PID, PND, Forschung an Embryonen

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2., erweiterte Auflage
der Dokumentation
PID, PND, Forschung
an Embryonen
Aufsätze
Berichte
Diskussionsbeiträge
Kommentare
im Deutschen Ärzteblatt
vom 3. März 2000 (Heft 9/2000)
bis zum 3. Mai 2002 (Heft 18/2002)
mit einer ergänzenden Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats
der Bundesärztekammer
I N H A L T
Vorwort zur zweiten Auflage
Ethisches Dilemma der Fortpflanzungsmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
V
Unterschiedliche Schutzwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
or genau einem Jahr hat die Redaktion des Deutschen
Ärzteblattes in einem Sonderdruck Beiträge zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und verwandten Themen zusammengefasst. Schon damals, mitten in einer heißen Diskussion,
war klar, dass der Themenkreis auch im Deutschen Ärzteblatt
längst nicht ausdiskutiert war. Unmerklich hat sich inzwischen
der Schwerpunkt der Diskussion und auch der politischen
Willensbildung verlagert: Von der Präimplantationsdiagnostik
zur Forschung an und mit Embryonen und zur Gewinnung von
Stammzellen. Die Meinungsbildung in der Ärzteschaft und in
der Öffentlichkeit spiegelt sich in der Berichterstattung und
Kommentierung des Deutschen Ärzteblattes wider, wie diese
erweiterte Materialsammlung beweist.
DÄ, 17. Mai 2002
Gisela Klinkhammer
Gisela Klinkhammer
Zunehmendes Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Ministerialrat a. D. Dr. jur. Rudolf Neidert
Diskussion: Zunehmendes Lebensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Gibt es das Recht auf ein gesundes Kind? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Dr. theol. Mirjam Zimmermann, Dr. theol. Ruben Zimmermann
Beiträge aus dem Jahr 2001
Medizinische Ethik:
Weiterhin Diskussionsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Gisela Klinkhammer
Embryonenschutz: Englische Verführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Norbert Jachertz
Dokumentation in chronologischer Reihenfolge
Beiträge aus dem Jahr 2000
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie
zur Präimplantationsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Präimplantationsdiagnostik: Am Rande der schiefen Bahn . . . 9
Bioethik: CDU lotet noch Grenzen aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Meinungsaustausch mit dem Bundeskanzler:
Kurskorrekturen bei den Budgets im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
Sabine Rieser
Gentechnik: Der Zweck heiligt die Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Norbert Jachertz
Dr. med. Eva A. Richter
Präimplantationsdiagnostik:
Auftakt des öffentlichen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Medizinethik: Irritationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Sabine Rieser
Plädoyer für eine unvoreingenommene, offene Debatte . . . . . . 12
Gisela Klinkhammer
Fortpflanzungsmedizin:
Die Gewichte verschieben sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Ulrike Riedel
Dr. med. Eva A. Richter
Präimplantationsdiagnostik: Mensch von Anfang an . . . . . . . . . . . 14
Medizinische Ethik: Auf Schlingerkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Joachim Kardinal Meisner
Gisela Klinkhammer
Präimplantationsdiagnostik: Kein Blick aufs Ganze . . . . . . . . . . . . . 14
Sabine Rieser
Biomedizin: Kein „Hirtenwort“,
sondern Diskussionsanstoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Diskussion zu dem Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie der Bundesärztekammer und den dazu
erschienenen Berichten und Kommentaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Bischofskonferenz:
Warnung vor Missbrauch der Gentechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer:
Von richtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgehen . . . . . . . . . 25
Prof. Dr. Dr. med. h. c. H.-L. Schreiber
Dr. med. Eva A. Richter
Gisela Klinkhammer
Ärztinnenbund: Dammbruch befürchtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Präimplantationsdiagnostik als Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Fortschritt der Biomedizin:
Die Politik steht vor der Quadratur des Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Der Vorstand des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer
Andreas Kuhlmann
Schöne Neue Welt: Muss man alles machen, was man kann? . . 28
PID: „Glasklare Regelung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Dr. med. Frank Ulrich Montgomery
Präimplantationsdiagnostik – medizinische,
ethische und rechtliche Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Prof. Dr. med. Hermann Hepp
Medizinethik: Mindestmaß an Schutz für die Zukunft . . . . . . . . . . 37
Präimplantationsdiagnostik:
Ganz am Anfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Dr. med. Eva A. Richter
Einmal Gott spielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Gisela Klinkhammer, Dr. phil. Thomas Gerst
Streit um die Embryonen:
Was tun, wenn man sich nicht einigen kann? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Fortpflanzungsmedizin: Absage an jede Art
eugenischer Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing
Gisela Klinkhammer
Embryonenforschung in Europa:
Gesundheit ist nicht das höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Nochmals: Öffentlicher Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach
2
I N H A L T
Diskussion: Gesundheit ist nicht das höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
PID: „Ein Verfahren zur Selektion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
PID: Motivsuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Dr. med. Frank Ulrich Montgomery
Stammzellen-Import: Druck von allen Seiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Dr. med. Eva A. Richter
Stammzellforschung: Perfektes Timing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Norbert Jachertz
Diskussion: PID: Motivsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Stammzellforschung (I):
Abschied von der Menschenwürde? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Zum 104. Deutschen Ärztetag:
„Eine Sieger-Besiegten-Stimmung darf nicht aufkommen“ . . . 83
Priv.-Doz. Dr. med. Santiago Ewig
DÄ-Interview mit Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe
Gestaffeltes Schutzkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Dokumentation: Stellungnahme der Zentralen
Ethikkommission zur Stammzellforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Dr. jur. Tade M. Spranger
Stammzellforschung (II):
Menschenrecht auf Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
104. Deutscher Ärztetag: Gespanntes Abwarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Prof. Dr. theol. Hartmut Kreß
Norbert Jachertz
Gesundheits- und Sozialpolitik:
Freiheit und Verantwortung in der modernen Medizin . . . . . . . . . 86
Beiträge aus dem Jahr 2002
TOP I:
Ethik: Die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Forschung und Ethik: Die Weichen sind gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Gisela Klinkhammer
Stammzellen:
„Rohstoff“ für die regenerative Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Entschließungen:
Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
Dr. med. Eva A. Richter, Gisela Klinkhammer
Prof. Dr. med. Anthony D. Ho
Diskussion: 104. Deutscher Ärztetag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Stammzellforschung:
Erfolg versprechende Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Gentechnikdebatte im Bundestag: Wo ist die Grenze? . . . . . . . . . . 93
Dr. med. Eva A. Richter
Gisela Klinkhammer
Embryonale Stammzellforschung: Die Mechanismen
entschlüsseln und auf adulte Zellen anwenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Stammzellforschung: Durch- oder Dammbruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Norbert Jachertz
DÄ-Interview mit Prof. Dr. med. Oliver Brüstle
Embryonenforschung und PID:
„Ethik des Heilens“ versus „Ethik der Menschenwürde“ . . . . . . 122
Bioethik-Diskussion: Gespaltene Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Dr. med. Eva A. Richter
Stammzellen: Was Forscher wollen, was sie dürfen . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Dr. med. Peter Bartmann
Embryonale Stammzellen:
Entscheidung über Import vertagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Gisela Klinkhammer, Dr. med. Eva A. Richter
Embryonenschutz:
Keine Entscheidung ohne qualifizierte Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Stammzellforschung: Das Argument des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . 126
Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld
Stammzellenimport: Unter Auflagen zugelassen . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Dr. med. Eva A. Richter
Präimplantationsdiagnostik:
„Verfassungsrechtlich unzulässig“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Dr. med. Eva A. Richter
Priv.-Doz. Dr. med. Wolfram Henn et al.
Deutsche (Gesundheits-)Politik:
Ein klares Jein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Stammzellforschung: „Ethik des Heilens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
Thomas Gerst
Gisela Klinkhammer
Humanismusstreit: Vom Überschreiten des Rubikon. . . . . . . . . . . . 104
Gisela Klinkhammer
Embryonale Stammzellforschung:
Unterschiedliche Wertvorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Gisela Klinkhammer
Deutsche Bischofskonferenz: Kein „Zellhaufen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Gisela Klinkhammer
Reproduktionsmedizin:
Fachgesellschaften für klare Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Dr. Renate Leinmüller
Präimplantationsdiagnostik: Anfang ohne Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Embryonenforschung: Machtproben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Norbert Jachertz
Symposium in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung:
Solidarität mit den „fortpflanzungswilligen Schichten“ . . . . . . 132
Dr. med. Eva A. Richter
Stammzellgesetz: Tauziehen um Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Dr. med. Eva A. Richter
Kirchen: Absage an PID . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Gisela Klinkhammer
Stammzellgesetz: Klarheit oder Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Dr. med. Eva A. Richter
Stammzellen-Import: Signal auf Stopp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Entscheidung zum Stammzellgesetz:
Die Tür steht einen Spalt offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Dr. med. Eva A. Richter
Dr. med. Eva A. Richter
3
D O K U M E N T A T I O N
Vorwort zur 1. Auflage
Beiträge zum Diskurs
Als der Vorstand der Bundesärztekammer den „Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorlegte, rief er zugleich zu einem
öffentlichen Diskurs auf. Der läuft seit
nunmehr rund eineinhalb Jahren und
hat einen kaum noch fassbaren Niederschlag in der Presse gefunden. Inzwischen bringen auch Funk und Fernsehen
fast täglich Diskussionen nicht mehr
nur zur Präimplantationsdiagnostik
(PID), sondern auch zur Embryonenforschung.
Das Deutsche Ärzteblatt hat sich
von Anfang an an dem Diskurs beteiligt und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen lassen. In diesem
Sonderdruck sind diese Beiträge, beginnend mit dem Diskussionsentwurf,
zusammengefasst. Die Redaktion hat
sich sehr um Vollständigkeit bemüht,
gleichwohl kann nicht ausgeschlossen
werden, dass vielleicht ein Leserbrief
oder eine kleinere Notiz fehlen. Die
Diskussion ist im Übrigen keineswegs
abgeschlossen. Weitere Beiträge für
spätere Hefte des Deutschen Ärzteblattes sind in Satz – Stoff genug für eine
allfällige erweiterte Auflage des Sonderdrucks.
Der Dokumentation der im Deutschen Ärzteblatt erschienenen Beiträge
sind vorangestellt ein Interview mit dem
Präsidenten der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages, geführt
im Vorfeld des in diesen Tagen beginnenden 104. Deutschen Ärztetages, sowie der Bericht über die einschlägige
Diskussion beim vorangegangenen 103.
Deutschen Ärztetag.
Im Grunde genommen müsste eine
vollständige Dokumentation über die
Auffassungen der Ärzteschaft in der mit
Präimplantationsdiagnostik zusammenhängenden Thematik weitaus früher beginnen, zumindest mit dem 88. Deutschen Ärztetag, der 1985 in Lübeck-Travemünde seine Haltung zur In-vitro-Fertilisation (IVF) formulierte. Bereits damals wurden die daraus entstehenden
Probleme der Embryonenforschung klar
erkannt, der Umgang mit den so genannten überzähligen Embryonen diskutiert.
