«Die Realität in der klinischen Praxis ist eine andere als diejenige

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Tages-Anzeiger – Donnerstag, 18. Oktober 2012
Wissen
Neue Zweifel an der Wirkung von Antidepressiva
Studien haben den Expertenstreit um die Wirksamkeit von Therapien gegen Depressionen neu entfacht.
Kritiker glauben, dass Medikamente nicht mehr helfen als Behandlungen mit Placebos.
Von Jochen Paulus
Auf den ersten Blick sieht es nach einer
dringend benötigten guten Nachricht
für die Verfechter von Antidepressiva
aus: Zwei der am häufigsten verschriebenen Mittel seien «bei Depressionen
wirksam», bilanziert eine unlängst erschienene Auswertung im renommierten Fachblatt «Archives of General Psychiatry», die auf Daten von gut 9000
Studienteilnehmern beruht. Die Studie
bestätige frühere Ergebnisse nicht, nach
denen Antidepressiva ausser bei schweren Depressionen kaum helfen würden,
schreibt das Autorenteam um Robert
Gibbons von der University of Chicago.
Was für Aussenstehende überraschend klingen mag, könnte für manche
Psychiater tatsächlich so etwas wie eine
Entwarnung sein. Der Grund: In den
letzten Jahren zeigten verschiedene Studien, dass die Wirkung von Antidepressiva im Vergleich zu Placebos bescheiden
ist – und haben damit unter Fachleuten
eine Kontroverse ausgelöst. Doch die
neue Studie wird die Auseinandersetzungen nicht beenden. Im Gegenteil, wie
die Reaktion von Irving Kirsch zeigt. Der
Psychologieprofessor von der University
of Plymouth findet in seinen Studien bei
Antidepressiva seit Jahren eine bestenfalls bescheidene Wirksamkeit. Zur Analyse des Gibbons-Teams vermerkt er trocken, deren Ergebnisse seien auch nicht
besser. «Der einzige Unterschied zwischen ihren Resultaten und unseren ist,
dass sie es einen Erfolg nennen.»
solcher in die Therapieentscheidungen
einbezogen werden.
In jedem Fall besteht eine zeitgemässe Depressionstherapie nicht nur
aus Pillen. Darüber sind sich die meisten
Fachleute einig, auch wenn in der Praxis
viele Patienten allenfalls noch ein paar
tröstende Worte vom Arzt bekommen.
Bei leichten Depressionen kann zunächst sogar ganz auf Medikamente verzichtet werden. Bessert sich der Zustand
nicht, empfehlen Experten Antidepressiva, Psychotherapie und soziale Unterstützung zu kombinieren.
Sport statt Psychotherapie?
Solch eine umfassende Strategie ist momentan die beste Wette. Wie sehr und
vor allem warum die kombinierten Massnahmen helfen, ist allerdings eine andere
Frage. Skeptiker Kirsch hat dazu gerade
zusammen mit Arif Khan eine neue Ana-
Etwa 30 Prozent der
depressiven Patienten
kommen auch mit
einem Placebo aus der
Krise heraus.
Häufig verschrieben
Der Expertenstreit ist für viele Menschen von enormer Bedeutung. Etwa jeder Sechste erkrankt mindestens einmal
im Leben an einer Depression. Antidepressiva tragen mit dazu bei, dass Medikamente gegen psychische Erkrankungen in der Schweiz heute die Verschreibungsstatistik anführen. Mit einem
Marktanteil von fast 17 Prozent liegen sie
deutlich vor Mitteln gegen Herzprobleme oder Infektionen. Besonders häufig werden Antidepressiva älteren Menschen verordnet. Doch ausgerechnet in
dieser Altersgruppe kann auch die Gibbons-Studie keinen Nutzen belegen.
Die Mittel haben es schwer in Untersuchungen, weil etwa 30 Prozent der
Depressiven auch mit einem Placebo aus
der Krise herauskommen. Daran gemessen wirkt die Erfolgsquote der Medikamente von 43 Prozent in der neuen Studie recht mässig. Ein Dilemma für Fachleute wie Erich Seifritz von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (siehe
Interview). Er ist überzeugt, dass «die
realen Effekte grösser sind». Allerdings
lassen auch die Wirkungen unter Alltagsbedingungen zu wünschen übrig, wie
die realistisch angelegte Star-D-Studie
zeigt. In diesem Grossversuch des amerikanischen National Institute of Mental
Health (NIMH) hatte nach einem Jahr
nur jeder Vierte seine Depression ohne
Rückfall überwunden.
Dazu kommen die Nebenwirkungen.
Die in den 80er-Jahren eingeführten
Wirkstoffe quälen die Patienten zwar
weniger als ihre Vorgänger mit Mundtrockenheit, Verstopfung und Sehproblemen. Doch auch Fluoxetin (Prozac) und
seine Verwandten fordern ihren Preis.
