Chronische Schmerzstörung und Fibromyalgie: körperlich und/oder

Werbung
Chronische Schmerzstörung
und Fibromyalgie:
körperlich und/oder
psychisch krank?
Dr.med Beatrix Vill
Fachärztin für
Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie
Spezielle Schmerztherapie
1
Zeit des Schmerzes:
„dazwischen“ ???
Operation
Unfall
erkennbarer
Zusammenhang
Dr.B.Vill
2
Was haben diese 3 Begriffe
miteinander zu tun ?
Schmerz
Stress
Beziehung
Dr.B.Vill
3
Helfer des Schmerzes
Beißstab zum Einsatz von Operationen ohne Narkose
4
BEHANDLUNG
5
Dr.B.Vill
Helfer des Schmerzes
Was kann der Betroffene selber tun ?
Selbstwirksamkeit = Ziel
Ressourcen ? Ziele ? Aufmerksamkeitslenkung ?
Teufelskreise durchbrechen
Schmerzbewältigung = Methode
auslösende Situation, Bewertung, Consequenzen –
„sich ein guter Freund sein“
Entspannung/Achtsamkeit
Signal verstehen
Stressoren überdenken
Bindungen und Beziehungen
Hinterfragen
Dr.B.Vill
6
COMPLIANCE
AKZEPTANZ
desire
VERSTEHEN
interest
INFORMATION
Dr.B.Vill
7
action
attention
CARTESIANISCHES SCHMERZPARADIGMA
R. Descartes 1644
8
Nozizeptive Afferenz (Schmerzbahn)
Schmerzwahrnehmung
HautNozizeptoren
HinterhornNeuron
VorderSeitenstrang
KonvergenzNeuron
9
Viszerale
Nozizeptoren
Was spricht gegen das Einbahnstraßenmodell?
-situationsabhängiges Schmerzerleben
-Stressanalgesie
-Placebo
-Phantomschmerz
-Fakir
Dr.B.Vill
10
etc.
Baruch de Spinoza:
1632-1677
Schmerz
ist
lokalisierte
Sorge
Dr.B.Vill
11
Gate Control Theorie von Melzack und Wall
(1965)
Periphere und zentrale Determinanten
der Schmerzwahrnehmung und –kontrolle
Psychische Anteile des Schmerzgeschehens
werden berücksichtigt
Wiege des psychischen Schmerztherapie
12
Homöostase
(griechisch Gleichstand)
Schmerz kann aufgrund ähnlicher Ergebnisse und der starken
neuroanatomischen Überlappung zwischen schmerz- und
emotionsrelevanten peripheren ZNS-Regelkreisen als eine
homöostatische Emotion, ähnlich wie Affekte der Angst oder
der Traurigkeit betrachtet werden (Craig 2002, Lahmann 2010)
(griechisch „Gleichstand“) bezeichnet die
Aufrechterhaltung eines Gleichgewichtszustandes
eines offenen dynamischen Systems durch einen
internen regelnden Prozess. Sie ist damit ein
Spezialfall der Selbstregulation von Systemen.
13
Dr. B.Vill
Physiologie des Schmerzes
Strukturen der zentralen Schmerzverarbeitung
 Rückenmark
 Formatio reticularis
 Medulla oblongata
 Thalamus
 Hypothalamus
 Limbisches System
 Großhirnrinde
14
Hauptwirkorte von Analgetika
Schmerzwahrnehmung
NSAR
HautNozizeptoren
Opioide
HinterhornNeuron
VorderSeitenstrang
KonvergenzNeuron
15
Viszerale
Nozizeptoren
Antidepressiva /
Antikonvulsiva
Zeitgemäße Definition von Schmerz (IASP)
keine kausale Verknüpfung
Gewebsschädigung
Schmerzreaktion
gleichberechtigt
unangenehmes
emotionale Komponente
Sinnes- und
sensorische Komponente
Gefühlserlebnis aktuelle oder
potentielle Gewebsschädigung
oder
subjektive Empfindung
objektivierbare Läsion
als Reizauslösung kann fehlen
Dr.B.Vill
16
mit Begriffen
einer solchen
Schädigung
beschrieben
Wer von Ihnen kennt…
wiederkehrende
Schmerzen ?
Dr.B.Vill
17
Wer von Ihnen kennt…
den Einfluss der
Psyche auf den
Schmerz ?
Dr.B.Vill
18
Was tun Sie gegen Schmerz ?