Der Ärztetag sprach sich schließlich
mit großer Mehrheit zugunsten von IVF
aus. Zur Embryonenforschung stellte er
fest: „Experimente mit Embryonen sind
grundsätzlich abzulehnen, soweit sie
nicht der Verbesserung der Methode
oder dem Wohle des Kindes dienen.“
Diese Formulierung war ein wenig strenger als die Vorstandsvorlage, entsprach
aber noch einer zugleich vorgelegten
Richtlinie des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur IVF (veröffentlicht in Heft 22/1985), die der Ärztetag pauschal „begrüßte“. In einer weiteren Richtlinie äußerte sich der Wissenschaftliche Beirat später, ohne Zutun des
Ärztetages, zur Forschung an frühen
menschlichen Embryonen (veröffentlicht in Heft 50/1985). Danach dürfen menschliche Embryonen „grundsätzlich“ nicht mit dem Ziel der Verwendung
zu Forschungszwecken erzeugt werden.
Mit der Formel „grundsätzlich“ wurden
Impressum
Chefredakteur:
Chefs vom Dienst:
Redaktion:
Technische Redaktion:
Schlussredaktion:
4
erhebliche Spannungen innerhalb des
Beirates zu dieser Frage überdeckt. Die
Richtlinien sprechen sich hingegen eindeutig für Untersuchungen, die der
Verbesserung der Lebensbedingungen
des jeweiligen Embryos und gleichzeitig
dem wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn dienen, aus, sofern Nutzen und Risiken miteinander sorgfältig abgewogen
werden.
Der 91. Deutsche Ärztetag beschloss
1988 in Frankfurt eine Änderung der
(Muster-)Berufsordnung. Die Delegierten entschieden sich für einen Mittelweg: Die Erzeugung von Embryonen für
Forschungszwecke wurde untersagt und
dem ein weiterer Satz hinzugefügt:
„Grundsätzlich verboten ist auch die
Forschung an menschlichen Embryonen.“ Bei Einhaltung strikter Kriterien
wurden allerdings Forschungen für
zulässig gehalten, sofern sie der Deklaration von Helsinki entsprechen.
Machen wir einen Sprung zum 100.
Deutschen Ärztetag 1997 in Eisenach.
Die damals neu strukturierte, bis heute
geltende (Muster-)Berufsordnung verbietet gleichfalls die Erzeugung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken.Verboten sind ferner diagnostische Maßnahmen an Embryonen, „es sei
denn, es handelt sich um Maßnahmen
zum Ausschluss schwerwiegender geschlechtsgebundener Erkrankungen im
Sinne § 3 Embryonenschutzgesetz“.
Und das gehört der Vollständigkeit
halber dazu: Seit 1991 gilt das Embryonenschutzgesetz mit seinen strengen
Regeln – strengeren als sie 1985 von der
ärztlichen Selbstverwaltung und ihren
wissenschaftlichen Beratern formuliert
worden waren.
Norbert Jachertz
Dokumentation „PID, PND, Forschung an Embryonen“
vom 23. Mai 2002
Norbert Jachertz, Köln
(verantwortlich für den Gesamtinhalt im Sinne der
gesetzlichen Bestimmungen)
Gisela Klinkhammer, Herbert Moll
Norbert Jachertz, Gisela Klinkhammer
Jörg Kremers, Manfred Röhrig
Helmut Werner
Verlag:
Deutscher Ärzte-Verlag GmbH, Köln
Druck:
L. N. Schaffrath, Geldern
D O K U M E N T A T I O N
Heft 9, 3. März 2000
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie
zur Präimplantationsdiagnostik
Mit dem vorliegenden „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik“ beabsichtigt die Bundesärztekammer,
einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion auf diesem so
schwierigen und sensiblen Gebiet der Fortpflanzungsmedizin zu leisten. Die besonderen ethischen Konflikte, die mit der Präimplantationsdiagnostik verbunden sind, können nur dann vermieden werden,
wenn betroffene Paare bewusst auf Kinder verzichten oder sich zu
einer Adoption entschließen. Wie Gespräche mit Paaren mit hohen
genetischen Risikofaktoren zeigen, werden diese Alternativen häufig jedoch nicht akzeptiert. In zehn Staaten der
Europäischen Union ist die Präimplantationsdiagnostik bereits heute zulässig. Weltweit
wurde die Methode bei mehr als 400 Paaren durchgeführt; bis heute
wurden über 100 Kinder nach Präimplantationsdiagnostik geboren.
Deshalb muss die Gesellschaft im öffentlichen Diskurs entscheiden,
ob und inwieweit die Präimplantationsdiagnostik in Deutschland
Anwendung finden soll.
Die ethische Diskussion umfasst im Kern den Konflikt, dass nach
einer künstlichen Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft der invitro gezeugte Embryo im Falle des Nachweises einer
schweren genetischen Schädigung unter Umständen nicht in die Ge-
bärmutter transferiert wird. Diese schwerwiegende grundsätzliche
ethische Entscheidung liegt im Falle der Präimplantationsdiagnostik
zunächst in der Verantwortung des betroffenen Paares und dann –
aufgrund des durchzuführenden medizinischen Verfahrens – gleichermaßen auch beim Arzt. Die Ärzteschaft muss sich daher mit dem
Thema „Präimplantationsdiagnostik“ befassen: Wenn die Gesellschaft die Präimplantationsdiagnostik mehrheitlich möchte, dann
sind Rechtssicherheit und ein hohes Schutzniveau nur über Zulassungskriterien zu erreichen, die streng und äußerst restriktiv zu fassen sind. Dies wäre berufsrechtlich nur auf dem
Wege einer Richtlinie zu erreichen, die eine Einzelfallbegutachtung vorschreibt. Darüber hinaus ist es unverzichtbar, dass die nicht rein medizinischen Aspekte
dieses Verfahrens im Zivil- und Strafrecht durch den Bundesgesetzgeber geregelt werden müssen.
Die Bundesärztekammer will mit dem vorgelegten Diskussionsentwurf zur Schärfung des Problembewusstseins im gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess beitragen und nicht das Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen Diskussion über die Anwendung dieses neuen medizinischen Verfahrens in Deutschland
präjudizieren.
Zum Hintergrund
Vorwort
Die assistierte Reproduktion bei Störungen der Fertilität ist heute ein fester
Bestandteil der Reproduktionsmedizin
und hilft vielen Paaren, den dringenden
Kinderwunsch zu erfüllen. Mit Hilfe zyto- und molekulargenetischer Methoden können im Rahmen der In-vitroFertilisation (IVF) schon in einer sehr
frühen Phase der Entwicklung menschlichen Lebens Veränderungen (Mutationen) im Erbgut untersucht und erkannt werden, die auch zu schweren
körperlichen und geistigen Fehlbildungen führen (Präimplantationsdiagnostik, englisch: preimplantation genetic
diagnosis = PGD). Mit der IVF – ohne
Vorliegen einer Fertilitätsstörung – als
Voraussetzung für eine PGD stößt die
Medizin in Grenzbereiche ärztlichen
Handelns vor. Mit der PGD werden
schwerwiegende und kontrovers diskutierte rechtliche und ethische Probleme
aufgeworfen, die auf der ethischen Seite
gekennzeichnet sind durch Sachverhalte, die schwierig miteinander zu vereinbaren sind: Auf der einen Seite wird
durch aktives ärztliches Handeln mit
der IVF die Entwicklung menschlichen
Lebens mit dem Ziel einer Schwangerschaft eingeleitet, und auf der anderen
Seite wird zugelassen, dass ein so gezeugter Embryo unter Umständen nicht
in die Gebärmutter transferiert wird
und mit ihm nicht die Entstehung einer
Schwangerschaft angestrebt wird (bedingte Zeugung). Die Frage, ob es sich
dabei um eine Ausnahme vom Tötungsverbot handelt, zum Beispiel vor dem
Hintergrund eines abgestuften Schutzkonzepts, oder keine Tötung vorliegt,
wird unterschiedlich beantwortet und
bedarf noch einer abschließenden rechtlichen Diskussion und Würdigung.
Die Bundesärztekammer hielt es vor
diesem Hintergrund für geboten, durch
ihren Wissenschaftlichen Beirat einen
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie
zur PGD erarbeiten zu lassen. Damit
soll versucht werden, den ethischen
Normen, den gesetzlichen Regelungen,
dem Stand der Wissenschaft und der
Diskussion auf dem Gebiet der PGD
gleichermaßen gerecht zu werden.
Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz hat in ihrem Bericht
„Präimplantationsdiagnostik – Thesen
zu den medizinischen, rechtlichen und
ethischen Problemstellungen“1 zu diesem Thema Stellung genommen und
hält unter eng beschriebenen Voraussetzungen die PGD für zulässig. Dieser Bericht enthält eine ausführliche Darle-
gung der Problematik sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Die außer Frage stehende Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens setzt
dem Umgang mit Embryonen Schranken, die unter anderem gekennzeichnet
sind durch das Verbot von Untersuchungen an Embryonen im Stadium der zellulären Totipotenz und das Verbot der
„fremdnützigen“ Verwendung von Embryonen, also jeglicher verbrauchender
Embryonenforschung und -diagnostik.
Das Embryonenschutzgesetz verbietet
die PGD an totipotenten Zellen; dieser
gesetzlichen Vorgabe wird im Richtlinienvorschlag gefolgt. Diese Beschränkung
gilt unabhängig von einem möglicherweise sich verändernden Kenntnisstand, ab
wann embryonale Zellen nicht mehr als
totipotent einzustufen sind. Nach dem
derzeitigen Stand der Wissenschaft gelten
Zellen nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums als nicht mehr totipotent. Basierend auf dieser wissenschaftlichen Erkenntnis, distanziert sich der Richtlinienvorschlag unmissverständlich von allen
Gedanken,Vorstellungen und unter Um1 Bericht der Bioethik-Kommission des Landes RheinlandPfalz vom 20. 7. 1999: „Präimplantationsdiagnostik –
Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen
Problemstellungen“. Ministerium der Justiz RheinlandPfalz
5
D O K U M E N T A T I O N
ständen Absichten zur Erzeugung von
Menschen durch jede Art von Klonierung, auch solche aus totipotenten embryonalen Zellen.
Die Indikation für eine PGD ist
insbesondere im Hinblick auf die sich
daraus ergebenden Konsequenzen äußerst eng zu stellen und bedarf einer sorgfältigen Güterabwägung, bei
der das grundsätzliche Primat des
Schutzes ungeborenen Lebens, der
Schweregrad, die Prognose und die
Therapiemöglichkeiten der infrage stehenden Erkrankung und die gesundheitliche Gefährdung der zukünftigen
Schwangeren oder Mutter berücksichtigt werden müssen. Dies beinhaltet
auch, dass die Indikation für eine PGD
deutlich enger zu stellen ist als für eine
Pränataldiagnostik. Die PGD kann allerdings im Einzelfall die spätere Pränataldiagnostik ersetzen und damit zu einer Konfliktreduzierung beitragen, weil
sie Entscheidungen über einen eventuellen Abbruch einer fortgeschrittenen
Schwangerschaft vermeidet.
