- Universität Tübingen

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Angst- und Zwangsstörungen
Tobias Renner
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
Universität Tübingen
Wintersemester 2013/14 04.02.2014
Physiologische Ängste im Vorschulalter
Alter
Angstinhalte
0 – 6 Monate
laute Geräusche
6 – 9 Monate
Fremde
9 – 12 Monate
Trennung, Verletzung
2. Lebensjahr
imaginäre Figuren, Tod,
Einbrecher
3. Lebensjahr
Tiere (Hunde), Alleinsein
4. Lebensjahr
Dunkelheit
Schmidt, Blanz 1991
Physiologische Ängste im Kindes- und Jugendalter
Alter
Angstinhalte
6 – 12 Jahre
Schule, Verletzung,
Krankheit, soziale Situationen,
Gewitter
13 – 18 Jahre
Verletzung, Krankheit,
soziale Situationen
über 18 Jahre
Verletzung, Krankheit,
Sexualität
Schmidt, Blanz 1991
Vegetative Symptome von Angst
Herz-Kreislauf: Herzklopfen, Tachykardie, Blutdruckanstieg, Gesichtsrötung
oder Blässe
Atmung: Kurzatmigkeit, erhöhte Atemrate
Haut: „Gänsehaut“, Temperaturwechsel, Schwitzen, Parästhesien
Muskulatur: Zittern, erhöhte Anspannung, Verkrampfung
Verdauungstrakt: Durchfall, Übelkeit, Bauchschmerz
Andere körperliche Beschwerden: Kopfschmerz, Schlaflosigkeit,
Ohnmachtsgefühl, Harndrang
Wann ist Angst pathologisch?
übermäßig ausgeprägte Angstintensität
ungewöhnliche Inhalte und Objekte der Angst
situative Unangemessenheit der Angst
Chronifizierung
unzureichende Möglichkeiten der Angstbewätigung
wesentliche Beeinträchtigung der alterstypischen
Lebensvollzüge
Folgen pathologischer Angst
Kreislauf von Angst und Vermeidung
Zunahme von Vermeidung
Gefühl der Hilflosigkeit
Beeinträchtigung von Familie, Freundschaften, Schule,
Freizeit, Beruf
Alkohol-/Medikamentenmissbrauch
Verstimmung, Depression
Circulus vitiosus
Epidemiologie
Prävalenz im Kindesalter
10% behandlungsbedürftig
27,4%
spezifische Phobien
11,1%
Trennungsangst
9,4%
Sozialphobie
KIGGS 10% der 7-17 Jährigen
Geschlechterverteilung
im Kindesalter Mädchen häufiger betroffen
aber: bei Sozialphobie m = w
Angststörungen im Kindes- und Jugendalter
Kindliche Trennungsangst
Kindliche Phobien
Kindliche Sozialangst
Schulangst
Schulphobie
Sprechangst (-verweigerung)
Epidemiologie
Onsetalter:
Einfache Phobien
6-8 J.
Soziale Phobien
11,3 J. bzw. 15,5 J.
Generalisierte Angststörung
8,8 J.
Schulphobien bes. bei Schulübergängen
Prognose ungünstiger bei frühem Beginn,
langer Dauer,
später Behandlung,
Angststörungen nach ICD-10
Als altersübergreifende Angststörung:
Generalisierte Angststörung (F41.1)
Panikstörung (F41.0)
Gemischte Angststörung (F41.2; F41.3)
Phobische Störungen (F40)
(Agoraphobie, soziale Phobie, spezifische Phobie)
Generalisierte Angststörungen
Frei flottierende Angst
Sorgen, Grübeln
häufig Somatisierungstendenzen
Anspannung, Müdigkeit
Vegetative Übererregbarkeit, Konzentrationsprobleme
Soziale Phobie
extreme Angst vor
Bewertung durch Mitmenschen
Angst z.B. in Öffentlichkeit zu sprechen, zu essen, vor
Begegnung mit dem anderen Geschlecht
Furcht vor
Erbrechen in der
Öffentlichkeit
Typische auslösende Situationen
88,8%
39,9%
27,6%
27,6%
24,1%
20,7%
13,0%
öffentliches Sprechen (z.B. Referate, Vorlesen)
vor anderen essen
auf Parties gehen
vor anderen Schreiben
öffentliche Toiletten besuchen
mit Autoritätspersonen sprechen
informelles Sprechen
60% der ängstigenden Situationen finden in der Schule statt
Agoraphobie
Extreme Angst vor Menschenansammlungen,
öffentlichen Plätzen, alleine zu verreisen
Spezifische Phobien
Unangemessen starke Angst vor Spezifischem
z.B.