Dr.B.Vill
19
-äußerlich ?
körperlich ?
-innerlich ?
psychisch ?
Wie verhalten Sie sich bei Schmerz?
Bewegung?
Ruhe?
Dr.B.Vill
20
Chronischer Schmerz
Akuter Schmerz
Wie reagieren Mitmenschen auf den Schmerz
- mitfühlend, helfend ?
- ärgerlich, verständnislos ?
Dr.B.Vill
21
Chronischer Schmerz Fibromyalgie
Somatoforme Schmerzstörung
10% der Bevölkerung
Lebenszeitprävalenz
(12.3% Meyer et al. 2003)
Punktprävalenz 7,5% (Wittchen, 1999)
2-4% der Bevölkerung in westl. Industriestaaten Fibromyalgie
2,5 Jahre durchschnittlich bis zur Diagnosestellung
Frauen 6 x häufiger als Männer
In der Facharztpraxis 20-40%
(Epidemiologic Catchment Area, Simon and Korff 1991)
Universitäre Schmerzambulanzen 25-35%
22
Einfluß auf das Schmerzerleben
Kulturelle Faktoren
Schmerz in Kindheit
und Jugend
(Couvade-Phänomen)
Ablenkung,
Bewältigungsstrategien
Angst
Sekundärer Krankheitsgewinn
Depression
Dr.B.Vill
23
Schmerzgedächtnis
die periphere und zentrale Sensitivierung von
Rezeptoren und Neuronen
verantwortlich für Chronifizierung:
bei der Schmerzprävention muss mit
psychologischen und / oder pharmakologischen
Methoden der Aufbau eines Schmerzgedächtnisses
verhindert werden.
24
DIFFERENTIALDIAGNOSE
BEI CHRONISCHEM SCHMERZ
Somatisierungsstörungen
Somatoforme Schmerzstörung
bio
somatof. autonome Funktionsst.
nozizeptiv
neuropathisch
Hypochondrische Störung
inadäquate Bewältigung
PTSD
nozizeptiv/neuropathisch
psychische Komorbidität
dysfunktionelle Störung
sozial
Dr.B.Vill
25
psychische Störungen
psycho
Chronischer Schmerz
als Ausdruck anderer psychischer
(und körperlicher) Erkrankungen
Depression
Zwang
PTSD
Angst
Phobien
Rheumat. Erkrankungen
Abhängigkeiten
Bewältigungsprobleme
26
Komorbiditäten (Begleiterkrankungen)
von chronischem Schmerz
besonders häufig:
 Depression
 Angststörungen
 Substanzabusus
 PTBS
AKUTER vs . CHRONISCHER SCHMERZ
chronisch
psychosoziale
Faktoren
6
M
o
n
a
t
somatische
Faktoren
e
akut
28
Interdisziplinäres Schmerzzentrum Erlangen
Akutschmerzdienst
Schmerzambulanz
Schmerztagesklinik
Screeningtermine
Gruppen
Schwerpunkt =
Schmerzbewältigung
Auffrischtage/-woche
• für chronische Schmerzpatienten
25 Tg
VT
• für Kopfschmerzpatienten
16 Tg
VT
• für Senioren
20 Tg
VT
• für Patienten mit somatoformen Störungen
45 Tg
TPs
und Fibromyalgie
29
•für Kinder
Psychosomatische und Psychotherapeutische
Abteilung der Universitätsklinik Erlangen
Ambulante Gruppen:
- Achtsamkeit
- Schmerz
Psychosomatische Tagesklink
Psychosomatische Station
Schwerpunkt =
Psychische Problematik
30
BINDUNG
Bindungstypologie
Nach Bowlby u. Ainsworth
SELBSTBILD
positiv
60 %
positiv
BILD VOM
ANDEREN
negativ
sicher
negativ
ambivalent
vermeidend ängstlich
unsicher 36%
31
BINDUNGSTYPOLOGIE (NACH BOWLBY & AINSWORTH)
Nickel & Egle in Vorb., n=135
Psychosomatische Patientenpopulation
SELBSTBILD
18%
positiv
positiv
BILD VOM
ANDEREN
negativ
32
sicher
negativ
ambivalent
vermeidend ängstlich
unsicher
82%
FRÜHE STRESSERFAHRUNGEN
Welche können heute für Langzeitfolgen als gesichert gelten?
