Sozialisation als Erlernen von Rollen

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Theorie der Schule: die soziologische Perspektive von Talcott Parsons und Pierre
Bourdieu
Talcott Parsons (1902 – 1979), dessen Beitrag zu einer Theorie der Schule und der gesellschaftlichen Funktionen des Bildungssystems zwar schmal, aber eminent wirkungsvoll ist, war der vielleicht einflußreichste amerikanische Soziologe des 20. Jahrhunderts.
Seine wissenschaftliche Energie widmete er der ambitionierten Aufgabe, ein theoretisches System von logisch stringenten Begriffen aufzubauen, mit dem alle wichtigen Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfaßt werden könnten. Die soziologische Wissenschaftsrichtung, die Parsons entscheidend initiiert und geprägt hat, wird als »strukturfunktionalistische Systemtheorie« bezeichnet. In dieser Bezeichnung kommt bereits Parsons Grundannahme und sein spezifischer Blick auf die Gesellschaft zum Ausdruck: er
versteht Gesellschaften als komplexe Systeme, die zu ihrem Fortbestand Strukturen
entwickeln, welche spezifische Funktionen für die Bestandserhaltung des Gesamtsystems erfüllen. Dabei geht es Parsons in erster Linie um die internen Voraussetzungen für
die Stabilität von Gesellschaftssystemen und nicht um deren Wandel. Denn jede Gesellschaft, so der Ausgangspunkt seiner Gedankenkette, strebt - nicht anders als biologische
Systeme - in Auseinandersetzung mit ihrer natürlichen Umwelt und mit anderen Gesellschaftssystemen nach Selbsterhaltung. Für die Stabilität von Gesellschaftssystemen ist
eine einigermaßen störungs- und konfliktfreie »Zusammenarbeit« der verschiedenen
»Teilsysteme« der Gesellschaft erforderlich. Diese Teilsysteme erbringen jeweils unterschiedliche Beiträge (Funktionen) für das gesellschaftliche Gesamtsystem. So produziert
das ökonomische Teilsystem etwa die materiellen Ressourcen, Waren und Dienstleistungen für das Überleben der Gesellschaft, während das politische Teilsystem Zielvorgaben entwickelt, Interessen ausgleicht sowie Gesetze erläßt und das Teilsystem des Bildungswesens dafür sorgt, dass sich die Menschen in das gesellschaftliche System integrieren und ihrer Leistung gemäß bestimmte gesellschaftliche Positionen besetzen können. Damit die Teilsysteme ihren funktionalen Beitrag zur Bestandserhaltung adäquat
erfüllen können, entwickeln sie besondere Institutionen mit jeweils eigenen Spielregeln
von stabilisierten Interaktionsmustern (»stabilized patterns of interaction«) für das Handeln in diesen Institutionen. Parlamente unterscheiden sich in ihren Interaktionsmustern
so von Fabriken, Kasernen von Schulen und Krankenhäusern. Bei aller Differenz ihrer
Funktionen und Strukturen müssen die Teilsysteme aber wiederum so aufeinander bezogen sein, dass keine schwerwiegenden »Reibungsverluste« zwischen ihnen entstehen,
welche die Stabilität des Gesamtsystems gefährden.
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Parsons beginnt seinen Erklärungsversuch, wie diese stabilisierten Interaktionsmuster
zustande kommen, indem er modellhaft die Interaktionssituation zwischen zwei Personen
betrachtet. Diese Situation stellt jedes Individuum (ego) vor die Schwierigkeit, dass ein
anderes Individuum (alter) sowohl eine Fülle von Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung als aber auch von Frustrationsquellen bereithält. Ego wird auf frustrierende Handlungen von alter mit Ärger, auf befriedigende mit Freude reagieren. Beide Interaktionspartner lernen mit der Zeit vorwegzunehmen, welche Handlungen für den jeweils anderen befriedigend, welche frustrierend sind. Dieses Wissen können sie dann dazu verwenden, unerwünschte Aktionen des anderen mit negativen eigenen Reaktionen zu ahnden und erwünschte durch positive zu vergelten. Da beide darum bemüht sind, nachteilige Sanktionen zu vermeiden und positive zu steigern, lernen sie dabei auch, wie sie zukünftig jeweils handeln müssen, um Befriedigung zu erlangen. Nach und nach wird sich
auf diese Weise ein System von gegenseitigen Erwartungen entwickeln, das festlegt, wie
sich der eine gegenüber dem anderen verhalten solle. Dieser Set an normativen Interaktionsmustern steuert dann sowohl das Verhalten der Individuen als er ihnen auch einen
Bezugsrahmen (»frame of reference«) gemeinsam geteilter Bedeutungen liefert, womit
sich das Muster ihrer Interaktion endgültig stabilisiert: damit ist ein unabhängiges soziales System mit gemeinsam geteilten Werten, gemeinsam entwickelten Rollenerwartungen und einer verbindlichen Mitgliedschaft entstanden. Dieses kleine, aus zwei Individuen bestehende soziale System unterscheidet sich von einem größeren lediglich dadurch,
dass ein größeres soziales System nur ein größeres Maß an Rollenunterschieden aufweisen wird. Selbstverständlich weiß auch Parsons, dass in der Realität die den Interaktionsprozess regelnden Muster kaum aus der Interaktion allein herauswachsen, sondern
mindestens ebenso durch die allgemeinen kulturellen Muster bestimmt sind, die den Interaktionspartnern von vorneherein gemeinsam sind und ohne die sie wohl nicht in ein
Gespräch kommen könnten – er versteht sich aber als Soziologe und nicht als Sozialhistoriker und kann sich daher mit dieser prinzipiellen Erklärung zufrieden geben.