Die Bundesärztekammer orientiert sich an einem Menschenbild, das
nicht reduktionistisch auf der Summe
genetischer Informationen beruht,
sondern vielmehr von Respekt vor
allen Menschen, einschließlich denen
mit geistigen, seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, geprägt ist.
Auch dies schlägt sich in der Forderung nach einem sehr restriktiven
Einsatz der PGD nieder und begründet gleichzeitig eine deutliche Absage
an jede Art eugenischer Selektion und
Zielsetzung.
Die derzeitige Praxis der IVF ist
es, bis zu drei Eizellen zu befruchten.
Bei gemäß den strengen Kriterien des
Richtlinienvorschlags vorliegender Indikation für eine PGD ist es sinnvoll,
alle drei Embryonen nach Abschluss
des Acht-Zell-Stadiums der PGD zu
unterziehen. Der Umgang mit einem
aus der PGD resultierenden pathologischen Befund fordert von allen Beteiligten, dem betroffenen Paar wie
den beratenden und den behandelnden Ärzten, eine große Fähigkeit und
Bereitschaft zu hinreichend konfliktarmen Lösungen. Für diese gibt es keine allgemein gültigen Regeln, sondern
nur verantwortungsbewusste Einzelfallentscheidungen, die auf der Basis
6
umfassender Aufklärung und Beratung getroffen werden müssen.
Die Entscheidung über den Transfer eines jeden einzelnen Embryos in
die Gebärmutter beruht in Würdigung
des Lebensrechts des Kindes auf den
einzelfallbezogenen Abwägungen der
befürchteten gesundheitlichen Gefährdung der Frau und der zu erwartenden Erkrankung des Kindes. Hierbei geht es ausschließlich um das Risiko einer schweren genetischen Erkrankung, nicht um eine eugenisch orientierte Nachkommensplanung.
Eine Hilfe für die an einer PGD
beteiligten Ärzte, aber auch gleichzeitig ein Schutz vor Missbrauch der
PGD sind die unabdingbare Forderung nach frühzeitiger Einschaltung
einer bei der Landesärztekammer gebildeten Kommission sowie die Institutionalisierung einer ebenfalls im
Einzelfall einzuschaltenden zentralen
„Kommission Präimplantationsdiagnostik“ bei der Bundesärztekammer.
Dies soll sicherstellen, dass in Deutschland eine PGD nach einheitlichen
Grundsätzen erfolgt und Fehlentwicklungen rechtzeitig erkannt und
abgestellt werden können.
Mit Vorlage dieses Diskussionsentwurfes zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik strebt die Bundesärztekammer einen Diskurs mit den gesellschaftlichen Gruppen an und erhofft
sich dabei einen offenen und sachlichen, gleichwohl kritischen Dialog. Sie
hält eine Regelung für angemessen, die
einerseits die Möglichkeiten der modernen Diagnostik nicht unsachgemäß
einengt, zum anderen aber auch das
Schutzbedürfnis des menschlichen Lebens und die Achtung der Menschen
ernst nimmt, die an der Furcht vor einem genetisch bedingt schwerstkranken Kind gesundheitlich zu zerbrechen
drohen. Der Entwurf soll einen Beitrag
zu dieser notwendigen Diskussion leisten und dazu dienen, eine sachgerechte
Regelung herbeizuführen.
Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,
Präsident der Bundesärztekammer
und des Deutschen Ärztetages
Prof. Dr. med. Karl-Friedrich Sewing,
Vorsitzender des Wissenschaftlichen
Beirates der Bundesärztekammer
1. Definition
Unter Präimplantationsdiagnostik (englisch: preimplantation genetic diagnosis = PGD) versteht man die Diagnostik an einem Embryo in vitro vor dem
intrauterinen Transfer hinsichtlich der
Veränderung des Erbmaterials, die zu
einer schweren Erkrankung führt.
2. Indikationsgrundlage
Die Indikation zur Präimplantationsdiagnostik kann nur bei solchen Paaren
gestellt werden, für deren Nachkommen ein hohes Risiko für eine bekannte
und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht.
Bei einer PGD darf nur auf diejenige
Veränderung des Erbmaterials untersucht werden, die zu der infrage stehenden schweren genetischen Erkrankung
führt, für die das Paar ein hohes genetisches Risiko hat. Von daher ist bei beiden Partnern eine kompetente molekulargenetische und/oder zytogenetische
Untersuchung hinsichtlich des bei der
Präimplantationsdiagnostik zu ermittelnden Erkrankungsrisikos unabdingbare Voraussetzung.
Der Anwendungsbereich der PGD
liegt nach derzeitigem Kenntnisstand
bei monogen bedingten Erkrankungen
und bei Chromosomenstörungen.
Von entscheidender Bedeutung sind
dabei der Schweregrad, die Therapiemöglichkeiten und die Prognose der infrage stehenden Krankheit. Ausschlaggebend ist, dass diese Erkrankung zu
einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung der zukünftigen
Schwangeren beziehungsweise der
Mutter führen könnte.
Eugenische Ziele dürfen mit der
Präimplantationsdiagnostik nicht verfolgt werden.
Keine Indikation für eine Präimplantationsdiagnostik sind insbesondere die
Geschlechtsbestimmung ohne Krankheitsbezug, das Alter der Eltern sowie
eine Sterilitätstherapie durch assistierte
Reproduktion. Auch spät manifestierende Erkrankungen gelten in der Regel nicht als Indikation.
Die Präimplantationsdiagnostik erfordert eine assistierte Reproduktion.
Sie ist damit eine zusätzliche Indikation
D O K U M E N T A T I O N
für die assistierte Reproduktion (Vergleiche: Richtlinien zur Durchführung
der assistierten Reproduktion, Dt Ärztebl 1998; 95: A-3166–3171 [Heft 49]).
> eine Aussage zur ethischen und
rechtlichen Vertretbarkeit.
3. Zulassungsbedingungen für
die Präimplantationsdiagnostik
Die Präimplantationsdiagnostik kann
im Einzelfall erst dann durchgeführt
werden, nachdem zuvor ein zustimmendes Votum der bei der jeweiligen Landesärztekammer gebildeten Kommission eingeholt wurde. Von dieser Kommission sollen Vertreter der fallbezogenen Fachrichtungen hinzugezogen werden. Darüber hinaus soll sie vor Abgabe
ihres Votums eine Stellungnahme der
„Kommission Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer einholen
und sich mit dieser in der Beurteilung
des Antrages ausdrücklich auseinander
setzen.
Die bei der Landesärztekammer gebildete Kommission teilt das Ergebnis
der „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer mit.
3.1. Berufsrechtliche Voraussetzungen
Bei der Präimplantationsdiagnostik handelt es sich um ein spezielles medizinisches Verfahren, bei dem die Empfehlungen von § 13 Abs. 1 der (Muster-)Berufsordnung eingehalten werden müssen². Soweit in diesen Richtlinien nichts
Abweichendes bestimmt ist, gelten die
Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion.
Die beabsichtigte Durchführung der
Präimplantationsdiagnostik ist der Ärztekammer mit dem Nachweis anzuzeigen, dass die in diesen Richtlinien festgelegten berufsrechtlichen Anforderungen erfüllt sind. Änderungen der berufsrechtlichen Voraussetzungen sind der
Ärztekammer unverzüglich anzuzeigen.
Kein Arzt kann gegen sein Gewissen
verpflichtet werden, an einer Präimplantationsdiagnostik mitzuwirken.
3.1.1. Antragsverfahren
Der verantwortliche Leiter des Präimplantationsdiagnostik-Vorhabens legt
der bei der jeweiligen Landesärztekammer gebildeten Kommission den Antrag mit einem zusätzlichen Exemplar
zur Weiterleitung an die „Kommission
Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer vor.
Der Antrag muss enthalten:
> eine ausführliche, anonymisierte
Fallbeschreibung,
> die zugrunde liegende medizinische Indikation nach Beratung,
> Erörterung der befürchteten
schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung der Frau,
> Darlegung der geplanten Vorgehensweise,
² § 13 Abs. 1 MBO (1997): „Bei speziellen medizinischen
Maßnahmen oder Verfahren, die ethische Probleme aufwerfen und zu denen die Ärztekammer Empfehlungen
zur Indikationsstellung und zur Ausführung festgelegt
hat, hat der Arzt die Empfehlungen zu beachten.“
3.1.2. Bei der Landesärztekammer
gebildete Kommission
3.1.3. „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer
Die „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ wird als beratender Ausschuss
der Bundesärztekammer eingerichtet.
Die „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ soll:
> das Votum gegenüber der bei der
Landesärztekammer gebildeten Kommission abgeben,
> auf eine Vereinheitlichung der Begutachtungspraxis hinwirken,
> die nationale und internationale
Entwicklung beobachten und bewerten,
> jährlich auf der Grundlage ihrer
Dokumentation einen Bericht erstellen
und veröffenlichen.
In der „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ sollen die Disziplinen
Humangenetik, Gynäkologie, Andrologie, Pädiatrie, Ethik und Recht vertreten sein. Psychosoziale Aspekte sollen
berücksichtigt werden.
3.2. Fachliche, personelle und
technische Voraussetzungen
Die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik muss Einrichtungen vorbehalten sein, in denen routinemäßig Invitro-Fertilisation gemäß den Richtlinien
zur Durchführung der assistierten Reproduktion durchgeführt wird. Die Entnahme einer Blastomere setzt entsprechende Erfahrung des Durchführenden,
zum Beispiel durch ICSI, voraus, die gewährleistet, dass einerseits eine diagnostisch verwertbare Blastomere gewonnen wird, andererseits der Embryo durch
den Eingriff nicht geschädigt wird. Hierfür sind umfangreiche tierexperimentelle
Erfahrungen Voraussetzung.
Insbesondere müssen die verantwortlichen Mitarbeiter über folgende
Kenntnisse und Erfahrungen verfügen:
Alle Bereiche gemäß den Richtlinien
zur Durchführung der assistierten Reproduktion müssen abgedeckt sein sowie zusätzlich:
> Humangenetik,
> Molekulargenetik beziehungsweise Zytogenetik an Einzelzellen.
Der Reproduktionsbiologe der Arbeitsgruppe muss über spezielle Kenntnisse verfügen im Bereich der
> Einzelzellentnahme aus mehrzelligen Embryonen,
> Verarbeitung von einzelnen Blastomeren zum Zweck der genetischen
Diagnostik.
Die Molekulargenetiker beziehungsweise Zytogenetiker, welche die genetische Diagnostik durchführen, müssen über entsprechende Erfahrungen in
der speziellen zur Diagnostik anstehenden molekularen beziehungsweise zytogenetischen Aberration in der Pränatalmedizin und an Einzelzellen verfügen.
3.2.1. Qualifikation des
Arbeitsgruppenleiters
Die Leitung der Arbeitsgruppe „Präimplantationsdiagnostik“ obliegt einem
Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, der spezialisiert ist in gynäkologischer Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin gemäß Weiterbildungsrecht der Landesärztekammern.