Spinnenangst
Flugangst
Höhenangst
Prüfungsangst
Trennungsangststörung F93.0
Angst vor Trennung von Bindungspersonen
Angst, BP könne etwas zustoßen
Unglücklichsein bei Trennung, Rückzug, Schreien, Festklammern,
Wutausbrüche
Abneigung / Weigerung von Schulbesuch
Angst, allein tagsüber zu Hause zu sein
somatische Symptome bei Trennung
Panikstörung / episodisch paroxysmale Angst F41.0
Panikattacke: plötzlich und unerwartet, ohne Auslöser oder
Erklärung („fällt vom Himmel“)
körperliche Symptome: plötzlich beschleunigter Puls,
Brustschmerzen, Schwindelanfall, Gefühl der Unwirklichkeit
psychische Symptome: Todesangst, Furcht vor Kontrollverlust
Schulphobie
- Altersgipfel: ~11 Jahre
Häufigkeit: 3,5 bis 5,5 %
Therapie
- Somatischer Bereich
Neubewertung somatischer
Angstsymptome
- Situativer Bereich
rasche schulische Wiedereingliederung
- Psychischer Bereich
Therapie der Trennungsangst
Familienorientierte Intervention
- Erziehungsberatung
- Elterntraining
- Familientherapie
- Schulberatung
-
Mutter/Kind-Kur, Hausunterricht obsolet!!
Schulangst
- extreme Angst vor Schulsituationen
- ätiologische Faktoren:
- Leistungsprobleme
- Beziehungskonflikte mit Lehrern / Mitschülern
- körperliche Stigmata
- soziale Außenseiterrolle
Therapie
- Erklärung der Diagnose
- Neubewertung somatischer Angstsymptome: Ausdruck einer realen Angst!
- Behandlung der Grundproblematik
- Elternberatung / familienorientierte Verfahren
Schulberatung (Lehrer, Mitschüler)
Schullaufbahnberatung
Therapie von Angststörungen
Psychoedukation
Verhaltens- / Psychotherapie
Selbstmanagement / Stressbewältigung /
Entspannungsverfahren
Medikamentöse Therapie
Kombination
Vegetative Symptome von Angst
Herz-Kreislauf: Herzklopfen, Tachykardie, Blutdruckanstieg, Gesichtsrötung
oder Blässe
Atmung: Kurzatmigkeit, erhöhte Atemrate
Haut: „Gänsehaut“, Temperaturwechsel, Schwitzen, Parästhesien
Muskulatur: Zittern, erhöhte Anspannung, Verkrampfung
Verdauungstrakt: Durchfall, Übelkeit, Bauchschmerz
Andere körperliche Beschwerden: Kopfschmerz, Schlaflosigkeit,
Ohnmachtsgefühl, Harndrang
Angstkurve - Exposition
Kognitive Verhaltenstherapie
Was ich
fühlte
Was ich tat
Was ich
dachte
Was fürchte ich, was würde ich gern vermeiden
Angstleiter
Vermeidungsleiter
Sehr hohe Angst, Panik
Vermeide Situation immer
Mittlere Angst
Zur Hälfte vermeide ich
Keine Angst
Situation vermeide ich niemals
Therapieschritte bei Kindern
(1) Kontaktaufnahme &
Kennenlernen
(2) Gefühle kennenlernen &
wahrnehmen (I)
(3) Gefühle kennenlernen &
wahrnehmen
(4) Gefühle & Gedanken
(5) Gefühle, Gedanken und
ihre Folgen
(6) Einüben sozialer
Fertigkeiten
(7) Selbstbewusstsein und
Motivation
(8) Bewältigung von Angst
(9) Bewältigung von
Traurigsein
(10) Bewältigung von Wut
und Aggression
Pharmakotherapeutische Möglichkeiten
- Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
- (Trizyklische Antidepressiva)
- Benzodiazepine (nur kurzfristig!!)
Zwangsstörungen
Epidemiologie
Prävalenz: 1-2 %, Lebenszeit: 2,5 %
60 % Beginn vor dem 25. Lebensjahr
1. Erkrankungsgipfel: 12.-14. Lebensjahr
early onset
2. Erkrankungsgipfel: 21.-22. Lebensjahr
late onset
vor 10. Lebensjahr
very early onset
Definitionen in der Literatur schwanken
Epidemiologie
Präpubertär: Leichte Knabenwendigkeit
Adoleszenz: Ausgeglichenes Geschlechterverhältnis
Diagnosestellung: ca. 2 J. nach Erkrankungsbeginn
Definition nach ICD-10
Zwänge sind sich wiederholende Gedanken,
Handlungen und Impulse, die sich dem Patienten
aufdrängen, unangenehm und als sinnlos erkannt
werden.
