„Schwierige“ Jugendliche? - Alte und neue Herausforderungen in

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Dr. Jürgen Strohmaier
Fachkliniken Wangen – Psychosomatik-Tag am 29.11.2014
„Schwierige“ Jugendliche?
Alte und neue Herausforderungen
in der Jugendhilfe
29.11.2014
„Schwierige“ Jugendliche - Alte und neue Herausforderungen in der Jugendhilfe
Psychosomatik-Tag - Case- und Caremanagement - Fachkliniken Wangen
Übersicht
Herleitung
Zugänge zum Thema - Indikatoren und Dispositionen
Konkretisierung des Themas
Versuch einer Vermessung
Fazit und Ideen
Fachliche Herausforderungen – Leistungsspektrum – Handlungsfelder
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Herleitung
Zum Begriff des „Schwierigen“
• Was heißt schwierig? - Etymologische Herleitung:
o Swiric, sweric = „voll Schwären, eitrig“,
o Seit dem 16 Jh. übertragene Bedeutung für „aufrührerisch, aufsässig“,
o Seit 18. Jh. auch „schwer zu behandeln“.
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Herleitung
Zugänge zum Thema – Literaturbeispiel
•
Don De Lillio, nordamerikanischer Autor, Jg. 1936, Zitat aus seinem
Roman „Unterwelt“:
„Cotter meint einen Weg zum rechten Drehkreuz erspäht zu haben.
Er wirft alles ab, was er für diesen Sprung nicht braucht...
Schüttet tausend Informationswellen ab...
Und scheint seine Spillerigkeit zu verlieren...
Dann springt er ab und ist in der Luft...
Er kommt schwerelos auf...
Erregend, wenn etwas so offen daliegt...
Dann verlierst du ihn in der Menge.“
(:12 ff)
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Herleitung
Zugänge zum Thema – Einrichtungsanfrage beim LJA
•
Eine Anfrage beim KVJS-Landesjugendamt:
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„Er zeigt starke Defizite im Bereich der Aufmerksamkeit und Konzentration.
Sein oppositionelles Verhalten äußert sich v.a. in Situationen, in denen er sich nicht
auf Inhalte einlassen möchte oder er sich unterfordert fühlt.
Diagnose KJP: Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, Bindungsstörung mit
Enthemmung, Enuresis nocturna…
Er provoziert in seiner derzeitigen Einrichtung „bewusst“ Betreuer und andere Jgdl. –
es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen – auch außerhalb der Einrichtung.
Einsicht zeigt er kaum.
Er braucht klare Strukturen und Time-out-Situationen.
Wenn er nicht gereizt ist, ist seine Grundstimmung positiv…
Vater alkoholkrank, Mutter psychisch krank.
War drei Jahre in Pflegefamilie.“
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Herleitung
Zugänge zum Thema – Einrichtungsanfrage beim LJA
• Eine andere Anfrage beim KVJS-Landesjugendamt:
o „Sie ist 15 Jahre alt, Vormundschaft beim Jugendamt und derzeit geschlossen
untergebracht.
o Sie zeigt stark selbstgefährdendes Verhalten (haltlos, sehr sexualisiert,
Bindungsstörung aufgrund frühkindlicher Vernachlässigung.
o Flüchtet immer wieder zu Freund.
o Dessen Familie würde Mädchen aufnehmen, ist aber bei Polizei und Jugendamt
bekannt…
o Langjährig in einer heilpäd. Einrichtung gewesen, dort aber vermehrt abgängig.
o Sie brauche familiären Anschluss…
o Für Tipps wäre ich sehr dankbar…“
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Herleitung
Zugänge zum Thema – Phänomenolog. Ansatz
•
Ludwig Binswanger (1881-1966) mit Bezug auf Martin Heidegger:
„Wir sprechen daher ganz allgemein von einer daseinsanalytischen Ordnung.
Sie ist rein phänomenologischer Art.
Eine solche Ordnung wäre aber nicht möglich, wenn das Dasein als solches nicht
eine bestimmte Seinsverfassung aufwiese.“
Binswanger, Schizophrenie, Neske-Verlag 1957,
Analyse der Daseinsformen Verstiegenheit, Verschrobenheit und Manieriertheit
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Herleitung
Zugänge zum Thema – Phänomenolog. Ansatz
•
Stichworte:
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Aufenthalt bei den „Dingen“ und „Sachen“ bzw. die Unmöglichkeit eines ungestörten
Aufenthaltes bei den Sachen.
Unangemessenheit an die Lebenssituation.
„Aufgeriebenheit“ des Daseins.
Fragen der Phänomenologie: Was zeigt sich bzw. was lässt sich sehen?
Situation – Text – Kontext – Hier:
Schwierige erleben Jugendhilfe auch als System, das sie nicht aushält.
Grenzüberschreitendes Verhalten als notwendige Überlebensstrategie.
Kein Vertrauen in Erwachsene.
