirksamkeitsstudien. Für
Verhaltenstrainings bei Autisten ist das trotz der
sich besonders vom Autismus sagen: In jeder
­Andersartigkeit liegt auch eine Chance. Ÿ
© Nature Publishing Group
www.nature.com
Nature 479, S. 33 – 35, 2. November 2011
hohen Kos­ten (pro Jahr und Person bis zu 50 000
Euro) nicht der Fall. Umso bedenklicher ist es,
wenn Länder wie Frankreich sogar Zwangsmaßnahmen verordnen, durch die Autisten ein »normales« Lern- und Sozialverhalten erwerben sol-
Laurent Mottron ist Professor für Psychiatrie und
kognitive Neurowissenschaften an der Université de
Montréal (Kanada). Außerdem leitet er das AutismusForschungsprogramm am dortigen Hôpital Rivièredes-Prairies.
GuG 3_2013
ALLES ÜBER IHRE GR AUEN ZELLEN.
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W ISSENS CH A F T AUS ER S T ER 41
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