Auch wenn wir jetzt wissen wie sich Parsons in seinem Modell die Entstehung sozialer
Systeme denkt, wissen wir noch nicht, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit
ein soziales System seinen Bestand erhält. Für Parsons hängt die Systemerhaltung
grundsätzlich davon ab, daß die Handlungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder mit
den funktionalen Anforderungen der Gesellschaft und mit den jeweiligen »Spielregeln« in
den Teilsystemen zusammen passen oder wenigstens nicht in unüberbrückbarem Gegensatz zu den gesellschaftlichen Erwartungen stehen. Parsons erkennt zwei funktionale
Vorbedingungen der Systemerhaltung: zum einen müssen die »Persönlichkeitssysteme«
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der Mitglieder eines sozialen Systems so gepolt sein, dass sie auf stimmige Art und Weise motiviert sind, im Einvernehmen mit den Anforderungen des jeweiligen Rollensystems
zu handeln. Und zum anderen müssen die allgemeinen kulturellen Muster zumindest ein
Minimum an Ordnung garantieren und dürfen keine unerfüllbaren Anforderungen an die
Menschen selbst stellen, die sonst zu Konflikten führen würden. (vgl. Parsons 1951, S.
27f) Während nach Parsons sich zu der zweiten Vorbedingung nur recht wenige allgemeine Dinge sagen lassen, legt er die Bedingungen der angemessenen Motivation ausführlicher auseinander. Sie umfasst sowohl einen positiven als auch einen negativen Aspekt. Der positive Aspekt schließt die Mechanismen der Sozialisation, der negative die
der sozialen Kontrolle ein. Die Sozialisationsmechanismen sorgen dafür, dass die einzelnen Individuen, die Werte und Normen der Gesellschaft verinnerlichen und sich so zu
eigen machen, dass diese mit ihren eigenen Motivation schließlich eins werden. Auch
das lässt sich an dem Interaktionssystem zweier Personen veranschaulichen: da ego
erwarten kann, positive Reaktionen von alter zu erhalten, wenn es sich an die gemeinsamen Standards hält, lernt es sich den Standards entsprechend konform zu verhalten,
weil dieses Verhalten ihm tendenziell die meisten Vorteile bringt. Diese konformen Verhaltensweisen gegenüber den allgemeinsten sozialen Werten werden schon in der frühesten Kindheit, in der für Parsons sich ebenso wie für seinen - von ihm freilich verkürzt
gedeuteten - psychologischen Kronzeugen Sigmund Freud die ausschlaggebenden Züge
der Persönlichkeit entwickeln, eingeübt und so abgrundtief in den nicht-rationalen Schichten der motivationalen Persönlichkeitsorganisation einpflanzt, dass sie zu gleichsam eingeborenen Bedürfnisdispositionen der Persönlichkeit werden. Auch hier ist sich Parsons
sicherlich der Tatsache bewußt, dass nicht alle Menschen in vollends gleicher Weise auf
die gemeinsamen Standards reagieren, aber er will die motivationellen Faktoren, die zur
Systemerhaltung beitragen, soziologisch aufklären. Die eigensinnigen Varianten der individuellen Verhaltensweisen und Motivationen sind soziologisch irrelevant und sie zu klären, ist für ihn Aufgabe der Psychologie.
Die Mechanismen der sozialen Kontrolle verhindern im Gegenzug zur Sozialisation, dass
die Erhaltung des gesellschaftlichen Wertsystems durch abweichendes Verhalten bedroht wird. Im wesentlichen sind nach Parsons vier Mechanismen der sozialen Kontrolle
zu unterscheiden. Zum ersten können Abweichungen in kulturell festgelegter Form unter
bestimmten Umständen erlaubt sein, das heißt, sie werden wie etwa im Karneval kanalisiert geduldet. Zweitens können bestimmte Arten von Abweichungen als eine Art Sicherheitsventil vom alltäglichen Leben abgetrennt werden, das heißt, es werden etwa Inseln
des Drogenkonsums eingerichtet. Drittens können spezifische Abweichungen zwecks
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Heilung durch Ärzte, Psychiater oder Psychotherapeuten isoliert werden und viertens
können durch strafende Isolierung Abweichler von der normalen Gesellschaft in Gefängnissen und Zuchthäusern abgesondert werden.
Für Parsons findet das Handeln von Individuen im Rahmen der handlungsorientierenden
Systeme Persönlichkeitssystem, Sozialsystem und kulturellem System statt. Um die
grundlegenden möglichen Orientierungen des Handelns bezogen auf die persönlichen
Motivationen, die sozialen Normen und die kulturellen Wertmuster begrifflich zu erfassen,
entwickelt er das Begriffsraster der »Pattern Variables«. Mit diesen sich gegenseitig ausschließenden Begriffspaaren versucht er, die Besonderheiten einer konkreten Handlungspraxis aufzuschlüsseln. (Parsons 1951, S. 76f)
Pattern variables (in anderer Anordnung als bei Parsons 1951, S. 77)
Affectivity
Affective neutrality
Collectivity-
Self-orientation
orientation
Particularism
Universalism
Ascription
Achievement
Diffuseness
Specifity
Diese pattern variables sind als Kategorien gedacht, die in allen drei Systemen in unterschiedlicher Gewichtung Orientierung für die Wertbindung und Motivation bieten:
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1. Affektivität – affektive Neutralität: Ist es in einer bestimmten Interaktionssituation angemessen, ein hohes Maß an emotionaler Zuwendung zu investieren oder nicht? Von
der Familie wird etwa erwartet, dass die Eltern ihrem Kind gegenüber ein hohes Maß
an Gefühlen zeigen; von Lehrkräften in der Schule wird das so nicht erwartet.
2. Gemeinschaftsorientierung - Selbstorientierung: Wird von den Interaktionspartnern
erwartet, dass sie ihre egoistischen Interessen den Zielen der Gemeinschaft unterordnen oder das Eigeninteresse verfolgen? In der Familie wird erwartet, das der einzelne seine Interessen der familiären Gemeinschaft unterordnet, während in der
Schule das Eigeninteresse verfolgt wird.
3. Partikularismus – Universalismus: Gelten die Erwartungen in einer Interaktion für verschiedene Personen auf unterschiedliche Art und Weise oder sind sie für alle Personen gleich? Die Hilfe richtet sich in der Familie dann nur auf das eigene Kind, in der
Schule werden alle Kinder gleichermaßen gefördert – oder auch nicht.