Schon lange ist bekannt, dass sie nicht
nur für Magenbeschwerden und mangelnden Appetit sorgen können, sondern auch für sexuelle Probleme. Und je
genauer Forscher hinsehen, desto mehr
verborgene Risiken finden sie.
So untersuchten Forscher mehrerer
taiwanischer Universitäten um Chia-Ming
Chang, wie sich Antidepressiva auf die
Fahrtauglichkeit auswirken. Ergebnis der
gerade online vorab veröffentlichten Studie mit Daten von über 36 000 Autofahrern: Wer die Pillen schluckt, verursacht
fast doppelt so oft einen Unfall. Um auszuschliessen, dass dafür die Depressionen selbst verantwortlich sind, erfassten
die Forscher die Besuche bei Psychiatern
und korrigierten ihre Ergebnisse entsprechend.
Abwägen bei Schwangeren
Gleich eine ganze Welle von neuen Studien legt Vorsicht beim Einsatz in der
Schwangerschaft nahe. Bei den werdenden Müttern erhöhen Antidepressiva die
Gefahr, an Bluthochdruck zu erkranken.
Bei den Babys wiederum wird häufiger
Lungenhochdruck registriert. Ausserdem wächst die Gefahr einer Frühgeburt. Andererseits ist eine unbehandelte
Depression nicht nur für die Mutter
schlecht, sondern auch für das Baby. Es
wächst im Mutterleib nicht so gut, und
nach der Geburt tun sich depressive
Mütter oft schwer, auf die emotionalen
Bedürfnisse ihres Kindes einzugehen.
Für Seifritz ist die «medikamentöse Therapie immer ein Abwägen zwischen verschiedenen Risiken für Mutter und
Kind». Seiner Meinung nach gehört die
Behandlung von Schwangeren und Stillenden mit Depressionen in die Hand
des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, oder zumindest sollte ein
lyse veröffentlicht, die auf Daten von
24 000 Patienten beruht. Demnach
schneidet die Kombination von Medikamenten und Psychotherapie in vielen
Studien vor allem deshalb am besten ab,
weil die Ärzte dies glauben und bei der
Einschätzung des Therapieerfolgs wissen, wie der Patient behandelt wurde.
Wissen sie es nicht, ist die Kombination
Medikamenten oder Psychotherapie allein kaum noch überlegen. Und weder
Medikamente noch Psychotherapie sind
dann besser als Sport, Akupunktur oder
Pseudobehandlungen.
Wenn so unterschiedliche Behandlungen aber gleich wirken, argumentieren
die Forscher, kommt es womöglich gar
nicht darauf an, was gegen Depressionen
unternommen wird. Sie greifen damit
eine These auf, die der renommierte Psychiatrieprofessor Jerome Frank vor einem
halben Jahrhundert in seinem Buch «Die
Heiler» entwickelt hat: Entscheidend ist,
dass der Patient gründlich untersucht
wird, eine Erklärung für sein Leiden erhält, Hoffnung schöpft und schliesslich
ein therapeutisches Ritual mit einem anerkannten Experten praktiziert. Ob der
Spezialist eine Arznei verabreicht oder
Akupunkturnadeln sticht, ist nicht wichtig, solange der Patient daran glaubt. Mit
dieser Erklärung der Erfolge der Depressionsbehandlung dürfte für weitere Diskussionen gesorgt sein.
Kommentar Seite 2
Antidepressiva in der Praxis
«Die Realität in der klinischen Praxis ist eine andere als diejenige der Studien»
Der Psychiater Erich Seifritz
sagt, dass Antidepressiva bei
schwerem Krankheitsverlauf
weiterhin unerlässlich seien.
Mit Erich Seifritz sprach
Felix Straumann
Grosse Studien zeigen, dass
Antidepressiva weniger wirksam
sind als bislang gedacht.
Ist es überhaupt sinnvoll, diese
Medikamente zu schlucken?
Ja. Nach wie vor gilt, dass Antidepressiva
bei mittelschweren und schweren Depressionen sehr indiziert sind: Bei
schweren Depressionen wäre es wegen
der grossen Suizidgefahr sogar ein
Kunstfehler, auf Antidepressiva zu verzichten. Dass die Resultate in den erwähnten Übersichtsstudien bescheiden
ausfallen, hat verschiedene Gründe.
Welche?
Zum einen ist die Aussagekraft dieser
Übersichtsstudien eingeschränkt, da sie
sich ausschliesslich auf sogenannte randomisierte kontrollierte Studien stützen. Hierfür werden Patienten gemäss
sehr eingeschränkten Auswahlkriterien
ausgewählt: Sie dürfen zum Beispiel
nicht zu stark depressiv und auch nicht
suizidal sein. Zudem dürfen die Patienten an keinen relevanten zusätzlichen
Erkrankungen leiden. Ohne diese Einschränkungen akzeptieren die Registrierungsbehörden die Resultate der Studien nicht. Doch in der täglichen Praxis
sind solche Patienten die Ausnahme. Ein
anderer Kritikpunkt an Übersichts­
studien ist, dass sie nur Mittelwerte
­berücksichtigen und so beispielsweise
Patienten, die sehr gut auf die Medikamente reagieren, unter Umständen gar
nicht erfassen.
