4 Biologische Grundlagen und biologische Behandlung psychischer

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4 Biologische Grundlagen
und biologische Behandlung
psychischer Störungen
4.1Überblick
In diesem Kapitel werden wichtige psychische
Störungen, ihre biologischen Grundlagen und
– zusätzlich zu den schon in Kapitel 3 besprochenen psychopharmakologischen – weitere
biologische Behandlungsmethoden vorgestellt
(etwa die Elektrokrampftherapie). Die hier
noch nicht zur Sprache kommenden Essstörungen werden in Kapitel 7 behandelt, se­xuel­le
Funktionsstörungen in Kapitel 9, Störungen
des Kindes- und Jugendalters, insbesondere
frühkindlicher Autismus sowie die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, in Ka­
pitel 12. Aus Gründen der Lesbarkeit und der
Kürze wurde die Zahl der Literaturhinweise
gering gehalten; für Belege sei auf Köhler
(2005, 2012b) verwiesen.
4.2Schizophrenie
4.2.1 Symptomatik – Verlauf –
­familiäre Häufung und
­Vererbung
Bei der Schizophrenie finden sich Symptome
unterschiedlichster Art, deren Zusammenfassung zu einem Krankheitsbild zunächst kaum
einleuchtet. Eugen Bleuler, der zu Beginn des
20. Jahrhunderts vorgeschlagen hatte, die alte
Kraepelin’sche Bezeichnung Dementia praecox
durch Schizophrenie (»Spaltungsirresein«) zu
ersetzen, hatte von der »Gruppe der Schizophrenien« gesprochen; auch heute werden in
den diagnostischen Inventaren mehrere Unterformen angeführt, in der ICD-10 (International Classification of Diseases) u. a. paranoide
Schizophrenie und hebephrene Schizophrenie.
Für die – mittlerweile zunehmend wieder strittige – Annahme einer großen Grundkrankheit
mit verschiedenen Varianten sprechen jedoch
die häufige Mischsymptomatik sowie der nicht
seltene Wechsel der Hauptsymptome im Rahmen längerer Verläufe.
Auffällige (jedoch nicht obligate) Symptome
sind akustische Halluzinationen (speziell Hören von Stimmen) und Wahndenken (typischerweise Beziehungswahn, der in Verfolgungs- oder Beeinträchtigungswahn übergehen kann). In Zusammenhang damit sind die
Ichstörungen zu sehen (Aufhebung der Grenzen zur Umwelt, Gefühl der Unwirklichkeit
der eigenen Person, Eindruck von Gelenktwerden, Gefühl eingegebener und sich ausbreitender Gedanken). Weiter charakteristisch sind
Störungen des Denkens und der Sprache, speziell Zerfahrenheit, also die Unfähigkeit, Gedankengänge zu Ende zu bringen. Rasch führt
ein Stichwort auf einen Gedanken, der sofort
wieder zu Gunsten einer neuen Assoziation
verlassen wird; in schweren Fällen wirken die
Äußerungen weitgehend unverständlich. Auffällig sind zudem Neologismen (sprachliche
Neuschöpfungen) und eine eigenartige Manieriertheit in Sprache, Verhalten und Kleidung.
Während man die soweit geschilderten Symptome als psychische Neuschöpfungen betrach-
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4 Biologische Grundlagen und biologische Behandlung psychischer Störungen
ten kann und als Plus- oder Positivsymptomatik zusammenfasst, sind weitere Auffälligkeiten eher als Verhaltensdefizite zu begreifen; sie
werden unter Minus- oder Negativsymptomatik
subsumiert. Dazu gehören sozialer Rückzug,
Interessenverlust, Entschluss- und Antriebs­
losig­keit, Reduktion sprachlicher Äußerungen
(Alogie), Entscheidungsunfähigkeit (Abulie),
uneindeutige Einstellungen (Ambivalenz), zunehmend verminderte emotionale Beteiligung
(Affektverflachung).
