1 Zur Kategorie der Beziehung: das Arzt-Patient

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Zur Kategorie der Beziehung: das Arzt-Patient-Verhältnis
auch mit einem Blick auf Levinas*
Walter Hubertus Krause
Kronberg/Ts.
1. Einleitung
Der Begriff der Relation, der Beziehung, hat in der philosophischen Tradition eine besondere
Bedeutung. Für Natorp tritt „die Relation an die Spitze aller logischen Erwägungen“.
In der Begegnung mit dem Anderen kommt der Kategorie Beziehung in Form des
Verhältnisses Arzt–Patient eine besondere Aufmerksamkeit und Notwendigkeit zu. Nicht
selten entscheidet sich das Schicksal des Patienten in der ersten Begegnung mit dem Arzt
grundlegend. – Humanmedizin, so stellt Th. von Uexküll verallgemeinernd fest, ist
„Beziehungsmedizin und Beziehungen zwischen Menschen lassen sich nicht durch
technische Surrogate ersetzen“.
2. Relation als zentraler Begriff
Mit der Marburger Schule des Neukantianismus überschreitet das explizite Denken des
Relationalen erstmals das Stadium der Latenz. Für P. Natorp tritt „die Relation an die Spitze
aller logischen Erwägungen“. „Denken heißt überhaupt Beziehen“, und zwar als Prozess der
„Vereinigung des zugleich Geschiedenen“ (Natorp 21921). Natorp kritisiert die Vorstellung
„[…] als ob zu der erst unabhängigen Setzung der Relata die Relation […] hinterher
hinzutrete“ und betont: „Die Relation ist nicht Relation zwischen Absoluten“. Insofern ist sie
„Quelle“ von allem was ist: „Durch die Relation müssen die Termini erst im Denken gesetzt
sein, nicht durch die Termini die Relation.“ Ebenso stellt E. Cassirer heraus, dass wir „nur
durch die Kategorie der Beziehung hindurch zur Kategorie des Dinges gelangen“ können. Er
unterscheidet explizit zwischen „Substanz“ und „Funktionsbegriff“.
____________________
*
Würzburg 8.11.2012. Klinikum der Bayer. Julius-Maximilians-Universität.
1
A. Meinong führte bereits 1882 ‚Relations Theorie‘ als Disziplin ein.
Das „In-der-Welt-sein (Heidegger) ist nicht erst die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt,
sondern das, was eine solche Beziehung zuvor schon ermöglicht“.
Die Grundprinzipien einer „universalen Relationstheorie“ als „Universalmethode der
Philosophie“ entwickelt J. Schaaf.
Das Programm einer „universalen Relationstheorie“, so von Wolzogen, entspricht Adornos
Forderung, „das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“
(Adorno. Negative Dialektik, 1966).1
Nach phänomenologischer Auffassung ist es ein Wesensmerkmal von Bewusstsein, auf etwas
gerichtet zu sein. Die intentionale Beziehung zu Gegenständen ist ein allgemeines
Strukturmerkmal von Bewusstsein. (Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. HH
2004, S. 84).
3.
Die Arzt-Patient-Beziehung als Beginn und Ausgang im Verständnis der Medizin
3.1.
Die Begriffe Umgang, Beziehung und die Einführung des Subjekts in die Medizin
haben bei V. von Weizsäcker (1886–1957) Gewicht. In ‚Medizin und Logik‘ (1951) heißt es:
„Der Umgang in der Medizin“ ist „Gegenseitigkeit“, und zwar „Gegenseitigkeit“ als Zeichen
eines richtigen Umgangs.2
Von Weizsäcker erinnert und stellt fest, dass „Anregungen zur Beachtung der Gegenseitigkeit
in Naturwissenschaften, Psychologie und Medizin ohne allen Zweifel aus den Religionen
kommen“.3 Der Umgang in Form der Gegenseitigkeit lässt sich als symmetrische Beziehung
zwischen Arzt und Patient, mithin zweier Subjekte offenlegen. Unter der Maxime
„Einführung des Subjekts in die Wissenschaft“ versteht von Weizsäcker den Versuch, das
traditionelle Fundament der Wissenschaft, ihre „Methode der Trennung von Subjekt und
Objekt, durch ein anderes und besseres Fundament zu ersetzen.“
1
Vgl. von Wolzogen, ebd., S. 604.
2
von Weizsäcker. GS Bd. 7. Frankfurt/M. 1987, S. 359.
3
von Weizsäcker, ebd., S. 364.