Der in der Arbeitsgruppe tätige
Facharzt für Humangenetik ist für die
Durchführung der molekular- und zytogenetischen Untersuchungen verantwortlich. Die Zusatzbezeichnung Medizinische Genetik ist dieser Spezialisierung nicht gleichwertig.
Dem Leiter der Arbeitsgruppe obliegt die verantwortliche Überwachung
7
D O K U M E N T A T I O N
der in diesen Richtlinien festgeschriebenen Maßnahmen.
3.2.2. Sachliche Voraussetzungen
Neben den sachlichen Voraussetzungen
gemäß den Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion
muss zusätzlich ein molekulargenetisches und zytogenetisches Labor als
ständige Einrichtung verfügbar sein.
4. Durchführungsbedingungen
4.1. Aufklärung, Beratung
und Einwilligung
Voraussetzung für die Durchführung
von PGD ist eine ausführliche Aufklärung und Beratung des Paares über
das Verfahren, seine Vor- und Nachteile
sowie mögliche Folgen der Methode.
Dem Paar muss eine psychosoziale Beratung angeboten werden.
Die Beratung und Aufklärung durch
den Humangenetiker und den Gynäkologen muss sich auf mögliche Alternativen erstrecken, wie zum Beispiel
> Adoption oder Verzicht auf eigene
Kinder,
> im Falle einer Schwangerschaft die
Möglichkeit zur pränatalen Diagnostik
der infrage kommenden genetisch bedingten Erkrankung.
Gegenstand der Beratung und Aufklärung durch Gynäkologen und Humangenetiker müssen darüber hinaus
sein:
> die bei der assistierten Reproduktion notwendigen Maßnahmen,
> der Hinweis auf den zeitlichen
Aufwand des Verfahrens,
> der Hinweis auf die Risiken der
Methode (Operations- und Narkoserisiko, Überstimulationssyndrom, Mehrlingsschwangerschaften),
> die Erörterung der Erfolgschancen hinsichtlich einer Schwangerschaft und der Geburt eines nicht von
der infrage stehenden genetisch bedingten Erkrankung betroffenen Kindes,
> der Umgang mit gegebenenfalls
nicht transferierten Embryonen.
Es ist die schriftliche Einwilligung
beider Partner für die Durchführung
der PGD sowie deren grundsätzliche
Einwilligung für den anschließenden
8
Transfer erforderlich. Zur Absicherung
des Ergebnisses der PGD sollte mit
dem Paar auch die spätere Möglichkeit
der pränatalen Diagnostik erörtert werden.
Nach PGD ist in einem erneuten
Aufklärungs- und Beratungsgespräch
mit dem Paar zu klären, ob und gegebenenfalls welche der Embryonen transferiert werden sollen; für den Transfer
ist die Einwilligung der Frau erforderlich.
4.2. Gewinnung von Blastomeren und
Transfer von Embryonen
Totipotente Zellen, die im Sinne von § 8
des Embryonenschutzgesetzes als Embryo gelten, dürfen für die Diagnostik
nicht verwendet werden. Die Entnahme von Blastomeren darf nur nach dem
Acht-Zell-Stadium durchgeführt werden, da sie nach dem derzeitigen Kenntnisstand dann nicht mehr totipotent
sind. Bei einer Entnahme im Rahmen
einer Präimplantationsdiagnostik muss
gewährleistet sein, dass die weitere Entwicklung des Embryos nicht beeinträchtigt wird.
4.3. Nicht transferierte Embryonen
Embryonen, die nicht transferiert werden sollen, dürfen nicht kultiviert, kryokonserviert oder anderweitig verwendet werden.
4.4. Verfahrens- und Qualitätskontrolle
Jede Maßnahme der Präimplantationsdiagnostik ist dem Deutschen IVF-Register (DIR) zu melden. Es müssen die
Anzahl untersuchter Embryonen, die
Gesamtzahl der Blastomeren, die Anzahl der entnommenen Blastomeren
sowie die jeweilige Diagnose des individuellen Embryos mitgeteilt werden.
Jeder Transfer und dessen Ergebnis
ist mitzuteilen. Der Schwangerschaftsverlauf ist detailliert zu dokumentieren.
Die geborenen Kinder sind einem Pädiater vorzustellen. Im Falle einer Fehlgeburt sind die zur Klärung erforderlichen Untersuchungen durchzuführen.
Das Deutsche IVF-Register informiert
regelmäßig die „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer.
Literatur
ESHRE PGD Consortium Steering Committee; ESHRE Preimplantation Genetic Diagnosis (PGD) Consortium: preliminary assessment of data from January 1997 to September
1998. Hum Reprod, 1999; 14: 3138–3148.
Handyside AH, Scriven PN, Ogilvie CM: The
future of preimplantation genetic diagnosis.
Hum Reprod, 1998; 13 (Suppl 4): 249–255.
Kress H: Personwürde am Lebensbeginn: Gegenwärtige Problemstellungen im Umgang mit
Embryonen. Zeitschr Evangel Ethik, 1999; 43:
36–53.
Liebaers I, Sermon K, Staessen C, Joris H, Lissens W, Van Assche E, Nagy P, Bonduelle M,
Vandervorst M, Devroey P,Van Steirteghem A:
Clinical experience with preimplantation genetic diagnosis and intracytoplasmic sperm injection. Hum Reprod, 1998; 13 (Suppl 1):
186–195.
Lissens W, Sermon K: Preimplantation genetic
diagnosis: current status and new developments. Hum Reprod, 1997; 12: 1756–1761.
Ludwig M, Al-Hasani S, Diedrich K: Präimplantationsdiagnostik: preimplantation genetic diagnosis (PGD). In:Weibliche Sterilität: Ursachen, Diagnostik und Therapie. (Ed.: K. Diedrich) Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg,
New York, 1998; Vol. 1: 692–722.
Weiterführende Literatur siehe unter
Bioethik-Kommission des Landes RheinlandPfalz (Hrsg.: Caesar P): Präimplantationsdiagnostik – Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen Problemstellungen. Bericht vom 20. 6. 1999.
Hepp H: Präimplantationsdiagnostik – in
Deutschland nicht erlaubt – aber notwendig?
2000, im Druck.
Mitglieder der Arbeitsgruppe
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. H. M. Beier, Direktor des Instituts für Anatomie und Reproduktionsbiologie der Medizinischen Fakultät der
Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule, Aachen
Prof. Dr. med. K. Diedrich, Direktor der Klinik
für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Medizinische Universität zu Lübeck
Prof. Dr. med. W. Engel, Direktor des Instituts
für Humangenetik der Universität Göttingen
Prof. Dr. med. H. Hepp, Direktor der Klinik
und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Klinikum Großhadern, München
(federführend)
Prof. Dr. theol. M. Honecker,Abteilung für Sozialethik und systematische Theologie,
Evangelisch-theologisches Seminar, Bonn
Prof. Dr. med. E. Nieschlag, Direktor des Instituts für Reproduktionsmedizin, Zentrum für
Frauenheilkunde, Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Prof. Dr. jur. Dr. h. c. mult. H.-L. Schreiber, Direktor des Juristischen Seminars der Universität Göttingen
Prof. Dr. med. K.-F. Sewing, Vorsitzender des
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, Hannover
RA U. Wollersheim, Rechtsabteilung der Bundesärztekammer, Köln
Dr. med. C. Woopen, Institut für Geschichte
und Ethik der Medizin, Universität zu Köln,
Institut für Wissenschaft und Ethik, Bonn
Prof. Dr. med. H.-B. Wuermeling, em. Direktor
des Instituts für Rechtsmedizin der Universität
Erlangen-Nürnberg
Geschäftsführung: B. Heerklotz, Dezernat
Wissenschaft und Forschung, Bundesärztekammer, Köln (bis 30. Juni 1999)
Priv.-Doz. Dr. med. S. Winter, Dezernat Wissenschaft und Forschung, Bundesärztekammer, Köln
D O K U M E N T A T I O N
Heft 9, 3. März 2000
Präimplantationsdiagnostik
Embryonen, etwa mit der Argumentation: Weshalb Embryonen, die sich als
„defekt“ erwiesen haben, vernichten,
können sie doch für weitergehende
Forschung noch gute Dienste leisten.
Mit PGD wird schließlich die schiefe
Bahn zur Eugenik beschritten, wird zudem ein Tabu gebrochen, das nach den
NS-Untaten errichtet wurde. Der Wisanz restriktiv soll die Präimplan- PGD-Befürworter interpretieren die senschaftliche Beirat und die Bundestationsdiagnostik (PGD = preim- zwar zu ihren Gunsten, es gibt aber ge- ärztekammer erklären zwar ausdrückplantation genetic diagnosis) ein- wichtigere Argumente, wonach PGD in lich, sie hätten Eugenik nicht im Sinn;
gesetzt werden; nur wenigen Paaren Deutschland verboten ist. Nicht umsonst doch wenn Embryonen nach genetimit hohem genetischem Risikofaktor suchen die mit der Methode befassten schen „Defekten“ untersucht und gegesoll sie zugute kommen, ein komplizier- Kreise ja nunmehr mittels öffentlicher benenfalls ausgesondert werden, dann
tes Genehmigungsverfahren ist allem Diskussion und einer Richtlinie der ist der Weg eingeschlagen. Und er wird
vorangestellt. So sieht es der Richt- Bundesärztekammer zu Rechtssicherheit immer breiter. Man wird erwarten dürlinienentwurf des Wissenschaftlichen zu kommen. Die wird es letzten Endes nur fen, dass der Katalog von Krankheiten,
Beirats der Bundesärztekammer vor, mit Hilfe des Gesetzgebers geben; der zö- die mit PGD diagnostiziert werden könder vom BÄK-Vorstand nach längerem gert – aus gutem Grund.
nen, immer weiter ausgedehnt wird, alDie Absichten der wohlwollenden lein schon weil die wissenschaftlichen
Ringen als „Diskussionsentwurf“ für
die öffentliche Diskussion freigegeben Ärzte, die ihren Patientinnen und Pa- Erkenntnisse wachsen. Aber auch, weil
tienten zu einem von Krankheit mög- die Vorstellungen darüber, was „defekt“
wurde.
Bereits im Vorfeld kam es freilich zu lichst nicht belasteten Kind verhel- oder was „gesund“ ist, weit auseinander
gehörigen Missverständnissen. In der fen wollen, sind glaubhaft. Doch wenn gehen. Der Wissenschaftliche Beirat hat
Presse war davon zu lesen, die Ärzte- mit PGD die Grenze zur Selektion un- sich nicht getraut, und zwar aus guten
schaft gestatte nunmehr die PGD.Zu hof- geborenen Lebens überschritten wird – Gründen, einen Indikationskatalog auffen ist,dass ein Presseseminar der Bundes- und das wird sie, man mag noch so ver- zustellen. Das heißt aber auch, dass man
ärztekammer, das wenige Tage nach Be- hüllende Bezeichnungen wählen –, im Einzelfall demnächst unterschiedlich
kanntwerden des Diskussionsentwurfes dann wird die Entwicklung von den entscheiden wird, ob beispielsweise
in Berlin stattfand (dazu der Leitartikel), wohlwollenden, wohlmeinenden Wis- beim Down-Syndrom der Embryo verdie Positionen wieder etwas zurecht- senschaftlern und Ärzten nicht mehr zu worfen werden kann oder nicht. Und
gerückt hat. Die Bundesärztekammer steuern sein. Mit PGD kommt, man mag wer will eigentlich verhindern, dass neund auch ihr Wissenschaftlicher Beirat das bedauern oder insgeheim befürwor- benbei auch nach dem Geschlecht gesind nämlich keineswegs entschieden in ten, die verbrauchende Forschung an sucht und entschieden wird?