4. Zuschreibung – Leistung: Werden die Handlungserwartungen danach ausgerichtet,
was ein Akteur nach Geburt, Geschlecht; Rasse etc. ist, oder nach dem, was er durch
seine Leistung tut? Die Familie trägt etwa auch diejenigen mit, welche nicht viel leisten, während in der Schule nur die Leistung zählt, die den Anforderungen entspricht.
5. Diffusität – Spezifität: Sind die Erwartungen in einer Interaktion so weit aufgefasst,
dass sie das gesamte Leben eines Handelnden umfassen oder beziehen sie sich nur
auf bestimmte Tätigkeitsbereiche. Die Familie hat folglich für ihr Kind in allen Lebensbereichen zu sorgen, in der Schule kommen lediglich spezifische Teilbereiche in Betracht.
Durch die je denkbare Kombination der Begriffspaare lassen sich durchaus grundlegende
Unterschiede zwischen modernen und traditionalen Gesellschaften beschreiben. So etwa
beispielhaft auf der Ebene der gesellschaftlichen Wertorientierungen:
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Universalism
Particularism
A.
Achievement
B.
Universalistic Achievement
Particularistic Achievement
Pattern
Pattern
Expectation of active achieve-
Expectation of active achieve-
ments in accord with universali-
ments relative to and/or on be-
zed standards and generalized
half of the particular relational
rules relative to other actors
context in which the actor is involved
C.
Ascription
D.
Universalistic Ascription Pat-
Particularistic Ascription Pat-
tern
tern
Expectation of orientation of ac-
Expectation of orientation of ac-
tion to an universalistic norm defi- tion to an ascribed status within
ned either as an ideal state or as
a given relational context
embodied in the status structure
of the existing society
Die hauptsächlichen sozialen Wertorientierungen nach Parsons 1951, S. 102
Diesem Vier-Felder-Raster sollen sich dann real existierende Gesellschaften zuordnen
lassen. Dem Feld A ordnet Parsons vereinfacht gesagt die us-amerikanische Gesellschaft zu, die das Muster der universalistischen Leistungsorientierung am konsequentesten umgesetzt hat, und stellt sie im Feld D der traditionellen Gesellschaft gegenüber, die
sich allein am zugeschriebenen Status einer Person orientiert. Das Feld B, dem für Parsons die chinesische Gesellschaftsordnung entspricht, und das Feld C, das Deutschland
repräsentiert, sind aus dem Klassifikationsschema begriffslogisch abgeleitete Mischformen, wobei die analytische Trennschärfe und Unabhängigkeit der Variablen nicht durchgehalten werden kann. Denn wie ist es theoretisch aufzufassen, dass die universalistische Orientierung, wenn sie mit Zuschreibung kombiniert wird, ihren Universalismus verändert? Kann er je nach Kombinationsmöglichkeit anders universalistisch sein? Parsons
kann zwar diese Schwierigkeit theoretisch nicht lösen, verweist aber auf das Spannungsverhältnis von Universalismus und Zuschreibungsprozessen, wenn Gesellschaften auch
auf der Basis von Leistungsorientierung dazu tendieren, eine Statushierarchie auszuarbeiten, bei der die Betonung eher darauf liegt, was ein Akteur ist, als darauf, was er tut.
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(Parsons 1951, 192) Wenn wir das Feld C unter diesem Aspekt betrachten, dann spricht
empirisch doch einiges für diese Zuordnung. Während in den USA die Leistung nur für
den Bereich gilt, wo sie erbracht wurde, wird in Deutschland eher von diesem einen Leistungsbereich auf alle anderen Lebensbereiche geschlossen. Pointiert gesagt kann sich
die USA eine rein leistungsorientierte Gesamtschule leisten, während Deutschland auf
der gleichen Basis der Leistungsorientierung sich „nur“ ein gegliedertes Schulsystem leisten kann, um den sozialen Status des Bildungsbürgertums und seiner Sprösslinge zu
bewahren. Also nicht ein Schüler erbringt in diesem oder jenem Bereich die Leistung eines Hauptschülers, sondern ihm wird die Rolle eines „typischen“ Hauptschülers zugeschrieben, der dann zwangsläufig die ihm entsprechende Schulform zu besuchen hat.
Die anhand der pattern variables durchgeführten Gesellschaftsdiagnosen können also
als empirisch triftig angesehen werden, haben aber ihre theoretischen Mucken, da die
Begriffskombinationen nicht immer schlüssig sind.
Sozialisation hat nach Parsons die Aufgabe, den Heranwachsenden einer Gesellschaft
die Fähigkeit zum Handeln in Rollen beizubringen und dafür zu sorgen, dass sie die
Wertorientierungen einer Gesellschaft im Interesse der Bestandserhaltung des Gesamtsystems und seiner Teilsysteme als Orientierungsmuster des Handelns übernehmen.
Die Heranwachsenden lernen dabei unterschiedliche Arten von Rollenspielen auseinander zu halten, ihr Handeln auf die jeweils geltenden Spielregeln einzurichten und sich mit
den an die Rollen geknüpften Erwartungen zu identifizieren. Diese Sozialisationsaufgabe
kann nach Parsons in modernen, sich in spezifische Systeme differenzierenden Gesellschaften, in denen universalistisches, neutrales und an Leistung orientiertes Rollenverhalten erwartet wird, von der »Sozialisationsinstanz« Familie so nicht geleistet werden,
da deren eigene Spielregeln partikular, diffus, affektiv und an Zuschreibung ausgerichtet
sind. Da Schulen für Parsons eine der Familie entgegengesetzte Funktion für die Sozialisation übernehmen, entwickeln sie auch andere Rollenerwartungen als die Familie. Das
ist das Thema des 1959 erschienenen Aufsatzes »The School Class as a Social System:
Some of its Functions in American Society«, in dem Parsons mit dem Instrument der pattern variables die gesellschaftlichen Funktionen der Schule am Beispiel des amerikanischen Schulsystems der 1950er Jahre im Verhältnis zur Familie seine schultheoretischen
Überlegungen darlegt.