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Herleitung
Risikopunkte aus dem 14. Ki- und Jugendbericht
o Zusammenhang zwischen Armut, sozialen Verhältnissen, seelischer und körperlicher
Gesundheit und dem Risikohandeln.
o Entwicklungschancen hängen in hohem Maße davon ab, in welche Risiken sie
hineingeboren werden.
o Armut: Chronifizierte Armut, generationenübergreifende Hartz IV-Karierren,
o Sozialstruktur: z.B. wachsende regionale Disparitäten und städtische
Segregationsprozesse.
o Soziale Verhältnisse: Trennungen, Scheidungen, „Patchwork“, Bildung (formelle und
informelle), Wohnsituation, Gewalterfahrungen, Stress, Traumata, fehlender
Selbstwert, Medienmissbrauch.
o Gesundheit: höhere psychische und gesundh. Schäden von Geburt an durch starken
Nikotin und Alkoholmissbrauch, unzureichende Ernährung, Übergewicht...
o Ist also: Zusammenhang zwischen sozialstrukturellen Aspekten, sozialer Teilhabe,
Persönlichkeitsentwicklung, kognitiver Leistung und seelischem Wohlbefinden.
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Konkretisierung
Versuch einer Vermessung I
o Familie nach wie vor mit Abstand das bedeutendste „Soziotop“ für
Kinder/Jugendliche – Eltern als „Gatekeeper“.
o Friktionen (Reibungen) bei Arbeitsabläufen zwischen öffentl. und freien Trägern,
abnehmende Vollzeitstellen, wechselndes Personal, verschiedene „Sprachen“
der Profis.
o Akzentverlagerung zugunsten der frühen Kindheit hat stattgefunden:
Eigenständige Politik für Jugendliche und junge Erwachsene stand im letzten
Jahrzehnt nicht im Mittelpunkt – stärkere öffentliche Verantwortungsübernahme!
o Kumulative Dynamik von Privilegierung und Benachteiligung.
o Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit.
o Statuserhalt und Karrieresicherung.
o Netz der Akteure und Institutionen für Jugendliche ist einerseits dichter
geworden, andererseits lösen sich normative, geradlinige Biographieverläufe
zunehmend und schneller auf – Bildungsbiographien.
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Konkretisierung
Ansatzpunkte – Anleihen bei Klaus Wolf
An Problemen ansetzen, die junge Menschen haben – nicht machen.
Not wahrnehmen, nicht nur Störung.
Verständigung über Wahrnehmungs-, Interpretations- und Interventionsprofile.
„Self-serving-bias-Prozesse“ hinterfragen.
Gefahr der Attribuierung und Informationsselektion.
Wird mit den (Diagnose-)Ergebnissen der Professionen (weiter-)gearbeitet?
Wie wird das Kind bzw. die Jugendliche am Prozess beteiligt?
Wie kann die Handlungsfähigkeit aller Beteiligten erhöht werden?
Wie kann der Kontext, in dem Verhaltensweisen entstanden sind, sichtbar gemacht
werden? (Stichwort: Dekontextualisierung).
o Zusammenhänge von psychiatrischer Diagnose und Behandlung und
sozialpädagogisch-hermeneutischer Diagnose und Intervention aufzeigen.
o Werden die Systeme stabilisiert (bzw. die Eigenlogik bestätigt) oder die
Jugendlichen?
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Fazit und Ideen
Möglichkeiten aus dem SGB VIII ausschöpfen
o Entwicklung eines Leitbildes mit dem Anspruch, kein Kind oder Jugendlichen
aufzugeben.
o Wenn sich Setting ändert, darf sich nicht die Zuständigkeit ändern.
o Zusammenspiel zwischen ambulanten und stationären Hilfen ausreizen.
o Hilfebegriff nicht ideologisieren, sondern Hilfe als Lernprozess verstehen.
o Nicht die Kinder und Jugendlichen müssen sich den Hilfeschablonen anpassen,
sondern die Hilfen müssen passgenau gemacht werden.
o Abwägung von Basisversorgung/Regelgruppen mit innovativen und kreativen
Konzepten und Erlebnis- bzw. Auslandspädagogik oder freiheitsentziehenden
Maßnahmen.
o Scheitern ist erlaubt!
o Flexibles Finanzierungssystem.
o Eine Person, die die Hilfe steuert und die Fäden in der Hand hält.
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Fazit und Ideen
Beteiligte Akteure/innen als Ressource
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Kinder und Jugendliche
Freunde und Freundinnen
Eltern und familiäres Umfeld
Jugendämter/Soziale Dienste/Wirtschaftliche Jugendhilfe
Psychologische Beratungsstellen
Einrichtungen der Erziehungshilfe (mit Intensivpädadagogik)
Schließende HzE-Einrichtungen (Negativbsp. Haasenburg!)
Familienrichter/innen
Kinder- und Jugendpsychiatrien
Polizei
Schulen
Mentoren
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Fazit und Ideen
Anhaltspunkte für die Praxis
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„Wo Strukturen unklar und nicht geklärt sind, werden Beziehungen übermäßig
belastet“
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Differenzierung Fachliche Herausforderungen – Leistungsspektrum –
Handlungsfelder:
Fachliche Herausforderungen: z.B. Schutzauftrag, Intensivpäd. Konzepte
Leistungsspektrum: z.B. §§ 27, 29, 30, 34, 35, 35 a im SGB VIII
Handlungsfelder: z.B. stationäre oder „geschlossene“ Einrichtungen, ambulante
Hilfen…
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Befähigungsansatz und Verwirklichungschancen (Capability Approach):
Was ist für ein gutes, gelingendes Leben erforderlich?
Welche Befähigungen brauchen unsere Kinder und Jugendlichen dazu?
Wie kommen wir zu Konkretisierungen von Kernkompetenzen – und später zu erweiterten Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen?
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Ende
…und jetzt dürfen Sie klatschen…
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