Der Patient leidet schwer und versucht sich bewusst
dagegen zu wehren.
Symptomatik besteht über 2 Wochen an den meisten
Tagen
Definition nach DSM-V
Neues Kapitel: Obsessive Compulsive and Related Disorders
Zwangsstörungen
Dysmorphophobe Störung
Trichotillomanie
Hoarding disorder
Excoriations Störung
Definition nach DSM-V
Neues Kapitel: Obsessive Compulsive and Related Disorders
Zwangsstörungen
Dysmorphophobe Störung
Trichotillomanie
Hoarding disorder
Excoriations Störung
Unterschied zu ICD-10
Widerstand wird nicht ausdrücklich verlangt
Einsicht vs. wenig Einsicht
Alters- und entwicklungsabhängige Inhalte
Zwangsgedanken
Zwangshandlungen
Klein-/Vorschulklinder
z.B. Ablehnung /
Festlegung best. Nahrung
Ankleide-, Wasch-, Badeund Essabläufe,
Antippen, Sammeln
Schulkinder
Meiden (z.B. Knöpfe,
Tiere)
Kontrollinhalte
(Schulsachen)
Befürchtungen (Unfall,
Krankheit, Tod)
Reinigen / Waschen
Toilettengang
Dinge (nicht)
berühren/betreten
Adoleszenz
Magische Zahlen
verbotene Gedanken
Infektion/Vergiftung
Befürchtungen
sex. Inhalte
Reinigen / Waschen
Toilettengang
genitale Berührung
(nach Nissen 1996)
Zwangsstörungen und das Umfeld
Häufig: Einbindung der Familie in die Zwangssymptomatik
Symptomdimensionen
Kontrollzwänge
Reinigungszwänge
Symmetrie und Ordnen
Sammeln und Horten
nach Leckman
Einteilung von Zwangsstörungen
nach Leckman et al. 2009
Komorbide Störungen
Angststörung
25,2
Affektive Störung
18,2
HKS
18,2
Eßstörung
16,4
St. im Sozialverhalten
Sonstige emotionale Störung
Enuresis/Enkopresis
14,5
5,4
5,4
Einfluss von Komorbidität auf Zwangsstörungen
Depression – ADHS - Angststörungen
Zwangsstörungen
Früherer Beginn
Symptomatik
Persistenz
Walitza & Zellmann et al., 2008
Differentialdiagnosen von Zwangsstörungen
Körperliche Erkrankungen und organische psychische
Störungen
Schizophrene Psychosen
Autistische Störungen
Affektive Erkrankungen
Essstörungen
Hypochondrische und körperdysmorphe Störungen
Tic-Störungen
40
Ätiologie – Beteiligung der Basalganglien
Zwänge treten gehäuft bei Erkrankungen im
Bereich der Basalganglien auf
Encephalitis lethargica
Bilateralen Nekrose des Nucl. Pallidus
Poststreptokokken-Infektion
vergrößerte Basalganglien
(Autoimmunprozess)
PANDAS
Chorea Sydenham
Giedd et al., 2000, Maia et al. 2005 Murphy et al. 2010
Funktionelle Bildgebung – beteiligte Gehirnregionen
Hyperaktivität im Orbitofrontalen Cortex
Caudatus
Thalamus
Anteriorem Cingulum
verglichen mit Kontrollprobanden
weiterer Anstieg nach Symptomprovokation
mit Behandlung (SSRI’s, VT, oder operativ)
Funktionelle Bildgebung - Stoffwechselerhöhung
Veränderung nach Psychotherapie
Schwartz und Baxter, 1992; 1998
Ätiologie - Genetik
Konkordanzraten
Monozygote Zwillinge:
Dizygote Zwillinge:
53 – 87 %
21 – 47 %
Hohe familiäre Belastung
bei frühem Erkrankungsbeginn (< 18 Jahre)
deutlich höher
van Groothest et al. 2005, Walitza und Renner 2006
Psychosoziale Faktoren – Familiäre Belastung
Lebenszeit-Diagnosen bei Eltern von Kindern und
Jugendlichen mit Zwangsstörung (N = 75)
Angststörung
24%
Persönlichkeitsstörung
18%
Depressive Störung
17%
Ticstörung
12%
Drogenmissbrauch
7%
Zwangsstörungen
4%
Wewetzer et al. 2001
Diagnostik
Multiaxiale Diagnostik
z.B. Kiddie-SADS, DIPS (Eltern-Kind-Versionen)
Intelligenzniveau