Das Grundkonzept ist dabei sehr einfach, aber konsequent aus den Begriffen abgeleitet:
die elementare Struktur der schulischen Handlungserwartungen folgt nach Parsons dem
durch die pattern variables vorgegebenen Schema der universalistischen, auf Leistung
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bezogenen, affektiv neutralen und thematisch spezifischen Handlungsorientierung. Dabei
werden vor allem zwei Dimensionen wichtig: zum einen die Dimension der Leistungsorientierung, die durch die Gleichheit der Ausgangssituation und die Gleichheit der Aufgabenstellung gekennzeichnet ist, und zum anderen die Dimension des nach Fächern differenzierten Unterrichts, der mit wechselnden und austauschbaren Fachlehrern einher
geht. Die Gleichheit der Ausgangssituation wird gewährleistet durch das schulische Prinzip der altersgleich zusammengesetzten Klassen, in denen Schülerinnen und Schüler
aus einigermaßen homogenen sozialen Milieus mit gleichen unterrichtlichen Aufgabenstellungen konfrontiert werden. Parsons geht es dabei nicht um die psychologische Fragestellung, ob die Kinder ihrer Entwicklung gemäß auf dem gleichen Stand sind, sondern
um die soziologische Fragestellung nach ihrem sozialen Status in der Klasse. Während
in der Familie der Status des Kindes zwangsläufig durch die Altersdifferenz zu den Eltern
und zu seinen Geschwistern festgelegt ist, das Kind also eine soziale Position innehat,
aus der es kein Entkommen gibt (wir bleiben ein Leben lang die Töchter und Söhne unserer Eltern und Bruder oder Schwester unserer Geschwister), wird diese eingeborene
Ungleichheit durch die Schule beseitigt. Mit dem ersten Schultag wird in der Klasse eine
Situation hergestellt, die einen hierarchischen sozialen Statusunterschied verhindert. Es
gibt daher keine formelle Basis der Statusdifferenzierung in der Schule. Die noch nicht
differenzierten Schülerinnen und Schüler werden zudem mit für alle gleichen Aufgabenstellungen konfrontiert, so dass der Unterricht für alle gleich stattfindet. Es wird also eine
Reihe gemeinsamer Aufgaben gestellt, die im Vergleich zu anderen Aufgabenbereichen
„verblüffend undifferenziert“ sind. Genau dort kann dann die schulische Differenzierung
ansetzen. Alle sind dem gleichen Maßstab ausgesetzt, ein an der individuellen Person
des Schülers ausgerichteter Maßstab ist ausgeschlossen, so dass es keinen an irgendwelchen zugeschriebenen Eigenschaften des Schülers orientierten Leistungsmaßstab
geben kann, sondern nur einen der dem universalistischen achievement Schema folgt.
Die Grundschule ist unter dem Aspekt ihrer Sozialisationsfunktion eine Instanz, die die
Schulklasse im wesentlichen nach einem einzigen Leistungskontinuum differenziert, dessen Inhalt relative Auszeichnung bei der Erfüllung der Erwartungen ist, die der Lehrer als
Vertreter der Erwachsenen-Gesellschaft an die Schüler stellt. Was Parsons vorschwebt
ist ein Wettrennen, bei dem alle von der gleichen Startlinie aus loslaufen und die Unterschiede sich je nach Leistungsfähigkeit im Lauf des Rennens ergeben – und zwar so,
dass jede Leistungssituation so wie jede andere Wettkampf situation wieder von vorne
beginnt. Jeder, der eine schlechte Klassenarbeit schreibt, hat prinzipiell die Gelegenheit
beim nächsten Mal eine gute zu schreiben, und wer eine gute Note ergattert hat, kann
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nicht sicher sein, dass er beim nächsten Mal automatisch wieder vorne liegt. Niemand
kann sich auf seinen Lorbeeren ausruhen, der soziale Status in der Klasse wird immer
neu verteilt, ohne dass es gelingt, die punktuelle Leistung in andauernde Statusvorteile
umzumünzen. Damit ist die Leistungssituation in der Schulklasse auf Dauer gestellt. Eine
Vorstellung von schulischem Wettbewerb, die in der ersten deutschen Übersetzung des
Schulklassenaufsatzes noch nicht gedacht werden kann, da noch die Vorstellung vorherrscht, dass Leistung sich unmittelbar in sozialem Status auszahlen soll und die deswegen in ihr vollkommenes - askriptives - Gegenteil verkehrt wird, wenn aus dem „race“,
dem Wettrennen bei Parsons, absurderweise die „Rasse“ wird. „Die Schulsituation
gleicht in dieser Hinsicht weit mehr der Rasse (!) als die meisten anderen Situationen, bei
denen im Rahmen bestimmter Rollen bestimmte Leistungen vollbracht werden müssen.“
Da Parsons Untersuchungsgegenstand in seinem Beitrag vor allem die Primarstufe ist
und dort Leistungserwartungen noch nicht so differenziert sind wie in der Sekundarstufe,
legt er sein Augenmerk weniger auf den schulischen Fachunterricht, aber er scheint von
einem fortschreitenden Differenzierungsprozess auszugehen, der dem Fachunterricht
durch die spezifisch fachliche Leistungserbringung die Aufgabe zuweist, dass die Schüler
eine spezifische Handlungsorientierung erwerben. Die Vielfalt der Schulfächer im stündlichen Wechsel betont zudem die Fachlichkeit der Fächer, was eine spezifische gegenüber einer diffusen Handlungsorientierung in der Schule institutionell verankert. Durch die
Fachlehrer spätestens in der Sekundarstufe, die die Rolle eines Experten für ein spezifisches Fach innehaben und daher als Rollenträger austauschbar sind, stellt sich auch die
Lehrer-Schüler-Beziehung als neutral affektiv dar. Die Kombination der Variablenpaare
ergibt dann gewissermaßen eine Gegenüberstellung von Schule einerseits und Familie
andererseits. Während also der Eintritt des Kindes in das System der formalen Erziehung
sein erster wichtiger Schritt über die primären Bindungen der Herkunftsfamilie hinaus ist,
ist die Schule die erste Sozialisierungsinstanz in der Erfahrung des Kindes, die eine Statusdifferenzierung auf nichtbiologischer Basis institutionalisiert. Darüber hinaus handelt
es sich dabei nicht um einen askriptiven, sondern um einen erworbenen Status, der
durch unterschiedliche Erfüllung der vom Lehrer gestellten Aufgaben »verdient« wird.
