4.2 Perspektivenwechsel

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4.2 Perspektivenwechsel
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vorübergehend zu einer Destabilisierung kommt, in der die gewohnten Routinen des
Miteinander aufbrechen« (Mertens 2012, S. 177).
Zur Klarstellung: Stern (2005) empfiehlt nicht die bewusste Encodierung der
untergründigen, komplexen Signale, um ebenfalls auf einer unbewussten Ebene
gezielte Botschaften zurückzusenden. Dies wäre vielleicht eher ein hypnotherapeutischer Ansatz, in dem gewollt und gezielt Botschaften unterhalb der Wahrnehmungsschwelle gesendet wird und z. B. Zuversicht oder Selbstwirksamkeit
suggeriert werden. Es geht um ein Sich-Einlassen auf die sich auf der lokalen Ebene
entfaltende Beziehung einschließlich einer Kommunikation vom Unbewussten des
Therapeuten zum Unbewussten des Patienten und umgekehrt oder anders ausgedrückt von Körper zu Körper. Im Kapitel 5 wird erörtert, inwiefern der Austausch
zweier Körper auch ein Austausch von Unbewusst zu Unbewusst ist.
4.2
Perspektivenwechsel
Es gibt mannigfaltige psychotherapeutische Sichtweisen und Erklärungen für die
Wirksamkeit von Psychotherapie. Über alle psychotherapeutischen Schulen hinweg
sind sich Psychotherapieforscher aber einig, dass die Beziehung zwischen Therapeut
und Patient einen wichtiger Indikator für den Erfolg einer Psychotherapie darstellt.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass auch ein noch so gutes verhaltenstherapeutisches
Training zum Scheitern verurteilt ist, wenn der Patient sich z. B. bevormundet oder
manipuliert fühlt. Deshalb fordern Stern et al. (2012) die Therapeuten auf, ihre Perspektive zu wechseln und auf das Beziehungsgeschehen, die Abstimmungsprozesse
zu achten. Nur wenn diese im Sinne von Winnicott »gut genug« sind, wird ein
fruchtbarer therapeutischer Prozess möglich sein (Winnicott 1969).
Schwierigkeiten in der therapeutischen Beziehung sind nach diesem Konzept
kein Grund, die Therapie etwa wegen mangelnder Passung, Mitarbeit, Analysierbarkeit (Widerstand) oder Therapierbarkeit zu beenden, sondern ubiquitär zu
erwarten, und es ist erwünscht, dass sich innere Arbeitsmodelle in der Therapie
zeigen. Patienten kommen ja gerade in die Psychotherapie, weil sie Probleme in
der Gestaltung von befriedigenden Beziehungen haben, auch wenn sie sich zunächst nicht als solche zeigen, sondern als psychisches Symptom. Hinter jeder Depression, Angststörung, ADHS etc. liegen Konflikte oder strukturelle Muster, die
in Beziehungsgeschehen entstanden sind. Selbst bei real erfahrenen traumatischen
Ereignissen, die nicht durch andere Menschen verursacht wurden, ist es von der
psychischen Kompetenz und Resilienz abhängig, ob sich daraus ein Symptom entwickelt. Es reicht also nicht aus, dass sich der Therapeut um eine gute, freundliche
Beziehung bemüht. Die automatisch und unbewusst ablaufenden Abstimmungsprozesse zwischen Therapeut und Patient sollen in den Fokus der Aufmerksamkeit
genommen werden. Es soll verstanden werden, was zwischen dem therapeutischen
Paar abläuft, wobei Störungen die größte Chance beinhalten, problematische Anteile des impliziten Beziehungswissen zu entdecken. Ziel ist nun nicht ein rein
intellektuelles Erkennen der Muster oder das unveränderte Ausleben dieser Beziehungsmuster, sondern das arbeiten daran. Das bedeutet, dass Therapeut und
Ganser: Hundegestuetzte Psychotherapie. ISBN: 978-3-7945-3185-1. © Schattauer GmbH
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4 Veränderungsprozesse
Patient versuchen, ihre tatsächlich bestehende Beziehung zu verstehen, zu vertiefen,
zu erweitern und flexibler zu machen. Für manche Patienten ist die Starrheit und
Inflexibilität pathogen, manche Patienten können nicht in die Tiefe gehen, manche
können keine Verantwortung übernehmen oder erleben keine Selbstwirksamkeit
usw. Nur wenn eine neue, verbesserte Form, Beziehungen zu gestalten, gefunden
und mit dem Therapeuten gelebt wird, kann diese auch außerhalb der therapeutischen Beziehung gelebt und eine dauerhafte Änderung erreicht werden.