emotionale Vernachlässigung (Unerwünschtheit)
 berufl. Anspannung beider Eltern von klein auf
 chronische familiäre Disharmonie/mit Gewalt
 Altersabstand zu Geschwister < 18 Monate
 häufig geschlagen/misshandelt
 schwerer sexueller Missbrauch
 finanz. Situation kärglich/instabil,niedrige Schulbildung
 Scheidung/Trennung der Eltern

33

Mutter körperlich krank/behindert

Mutter psychisch krank/Suchtproblem

Vater körperlich krank/behindert

Vater psychisch krank/Suchtproblem

Tod eines Elternteils
Frühe Stresserfahrungen
liegen bei ei ca 40% der
Fibromyalgiepatienten vor
34
ANGEBORENE UND SPÄTERE
STRESSERFAHRUNGEN
 genetische Prädisposition
Das HHN System wird auch
Stresshormonsystem genannt, weil
es bei psychischem und
körperlichem Stress heraufreguliert
ist.
 psychophysiologische Übererregung,
Veränderungen der HypothalamusHypophysen-Nebennieren-Achse
 Partner mit Alkoholproblemen
 Immigration
 schwerwiegende Lebensereignisse
 traumatische Erfahrungen
 chronische/ schwere Krankheit
(in der Familie oder selbst)
(Martin, 2009)
biopsychosoziales
Modell
STRESS
Frühe Stresserfahrungen
(Bindungsstörung, „childhood adversities“)
führen zu einer eingeschränkten Funktion des
Stressverarbeitungssystems mit
lebenslang dysfunktionale Stressverarbeitung
36
und spätere….
SCHMERZ UND PSYCHE
zentrale
Schmerzverarbeitung
?
psychosoz.
Psyche
Stress
Umschaltung 1. auf 2. Neuron
Peripheres System
37
SOMATOFORME SCHMERZSTÖRUNG
PATHOGENETISCHES MODELL (Egle 1997)
"früher Stress"
psych.
biol.
Beziehungs- und Selbstwertstörung
unreife Konfliktbewältigungsstrategien
Störung der Stressverarbeitung
psychosoziale
Belastungen
Gesundheitssystem
somatoforme
Schmerzstörung
Chronifizierung
38
Zurückweisung schmerzt!
Aktivierungen im
dorsalen ACC
(korreliert mit
Distress) und
vorderer Insel
Dieser Befund unterstützt den Einfluss früher negativer
Bindungserlebnisse (Verlust wichtiger Bezugspersonen,
Misshandlung etc.) auf späteres Entstehen einer anhaltenden
somatoformer Schmerzstörung.
39
(Eisenberger et al., Science 2003)
Körperlicher Schmerz löst Affekte aus!
Bei der Applikation peripherer Schmerzreize konnte eine erhöhte
zentrale Aktivierung verschiedener für die Stress- und
Affektverarbeitung (Angst, Ekel, Freude, Trauer) bedeutsamer
Hirnregionen (Insula, anteriorer Gyrus cinguli=ACC, sowie der
Amygdala) festgestellt werden
(Gracely et al.2002, Stoeter et al. 2007, Gündel et al. 2008).
40
Y. Erim
?!?
41
…. und nun?
 Gerade für die Chronifizierung von
Schmerzsyndromen ist sehr gut belegt, dass
verschiedene psychosoziale Variablen entscheidend
dafür sind, ob Schmerzen persistieren oder
remittieren.
 ….. die psychosozialen Interventionen sind in vielen
Fällen die effektivsten Behandlungsoptionen.
42
Fibromyalgie
19.9.2013
Pressemitteilung der
DeutschenGesellschaft für Neurologie:
„Deutliche Zeichen für Schädigung der
kleinen Nervenfasen“
„Erlösung“ „körperliche Ursache“
43
Aufklärung!!!
gemeinsame Weiterbehandlung statt
Abschieben
Information über Ziele und Methoden der
Psychotherapie
)
Familie
45
Beruf
soziales Umfeld
Freizeitverhalten
Chronifizierungs-
Protektive
faktoren
Faktoren
Ein akuter Schmerz hat Signalfunktion auf körperlicher
Ebene.
Ein chronischer Schmerz kann SIGNALFUNKTION
auf
psychischer Ebene (Kränkung, Verlust)
oder auf sozialer Ebene (Beziehungsprobleme)
haben.
.