Der Status in der Familie kann also nicht erworben werden, der Status in der Schule dagegen muss erworben werden. Für dieses Modell spricht zum einen die lebensgeschichtliche Stellung der Schüler, die gleichzeitig Kinder ihrer Eltern und Schulkinder sind, zum
anderen die geringe Fachdifferenzierung und das fehlende Fachlehrerprinzip in der
Grundschule.
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Eine bildliche Darstellung dieses Modells kann dann so aussehen:
Familie
Schule
Gesellschaft
Particularism
Universalism
Ascription
Achievement
Diffuseness
Affectivity
Specifity
Affective neutrality
Aber Parsons, der diese Möglichkeit, Schule als behutsamen Übergang von Familie zu
Gesellschaft zu sehen, diskutiert, merkt zugleich an, dass der Lehrer nicht im Sinn eines
vorgegebenen askriptiven Status mit seinen Schülern verwandt ist, sondern eine Berufsrolle erfüllt. Darüber hinaus ist seine Verantwortung weit universalistischer als die der
Eltern, was durch die Größe der Klasse erzwungen wird. Außerdem ist seine Verantwortung mehr daran orientiert, sich um die Leistung als um die emotionalen »Bedürfnisse«
der Kinder zu kümmern. Er ist nicht berechtigt, den Unterschied zwischen guten und
schlechten Schülern einfach deshalb zu unterdrücken, weil es zu schwer für Klein Hänschen wäre, nicht zur besseren Gruppe zu gehören. Gleichzeitig ist jedoch wichtig, daß
die Lehrerin für ihre Schüler keine Mutter ist, sondern auf universalistischen Normen und
unterschiedlicher Belohnung von Leistungen bestehen muß. Vor allem muß sie die Entwicklung und Legitimierung einer Differenzierung der Schulklasse nach der Leistungsachse vermitteln. Die Kinder treffen also in der Schule auf eine Person, die spezifisch für
diesen Beruf ausgebildet wurde, die universalistisch und leistungsorientiert vorgeht und
die Schüler neutral beurteilt. Und wenn wir den Satz, der in der deutschen Übersetzung
so viele Schwierigkeiten machte, noch hinzunehmen „The school situation is far more like
a race in this respect than most role-performance situations“, dann können wir diesen
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Satz auch dahingehend deuten, dass schulische Situationen viel mehr einer leistungsorientierten Wettbewerbssituation gleichen als viele Situationen, mit denen wir es im Erwachsenenleben zu tun haben. Denn die Art und Weise, in der die Schüler permanenten
Leistungstests ausgesetzt sind, sind auf anderen gesellschaftlichen Ebenen kaum mehr
so in Kraft als in der Schule. Wenn in der Berufstätigkeit jede Handlung so kontrolliert
würde wie in der Schule, dann wäre wohl berufliches Handeln kaum mehr möglich.
So gesehen, ist die Schule nicht der allmähliche und abgefederte Übergang von der
Schule in das Erwachsenenleben der Gesellschaft, sondern die Schule setzt die modernen gesellschaftlichen Normen Universalismus, Leistungsorientierung, Spezifität und
Neutralität in einer Weise um, die gegenüber der erwachsenen Berufsrolle sogar noch
um einiges gesteigert scheint.
Universalism
Achievement
Specifity
Affective neutrality
Schule
Gesellschaft
Familie
Particularism
Ascription
Diffuseness
Affectivity
Pointiert gesagt erzeugt Schule aus anfänglicher Gleichheit Differenz, indem sie die ungleichen Kinder zunächst gleich macht, um dann auf dem Boden dieser Gleichheit durch
andauernde Leistungsüberprüfung Unterschiede herzustellen – nun aber entsprechend
den schulischen und nicht mehr entlang der familialen Muster.
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Mit diesem Elementarmodell von Schule ist selbstverständlich auch für Parsons erst nur
eine Skizze erstellt, die ihre analytische Kraft erst in der empirischen Überprüfung zeigen
muss. Vieles was wir über schulische Leistungsbeurteilung und Schulerfolg wissen, widerspricht dem von Parsons angenommenen unpersönlich-universalistischen Leistungsmuster. Es ist empirisch zweifelsfrei erwiesen, dass Lehrer Leistung nicht objektiv beurteilen, sondern mit den Parsonschen Begriffen gesagt systematisch askriptivpartikularistische Tendenzen in ihrer Leistungsbeurteilung verfolgen. Die Schüler werden
gerade nicht als Gleiche angesprochen. Die Leistungsbewertung trägt daher ihren Namen zu Unrecht.. Und selbst wenn wir den schulischen Leistungsstandard als gegeben
annehmen, lässt sich mit Bestimmtheit sagen, dass Schüler sicher nicht mit gleicher
Ausstattung in die Schule kommen. Die Selektion, die der schulischen Leistungssituation
zugeschrieben wird, erfolgt ganz offensichtlich schon sehr viel früher außerhalb der
Schule. Gegenüber dem vermeintlichen Leistungsuniversalismus betreten die Schüler
schon als Ungleiche das Klassenzimmer. Und allerspätestens seit den PISA Untersuchungen kann jeder, der es wissen will, wissen, dass der Schulerfolg hauptsächlich von
der sozialen Herkunft bestimmt wird und nicht von der Leistungsfähigkeit.. Auch wenn
also der Parsonsche Optimismus durch die Empirie nicht bestätigt wird, so ist doch seine
stringente begriffliche Arbeit zu würdigen, aber eben nicht mehr als Realbeschreibung
der gegebenen Schule, sondern als idealtypische Rekonstruktion dessen, wie Schule in
der modernen bürgerlichen Gesellschaft gedacht werden kann.