Sachen PGD. Bei dem einen
Die Diskussion um PGD
oder anderen Wissenschaftler
trifft in eine seit Jahren von phiTabelle
mag die Entscheidung viellosophischer Seite angestoßene
Präimplantationsdiagnostik im europäischen Vergleich
leicht gefallen sein, nicht aber
Debatte über Selektion von Lebei den Verantwortlichen für
ben, erinnert sei etwa an Singer
PGD
PGD
Gesetz
Gesetzeszulässig
unzulässig
vorhaben
den Richtlinienentwurf. Die
oder jüngst Birnbacher. Mit der
Großbritannien
ja
ja
freilich haben durch die Form
Diskussion um PGD werden
Dänemark
ja
ja
einer fix und fertig formulierauch die Forderungen nach
ten Richtlinie, die alsdann
verbrauchender EmbryonenNorwegen
ja
ja
zum Diskussionsentwurf erforschung wieder belebt werSchweden
ja
ja
klärt wurde, einiges dazu beiden, die seinerzeit zu den strenItalien
ja
ja
getragen, dass ein falscher
gen Regelungen des EmbryoSpanien
ja
ja
Eindruck entstehen konnte.
nenschutzgesetzes führten. In
Portugal
ja
ja
Der wird jetzt hoffentlich korder Diskussion um PGD in
Frankreich
ja
ja
rigiert sein.
Deutschland wird mit Sicherheit
Belgien
ja
PGD ist im Ausland, sodas Argument hochkommen, im
fern hier die aufwendigen
Ausland sei das aber alles erNiederlande
ja
technischen Vorrichtungen
laubt. Folgt man diesem ArguGriechenland
ja
gegeben sind, durchaus im
ment, dann wird man auf die
Österreich
ja
ja
Einsatz (siehe Tabelle). In
Dauer mit dem ethischen MiSchweiz
ja
ja
Deutschland nicht, jedennimum nicht nur bei der AusDeutschland
fraglich
ja
falls ist nichts bekannt. Die
wahl ungeborenen Lebens leben
Quelle:Vortrag Priv.-Doz. Dr. med. Stefan Winter
modifiziert nach Simon 1999*
Norbert Jachertz
Rechtslage spricht dagegen.
müssen.
Am Rande
der schiefen Bahn
G
´
C
´
9
D O K U M E N T A T I O N
Heft 9, 3. März 2000
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der Bundesärztekammer
Präimplantationsdiagnostik:
Auftakt des öffentlichen Diskurses
Die Bundesärztekammer hat eine vorläufige Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik
vorgelegt. Kritiker werfen ihr vor, der Richtlinienentwurf verstoße gegen das Embryonenschutzgesetz. Viele befürchten zudem, dass das Verfahren, gedacht für einige wenige, rasch
zur Erzeugung von „Babys nach Maß“ bei vielen führt.
E
s soll in Deutschland keiner mehr
sagen können, die Gesellschaft habe nicht gewusst, worum es geht.“
Mit diesen Worten beendete Prof. Dr.
med. Christoph Fuchs, Hauptgeschäftsführer der Bundesärztekammer (BÄK), seinen Vortrag während
eines BÄK-Seminars zum Thema
„Präimplantationsdiagnostik“ in der
vergangenen Woche in Berlin. Zuvor
hatte er begründet, warum die Ärzteschaft die gesellschaftliche Diskussion
sucht: „Die Abwägung fundamentaler
Lebenswerte wie Gesundheit, Menschenwürde, Daseinsrecht und Forschungsfreiheit kann nicht allein
durch den Rat von Einzelexperten
gelöst werden.“
Betroffen: Paare mit hohem
genetischen Risiko
Worum geht es? Die Bundesärztekammer hat vor wenigen Tagen ihren
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“
(PGD*) vorgelegt (siehe Dokumentation in diesem Heft). Konzipiert hat ihn
der Arbeitskreis „Präimplantationsdiagnostik“ des Wissenschaftlichen Beirates der Kammer.An der Entscheidungsfindung waren Ärzte, Juristen, speziell
mit Ethik befasste Wissenschaftler und
Theologen beteiligt. Der katholische
Theologe wolle „aus kirchenpolitischen
Gründen“ nicht namentlich genannt
werden, hieß es.
Im Kern geht es bei dem RichtlinienEntwurf um den Verfahrensablauf und
die Voraussetzungen, unter denen Ärztinnen und Ärzte Paaren mit hohen ge-
10
netischen Risikofaktoren zu einem gesunden Kind verhelfen dürfen. Im Ausland, wo die PGD teilweise zulässig ist,
wird folgender Weg gewählt: Ein Paar,
das die schwere genetische Schädigung
eines Kindes aufgrund eigener hoher
Risikofaktoren befürchtet, unterzieht
sich einer künstlichen Befruchtung, obwohl keine Unfruchtbarkeit vorliegt.
An dem im Reagenzglas gezeugten
Embryo wird nach drei Tagen in einem
Kulturmedium die Biopsie von einem
oder zwei Blastomeren vorgenommen.
Sie werden molekulargenetisch untersucht. Die Blastomere gilt nach dem
Acht-Zell-Stadium nicht mehr als totipotente Zelle – ein vermeintliches Detail, das freilich für die Entscheidung
bedeutsam ist, ob sich diese Diagnostik
mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbaren lässt.
Die ethische Diskussion umfasst im
Kern den sich anschließenden Konflikt.
Ist eine schwere genetische Schädigung
nachzuweisen, wird der Embryo vermutlich nicht in die Gebärmutter eingesetzt. Schließlich will man durch das gewählte diagnostische Verfahren die Geburt eines schwerstgeschädigten Kindes
gerade verhindern.
Doch es gibt weitere Fragen: Ist es
ethisch zu rechtfertigen, auf die sehr
frühe PGD zu verzichten, um dann viel
später einen Fetus abzutreiben, weil mit
Hilfe der Pränataldiagnostik schwerste
Behinderungen nachgewiesen wurden?
Ist es konsequent, frühestes Leben im
Reagenzglas durch das Embryonenschutzgesetz kategorisch zu schützen
und die PGD zu verbieten, diesen
* PGD steht für „preimplantation genetic diagnosis“. Als
Abkürzung wird auch PID verwendet.
Schutz aber im Rahmen des § 218 StGB
zu lockern? Scheint es realistisch, dass
man ein Verfahren auf wenige Paare begrenzen kann, oder werden immer
mehr Eltern, Unternehmen, Staaten auf
den Geschmack der frühen Auswahl
kommen und sich über die Bedenken
hinwegsetzen, die gegen Selektion und
Eugenik bestehen?
PGD ja, aber
in engen Grenzen
Die Autoren der Richtlinie schlagen
vor, die PGD in Deutschland zu erlauben, allerdings nur in sehr engen
Grenzen. Jede Art eugenischer Selektion und Zielsetzung müsse vermieden werden. Der Anwendungsbereich
liege derzeit bei monogen bedingten
Erkrankungen und bei Chromosomenstörungen. Die Entscheidung soll
stets im Einzelfall getroffen werden.
Eine Liste von infrage kommenden
Krankheiten, bei denen die PGD angewendet werden darf, enthält der Entwurf nicht. Um Ärztinnen und Ärzte
bei ihrer Entscheidung zu unterstützen,
aber auch, um Missbrauch zu verhindern, sollen zwei Kommissionen in
die Abwägung einbezogen werden, eine auf Ebene der jeweiligen Landesärztekammer, eine bei der Bundesärztekammer.
Reicht das aus? Im Bundesministerium für Gesundheit ist man skeptisch.
Zwar wird der Richtlinien-Vorschlag
als wertvoller Beitrag zur Diskussion
gewertet. Doch am Anfang hätte besser
eine Regelung durch den Gesetzgeber
gestanden als eine Richtlinie der Ärzte-
D O K U M E N T A T I O N
schaft, heißt es. Was schwerer wiegt, ist Präimplantationsdiagnostik und Direk- Weg zu einer gewünschten Schwangerdie Einschätzung, dass die Bundesärz- tor der Klinik und Poliklinik für Frau- schaft.
tekammer mit ihrem Vorschlag gegen enheilkunde und Geburtshilfe des
In der ausführlichen Diskussion
das Embryonenschutzgesetz verstößt Münchner Klinikums Großhadern. während des Presseseminars der BÄK
(siehe Kasten). Im Ministerium bewer- Hepp sprach das Thema „Selektion“ di- in Berlin ließ Hepp jedoch erkennen,
ten es Fachleute schon als kritisch, dass rekt an, als er die Unterschiede zwi- dass er die vielfältigen Gefahren der
ein Verfahren wie die künstliche Be- schen einer In-vitro-Fertilisation mit PGD sieht. Durch ihre Erlaubnis könne
fruchtung, die für sterile Paare gedacht Embryonentransfer und einer PGD er- man in die Eugenik hineinschlittern.
ist, ausgeweitet wird. Der eigentliche läuterte. Erstere sei ein Therapieverfah- Deswegen habe sich der WissenschaftliVerstoß gegen das Embryonenschutz- ren, um einem ungewollt kinderlosen che Beirat beispielsweise dagegen entgesetz wird aber darin gesehen, dass ein Paar zu einer Empfängnis und einer schieden, eine Liste von Krankheiten
Embryo nicht gezeugt werde, um eine Schwangerschaft zu verhelfen. Anders aufzustellen, bei deren Verdacht risikoSchwangerschaft herbeizuführen, son- die PGD: Sie „hat zum Ziel, ein mit ho- behafteten Paaren der Einsatz der PGD
dern in Wirklichkeit erst einmal für dia- hen Risikofaktoren belastetes Paar ermöglicht werden soll. Durch den Vergnostische Zwecke – was verboten ist.
nach einer ,Zeugung auf Probe‘ und der zicht entstünden aber ebenfalls ProbleIm Ministerium akzepme – so könnte die Methode
tiert man auch nicht den Einin der Praxis auf immer
wand von manchen PGDmehr Erkrankungen ausgeBefürwortern, es handele
weitet werden.
sich doch lediglich um eine
Wie man verhindern wol§ 1 Abs. 1 Nr. 2: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
vorgezogene
Pränataldiale,
dass alle Paare, die eine
mit Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, eine Eizelgnostik (PND). Hier wird arkünstliche Befruchtung vorle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eigumentiert, im Fall der PND
nehmen ließen, nach der
ne Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die
liege eine Schwangerschaft
PGD verlangten, wurde geEizelle stammt . . .“
§ 2 Abs. 1: „Wer einen extrakorporal erzeugten oder einer
bereits vor. Dabei handele es
fragt. Wenn es nicht möglich
Frau vor Abschluss seiner Einnistung in der Gebärmutter
sich um eine Situation, in der
sei, die Anwendung sehr eng
entnommenen menschlichen Embryo veräußert oder zu
sich der Embryo sowohl unzu begrenzen, dann sei er
einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck abgibt,
ter dem Schutz des Rechts
eher für ein Verbot dieses
erwirbt oder verwendet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu
wie dem Schutz der Frau beVerfahrens, stellte Hepp klar.
drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
finde. Dem stehe auch § 218
Er gab jedoch zu bedenken,
StGB nicht entgegen, denn
dass es schon heute Ansätze
eine Abtreibung sei rechtszu Selektion gebe: Paare nutwidrig und nur unter bestimmten Be- Diagnostik . . . im Falle eines pathologi- zen offenbar die Möglichkeiten der Prädingungen straffrei. Ein Embryo in schen Befundes durch Selektion, das nataldiagnostik zu „Schwangerschaften
vitro stehe dagegen nur unter dem heißt durch Sterbenlassen des in Warte- auf Probe“. Nach Einschätzung Hepps
Schutz des Rechts.
position stehenden Embryos, vor einem ist dies rechtlich möglich, wenn auch
Prof. Dr. med. Karl-Friedrich Se- kranken Kind zu bewahren“. Dieses ethisch bedenklich. In der Gesellschaft
wing, der Vorsitzende des Wissen- Verfahren wird inzwischen weltweit in sei das Bewusstsein über solche Mögschaftlichen Beirats der Bundesärzte- 29 Zentren erprobt, zehn davon liegen lichkeiten gewachsen, bis hin zum Ankammer, hat solchen Einwänden und in den USA. Bisher nutzten rund 400 spruch auf ein unbehindertes Kind. Und
dem Vorwurf von Selektion und Eu- Paare diese diagnostische Möglichkeit; die Rolle der Ärzte? „Es gibt kein
genik widersprochen. Das Ziel der die Zahl der nach PGD geborenen Kin- schuldfreies Arztsein, weder bei der
In-vitro-Fertilisation mit Präimplanta- der liege bei 100.
Präimplantationsdiagnostik noch bei der
Sabine Rieser
tionsdiagnostik sei zweifellos die
Wie Sewing urteilte aber auch Hepp, Pränataldiagnostik.“
Schwangerschaft, erklärte er in Berlin. dass der Richtlinien-Entwurf der BÄK
Er verwies zudem auf § 218 StGB, der zur Präimplantationsdiagnostik mit
festlegt, dass „Handlungen, deren Wir- dem Embryonenschutzgesetz vereinbar
kung vor Abschluss der Einnistung des ist. Denn er gibt vor, dass die Diagnobefruchteten Eis in der Gebärmutter stik nur an einer nicht mehr totipoteneintritt, nicht als Schwangerschaftsab- ten Blastomere vorgenommen wird.
bruch im Sinne dieses Gesetzes“ gelten. Auch sei das Ziel eine Schwangerschaft
Es sei schwierig zu verstehen, warum der Frau. Hepp schloss sich hier der
dann die Unterlassung eines Transfers Sicht jener Juristen an, die argumentieeines in vitro gezeugten Embryos straf- ren, dass die „Verwerfung“ eines Embar sein sollte.
bryos nicht Ziel der künstlichen BeAuf die zahlreichen Konflikte ging fruchtung beziehungsweise der PGD
Prof. Dr. med. Hermann Hepp ein. Er sei. Sie sei eher eine unerwünschte Neist Federführender des Arbeitskreises benfolge oder ein Fehlschlag auf dem
Gesetz zum Schutz von Embryonen
11
D O K U M E N T A T I O N
Heft 10, 10. März 2000
Präimplantationsdiagnostik
Plädoyer für eine unvoreingenommene,
offene Debatte
Die Bundesärztekammer hat, erarbeitet durch ihren Wissenschaftlichen Beirat, einen
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorgelegt; er wurde
in Heft 9/2000 veröffentlicht. Die Verfasserin nimmt zu den damit angesprochenen ethischen
Fragen der medizinischen Forschung und ihrer möglichen Anwendung aus Sicht des
Bundesgesundheitsministeriums Stellung.
D
ie Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis =
PGD) steht im Widerspruch zum
Embryonenschutzgesetz, wonach eine
Eizelle nur zum Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft bei
der Frau, von der die Eizelle stammt,
künstlich befruchtet werden darf; ein
Embryo darf auch nur zu diesem Zweck
extrakorporal weiterentwickelt werden; ein extrakorporal erzeugter Embryo darf zu keinem anderen Zweck als
zu seiner Erhaltung verwendet werden,
siehe § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 2 Abs. 1 und 2
ESchG. Ziel der Regelung der künstlichen Befruchtung im Embryonenschutzgesetz ist die Behandlung von
Fertilitätsstörungen, also die Erfüllung
des Kinderwunsches einer Frau oder eines Paares.
Grundrechtschutz kommt
bereits dem Embryo zu
Bei der PGD wird die Eizelle aber
zunächst nur zu diagnostischen Zwecken
künstlich befruchtet. Stellt sich dabei
heraus, dass der Embryo mit der vermuteten genetischen Erkrankung belastet ist, wird er verworfen. Die künstliche Befruchtung verlässt hier also den
Rahmen des Embryonenschutzgesetzes. Die Indikation für eine fortpflanzungsmedizinische Maßnahme wird
ausgeweitet. Embryonen werden künstlich erzeugt, ohne dass Fertilitätsstörungen bei der Frau oder dem Paar
vorliegen, um bereits vor Beginn der
Schwangerschaft eine genetische Untersuchung der extrakorporal vorlie-
12
genden Embryonen zu ermöglichen
und eine Auswahl im Hinblick auf eine
genetische Erkrankung des zukünftigen
Kindes treffen zu können.
Teilweise wird die PGD bereits jetzt
als – in engen Grenzen – nicht durch das
Embryonenschutzgesetz verboten angesehen, weil auch bei der PGD der Gesamtvorgang letztlich die Erfüllung des
Wunsches nach einem – gesunden –
Kind zum Ziel habe und dies nur unter
der Voraussetzung geschehe, dass dabei
keine totipotenten Zellen, also solche,
aus denen noch ein ganzer Mensch entstehen kann, betroffen werden. Aber
auch bei dieser Haltung ist zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes
der Gesetzgeber verpflichtet ist, in
grundlegenden gesellschaftlichen Fragen, zumal im Bereich der Grundrechtsberührung, alle wesentlichen Entscheidungen selbst – durch Gesetz – zu
treffen. Menschenwürde und Grundrechtsschutz kommen bereits dem ungeborenen menschlichen Leben von
Anbeginn seiner Existenz an zu, und
damit auch dem Embryo. Die Präimplantationsdiagnostik bedarf wegen ihrer grundlegenden ethischen Bedeutung und schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen vor ihrer Einführung eines Grundkonsenses in der
Gesellschaft und damit einer Regelung
durch den Gesetzgeber.
Auch wenn die BÄK ihren Entwurf
zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik als Diskussionsentwurf
vorlegt, halte ich es unter der vorstehend beschriebenen Ausgangslage für
nicht unproblematisch, dass der Dis-
kussionsentwurf zum jetzigen Zeitpunkt vorgelegt wird, zumal es im Vorwort zum Entwurf heißt, dass mit dem
Entwurf versucht werden soll, unter anderem den gesetzlichen Regelungen auf
dem Gebiet der PGD gerecht zu werden. Damit entsteht der Eindruck einer
einseitigen Interpretation des Embryonenschutzgesetzes und einer bereits
festgelegten Position zur PGD, bevor
die öffentliche Diskussion hierzu begonnen hat. Auch wird die PGD in
Deutschland aus den vorerwähnten
rechtlichen Gründen nicht praktiziert,
sodass Eile nicht geboten ist.
Auch die Bioethik-Kommission des
Landes Rheinland-Pfalz, auf die der
Diskussionsentwurf in seinem Vorwort
Bezug nimmt, hat in ihren Thesen zu
den medizinischen, rechtlichen und
ethischen Problemstellungen der Präimplantationsdiagnostik wegen der
grundlegenden Bedeutung der PGD
ebenfalls eine rechtliche Regelung der
Voraussetzungen für die Zulässigkeit
der PGD gefordert.
International sind die Regelungen zur
PGD unterschiedlich. Im nahen Ausland
ist die PGD zum Teil zugelassen, wie zum
Beispiel in Belgien und Großbritannien.
Für die Erhaltung oder Festlegung von
ethischen und rechtlichen Prinzipien
kann dies jedoch nicht entscheidend sein.
Denn der Staat, der für das Wohl seiner
Bürgerinnen und Bürger und die Beachtung der Grundrechte verantwortlich ist,
kann sich nicht mit Blick auf das Ausland
seiner eigenen Verantwortung entziehen. Er muss in den grundlegenden Fragen eine eigene innerstaatlich begründete Entscheidung treffen.
D O K U M E N T A T I O N
Begründet wird die PGD damit, dass
auf diese Weise der Frau eine spätere
Abtreibung nach Pränataldiagnostik
erspart werden könne. Aber so verständlich der Wunsch von Eltern ist, ein
gesundes Kind zur Welt zu bringen, und
das Bestreben der Ärzte, Eltern dabei
zu helfen – so muss man doch auch sehen, dass mit dem Verwerfen eines genetisch belasteten Embryos ein Mensch
im frühen Stadium seiner Entwicklung
vernichtet wird. Ein genetisch kranker
Embryo wird geopfert, um einem unbelasteten Embryo zum Leben zu verhelfen. Menschen beispielsweise mit Mukoviszidose, die ein lebenswertes Leben
führen, verurteilen diese Methode zu
Recht.
Gefahr einer
„Erwartungshaltung für
gesunde Kinder“
Das Recht auf Leben eines behinderten Menschen gerät in Gefahr, wenn
man im Zusammenhang mit der PGD
eine Auswahl zugunsten des nicht behinderten Lebens vornimmt. Es besteht die Gefahr, dass in der Gesellschaft eine Erwartungshaltung für gesunde Kinder entsteht und es Eltern
schwer gemacht wird, sich für ein behindertes Kind zu entscheiden. Der oft
ins Feld geführte Einwand, die PGD
als vorgezogene Pränataldiagnostik zu
bewerten, ist zu hinterfragen. Auch bei
durchgeführter PGD bleibt wegen der
hohen Fehlerquote eine Pränataldiagnostik erforderlich. Vor allem aber
sind beide Situationen nicht miteinander vergleichbar.
Gesetzentwurf zur
Fortpflanzungsmedizin
Die Schwangerschaft ist eine einzigartige Situation, die unvergleichbar mit anderen Situationen ist und die durch die
körperliche Verbindung von Embryo
und Frau gekennzeichnet ist. Der Fetus,
Embryo in vivo, ist ohne die Frau nicht
lebens- und entwicklungsfähig. Die
Schwangerschaft hat für die Frau weitreichende Konsequenzen. Daher wird
die – gesetzlich verbotene – Abtreibung
unter bestimmten Bedingungen nicht
bestraft. Hieraus können keine Rechtfertigungsgründe für andere, nicht vergleichbare Situationen abgeleitet werden. Der Embryo in vivo steht unter
dem realen Schutz der Frau, der Embryo in vitro auf dem Labortisch steht
nur unter dem rechtlichen Schutz und
ist daher darauf besonders angewiesen.