46
Charakteristika der somatoformen Schmerzstörungen
 hohe Schmerzintensität meist ohne freie Intervalle
 affektive Schmerzbeschreibung (scheußlich, widerlich)
 gleichzeitig oft geringe emotionale Beteiligung bei Beschwerdeschilderung
 diffuse Lokalisation, v.a. Extremitäten
Gesicht / Zähne
Unterleib
oder multilokulär
 Beginn der Symptomatik oft vor dem 35. LJ
 weiblich - männlich:
3:1
 Häufigkeit im Patientenklientel einer Schmerzambulanz:
30-50%
47
Charakteristika der somatoformen Schmerzstörungen
 Kein klarer klinischer Befund
 somatische Krankheitsattribuierung
 Vorgeschichte: Psychovegetative Symptome wie Bauchschmerzen
Kloß- und Engegefühl
Mundbrennen
 Verleugnung psychosozialer Einflussfaktoren
 ausgeprägte Abwehr von Affekten/ Emotionen
 Aggression = Destruktion
48
Charakteristika der somatoformen Schmerzstörungen
 ausgeprägte Abhängigkeits- und Versorgungswünsche
 unsicheres Bindungsverhalten
 Anerkennung und Selbstwert über Leistung und Konformität
 ständige Vertrauensfrage, auch gegenüber dem Therapeuten
 hohe Kränkbarkeit und geringe Frustrationstoleranz
49
goomer?
Störung der Arzt-Patient-Beziehung
50
Fibromyalgie
ICD 10 M 79.0
Chronisch generalisierte Schmerzen im Bereich von
Muskeln, Bändern, Knochen
in allen 4 Körperquadranten und WS
mindestens 3 Monate bestehend
Druckschmerz an 11 von 18 festgelegten Druckpunkten,
sog. Tenderpoints ?
fakultativ Zusatzbefunde wie Müdigkeit, Schlafstörungen,
Parästhesien, andere psychovegetative Symptome
große Schnittmenge mit der Diagnose
Somatoforme Schmerzstörung
ICD
10 F 45.40, F45.41
51
52
Fibromyalgie ?
Schmerzindex WPI +Symptomschwere (Wolfe 2010)
WPI = Widespread pain index
(nach anamnestischen Angaben) Punktzahl max 19
SS = Symptom severity scale
umfasst die 3 Bereiche:
Schwächegefühl, wenig erholsamer Schlaf, kognitive
Symptome und zusätzlich somatische Symptome
Punktzahl max. je 3, also max. 12
Der Patient erfüllt die diagnostischen Kriterien einer Fibromyalgie wenn:
WPI mind. 7 (3-6) und SS mind. 5 (9)
Die Symptome seit mindestens 3 Monaten bestehen
Keine andere Krankheit die Symptome erklären würde
53
Diagnostik – Somatoforme Schmerzstörung
F45.40 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder (6 Monate),
schwerer und quälender Schmerz, der durch einen
physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht
hinreichend erklärt werden kann.
Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder
psychosozialen Belastungen auf, denen die Hauptrolle für Beginn,
Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der
Schmerzen zukommt.
Die Folge ist meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder
medizinische Hilfe und Unterstützung.
Diagnostik – Somatoforme Schmerzstörung
F45.41 Chronische Schmerzstörung mit somatischen
und psychischen Faktoren (neu!)
Im Vordergrund des klinischen Bildes stehen seit mindestens 6
Monaten bestehende Schmerzen in einer oder mehreren
anatomischen Regionen, die ihren Ausgangspunkt in einem
physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung
haben.
Psychischen Faktoren wird eine wichtige Rolle für Schweregrad,
Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen
beigemessen, jedoch nicht die ursächliche Rolle für deren
Beginn.
Der Schmerz verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden und
Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen
Funktionsbereichen. Der Schmerz wird nicht absichtlich erzeugt oder
vorgetäuscht.
Welche Konsequenzen hat die „neue“
Schmerzdiagnose?
 angemessene Diagnose von Schmerzen mit gleichzeitig
sensorischen, kognitiv-emotionalen und Verhaltensaspekten
 weg vom Leib-Seele-Dualismus (psychogen vs. somatogen)
 Schmerz als komplexes bio-psycho-soziales Phänomen
 Voraussetzung für die Indikationsstellung zur interdisziplinären
Therapie
Biopsychosoziales Modell des FMS
vom Typ der somatoformen Schmerzstörung
Prädisponierende Faktoren • unsichere Bindung, emotionale Vernachlässigung
• frühe Viktimisierung (childhood-adversities)
biologisch: ängstlich, gehemmt
körperliche Schwachstellen
genetische Disposition?