2
Für von Weizsäcker hat der Arzt seine Tätigkeit nicht von einem Krankheitsbegriff her,
„sondern von dem Verhältnis von der Beziehung zwischen Krankem und Arzt“ aus zu
entwickeln. Der „Anfang besteht aber nicht in Aussagen über etwas, was ist, sondern in einer
Analyse von etwas, was wird, was möglich wäre, natürlich werden möchte und dabei einer
Notwendigkeit gehorcht. Nicht ein Sein, sondern eine Begegnung wird zuerst analysiert
werden.“4
Für die Basis einer anthropologischen Medizin hält von Weizsäcker fest: „Der Beginn einer
Anthropologie ist immer die Begegnung mit einem Menschen oder dem Menschlichen in den
Menschen.“5
3.2
„Dank Viktor von Weizsäcker, der mit Martin Buber (1878–1965) zusammen die
Zeitschrift ‚Kreatur‘ herausgegeben hat“ und dem wir „die (Wieder)-einführung des Subjekts
in die Medizin und den Begriff der sprechenden Medizin“ zuschreiben, haben die
Gesprächsphilosophen, vor allem Martin Buber, aber auch F. Rosenzweig und H. Cohen u.a.,
„wohl am ehesten in der Medizin Spuren hinterlassen“, so K. Dörner.6
Im zwischenmenschlichen Bereich, somit gerade auch in der Arzt-Patient-Beziehung, bildet
und entwickelt sich für Buber die Ich-Du-Beziehung. „Das Grundwort Ich–Du stiftet die
Welt der Beziehung.“
Für das Leben mit den Menschen heißt es bei Buber: „Im Anfang ist die Beziehung. Der
Mensch wird am Du zum Ich.“7
„Man suche den Sinn der Beziehung nicht zu entkräften: Beziehung ist Gegenseitigkeit.“
(Ich–Du, S. 12) An einer folgenden weiteren Stelle heißt es:
„Den Menschen, zu dem ich Du sage, erfahre ich nicht. Aber ich stehe in der Beziehung zu
ihm.“ (Ich–Du, S. 13)
4
von Weizsäcker. Pathosophie. Göttingen 1956, S. 89.
5
von Weizsäcker, ebd., S. 370.
6
Dörner. Der gute Arzt. Stuttgart 2003, S. 46.
7
Vgl. Wehr. Martin Buber. Leben, Werk, Wirkung. Zürich 1991, S. 158.
3
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar, zwischen
Ich und Du steht keine Begrifflichkeit, kein Vorwissen und keine Phantasie.“ (Ich–Du, S. 15)
Buber meint, „was das Ich im Verhältnis zu seinem personalen Gegenüber ist, also nicht, was
es dabei erlebt“.8
„Beziehung“ auf die Arzt-Patient-Begegnung angewandt ist „Gegenseitigkeit. Meinn Du
wirkt an mir, wie ich an ihm wirke.“ (Ich–Du, S. 19)
Der Modus der Arzt-Patient-Beziehungskonstellation wäre für Buber somit symmetrisch.
3.3
Für Thure von Uexküll (1908–2004) ist die Frage nach Beziehungen diejenige
zwischen Organismus und Umwelt vorrangig. Diese Frage bildet das „eigentliche
Grundproblem der Biologie und Medizin“, formuliert der Sohn des Biologen Jakob von
Uexküll.9
Wird die Arzt-Patient-Beziehung mit der „Arzt-Patient-Kommunikation“ gleichgesetzt, so
diene diese in der „modernen Medizin vor allem dazu, eine bestmögliche Ausgangslage für
eine korrekte Diagnose, optimale Behandlung und effektiven Therapieverlauf zu
ermöglichen“.10 Nicht zufällig heißt es in den Lehrbüchern, so Fritsche und Wirsching
(2006): „Die wichtigste diagnostische und therapeutische Handlung des Arztes ist das
ärztliche Gespräch […] (und) der Erfolg oder Misserfolg einer ärztlichen Behandlung hängen
von der Qualität der Arzt-Patient-Kommunikation ab.“11
In diesem Zusammenhang kommt es gerade auf die Ausbildung zum Arzt an, die aber im
klinischen Teil der Ausbildung – so der Umgang mit dem kranken Menschen, die Beziehung
zum Patienten – weitgehend ignoriert werde. Stattdessen werde „das Ideal des unbeteiligten
Beobachters eingeübt“, konstatiert von Uexküll.12
8
Wehr, ebd., S. 158.