Daher ist auch eine parallele Regelung
der Voraussetzungen von PGD und
Schwangerschaftsabbruch hinsichtlich
gesundheitlicher
Beeinträchtigungen
der zukünftigen Schwangeren beziehungsweise der wirklich Schwangeren,
wie dies in dem Diskussionsentwurf
vorgenommen wird, fragwürdig.
Seit 1994 hat der Bundesgesetzgeber
die Gesetzgebungskompetenz für die
Fortpflanzungsmedizin. In den letzten
Jahren haben das Bundesministerium
für Gesundheit, andere Bundesministerien und die Länder in einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe bereits Vorarbeiten
für ein solches Gesetz geleistet. Diese
Arbeitsgruppe endete 1998 mit dem
Diskussionsergebnis, am Verbot der
PGD festzuhalten. Die Konferenz der
Gesundheitsminister der Länder hat im
Juni 1999 die Bundesregierung aufgefordert, ein Fortpflanzungsmedizingesetz vorzulegen und darin neben anderen rechtlich nicht geklärten Fragen der
Fortpflanzungsmedizin auch die Frage
der PGD zu klären.
Das Bundesministerium für Gesundheit als federführendes Ressort
beabsichtigt, einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen. In Anbetracht der
grundlegenden ethischen Fragen und
schwerwiegenden gesellschaftlichen
Folgen, die mit einem solchen Gesetz
berührt werden, ist es aber unerlässlich, dass vor der Entscheidung über
die Regelungen eines solchen Gesetzentwurfes eine intensive und offene
gesellschaftliche Diskussion über alle
wichtigen Fragen stattfindet. Das Bundesministerium für Gesundheit wird
daher vom 24. bis 26. Mai 2000 in Berlin ein Symposium zu den aktuellen
medizinischen, ethischen, rechtlichen
und gesellschaftlichen Fragen der
Fortpflanzungsmedizin und den damit
in Zusammenhang stehenden Fragen
des Embryonenschutzes, auch zur
PGD, durchführen. Auf der für die Öffentlichkeit zugänglichen Veranstaltung mit Fachreferaten, Podiums- und
Plenumsdiskussionen soll der derzeitige Meinungsstand der medizinischen
Wissenschaft und Praxis, der Forschung, Ethik, Rechts- und Sozialwissenschaften zum Thema dargestellt
und kontrovers diskutiert werden.
Endgültige Position erst
nach breiter Diskussion
Die durch den Entwurf einer Richtlinie
zur PGD ausgelöste Diskussion in der
Ärzteschaft wird mit Sicherheit neben
den von mir vorgebrachten Gesichtspunkten noch andere hinzufügen. Und
auch von den anderen Professionen
und der Öffentlichkeit müssen deren
Sachverstand und Überzeugungen in
die Debatte eingebracht werden.
Ich halte es für wünschenswert, dass
die Ärzteschaft ihre endgültige Position
erst nach einer solchen breiten und offen geführten Diskussion festlegt.
Ulrike Riedel
Leiterin der Abteilung
Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbekämpfung
Bundesministerium für Gesundheit
Am Probsthof 78 a, 53108 Bonn
E-Mail: [email protected]
13
D O K U M E N T A T I O N
Heft 14, 7. April 2000
Präimplantationsdiagnostik
Mensch von Anfang an
Stellungnahme des Erzbischofs von Köln zum Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer zur Präimplantationsdiagnostik
D
em im Deutschen Ärzteblatt (Heft
9/2000) veröffentlichten „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der
Bundesärztekammer zur Präimplantationsdiagnostik“ (preimplantation genetic
diagnosis; PGD) muss aus katholischer
Sicht entschieden widersprochen werden. Die Kirche respektiert die Eigenständigkeit der medizinischen Wissenschaft, und sie beansprucht ausdrücklich
nicht, der ärztlichen Selbstverwaltung in
ihre eigenen Angelegenheiten hineinzureden. Der genannte Text betrifft aber
Grundlagen unserer Werteordnung, und
es darf nicht verschwiegen werden, dass
er dabei eindeutig eine unaufgebbare
moralische Grenze überschreitet. Obwohl dies gewiss nicht beabsichtigt ist,
stellt er im Ergebnis eine Aufforderung
zur Verletzung der Würde des Menschen
dar, indem er ärztliche Hilfe zur Identifizierung und anschließenden Tötung angeblich lebensunwerten (wenn auch dieser Begriff im Diskussionsentwurf nicht
fällt) menschlichen Lebens anbietet, sodass nur Kinder ohne befürchtete Schädigung die Chance auf ein weiteres Leben haben.
Die Bezugnahme der Bundesärztekammer auf „sorgfältige Güterabwägung“, „Einzelfallentscheidung“, „umfassende Aufklärung und Beratung“,
„äußerst restriktive“ Zulassungskriterien, „Würdigung des Lebensrechts des
Kindes“ kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbstverständlich kein unschuldiger und hilfloser Mensch nach
„sorgfältiger Güterabwägung“, „Einzelfallentscheidung“, „umfassender Aufklärung und Beratung“, bei „äußerst restriktiven“ Zulassungskriterien und unter „Würdigung seines Lebensrechts“
getötet werden darf.
Der Richtlinienentwurf der Bundesärztekammer widerspricht im Übrigen der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland und dem von der
gleichen Bundesärztekammer 1996 ver-
14
öffentlichten ärztlichen Gelöbnis, das
den Arzt „jedem Menschenleben von
der Empfängnis an (!) Ehrfurcht“ entgegenzubringen verpflichtet.
Als katholischer Bischof habe ich mit
großem Respekt die intensiven Bemühungen sensibler Teile der deutschen Ärzteschaft beobachten können,
die traurige Geschichte der Mitwirkung
von Ärzten an der „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aufzuarbeiten. Dabei erlebten es diese Ärzte als besonders erschütternd, dass die verhängnisvollen Ideen und praktischen Vorschläge damals von ärztlichen Kollegen ausgingen und von einer menschenverachtenden Politik erst später aufgegriffen
und umgesetzt wurden. Was der jetzige
Richtlinienentwurf der deutschen Bun-
desärztekammer beschreibt und offensichtlich ermöglichen will, ist recht
besehen nichts anderes als ein erneuter
Versuch der „Verhütung erbkranken
Nachwuchses“ mit den technischen
Mitteln des 21. Jahrhunderts. Ich bin daher gewiss, dass aus der Mitte der deutschen Ärzteschaft selbst solchen Entwicklungen entschieden widerstanden
wird. Die Christen in diesem Lande
werden das nach Kräften unterstützen.
Leider gibt der von der Bundesärztekammer zur Diskussion gestellte Text
einer weitverbreiteten dumpfen Mentalität nach, für die lebenswert vor allem
das gesunde, nicht behinderte und kräftige Leben ist. Was den Anfang des
menschlichen Lebens betrifft, sinkt bei
uns die öffentliche Empörung über die
Tötung menschlichen Lebens tendenziell, je hilfloser ein Mensch ist, das heißt,
je näher der Zeitpunkt der Tötung an
den Lebensbeginn rückt: von der Tötung geborener Kinder über Spätabtreibungen bis zu Frühabtreibungen. Christen, die an einen Gott glauben, der den
Schwachen und Hilflosen besonders nahe ist, sind umgekehrt aufgerufen, sich
gerade um die Schwächsten der Schwa-
Heft 16, 21. April 2000
Präimplantationsdiagnostik
Kein Blick
aufs Ganze
Präimplantationsdiagnostik – Ärzte als Wegbereiter der Embryonenselektion? Unter dieser Überschrift lud die Ärztekammer Berlin Mitte April zu einem Symposium ein. Es war gedacht als Kontrapunkt zu einer Ver-anstaltung der Bundesärztekammer (BÄK), bei der diese ihren Diskussionsentwurf zu einer PGD-Richtlinie vorgestellt hatte. Die
BÄK schlägt vor, die PGD (= preimplantation genetic diagnosis) in sehr engen Grenzen zu erlauben.
Die Berliner Kammer hingegen hatte angeregt,
über das „Ob“ der PGD nachzudenken, bevor man
Überlegungen zum „Wie“ anstelle.
Trotz der kritischen Einladungsworte waren
Befürworter der Methode zum Vortrag eingeladen. Zudem äußerten sich ihre Verfechter unter
den Zuhörern. Sie alle argumentieren auf zwei
Ebenen: Eine Gesellschaft, die den § 218 StGB toleriere und die pränatale Diagnostik, könne die
PGD im Grunde nicht mehr ablehnen. Als zwei-
tes Argument dienen drastische Einzelfallschilderungen.
Wer so argumentiert, der wolle die PGD immer
nur mit Blick auf eine einzelnes Paar sehen. Sie habe darüber hinaus aber eine gesellschaftliche Dimension, wandte Prof. Dr. rer. nat. Regine Kollek
ein, Vorsitzende des Ethikbeirats des Bundesgesundheitsministeriums. Diese Kritik ist zutreffend.
PGD bedeutet für eine Gesellschaft Selektion,
und seien die Gründe noch so wohl überlegt und die
Anwendung auf Einzelfälle beschränkt. Die Befürworter dieser Methode leugnen das letztlich nicht,
zögern dieses Eingeständnis aber gern hinaus, indem sie entsprechende Begriffe aussparen oder etwas beleidigt anmerken, man höre sie nicht gern.
Zur gesellschaftlichen Dimension gehört zudem,
dass die Begrenzung der PGD ein Wunsch bleiben
wird. Ihr Einsatz wird zunehmen, und ihre Möglichkeiten werden rasch, ähnlich wie die der Pränataldiagnostik, viele Frauen mit Kinderwunsch beeinflussen.
Jede schwangere Frau sei besorgt, suggerierte
ein Arzt während des Symposiums und begründete
so indirekt, warum entsprechende Untersuchungsund Kontrollmöglichkeiten positiv zu bewerten sind.
Wie schön, wenn man heute noch glauben kann, das
Besorgtsein habe allein mit der naturgegebenen Befindlichkeit von Schwangeren zu tun – und nichts
mit dem Angebot von Ärzten oder der Erwartungshaltung einer Gesellschaft.
Sabine Rieser
D O K U M E N T A T I O N
Heft 17, 28. April 2000
chen besonders zu sorgen. Das menschliche Leben im Reagenzglas ist nicht geschützt durch die spontane emotionale
Tötungshemmung, die ein Kindergesicht auslöst. Dennoch belehrt uns gerade die moderne Medizin, dass es
„Mensch von Anfang an“ ist. So hilflos
und ausgeliefert es ist, bedarf es unseres
besonderen Schutzes.