Erich Seifritz
Der 50-Jährige
ist Direktor der
Klinik für Affektive
Erkrankungen und
Allgemeinpsychiatrie
an der Psychiatrischen
Universitätsklinik
Zürich.
Bei positiven Resultaten verlässt
man sich aber auch auf solche
Studien, schliesslich lässt sich
die Wirkung von Medikamenten
kaum anders untersuchen.
Zumindest in der eingeschränkten
Patientengruppe wirken die
Antidepressiva demnach primär
als Placebo.
Der Placeboeffekt ist gross, das ist ganz
klar, und zwar in der gesamten Medizin,
nicht nur in der Psychiatrie. Allerdings
steigt in den Studien die Medikamentenwirkung im Vergleich zu Placebos, je
schwerer die Depression der Behandelten ist. Ausserdem klingt der Placeboeffekt gegenüber dem Medikament nach einiger Zeit ab. Ohnehin ist eine Therapie
immer mehr als nur das Verschreiben
eines Medikaments. Eine Psychotherapie, Beratung und das Angehen des sozialen Umfelds sind mindestens so wichtig.
gen veröffentlicht. Demnach kann ein
Arzt bei leichten Depressionen ruhig
rund zwei Wochen mit Medikamenten
zuwarten, während er den Patienten
unterstützend oder psychotherapeutisch begleitet. Falls es sich aber nicht
um eine vorübergehende Krise handelt
– die Symptome also nicht abnehmen
oder sich gar verschlimmern – müssen
unbedingt Antidepressiva eingesetzt
werden, oft vorübergehend zusammen
mit angstlösenden und schlaffördernden Medikamenten.
Metastudien haben nicht nur
bei Antidepressiva Mühe, eine
Wirksamkeit nachzuweisen. Auch
Psychotherapien sollen kaum mehr
wirken als Sport oder Akupunktur.
Auch für Psychotherapien gilt das eben
Erwähnte, das heisst, die Realität in der
klinischen Praxis ist eine andere als diejenige der Studien. Zudem werden in
der Praxis oft Psychotherapie und Pharmakotherapie kombiniert, was die Wirksamkeit steigert.
Viele, die Antidepressiva nehmen,
wollen sie absetzen. Ist das sinnvoll?
Es ist tatsächlich so, dass viele nach erster Besserung die Medikamente wieder
absetzen wollen. Dies ist ein sehr kritischer Moment und führt leider allzu oft
zu herben Rückfällen. Darum muss die
Situation in jedem Fall individuell mit
dem Arzt besprochen werden.
Wann ist es denn sinnvoll,
Antidepressiva zu verschreiben?
Wir haben für die Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD)
und die Schweizerische Gesellschaft für
Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)
unlängst neue Behandlungsempfehlun-
Wie soll man dabei vorgehen?
Nach unserem aktuellen Stand des Wissens gelten folgende Empfehlungen: Bei
einer ersten depressiven Episode sollte
nach Abklingen der Depression die Behandlung mindestens ein halbes Jahr
fortgeführt werden und dann – anhaltende Symptomfreiheit vorausgesetzt –
langsam über mehrere Monate ausgeschlichen werden. Zu rasches Ausschlei-
chen oder gar abruptes Abbrechen der
Behandlung sind grosse Risiken für
einen Rückfall. Dasselbe gilt, wenn die
Depression nicht vollständig abgeheilt
ist. Auf keinen Fall würde ich ein Antidepressivum absetzen, wenn ein Patient
mehrfach unter schweren Depressionen
gelitten hat und ohne Medikamente
Rückfallgefahr droht.
Sie sagen, Antidepressiva seien
risikoarm. Nebenwirkungen haben
sie aber dennoch . . .
Wir verfügen heute glücklicherweise
über eine breite Palette von verschiedenen Antidepressiva mit unterschiedlichen Wirkungs- und Nebenwirkungsprofilen. Tritt zum Beispiel im Rahmen der
antidepressiven Behandlung neu eine
Libido-Verminderung auf, können wir
mit Zuversicht auf ein anderes Präparat
wechseln. In der Praxis zeigt es sich
aber, dass viele Patienten gar keine
Nebenwirkungen spüren. Und manchmal sind Zusatzeffekte sogar erwünscht.
So setzten wir zum Beispiel bei depressiven Patienten mit starken Schlafstörungen gerne beruhigende, schlafnormalisierende Antidepressiva ein. Sie sehen: Diese Überlegungen können mit
kontrollierten Studien nicht erfasst werden. Sie sind Teil der ärztlichen Kunst
und der auf den einzelnen Patienten
massgeschneiderten Therapie.
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