Weiter zu nennen – nicht eindeutig der Positivoder Negativsymptomatik zuzuordnen – sind
zum einen Affektinadäquatheit, welche nicht
selten mit einem »läppischen« Verhalten einhergeht, zudem psychomotorische Auffälligkeiten, die man bei einem gewissen Ausprägungsgrad als katatone Symptome bezeichnet;
dies können Bewegungsstereotypen sein, ebenso aber extreme Regungslosigkeit für Stunden
und Tage, welche die schwere, zuweilen lebensbedrohliche Form des katatonen Stupors annehmen kann.
Differenzialdiagnostischer Hinweis
Zuweilen ist es nicht einfach, Schizophrenie mit
vorwiegender Negativsymptomatik von einer
Depression (einem depressiven Syndrom) abzugrenzen. Hier hilft zum einen bereits die Über­
legung weiter, dass Depressionen (wenigstens
in typischer Form) eher bei Frauen und meist
nach dem 30. Lebensjahr auftreten, schizophrene Minussymptomatik hingegen gehäuft bei
männ­lichen jüngeren Personen. Auch Manieriertheit der Sprache sowie psychomotorische
Auffälligkeiten passen eher zur Schizophrenie.
Nicht ohne Grund sprechen viele Psychiater von
dem »Praecoxgefühl«, welches sich bei ihnen im
Kontakt mit den Patienten einstellt. Gleichwohl
wird sicher manche Schizophrenie – nicht unbedingt zum Nutzen der Patienten – lange als Depression in den Krankenakten geführt.
Eine spezielle Symptomatik, die sich – wenn
überhaupt – in der Regel erst nach längerem
Verlauf einstellt, ist das schizophrene Residu-
um (der schizophrene Residualzustand), gekennzeichnet durch andauernde Minussymptomatik, besonders
Interessenverlust,
Verlangsamung,
Sprachverarmung,
Affektverflachung,
Einschränkung sozialer Kontakte,
Vernachlässigung der Körperpflege und des
eigenen Äußeren.
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Wie erwähnt, gibt es verschiedene Arten der Unterteilung schizophrener Symptomatik. Eine
grobe, jedoch unter biologischen Aspekten nützliche Einteilung ist die in Typ-I- und Typ-IISchizophrenie: Die erste Form ist v. a. durch produktive Symptomatik gekennzeichnet, die zweite durch Vorherrschen von Minussymptomen.
Häufig liegen jedoch gemischte Symptome vor;
so kann etwa die Minussymptomatik von Wahn
und Halluzinationen begleitet sein (s. Anmerkung 12, S. 321).
Vereinfachend lassen sich die Verläufe so skizzieren: Die eher bei Frauen zu findenden Formen mit überwiegender Positivsymptomatik
beginnen meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr; häufig bleibt es bei einer einzigen
oder nur wenigen Episoden, die weitgehend folgenlos ausheilen; in anderen Fällen treten zahlreiche Rezidive auf, nach denen oft Einschränkungen zurückbleiben, etwa im Kontakt- und
Leistungsbereich. Bei einem gewissen Prozentsatz kommt es zunehmend zur Entwicklung
einer Minussymptomatik und zum Übergang
in den Residualzustand; die Betroffenen können dann nicht mehr einem geregelten Berufsleben nachgehen und sind teilweise auf Pflege
in Heimen angewiesen. Generell gilt die Pro­
gnose der eher männliche Personen treffenden,
im Allgemeinen früher einsetzenden und weniger in Schüben verlaufenden Schizophrenie
mit initial ausgeprägter Minussymptomatik als
schlechter; Vollremissionen sind seltener, ein
Übergang in das Residualstadium häufiger.
Eine familiäre Häufung der Störung ist gut belegt. Gezeigt werden konnte auch, dass Kinder
4.2 Schizophrenie
schizophrener Eltern, die in gesunden Adoptivfamilien aufwachsen, zu einem ähnlich hohen
Prozentsatz Schizophrenie entwickeln wie je­
ne, die bei ihren erkrankten Eltern verbleiben.
Untersuchungen ergeben bei eineiigen Zwillingen (mit identischen Erbanlagen) diesbezüglich deutlich höhere Konkordanz als bei zweieiigen.