9
von Uexküll. Psychosomatische Medizin. München, Jena 62003, S. 37.
10
Meyer, Löwe. Grundlegende Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung für die Medizin. In: H.-Chr. Deter
(Hg.). Die Arzt-Patient-Beziehung in der modernen Medizin. Göttingen 2010, S. 19.
11
Vgl. Meyer, Löwe, ebd., S. 19.
12
von Uexküll, ebd. 62003, S. 1350.
4
Von Uexküll spricht von der Beziehung zwischen Organismus und Umgebung, welche das
eigentliche Grundproblem der Biologie und Medizin sei. Auf verschiedenen
Integrationsebenen werden der Regelkreis, Funktions- und Situationskreis als Modelle für
den Aufbau vegetativer, animalischer und humaner Beziehungen zur Umgebung thematisiert.
Auf jeder Ebene lässt sich „Beziehung“ als eine Entsprechung wahrnehmen, in der sich
Organismus und Umgebung gegenseitig definieren und ergänzen.
Die Patient-Arzt-Beziehung in ihrer Bedeutung z.B. für Diagnostik und Therapie ist somit ein
„Faden aus verbalen und averbalen Nachrichten, die zwischen dem Patienten und dem Arzt
ausgetauscht werden müssen, wenn das entstehen soll, was wir ein therapeutisches Bündnis
nennen“. Dieser Faden hat für von Uexküll „diagnostische und therapeutische Funktionen; er
hilft dem Arzt, Defekte der Beziehungsstruktur eines Patienten zu entdecken, und er kann
ihm helfen, diese auszubessern und dem Patienten einen Halt zu geben, wenn ein vitaler
Faden zu reißen droht.“13
Die bio-psycho-soziale Medizin „als Lehre von Beziehungen“ und die „semiotische
Interpretation zeigen, dass Heilkunde Beziehungsmedizin ist“.14
4. Die ethische Arzt-Patient-Beziehung im Blick auf Levinas
Bei Levinas (1912–1995) lassen sich Denkmotive finden, die eine gewisse Verwandtschaft zu
entsprechenden Motiven bei Buber aufweisen. In der Schrift „Martin Buber und die
Erkenntnistheorie“ (1963) setzt sich Levinas von der monologischen Subjekt-Philosophie
ab.15
Die Philosophie des transzendentalen Idealismus ist im Kontext der abendländischen
Philosophiegeschichte zu sehen, die mit Sokrates einen ontologischen „Primat des Selben“
begründet hat. In dieser Philosophie hat nach Levinas der Andere keinen Raum mehr. In
13
von Uexküll, ebd. 62003, S. 38.
14
von Uexküll, ebd., S. 37.
15
Vgl. Werner. Martin Buber. Frankfurt/M. 1994, S. 165f.
5
diesem Zusammenhang heißt „Erkennen“: „das Seiende vom nichts her zu packen oder auf
nichts zurückzuführen, ihm seine Andersheit zu nehmen“.16
„Das Ideal der sokratischen Wahrheit beruht also auf der essentiellen Genügsamkeit des
Selben, auf seiner Identität als Subjekt, auf seinem Egoismus. Die Philosophie ist eine
Egologie.“ (TU 53)
Levinas setzt sich trotz Parallelen grundsätzlich von Buber ab. Levinas setzt seine
„Hauptkritik an der Gegenseitigkeit des Ich–Du an. Er stellt dem Gegenseitigkeitskonzept in
seiner Philosophie eine „Bewegung zum Anderen“ gegenüber, die nicht zu ihrem Ausgang
zurückkehrt.17
Erst so bekommt der Terminus „Andersheit“ seinen vollen Sinn; er deutet auf eine
Wirklichkeit hin, die nicht lediglich Spiegel des Ichs, also auch nicht Du ist […], sondern
sich nur als „Spur“ zeigt, als Jenseits, welches mir ganz und gar unbegreifbar und
unverfügbar im „Antlitz“ der Person begegnet.18
Die Arzt-Patient-Beziehung lässt sich folglich grundsätzlich formulieren, denn Levinas hat in
einer Radikalität die Ethik verändert, indem er die Ethik als ‚Erste Philosophie‘ setzte. Der
Anfang einer jeden Arzt-Patient-Begegnung, -Behandlung ist das „von Angesicht-zuAngesicht“, die „ethische Beziehung“ (TU 291), die eine „soziale Beziehung“ ist (TU 151).