Funktionelles Niveau
Störungsspezifische Diagnostik
Yale-Brow obsessive compulsive scale
Y-BOCS, CY-BOCS
Genaue Erfassung der Zwänge mittels Zwangsprotokoll und
Situationshierarchie
47
Sich selbst erhaltendes System
Kognitiver Erklärungsansatz
49
Therapieprinzipien bei Zwangsstörungen
Essentiell
Mehrdimensional, langfristig
Spezifisch
Elternberatung, Verhaltenstherapie,
ggfl. Medikation
Unterstützend
Familientherapie, Selbsthilfegruppe
Vorbereitung
Motivation
Plausibles Modell
Aufklärung und Transparenz
Patient und Eltern
Diagnostischer Befund
Therapieformen, Dauer, Rückschläge, Ziele
Vorteile/Nachteile: ambulant/stationär
Compliance
Vorbereitung
Motivation
Plausibles Modell
Aufklärung und Transparenz
Patient und Eltern
Diagnostischer Befund
Therapieformen, Dauer, Rückschläge, Ziele
Vorteile/Nachteile: ambulant/stationär
Compliance!!!!!!
Konfrontation und Reaktionsverhinderung
Konfrontation ausreichend lange
Reaktionsverhinderung sicherstellen
Graduierte vs. massierte Exposition
Graduiert im Kindes- und Jugendalter bevorzugt
gedankliche Vermeidungsstrategien prüfen
Angstkurve - Exposition
Expositionsbehandlung gestuft
Situationshierarchie
durch Therapeuten begleitet
fakultativ: Eltern als Co-Therapeuten
später Selbstmanagement
stationär / ambulant / home-treatment
Indikationen für Home-Treatment
zahlreiche Kinder und Jugendliche zeigen stationär
keine/kaum Symptomatik
starke Einbindung der Eltern
sollte immer ein Teil des Therapieplans sein
Behandlung der 4- jährigen Anna
Expositionsübungen
Verhaltensplan
Beobachtung
Diagnostik
1
Externer Kindergarten
2
3
4
5
6
7
8
9
Behandlungswochen
Wochenendbeurlaubungen
Stationäre Mitaufnahme von
Mutter
Vater
Renner & Walitza, 2005
Pharmakotherapie
Ziele einer medikamentösen Therapie
Besserung der Symptomatik (Erlebnisfähigkeit)
Wiedererlangung von Schulfähigkeit
Wiedererlangung der Beziehungsfähigkeit
Pharmakotherpapie
Selektive-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)
Clomipramin (Trizyklikum)
2.Generationsantipsychotika in schwersten Fällen
Katamnese – KJP Patienten
Schule / Beruf Leistungsfähigkeit in den letzten 6 Monaten
%
100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
94
84
65
**
Gesamtgruppe
(N = 55)
Patienten mit Patienten ohne
OCD (N = 20) OCD (N = 35)
Alter bei Katamnese: 25,7 J
Jans et al. 2001
Katamnese – KJP Patienten
Soziale Kontakte und Freundschaften
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
86
72
50
**
Gesamtgruppe
(N = 55)
Patienten mit Patienten ohne
OCD (N = 20) OCD (N = 35)
Jans et al. 2001
Katamnese – KJP Patienten
Beziehungen zur Herkunftsfamilie - innere Unabhängigkeit
73
80
70
60
60
50
35
40
30
20
**
10
0
Gesamtgruppe
N = (55)
Patienten mit
OCD (20%)
Patienten ohne
OCD (N = 35)
Jans et al. 2001
Persistenz von early-onset Zwangsstörungen
Micali et al. 2010:
nach 9 Jahren
41 % Vollbild
Stewart et al. (2004):
Metaanalyse 16 Studien
40 % Vollbild
Negative Prädiktoren
Positive Prädiktoren
früher Erkrankungsbeginn
Strukturierte, stützende Umgebung
Erkrankungsdauer
Fortführung der ambulanten VT
anamnestisch Ticstörungen
Fortführung der Medikation
Schlechtes initiales Ansprechen
Soziale Kontakte
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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