Pierre Bourdieu allerdings hält von einem solchen gesellschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Blick von oben herab auf die Schule, wie wir ihn bei Parsons kennen
gelernt haben, wenig. Der Sozialwissenschaftler Bourdieuscher Prägung muss, wenn er
Wissenschaft von der Gesellschaft betreiben möchte, sich in die Niederungen des Alltags
dieser Gesellschaft begeben. Bourdieu analysiert also auf einer ähnlichen Grundlage wie
Parsons mit den Mitteln empirischer Forschung die (Schul-)wirklichkeit, um herauszufinden, ob die Leistungsorientierung der Schule und ihr Versprechen der Chancengleichheit
einer sachhaltigen Prüfung standhält. Das eindrücklichste Resultat seiner Untersuchungen hat Bourdieu 1979 in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ präsentiert. Mit einem
außergewöhnlichen Reichtum empirischer Daten weist er die »feinen Unterschiede«
nach, die im alltäglichen Leben die Grenzen zwischen den sozialen Gruppen abstecken,
und legt die Regeln bloß, die dazu beitragen, den sozialen Raum zu reproduzieren oder
zu verändern. Das Handeln in diesem sozialen Raum - so die zentrale These Bourdieus 12
ist von der jeweiligen Position der Handelnden in diesem Raum bestimmt. Was aus ihrem
Blickwinkel das Resultat ihrer freien individuellen Wahl ist, wird aus der soziologischen
Beobachterperspektive Bourdieus zum Ausdruck eines sozialen »Schicksals», das nur in
engen Grenzen veränderlich erscheint, da für Bourdieu diese vermeintlich freien Wahlen
weitgehend das Ergebnis einer nicht gar so freien schichtenspezifischen Sozialisation
sind, durch die schon von Kindesbeinen an der jeweilige Stil der sozialen Gruppe erworben wird, in die ein Kind hinein geboren wird und in der es aufwächst. Es verhält sich
dann eben so und nicht anders, wie es in seiner sozialen Umgebung üblich ist. Es übernimmt die Werte und Normen, die das Ergebnis sozialer Selbstverständlichkeiten der
jeweiligen Gruppe sind, ohne sich kaum je darüber Gedanken machen zu müssen, woher
späterhin seine Vorlieben und sein Geschmack kommen, wie die Wohnung eingerichtet
werden und welcher Kleidungsstil bevorzugt oder eben auch welcher Bildungsgang gewählt wird. Selbst bis in die letzten Fasern des eigenen Körpers, die Art der Körperhaltung und der Bewegung, sind für Bourdieu die Menschen weitgehend durch ihre Stellung
im sozialen Raum bestimmt.
Bourdieu charakterisiert das soziale Handeln als ein Distinktionsgeschehen, in dem jede
soziale Gruppe versucht, ihre Stellung im »sozialen Raum« zu verbessern. Die drei großen gesellschaftlichen Gruppen der Gesellschaft und ihre jeweiligen Lebensstile sind
freilich verschieden: Die obere Schicht ist durch «Distinktion« gekennzeichnet, also durch
ihre Intention, die soziale Distanz zu den Lebensstilen der anderen sozialen Gruppen
aufrecht zu erhalten. Für die Mittelschicht ist dagegen die «Prätention« typisch, sie wollen sich also angestrengt der oberen Schicht kulturell anpassen. Die untere Schicht ist
demgegenüber vor allem durch die «Notwendigkeit« bestimmt, sie müssen den schieren
Kampf um ihre Existenz führen, was sich in ihrem gesamten Lebensstil niederschlägt.
Bourdieu wirft mit seinen empirischen Forschungen einen bösen soziologischen Blick auf
den Einfluß der sozialen Umwelt auf das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen.
Dadurch bekommen seine strukturellen Gesellschaftsanalysen im Vergleich zu Parsons
eine gesellschaftskritische Spitze: Die unterschiedlichen Wahrnehmungs-, Denk- und
Verhaltensformen, welche die Handelnden abhängig von ihrer Stellung im sozialen Raum
erkennen lassen, werden in der Gesellschaft gerade nicht als gleichwertig anerkannt,
sondern finden ihr Maß auch und besonders in der Schule an der schmalen oberen
Schicht. Das bedeutet auch, dass die Mehrheit der Bevölkerung kaum die Chance hat,
den «guten« und «richtigen« Geschmack zu erwerben, der im Wettbewerb um soziale
Anerkennung und Vorrechte die höchste Rendite abwirft, denn das, was als «guter Geschmack« gilt, wird stets neu von denen definiert, die zur «tonangebenden« Gruppe ge13
hören. Die Macht, den Ton anzugeben, ist so Ausdruck der Herrschaftsverhältnisse in
einer Gesellschaft, ein Rüstzeug der Abgrenzung der höheren Klassen von den niederen,
um ihre dominierende Stellung im sozialen Raum zu rechtfertigen.