Auslösende Faktoren
• lang anhaltender Alltagsstress, dessen Wegfall
• belastende Lebensereignisse
biologisch: Traumata
Infektionen
Chronifizierende Faktoren
• ängstlich depressive Symptomverarbeitung
• Katastrophisierung
biologisch : Schonung
Dekonditionierung
57
Somatisierung =
Neigung, körperliche Beschwerden als
Antwort auf psychosoziale
Belastungsfaktoren zu erfahren und zu
vermitteln, und medizinische Hilfe dafür in
Anspruch zu nehmen
Es findet eine Spaltung statt ( unbewusst ):
•der Affekt wird dabei verdrängt ( z.B. Angst )
•das ursprünglich gleichzeitige körperliche
Erscheinungsbild ( z.B. Herzrasen, Schmerz, Schwitzen )
rückt ins Zentrum
58
„REPSYCHISIERUNG“
DER SOMATISIERUNG
Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus
von der Wahrnehmung körperlicher Beschwerden und
ihrer Bewältigung
auf das innere Erleben
sowie auf psychische und soziale Belastungen und
Konflikte
59
Ätiologische Modelle
 Z.B. konnte Birnbaum (2000) nachweisen, dass bei Kindern
und Jugendlichen nach dem Krebstod eines Geschwisterkindes,
also bei einer schweren seelischen Belastungssituation,
schmerzhafte körperliche Symptome im Vordergrund standen,
insbesondere Kopf- und Bauchschmerzen.
60
Y. Erim
Tagesklinische Module
bei Patienten mit somatoformer Schmerzstörung
und Fibromylgie
Entspannung
Hypnose
61
tiefenpsychologische
Gruppentherapie
medizinische
Trainingstherapie
Inhalte der diagnostischen Vorphase
ausführliche biographische Anamnese
Fremdanamnese: Kennenlernen wichtiger
Bezugspersonen, Verhalten des Patienten in der PaarFamiliensituation, Funktion des Symptoms.
Erste Informationen zur Behandlung und Motivationsprüfung.
Erarbeiten des psychodynamischen beziehungsorientierten
Behandlungsfokus mit möglichen Lösungsversuchen in
Gegenwart und Zukunft
explizite Therapieziele
62
Informations und Motivationsphase
Abholen des Patienten bei seinem Krankheitsverständnis
Schaffung einer hinreichenden Behandlungsmotivation
dh. Ansprechen von Themen wie:
Beeinträchtigung der Affektwahrnehmung
„somatosensorische Amplifizierung“= erhöhte
physiolog. Reaktionsbereitschaft, Fehlbewertung der
Bedeutung dieser Prozesse, Absenkung der
Schmerzschwelle
biologische Vulnerabilität
Bindung
Chronifizierungsfaktoren
Funktion der Symptoms ( ich will nicht –ich kann nicht )
Bedeutung der Gruppe
63
Arbeitsphase
Differenzierung von körperlichem Schmerz und Affekt
Differenzierung zwischen erwünschtem und
unerwünschtem Affekt
Akzeptanz unerwünschter Affekte.
Überprüfung bisheriger Beziehungserfahrungen:
"Opfer-Rolle", Vorleistungen, hohe Anpassung an
Erwartungen Anderer, Unterlegenheits- und
Ohnmachtsgefühle
64
Arbeitsphase
Entwicklung neuer Beziehungsmuster
und reiferer Konfliktbewältigungsstrategien
(z.B.Antizipation, Abgrenzung )
Emotionales Wiedererleben und Ermöglichen
korrigierender Beziehungserfahrungen in der Gruppe
Etablieren einer veränderten Kommunikation:
differenziertes emotionales Erleben statt diffuser
körperlicher Beschwerden
65
Nur
was
mit
Emotionen
gekoppelt
ist
hat
Wirkung !
66
Transferphase
Anwendung neu gewonnener Beziehungserfahrungen im
Alltag
Förderung des „Selbst-Expertentums“
Themen wie Abschied
Bilanzierung
Perspektiven
Auffrischsitzungen
Austausch !!!
67
take home message für Patienten
Schmerz
Stress
Beziehung
68
Was ist eine erfolgreiche Therapie ??