Zur Vererbung liegen mittlerweile klarere Befunde vor; Veränderungen auf einzelnen Chromosomen wurden beschrieben, die u. a. Einfluss auf den Dopaminstoffwechsel sowie die
Hirnreifung haben (Howes u. Kapur 2009). Sicher handelt es sich nicht um einen einfachen
Erbgang; zudem entscheiden Umweltvariablen
wesentlich mit, ob die Erkrankung zum Ausbruch kommt.
4.2.2 Biologische Grundlagen
■■Die Dopaminhypothese. Dieses bekannteste
und empirisch gut gestützte Modell der Schizophrenie bezieht sich im Wesentlichen auf
Formen mit Positivsymptomatik. Als deren
Grundlage wird eine Überaktivierung an dop­
aminergen Synapsen mesolimbischer Bahnen
angenommen. Mittlerweile besteht weitgehend
Konsens darüber, dass die Neurone nicht so
sehr verstärkt Transmitter freisetzen, sondern
dass postsynaptische Dopaminrezeptoren in
diesen Regionen vermehrt (oder überempfindlich) sind; dies betrifft speziell die des Typs D2 ,
in geringerem Maße wohl D4-Rezeptoren.
Abgeleitet wurde die Dopaminhypothese aus
der Tatsache, dass mit klassischen Neuro­lep­
tika behandelte Schizophreniepatienten nicht
selten Symptome entwickeln, die denen der
Parkinson-Krankheit gleichen (s. Abb. 4-1 und
Kap. 4.2.3). Deren Pathogenese ist bekannt,
nämlich der Untergang von Neuronen in der
Substantia nigra des Mittelhirns; dies führt zur
Minderaktivität dopaminerger Bahnen ins
Striatum und dort zu Dopaminverarmung.
Daraus folgerte man, dass Neuroleptika ebenfalls die Aktivität des dopaminergen Systems
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dämpfen. Auch der Wirkmechanismus konnte geklärt werden: Die Substanzen blockieren
Dopaminrezeptoren; die Blockade dieser Bindungsstellen im limbischen System wird für
den antipsychotischen (gegen die Plussymptome gerichteten) Effekt verantwortlich gemacht,
die im Striatum für motorische Nebenwirkungen. Somit lag es nahe, die schizophrene Symptomatik auf Dopaminüberaktivität zurückzuführen. Diese Annahme wurde dadurch
­gestützt, dass der Dopaminpräkursor L-Dopa
bei Parkinson-Patienten manchmal Wahn und
Halluzinationen hervorruft, weiter dass die
dop­
aminagonistischen Amphetamine und
­Cocain schizophrenieähnliche Symptome auslösen können (sogenannte Amphetamin- und
Cocainpsychosen).
Damit ist nicht zu entscheiden, ob diese Dop­
aminüberaktivität auf vermehrte präsynaptische Ausschüttung oder auf Überaktivität post­
synaptischer Bindungsstellen zurückgeht – in
jedem Fall würde Rezeptorblockade antago­
nistisch wirken. Rezeptorbindungsstudien legen jedoch eine Vermehrung postsynaptischer
Dopamin­bindungs­stellen nahe. Dies gilt offenbar speziell für D2-Rezeptoren, denn an diese
binden einige antipsychotisch sehr wirksame
Neuroleptika besonders stark; zudem finden
sie sich in hoher Dichte im Striatum, was die
neuroleptisch induzierte Parkinson-Symptomatik erklären würde.
Die Bedeutung anderer Typen von Dopaminrezeptoren für die Pathogenese produktiver
Schizophreniesymptome ist umstritten. Eine
gewisse Rolle dürften D4-Rezeptoren spielen,
die sich v. a. in limbischen Strukturen finden;
möglicherweise sind sie – neben den D2-Rezeptoren – ebenfalls vermehrt.
■■Die Hypofrontalitätshypothese. Die Negativ-
symptomatik lässt sich nicht über eine erhöhte
Dopaminaktivität erklären; möglicherweise ist
dieses System sogar dabei vermindert aktiv.
Hier wird in der Literatur am häufigsten die
These der Hypofrontalität vertreten: Bei Pa­
tien­ten mit Minussymptomatik soll eine Min-
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