Durch die Integration des Hundes in die Therapie ist nun neben der TherapeutPatient-Beziehung eine weitere Beziehung im Raum, in der Abstimmungsprozesse
zwischen Patient und Hund ablaufen. Wie bereits beschrieben, organisieren Wölfe
und auch Hunde ihr soziales Leben durch Stimmungsübertragung; sie sind deshalb im Erfassen von Stimmungen, Affekten und Vitalitätsformen hochentwickelt.
Dieser Tanz wird wesentlich von den impliziten Mustern des Patienten bestimmt,
die auf die Muster des Hundes treffen und dann vom Therapeuten in den Fokus
der Aufmerksamkeit gerückt werden können. Der Psychotherapeut sieht, wie
unterschiedlich seine Patienten mit dem ja immer gleichen Therapiehund umgehen und kann dadurch erkennen, welchen Anteil der Charakter des Hundes am
Interaktionsgeschehen hat. Gestörte Abstimmungsprozesse, Konflikte oder Disharmonien weisen auch in einer Patient-Hund-Beziehung auf problematische und
pathogene Muster hin. Hier gilt gleichfalls, dass neben dem Verstehen eine Arbeit
am Beziehungsgeschehen möglich und gewollt ist, d. h., dass mit dem Patienten
ganz konkret überlegt und ausprobiert werden kann, wie sich die Beziehung zum
Therapiehund verändern bzw. verbessern lässt. Wir werden später sehen, dass die
Übertragung der Beziehungsmuster des Patienten auf die Interaktion mit einem
ja artfremden Wesen teilweise unverändert geschieht, aber dass auch ganz neue
Aspekte des impliziten Beziehungswissens zutage treten können, weil der Hund
auf seine hündische Art in die Interaktion geht und Bereiche anspricht, die in der
Beziehung zum Therapeuten nicht aktiviert werden. Möglicherweise entsteht gerade durch diese Fremdheit, diese Andersartigkeit einer Mensch-Hund Beziehung
die Chance, dass die gewohnte Routine des Miteinander (s. o.) gestört wird und
es zu Begegnungen kommt, in denen die gewohnten Abwehrmechanismen nicht
funktionieren und neue Erfahrungen möglich werden.
Dadurch, dass eine zweite Beziehung im therapeutischen Raum ist, verändert
sich dieser gewaltig, was im Kapitel 9 über die Triade von Patient-Therapeut-Hund
noch näher gezeigt werden wird. An dieser Stelle sei schon einmal erwähnt, dass der
Psychotherapeut die Möglichkeit hat, mit dem Patienten eine Beziehung zu bearbeiten, die gerade real im Raum geschieht, ohne dass diese Beziehung die TherapeutPatient-Beziehung ist. Der Therapeut kann eine Beobachterposition einnehmen
und sehen, mit welcher Form der Vitalität der Patient agiert und wie der Hund
darauf antwortet (und umgekehrt). Für Daniel Stern (2011) ist das Beachten der
Vitalität ein Schlüssel zum Verständnis des impliziten Beziehungswissens, genauso
wie für die hundegestützte Psychotherapie.
Ganser: Hundegestuetzte Psychotherapie. ISBN: 978-3-7945-3185-1. © Schattauer GmbH
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