Die jeweilige Position im sozialen Raum hängt nach Bourdieu vom »Kapitalvolumen«
einer Person ab, das sich nicht nur aus ökonomischem Kapital zusammensetzt, sondern
aus verschiedenen Kapitalsorten, die Bourdieu einführt, um die Komplexität des gesellschaftlichen Unterscheidungskampfes differenzierter untersuchen zu können. Obwohl
das ökonomische Kapital, mithin das, was man verdient, ererbt und an Geldwerten erworben hat, weiterhin die soziale Lage am durchgreifendsten bestimmt, so spielt das kulturelle und soziale Kapital eine wesentliche Rolle bei der sozialen Positionierung. Kulturelles Kapital bedeutet dann etwa die kulturelle Disposition für und die Umgangsweisen
mit Kultur, die man innerhalb seiner Familie aufgesaugt hat, die Kulturgüter wie Bücher
und Bilder, mit denen man umgeben ist, das Theater, die Filme und die Musik, die man
kennt, und nicht zuletzt die Bildungstitel, die man im Bildungssystem eintauscht. Mit sozialem Kapital ist das soziale Beziehungsgeflecht gemeint, auf das im Kampf um bessere
soziale Positionen zurückgegriffen werden kann. In gewissem Maße sind die Kapitalformen so austauschbar, dass wenig ökonomisches Kapital nicht zwangsläufig heißen
muss, eine niedere Position im sozialen Raum zu haben. Genauso wenig wie viel Geld
automatisch bedeuten muss, zu den chosen few zu gehören. Denn um in einer bestimmten Gruppe mitspielen zu können, muß man deren sprachlichen Codes und deren Spielregeln meistern. Sprache wie (Vor-)Bildung, die auch nach den PISA Studien die wichtigsten Bestimmungsgrößen für Schulerfolg sind, werden dabei gewissermaßen in der
sozialen Sphäre, in der man lebt, so eingeatmet, dass sie wie mühelos und ohne Anstrengung erlernt erscheinen. Wenn wir an dieser Stelle noch einmal das Bild vom Wettrennen anführen, das Parsons zur Veranschaulichung seiner Sichtweise auf Schule vorstellte, dann läßt sich Bourdieus Konzeption des sozialen Raums mit einem Wettlauf vergleichen, bei dem allerdings die Teilnehmer von ganz unterschiedlichen Startpositionen
aus ins Rennen gehen, manche schon vor dem Startschuß loslaufen, andere den Startblock nicht finden und daher mit höchst unterschiedlichen Gewinnchancen ihr »persönliches« Kapital einbringen können, weil der Ausgang des Rennens schon im Vorhinein
festgelegt scheint. Das Handeln der Teilnehmer an diesem Wettrennen bleibt dabei zwar
immer ein erfolgsorientiertes Handeln, aber der Erfolg oder Mißerfolg wird immer schon
selbst vorweg genommen, die Wirklichkeit für den Wunsch genommen. Es wird das gewünscht, was machbar erscheint, alles andere „ist nichts für uns“. Dabei können aber
weder die Strategien beliebig gewählt werden, noch brauchen die Regeln klar sein, nach
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denen Erfolg oder Mißerfolg verteilt werden. Der subjektive Sinn, den die einzelnen Subjekte ihren Handlungen eben wie selbstverständlich geben, ist mit deren objektivem, »sozialem Sinn» meistens nicht gleich zu setzen.
Für Bourdieu vermittelt der Habitus, die eingefleischte Gewöhnung, zwischen der Stellung im sozialen Raum und dem für diese Stellung typischen Lebensstil, die von einer
Person in dieser Stellung erwartet werden. Er bestimmt auch dann die Praxis, wenn sich
die Handelnden dieser Effekte des Habitus für ihre soziale Wahrnehmung und ihr konkretes Handeln nicht oder nur selten bewußt sind. Wer den Habitus einer Person kennt, der
weiß, was diese Person als möglich und unmöglich zu tun wahrnimmt. Bestimmte Weisen, sich zu bewegen, zu denken, zu handeln, Geschmack zu haben, werden einfach als
unmöglich, unangemessen oder als unschicklich angesehen. Der Habitus ist daher nicht
eine bloße Ansammlung von Kompetenzen, sondern er bezeichnet eine gesamte Lebensform, die das ganze Leben über erhalten, entwickelt und verfeinert wird. Wie wir uns
kleiden, was wir lesen, wie wir uns einrichten, was wir essen, welchen Sport wir treiben,
wie wir uns entspannen - all das stiftet einen geschlossenen Lebenszusammenhang,
dessen Fasson die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe charakterisiert.
Der Habitus vermittelt also zwischen subjektiver Sinnauslegung und objektivem Sinngehalt des sozialen Daseins. Er wirkt gleichsam als Grammatik der Existenz, die verwendet
wird, ohne dass sie von Fall zu Fall immer bewußt sein muss. Wer diese grammatischen
Regeln des eigenen sozialen Milieus beherrscht, kann sich darin bewegen, ohne anzuecken, wer in ein fremdes Milieu wechselt, der wirkt dagegen anstössig, weil er sich nicht
angemessen auszudrücken weiß. Im Prozeß der Habitualisierung nehmen wir so die jeweiligen milieuspezifischen Zwänge und Freiheiten ebenso an wie die wirkmächtigen Unterschiede zu anderen gesellschaftlichen Gruppen.
Vergleicht man die Ausführungen Bourdieus zum Habitus mit den Überlegungen zum
Rollenhandeln bei Parsons zeigt sich, dass in ihrer beider Systematik kaum Platz für ein
selbstbestimmtes Subjekt bleibt. Bourdieus Habitustheorie wirkt dabei stellenweise noch
rigider, denn der Habitus determiniert das Subjekt durch seine Stellung im sozialen Raum
nicht nur innerlich wie bei Parsons, sondern auch äußerlich bis in die feinsten Verästelungen seines Geschmacks hinein. Das Subjekt ist lediglich das Ergebnis seiner Sozialisation, bloßes Spiegelbild einer bestimmten sozialen Situation. Die sozialisationstheoretische Einsicht in die soziale Determination des Handelns schließt für Bourdieu das wissenschaftliche und politisch-praktische Engagement für die individuelle und gesellschaftliche Freiheit freilich nicht aus. Denn auch wenn das Spiel, in dem man drinsteckt, mit
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fixen Regeln gespielt wird, die keinen Platz für Freiheit bieten, lassen sich diese Regeln
erkennen und dann auch gegen sie selbst wenden. Denn wenn klar ist, dass eine der
Regeln der Schule lautet, alle Schülerinnen und Schüler gleich zu behandeln, lässt sich
mit den Forschungsergebnissen Bourdieus zeigen, dass diese formale Gleichbehandlung
dazu dient, die de facto Ungleichheit hinsichtlich des Unterrichts und der in ihm verlangten Kultur zu verschleiern und die kulturelle Ungleichheit der Kinder der verschiedenen
Milieus zu ignorieren. Damit wird die dem Leistungsgedanken innewohnende Mobilität
auf einen sozialen Status festgezurrt. Empirische und zugleich kritische Forschung ermöglicht es dann, diese Widersprüche aufzuklären und damit die Mittel zu einer befreienden Bewußtwerdung an die Hand zu geben.