…es geht nicht nur
um
Schmerzreduktion,
sondern auch um ….
69
nach 20 tagesklinischen Einheiten:
was hat sich bei den Patienten verändert ???
gravierende Selbstwertsteigerung
Schmerzreduktion
Bindung
Opiate abgesetzt !!
...keine Panikattacken mehr
Ich freue mich auf Menschen
Reduktion von Angst und Depression
„power
statt
70 Ohnmacht“
Selbsterfahrung
deutliche Minderung
sozialer Ängste
nach 20 tagesklinischen Einheiten:
Gedanken und Gefühle der Therapeuten...
anstrengend !!!
vieles psychodynamisch
erklärbar
Wut
...wir nehmen ihnen mit dem Schmerz
den Lebensinhalt???
„die Patienten
erziehen mich
zu Verlässlichkeit
und Konsequenz !“
…ist es zu spät für eine Therapie ???
Rührung
ohne Schmerz keine
Bindung?
…das ist ja wie im Lehrbuch
bei der Biographie
ist es fast ein Wunder, dass man
noch so im Leben steht
OHNMACHT
71
warum sehen die Patienten erst auf den
zweiten Blick was sich bewegt hat
und klagen und fordern erstmal ???????
ich arbeite gern mit
Schmerzpatienten
Frau M.: “ ich freue mich auf die Gruppe im Januar
…ich glaube, das wird meine Brücke zur Außenwelt!“
72
Ergänzende Therapiebausteine in der
multimodalen, interdisziplinären Schmerztherapie
Soziales Kompetenztraining
Achtsamkeit
MBSR
Kunsttherapie
Biofeedback
Biofeedback
Ein normalerweise nicht bewusst
ablaufender körperlicher Vorgang, z.B.
die Muskelentspannung wird der
bewussten Wahrnehmung zugänglich und
beeinflussbar gemacht.
Durch Visualisierung oder durch Töne
wird die Muskelspannung dem Patienten
zurückgemeldet. Der Patient kann lernen,
die Muskelspannung, vor allem auch die
Reduktion der Spannung zu regulieren.
(Abbildung aus Ehlert, Verhaltensmedizin)
74
Medikamentöse Therapie bei chronischem Schmerz
Antidepressiva,zB SNRI wie Duloxetin (Cymbalta)
zB SSRI wie Citalopram (Cipralex)
zB Tricyclica wie Amitriptylin (Saroten)
Opipramol ( Insidon)
zB Tetracyclica wie Mirtazapin (Remergil)
Antikonvulsiva,
zB Gabapentin (Neurontin)
Pregabalin (Lyrica)
Muskelrelaxantien,
zB Tolperison (Mydocalm)
Flupiritin (Katadolon)
Periphere Analgetika, zB Paracetamol
Ibuprofen mit Magenschutz
Cave: schwache oder starke Opioide
75
Prognose…
auch hoch chronifizierte und schwer traumatisierte
somatoforme Schmerzpatienten
können von einer störungsspezifischen Therapie
profitieren…
…wobei eine Reduktion der Schmerzstärke nicht
das ausschlaggebende Kriterium ist
76
Bilanz der Therapie:
Erhöhung der gesundheitsbezogenen
Lebensqualität auf der psychischen Ebene
Veränderung der Schmerzbewertung und
Schmerzbewältigung
mit privater, sozialer und beruflicher Auswirkung
Bei relativ unveränderter Schmerzstärke
ist die Reduktion der Schmerzmedikamente
zu berücksichtigen
coping not curing
77
Medizinisch unklare Beschwerden beim Spezialisten funktionelle somatische Syndromdiagnosen
nach Wessely et al., Lancet, 1999
Dermatologie
Pruritus
Kardiologie
Atypischer, nicht-kardialer Brustschmerz
Pulmologie
Hyperventilationssyndrom
Gastroenterologie
Reizdarmsyndrom, Dyspepsie, funktionelle Diarrhoe
Rheumatologie
Fibromyalgie
Neurologie
Spannungskopfschmerz,
chronisches Müdigkeitssyndrom
Zahnmedizin
Atypischer Gesichtsschmerz
Gynäkologie
Chronischer Unterbauchschmerz, PMS, Dysmenorrhoe
Allergologie
Multiple Chemical Sensitivity Syndrom,
Nahrungsmittelunverträglichkeiten
HNO
Globusgefühl
Chronische Schmerzstörung
und Fibromyalgie:
körperlich
und
psychisch
besteht ein Problem,
aber es gibt Lösungen!