Somit befinden sich streng genommen Arzt und Patient auch nicht, Levinas zufolge,
„zwischen Wissenschaft und Humanität“ (von Uexküll), vielmehr garantiert der
„Humanismus“ des anderen Menschen (HaM 1) als das Ethos die Basis für die
Humanwissenschaft. Wenn man unter diesem Gesichtspunkt Levinas folgt, kann es ein
beklagtes „Skotom der Medizin für Fragen der Ethik“ (von Uexküll) nicht geben, denn die
Beziehung von Angesicht-zu-Angesicht ist immer eine ethische.
Auch bei dem heute anzutreffenden komplexen strukturellen Geflecht einer arbeitsteilig
verfahrenden und einer den Notwendigkeiten eines „durchorganisierten Gesundheitswesens“
16
Levinas. Totalität und Unendlichkeit (TU). Freiburg, München 2003, S. 52.
17
Vgl. Werner, ebd. 1994, S. 167.
18
Levinas. Buber, zit. nach Werner, ebd., S. 168.
6
folgenden Medizin an Stelle einer „überschaubaren Arzt-Patient-Beziehung“ bleibt mit
Levinas die ethische Arzt-Patient-Beziehung Ausgang in einer jeden Behandlung.
Unabhängig vom vorrangig naturwissenschaftlichen Denken und Handeln in der Medizin und
von der dem Arzt in der Beziehung zum Patienten zur Verfügung stehenden Zeit hat der Arzt
„selbst geduldig zu sein, ohne die Geduld von den Anderen zu verlangen“ (JS 378) – These –
Der Patient wird vom Arzt empfangen, womit „eine Gleichzeitigkeit von Aktivität und
Passivität“ ausgedrückt wird. Durch diese Gleichzeitigkeit steht die Beziehung zu dem
Patienten „außerhalb der Dichotomie a priori und a posteriori, Aktivität und Passivität, die für
die Dinge gelten“ (TU 124).
Die ethische Arzt-Patient-Beziehung ist asymmetrisch, d.h. der Arzt stellt sich dem Kranken
uneingeschränkt in einer Offenheit zur Verfügung, „die passiver als […] Passivität“ (JS 254)
und eine „Passivität [ist], die aufgrund der Stellvertretung über jede Passivität hinausgeht“
(JS 303).
In der Beziehung zum Patienten „denke“ ich als Arzt „nicht nur daran, was er für mich ist“,
z.B. unter wissenschaftlichem Aspekt ein interessanter Fall, sondern „schon vorher bin ich
für ihn“. Der Patient zählt in der ethischen Beziehung als Gesprächspartner des Arztes, noch
bevor er „erkannt“ ist, er wird „begrüßt“ (Schwierige Freiheit 17).
In der Offenheit des Arztes in der Beziehung zum Patienten wird diesem ermöglicht, sich im
Gespräch mitzuteilen, was ihn schmerzt, belastet, hilflos macht. In einem folgenden Schritt
werden Untersuchung und Therapieplanung angesetzt und eine strukturierte Anamnese
aufgenommen, soweit Befinden und Zustand des Patienten es erlauben. Jetzt befindet sich der
Arzt in der Beziehung zum Patienten in einer Indifferenz im Unterschied zur ursprünglichen
Offenheit der „Nicht-Indifferenz“ (HaM 139).
Der Arzt ist vom Patienten als Unersetzbarer zur Verantwortung erwählt (JS 277). Die
ärztliche Verantwortung, das Ethische, ereignet sich Levinas zufolge in der Beziehung zum
Patienten und wird zum Ursprung für den Anderen durch den Anderen. „Die [ärztliche]
Subjektivität […] ist nicht ein Für-sich; sie ist […] ursprünglich ein Für-einen-Anderen“ (EU
73), den Hilfe suchenden Kranken. Dem Patienten kann sich der Arzt nicht entziehen.
7
In der Arzt-Patient-Beziehung kommt der Nähe, der Intimität, wie in kaum einem anderen
Beruf ein besonderes Gewicht zu. Die „Bedeutung, die dem Anderen gilt, in der Nähe, die
sich von jeder anderen Beziehung abhebt“, ist „denkbar als Verantwortung für den Anderen;
man könnte sie Menschlichkeit oder Subjektivität oder Sich nennen“ (JS 101). Auf das
„Ethos des Unersetzbaren“ des Arztes für den Patienten geht die Verantwortung zurück (GD
223).