Die Analyse des durch das Bildungssystem vermittelten »institutionalisierten« kulturellen
Kapitals bildet das Kernstück der Bildungssoziologie Bourdieus. Diese Bildungssoziologie, deren Grundzüge und desillusionierenden Ergebnisse er bereits 1971 in seinem
Buch „Die Illusion der Chancengleichheit“ zusammen mit Jean-Claude Passeron veröffentlicht hat, widerlegt empirisch alle Interpretationen des Bildungssystems als einer auf
individuelle Begabung und Leistung basierenden Instanz zur Verteilung von Abschlüssen
und damit von Sozialchancen. Aus Bourdieus Sicht dient das Schulsystem in seiner gegenwärtigen Struktur vor allem der Verschleierung seiner eigentlichen Funktion: nämlich
einerseits der Begünstigung derjenigen, die durch ihre soziale Herkunft bereits über ein
gewinnversprechendes kulturelles Kapital verfügen, das ihnen sozial vererbt wurde und
das sie keineswegs durch individuelle Begabung und Anstrengung erworben haben, und
der Benachteiligung derjenigen, die diese soziale Mitgift wegen ihrer sozial niederen Stellung nicht mit der Muttermilch aufsaugen konnten und in der Schule aber lernen, dass ihr
geringer schulischer Erfolg ihrer mangelnden Begabung geschuldet ist und sich so in ihr
soziales Los schicken lernen. Solange „Schule“ – und letztlich sind das alle, die sich mit
Schule beschäftigen – es unterlässt, allen das nahezubringen, was einige allein ihrem
familialen Milieu verdanken, akzeptiert sie die Ungleichheit, die allein sie verringern könnte. Denn nur eine Institution, deren Aufgabe es im Lehren und Lernen ist, der größten
Zahl zu der Bildung zu verhelfen, die ein unveräußerliches Menschenrecht ist, könnte
zumindest ansatzweise die Benachteiligungen derjenigen kompensieren, die in ihrem
familialen Milieu keine Anregung zur kulturellen Praxis finden konnten. Erst dann ließe
sich überhaupt von einer leistungsorientierten Schule sprechen. Das es, wenn auch mit
großen Anlaufschwierigkeiten, möglich scheint, zeigen die gegenwärtigen Bildungserfolge der skandinavischen Länder.
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Beide soziologische Klassiker sind gleichermaßen realistisch: Parsons darin, dass er die
schulischen Funktionen der Sozialisation und Leistungsauslese minutiös beschreibt, und
Bourdieu darin, dass er das reale Scheitern dieser Funktionen offenlegt, indem er zeigt,
dass nicht Leistung gemessen wird, sondern ererbtes soziales Kapital. Zugleich fallen
beide in ihren theoretischen Anstrengungen hinter Kant zurück. Parsons dadurch, dass
er formale Freiheit und formale Gleichheit schon für die ganze verwirklichte Freiheit und
die ganze verwirklichte Gleichheit nimmt, und Bourdieu dadurch, dass in seiner soziologischen Analyse Freiheit keinen systematischen Platz hat, sondern der individuellen Entscheidung anheim gegeben ist, wobei nicht mehr klar wird, warum ich mich für Freiheit
noch engagieren soll, wenn mein Schicksal sowieso festgelegt ist.
Sowohl Parsons als auch Bourdieu gehen - allerdings diesmal mit Kant - davon aus, dass
die moderne Gesellschaft und ihre Schule durch das Leistungsprinzip gekennzeichnet
sind. Während aber Parsons die Durchsetzung des Leistungsprinzips propagiert und diesen Tatbestand vollkommen positiv sieht, kann Bourdieu durch akribische Detailanalysen
zeigen, dass sich das Leistungsprinzip bis heute noch nicht durchgesetzt hat, sondern
Schule weitgehend dazu dient, ererbtes kulturelles Kapital in erworbene Leistung zu
transformieren und damit wesentlich zur Bestandswahrung der Gesellschaftsordnung
beiträgt. Schule verschleiert diesen Zusammenhang, indem sie Ungleiches als gleich
behandelt. Gleichwohl kann heute keine Lehrerin und kein Lehrer sagen, du, Tochter eines Journalisten und du, Sohn einer Ärztin erhaltet wegen eurer sozialen Herkunft eine
gute Note. Denn selbst wenn sie ihre Noten aus genau diesen Gründen bewußt oder unbewußt machen – und es gibt genug empirische Untersuchungen, die dieses Ergebnis
bestätigen -, müssen sie es anders begründen. Was zumindest zeigt, dass sich die Leistungsorientierung in den Köpfen, aber noch nicht im Handeln durchgesetzt hat. Die Einübung des bösen Blicks, die Bourdieu vorführt, dringt auf den ideologischen Kern der
Schule durch, ohne allerdings diesen Blick noch ablenken zu können. Und erst diese Ablenkung könnte den Blick für Freiheitsspielräume öffnen. Soziologisch gesehen, ist die
Funktion der Schule also vollkommen transparent, wir können bloß das Vorzeichen ändern, ob wir die Funktionen der Schule also positiv oder negativ sehen. Allein das ergibt
schon eine gewisse Freiheit. Aber selbst bei vollkommen durchgesetztem Leistungsprinzip bleibt fragwürdig, ob die Kälte des Leistungsprinzips selbst das letzte Wort bleiben
soll. Dieser Kälte kann nur ein ebenso kalter Blick standhalten, der alles Grau in Grau
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sieht, aber aus der theoretischen Übersicht entsteht auch die Tendenz, die bunten Farben der Schule zu übersehen ...
Aber das ist Thema einer anderen Veranstaltung.
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