79
Psychosomatischer „Kurzcheck“ Chronischer Schmerz
Fragen an den Patienten (begleitend zur allgemeinen Anamnese):
1.
Leben ihre Eltern noch? Gesundheitliche Probleme? Alter? Ehe? Kontakt?
2.
Haben Sie Geschwister? (Gesundheitliche) Probleme?
Geschwisterreihenfolge mit Alter? Kontakt?
3.
Wie sind sie mit Ihrer aktuellen Lebenssituation zufrieden (außer
Gesundheit): Beruf, Familiensituation bzw. Partnerschaft, Kinder, Freunde,
Freizeit?
4.
Schönstes bisher im Leben?
5.
Schlimmstes bisher im Leben?
6.
Wo stehen Sie innerhalb der erlebten Spannbreite jetzt?
7.
Wie reagieren/reagierten Sie bisher auf Stress körperlich und psychisch?
8.
Wie war die Lebenssituation zum Zeitpunkt des Schmerzbeginns, der
Schmerzverstärkung?
9.
Was sind für Sie typische Sorgen auf der einen, typische Wünsche und
Träume auf der anderen Seite?
80
Psychosomatischer „Kurzcheck“
Fragen an den Therapeuten (am Ende des Erstgespräches)
1.
Habe ich ein Bild vom Leben des Patienten: Herkunftsfamilie, schulische
berufliche und private/soziale Situation betreffend?
2.
Was hat der Patient für ein Bild von sich (Selbstwert) und von anderen
(Beziehung)?
3.
Was hat der Schmerz für eine Funktion?
4.
Passten die Affekte des Patienten zum Inhalt des Gesagten?
5.
Empfinde ich diesen Patienten als überdurchschnittlich pessimistisch
oder ängstlich?
6.
Habe ich Hinweise auf prädisponierende, auslösende oder
chronifizierende Faktoren nach dem bio-psycho-sozialen Modell
gefunden?
7.
Wenn ja, was braucht der Patient dann evtl. noch an Information, damit er
versteht und akzeptiert, dass eine „andere“ (Be)-Handlung nun ansteht ?
81
Reserve
82
Therapie mit den Bezugspersonen
 Bezugspersonen können Schmerzverhalten positiv verstärken, z.B.
dadurch, dass sie das Schonverhalten der Patienten unterstützen, auf
die Schmerzbeschwerden mit positiver Emotionalität antworten etc.
 Oft sind Bezugspersonen selbst durch die Schmerzen ihres Partners
eingeschränkt.
 Wenn ihnen grundlegende Konzepte der Behandlung erklärt wird und
sie die Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit des Patienten fördern,
können die Bezugspersonen einen positiven Einfluss auf die
Behandlung haben.
 In einigen Studien wurde auch durch die Löschung des positiv
verstärkenden Verhaltens der Angehörigen, z.B. durch den Entzug
von Aufmerksamkeit bei Schmerzbeschwerden (positive Konsequenz
des Verhaltens gestrichen) eine Schmerzreduktion bei den
Betroffenen erreicht.

83
Dr.B.Vi
Kognitive Bewältigungsstrategien
 Schmerztagebuch: Selbstbeobachtung. Schmerzauslösende
und – verstärkende Ereignisse erfassen und neue
Bewältigungsstrategien anwenden. Verhaltensanalyse, Analyse
von vorausgehenden und nachfolgenden Ereignissen bei
Schmerz.
 Veränderung von negativen Selbstinstruktionen,
 Imaginationsübungen, imaginative Bilder,
 Hypnotische Techniken,
 Aufmerksamkeitslenkung (Leuchtturmmodell), Ablenkung.
 GSK (Gruppentraining sozialer Kompetenzen)
Kommunikations- oder Selbstsicherheitstraining.
84
Dr.B.Vill
Aktivitätsmodifikation
 Aufbau von Aktivität bei ausgeprägtem
Schonverhalten
 Einbau von Ruhepausen (wenn Hyperaktivität das
Problem ist)
 Krankengymnastik
85
Dr.B.Vi
Handlungsempfehlungen aus
tiefenpsychologischer Sicht
 Nach Etablierung der therapeutischen Beziehung können die
Schmerzbeschwerden in den Kontext der Beziehungsepisoden
gerückt werden.