Levinas setzt Verantwortlichkeit mit Liebe gleich. „Verantwortlichkeit ist eigentlich die
Liebe.“ Es ist die ethische Beziehung, die in der Art einzig ist: der Arzt ist „zur
Verantwortlichkeit erwählt“. Hierin ist das „Verhältnis […] immer nicht-reziprok“. Delegiert
der Arzt die ursprüngliche, ihm vom Patienten auferlegte Verantwortung, ist er „aus der Ethik
raus“.19
In der Arzt-Patient-Beziehung erhält die Nähe besondere Bedeutung. In der Nähe zu dem
unheilbar Kranken und dem Sterbenden – „in der ohnmächtigen Konfrontation mit dem
Tod“ – vermittelt der Arzt, angerufen und im Antlitz des Patienten die menschliche
Sicherheit: „Hier gibt es noch mich.“ (ZU 187)20 In der ursprünglichen Verantwortung, der
asymmetrischen Arzt-Patient-Beziehung, die eine ethische ist, befindet sich der Arzt in „einer
Beziehung der Diakonie: ich bin dem Anderen zu Diensten“ (GTZ 173). Diese Beziehung
trägt der „Einzigkeit“ des Patienten, d.h. „zu existieren, ohne ein Genus zu haben“, Rechnung
(TU 164). Der Patient ist nicht nur in seiner Würde und Zweck an sich selbst respektiert,
sondern er setzt den Arzt in seine Verantwortung ein.
Die von Levinas gedachte und dem Werk zu entnehmende nichtnormative Ethik, Ethik als
erste Philosophie, als „Wunder des Ethischen, älter als das Licht“ beschrieben (JS 107), ist im
Vollzug, in der Beziehung zum Patienten unersetzbares Fundament des Arztseins. Im
weiteren Verlauf einer Therapie wird sich die ursprüngliche asymmetrische Beziehung über
eine symmetrische hin zu einer asymmetrischen Beziehung, d.h. jetzt vom Arzt ausgehend
zum Patienten, den Arzt als Experten in konservativer oder operativer Therapie, wandeln
müssen, ohne dass die ursprüngliche ethische asymmetrische Beziehung an Bedeutung im
weiteren Verlauf verliert.
19
Levinas. Gespräch mit von Wolzogen. Hamburg 1989, S. 134.
20
Levinas. Zwischen uns. Versuch über das Denken an den Anderen. München 1995, S. 187.
8
Da der Arzt nicht nur einem einzigen, sondern dem Dritten gegenüber verantwortlich ist und
daher abwägen muss, hat der Aspekt der Gerechtigkeit Bedeutung. Levinas zufolge ist „das
Wort ‚Gerechtigkeit‘ viel eher in der Beziehung mit dem Dritten angebracht als in der
Beziehung mit dem Anderen“. Die Beziehung des Arztes zum Patienten „verschwindet nicht
in der Gerechtigkeit“, sondern „das Ich [der Arzt] hört immer den Ruf.“ Insofern ist und
bleibt die Arzt-Patient-Beziehung eine einzige und die Gerechtigkeit dem Dritten gegenüber
ein Gesetz. „In diesem Sinne gibt es eine caritas neben dem Gesetz.“21
Das vorrangig naturwissenschaftliche Denken und Handeln in der Medizin, das auf der
Gültigkeit und Verallgemeinerungsfähigkeit der Naturgesetze beruht, steht dem Ethischen,
der Elementalität (TU 185) des Ethischen, in der asymmetrischen ethischen Arzt-PatientBeziehung entgegen.
Die ärztlicherseits beklagte „verlorene Kunst des Heilens“ (Lown 2004) ist dann
wiederzugewinnen, wenn die Medizin als praktische Wissenschaft sich der von Levinas
gedachten Ursprünglichkeit der ethischen Beziehung des Arztes zum Patienten, der
Verantwortung, der Stellvertretung offen zeigt. Und die nicht normative Ethik, das Ethische
mit Handlungsnormen für jeweils bestimmte Situationen verbindet.
5.
Schluss
Die Arzt-Patient-Beziehung, die eine ethische ist, steht mit Levinas am Beginn einer jeden
Arzt-Patient-Begegnung. Viktor von Weizsäcker kommt u.a. die Bedeutung zu, das Subjekt
in die Medizin wieder eingeführt zu haben. Martin Buber steht für das dialogische Ich–Du,
Arzt-Patient-Verhältnis. Für Levinas ist die Arzt-Patient-Begegnung eine asymmetrische
Beziehung, in der der Patient an erster Stelle steht.
21
Levinas. Gespräch mit Rötzer. München 1986, S. 94.
9
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