 Tangentiale Gesprächsführung: die Aspekte des psychischen
Erlebens und psychosoziale Belastungsfaktoren werden in der
Initialphase der psychosomatischen Behandlung eher
beiläufig angesprochen und vertiefte psychotherapeutische
Prozesse nicht angestrebt. Eher Umschreibung mit Konstrukten
wie „Stress“ oder „Belastungsreaktion“.
86
Y. Erim
Handlungsempfehlungen aus
tiefenpsychologischer Sicht
 Psychosomatische Grundversorgung (=Primärversorgung) hat
einen hohen Stellenwert
 Symptomklage des Patienten sollte in einer aktiven Weise
entgegengenommen werden.
 Die Schmerzschilderung stellt das Ausgangsmaterial für die
Psychotherapie dar.
 Die Sprache der Schmerzen und Körperbeschwerden wird als
zum Zeitpunkt einzig mögliche Ausdrucksweise verstanden.
Dr.B.Vill
87
Y. Erim
Chronifizierung von Schmerzen:
„Fear-Avoidance Modell“ (Waddell et al., 1993)
akute
Phase
Verletzung
Schmerz bei Bewegung
+
Angst vor Bewegung
Vermeidung von Bewegung
Angst sinkt
chronische
Phase
generalisiertes Rückzugs-/
Schonverhalten
Verstärkerverlust
depressives Syndrom
+
Aufrechterhaltung – Modell (Rief & Nanke,1999)
Auslöser/“Trigger“
körperliche
Veränderungen
Vermeidungs- und
Krankheitsverhalten
Emotion,
physiologisches
Arousal
Interpretation der
Symptome
Wahrnehmung,
Aufmerksamkeitslenkung
Aufrechterhaltung
 kognitive Merkmale
 selektive Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Körperprozesse
 katastrophisierende Bewertungen
 Selbstkonzept als „schwach“
 Verhaltensmerkmale
 „Doctor shopping“
 Suche nach Rückversicherungen
 inadäquate Einnahme von Medikamenten
 Schonverhalten
 „Checking Behavior“
 operante Konditionierung „Lernen am Erfolg“
 positive und negative Verstärkung von Krankheitsverhalten
(Martin, 2009)
Somatoforme Störungen nach ICD-10 (F45)
körperliche Symptome ohne
organische Grunderkrankung
multiple Beschwerden
Somatisierungsstörung
Undifferenzierte
Somatisierungsstörung
Somatoforme
autonome
Funktionsstörung
umschriebene körperliche
Symptomatik
Somatoforme
Schmerzstörung
Sonstige somatoforme
Störung
Gesundheits- bzw.
Krankheitsangst
Hypochondrie
Definition somatoformer Beschwerden
 körperliche Symptome, welche jedoch nicht oder nicht
ausreichend durch bekannte organische oder
pathophysiologische Ursachen erklärt werden können
 Die Symptome führen in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden
oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen
wichtigen Funktionsbereichen.
1994
 Diskrepanz zwischen Befinden und Befund!
Zentrale Aktivierung (f-MRI) bei peripherer Schmerzstimulation
Stoeter, Bauermann, Nickel, Corluka, Vossel & Egle (NeuroImage 2007)
Erhöhte Aktivierung in
Amygdala, Insula,
frontolateralem
Kortex und
Operculum =>
(mediales
Schmerzsystem) bei
Patienten mit
anhaltender
somatoformer
Schmerzstörung
N=17 Patienten mit
somatoformer
Schmerzstörung und
N=17 Kontrollen
93
Ätiologische Modelle: Bindungsverhalten
Bindungsstörungen (Stuart und Noyes
1999) können bei der Genese von
somatoformen Schmerzen von großer
Bedeutung sein (Buffingon 2009).
94
Y. Erim
Diagnostik, Aufklärung
 Vermittlung von Untersuchungsergebnissen (Rief, Martin, Rauh
et al., 2006)
 Bestätigung der Glaubhaftigkeit der Beschwerden
 frühzeitiges Ansprechen, dass die Ursache für die Beschwerden
keine schwere organische Erkrankung ist
 Verzicht auf „Bagatelldiagnosen“, die ein organmedizinisches
Konzept der Patienten verstärken würden
 Betonung langfristiger Bewältigungsstrategien
 Rückfragen stellen, Gespräch zusammenfassen lassen, um
Informationsverzerrungen zu erkennen
Herunterladen