Hier zeigt sich im Übrigen, dass die
auf den ersten Blick bisweilen schwer
verständliche kirchliche Ablehnung der
künstlichen Befruchtung sehr ernste
Gründe hat. Die Kirche sieht die Entstehung menschlichen Lebens in der
ganzheitlichen Geborgenheit der ehelichen Liebe beheimatet. Der technische
Eingriff, so nachvollziehbar die Motive
auch sein mögen, macht dagegen den
gezeugten Menschen zum manipulierbaren Objekt. Grenzen der Manipulation sind bei fortschreitender Technik,
wie wir bei den attraktiven Möglichkeiten der Präimplantationsidagnostik sehen können, kaum mehr plausibel zu
machen.Auch die von wichtigen Vertretern der Ärzteschaft kritisierte Tatsache, dass in Deutschland die Feststellung einer Behinderung de facto eine
legale Abtreibung bis zur Geburt ermöglicht, führt nun zu der menschenverachtenden, allerdings scheinbar logischen Frage, warum man dann nicht
schon früher töten dürfe.Auf diese Weise wird deutlich, dass dann, wenn bestimmte Grenzen überschritten werden, es kein Halten mehr gibt.
Bedenklicher Vorgang
Bedenklich ist nicht, dass über derlei Fragen diskutiert wird, können doch solche
Debatten die Öffentlichkeit besser informieren und alarmieren.Bedenklich ist allerdings, dass die offizielle Vertretung der
deutschen Ärzteschaft, die Bundesärztekammer selbst, einen Text mit solch
unerträglicher Aussage des von ihr selbst
berufenen Wissenschaftlichen Beirats
der Öffentlichkeit zur Diskussion empfiehlt. Ein derartiger Vorgang ist im
Übrigen eine deutliche Warnung, dass
hochrangig besetzte „Ethikkommissionen“, die auch in dem Papier vielfältig
gefordert werden, keinesfalls Garanten
für ethisch vertretbare Entscheidungen
Joachim Kardinal Meisner
sind.
DISKUSSION
zu dem
Diskussionsentwurf zu
einer Richtlinie der
Bundesärztekammer
und den dazu
erschienenen Berichten
und Kommentaren
German disease
Die Stellungnahme des BMG, das deutsche Embryonenschutzgesetz verbiete
die Präimplantationsdiagnostik, ist in
dieser verkürzten Form schlicht falsch.
Vielmehr haben maßgebliche Stimmen
in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung seit geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass diese Aussage nur für
das frühe Stadium bis zum Ende der
Totipotenz gilt. Bemerkenswert ist im
Übrigen, dass man sich im BMG nicht
einmal an die Position des früheren Leiters des Referats „Grundsatzfragen des
Gesundheits- und Medizinrechts“1 erinnern kann oder will, der sich der Thematik noch mit der gebotenen Differenziertheit genähert – und die PID mit gewissen Einschränkungen für zulässig
gehalten hat.
Œ Richtig ist allerdings, dass § 8
Abs. 1 Embryonenschutzgesetz (ESchG)
die befruchtete, entwicklungsfähige
menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der
Kernverschmelzung an und jede einem
Embryo entnommene totipotente Zelle,
die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag, als Embryo im Sinne
des Gesetzes definiert. Danach ist es
eindeutig unzulässig, eine totipotente
Zelle einem Embryo zu entnehmen,
an ihr die Präimplantationsdiagnostik
durchzuführen und von deren Ausgang
das weitere Schicksal des „Rest-Embryos“ abhängig zu machen. Durch das
Zerstören der noch totipotenten Zelle
zu Diagnosezwecken würde § 2 Abs. 1
ESchG verletzt, da die Diagnosemethode nicht dem Erhalt des Embryos dient.
Um in der Systematik des Embryonenschutzgesetzes zu verbleiben, wäre diese
Art der Präimplantationsdiagnostik die
Klonierung eines Zwillings zur verbrauchenden Diagnostik. Diese noch im
Diskussionsentwurf (§ 7) vorgesehene
Möglichkeit ist zu Recht gestrichen worden, da ansonsten ein unlösbarer Normwiderspruch zu § 2 Abs. 2 Diskussionsentwurf aufgetreten wäre2.
 Im Umkehrschluss untersagt das
Embryonenschutzgesetz aber nicht die
Präimplantationsdiagnostik an bereits
nicht mehr im Sinne von § 8 ESchG totipotenten Zellen des Trophoblasten3,
durch deren Verbrauch § 2 Abs. 1
ESchG nicht mehr verletzt wird4. Die
dagegen zum Teil früher vorgebrachten
Bedenken5 beruhen überwiegend auf
der heute widerlegten Vermutung, die
Kryokonservierung des Rest-Embryos
sei mit hohen Lebensrisiken verbunden; außerdem sei zu befürchten, dass
derartige Methoden Screening-Charakter bekämen. Letzteres ist aber nicht
Gegenstand des Embryonenschutzgesetzes, sofern nicht die dort enthaltenen
Tatbestände verletzt werden. Dies wäre
vielmehr Aufgabe des ärztlichen Berufsrechts oder eines noch zu verabschiedenden Fortpflanzungsmedizingesetzes. § 2 Abs. 2 ESchG wird durch die
Diagnostik an bereits ausdifferenzierten Zellen des Trophoblasten nicht verletzt, wenn nach Lage der Dinge eine
Übertragung des Embryos im selben
Zyklus noch möglich ist. Tauchen unvorhergesehene Hindernisse auf, ist ohnehin eine weitere Kryokonservierung
zulässig, ohne dass alleine deswegen das
Embryonenschutzgesetz verletzt wäre6.
Des Kunstgriffes, die Präimplantationsdiagnostik an ausdifferenzierten Zellen
des Trophoblasten als Heilversuch zugunsten des übrigen Embryos anzusehen7, bedarf es somit nicht.
Ž Schließlich wird im Falle geplanter Präimplantationsdiagnostik auch
nicht zu einem anderen – und damit illegitimen – Zweck die Eizelle künstlich
befruchtet (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG) beziehungsweise die extrakorporale Weiterentwicklung des Embryos bewirkt
(§ 2 Abs. 2 ESchG), als zur Herbeiführung einer Schwangerschaft der
Frau, von der die Eizelle stammt, wenn
grundsätzlich die Voraussetzungen für
einen Transfer gewährleistet werden.
Auch wenn feststeht, dass ein belasteter Embryo nicht übertragen werden
15
D O K U M E N T A T I O N
soll, ist die Verwerfung dieses Embryos
doch nicht Ziel der künstlichen Befruchtung beziehungsweise der Weiterentwicklung des Embryos. Im Gegenteil ist die etwaige spätere Verwerfung
des Embryos wegen einer Verwirklichung des drohenden Risikos höchst
unerwünscht. Von einer Absicht im
Sinne zielgerichteten Wollens8 kann
aber nicht die Rede sein, wenn der eingetretene Erfolg sich lediglich als eine
dem Täter höchst unerwünschte Nebenfolge beziehungsweise als Fehlschlag gegenüber dem eigentlich von
ihm erstrebten Ziel darstellt9. Bei jeder
In-vitro-Fertilisation wird der Embryo-Transfer von verschiedenen Faktoren, deren Vorliegen erst nach der
Zeugung festgestellt werden kann, abhängig gemacht. Dies gilt dafür, dass
seitens der Frau keine körperlichen
Probleme auftreten, insbesondere die
hormonelle Stimulation wie geplant
läuft. Auch seitens des Embryos müssen bestimmte Bedingungen erfüllt
sein, deren Vorliegen im Zeitpunkt seiner Zeugung nicht sicher ist. Ein Embryo mit bereits optisch wahrnehmbaren Fehlentwicklungen wird nicht
übertragen. Auch an dieser Stelle müss1
2
3
4
5
6
7
8
9
R. Neidert, MedR 1998, 347, 352.
H.-L. Günther, Pränatale Diagnose und Pränatale Therapie genetischer Defekte aus
strafrechtlicher Sicht, in: H.-L. Günther/Rolf
Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und
Humangenetik – Strafrechtliche Schranken?, 2. Aufl. 1991, S. 237.
Insoweit wird vorausgesetzt, dass der erforderliche naturwissenschaftliche Beweis erbracht werden kann. Jenseits des Acht-ZellStadiums wird ein Verlust der Totipotenz angenommen, hierzu Krebs, Lexikon der
Bioethik 1998, Stichwort „Embryonenforschung“. Weitere Nachweise bei M. Ludwig,
Präimplantationsdiagnostik, Alternative zur
pränatalen Diagnostik?, Ärztliche Praxis
Gynäkologie 1998, 387 ff.; M. Ludwig, S. AIHasani, K. Diedrich, Präimplantationsdiagnostik, in: K. Diedrich (Hrsg.), Weibliche
Sterilität. Springer 1998, S. 692 ff.
R. Keller/H.-L. Günther/P. Kaiser, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, 1992, Einführung A VIII Rz. 15, § 2 ESchG Rz. 56, 63.
R. Neidert, Brauchen wir ein Fortpflanzungsmedizingesetz?, MedR 1998, 347 (allerdings eine Änderung der Berufsordnung anmahnend).
Vgl. z. B. H.-L. Günther, Strafrechtlicher
Schutz des menschlichen Embryos über
§ 218 ff. StGB hinaus?, in: Günther/Keller,
Fortpflanzungsmedizin, a.a.O. (Fn. 15), S.
170.
Keller/Günther/Kaiser, a.a.O. § 2 ESchG Rz.
63.
Keller/Günther/Kaiser, a.a.O. (Fn. 17), § 2
ESchG Rz. 56.
Keller/Günther/Kaiser, a.a.O. (Fn. 17), § 1
Abs. 1 Nr. 2 ESchG Rz. 15.
Vgl. BGHSt 16, 6.
16
ten sich die Gegner der Präimplantationsdiagnostik fragen lassen, warum
ein Embryo mit äußerlich erkennbaren Fehlern zweifellos verworfen werden darf, es aber verboten sein soll,
nach „inneren“ Fehlern zu suchen.
Demnach bleibt es dabei: Die bloße
Inkaufnahme des Untergangs gezeugter Embryonen führt nicht zur Strafbarkeit der künstlichen Befruchtung,
solange das Motiv des Handelns die
Herbeiführung der Schwangerschaft
ist.
Die jetzige Reaktion ist ein schönes
Beispiel für das, was man im Ausland
„german disease“ nennt. Treue Anhänger der „political-correctness-Fraktion“
schwingen sich zum Bewahrer der einzig wahren Moral auf und sind sich der
allgemeinen Entrüstung sicher. Angesichts dieser mentalen Immobilität
möchte man leise an ein sehr altes, aber
bewährtes Prinzip erinnern: die Gefahr
des Missbrauchs rechtfertigt nicht das
Verbot des rechten Gebrauchs.
Dr. Rudolf Ratzel
Rechtsanwalt
Maximiliansplatz 12/IV
80333 München
Wir befinden uns mitten auf
der schiefen Bahn
Leider lässt dieser Entwurf die Möglichkeit, vonseiten der Ärzteschaft auf PID
überhaupt zu verzichten, außer Acht
und setzt im Grunde – nach grundsätzlicher Entscheidung für die PID – erst bei
einer mehr oder minder restriktiven Regelung des Verfahrens an.
Der unselige Synergismus zwischen
ärztlichem Omnipotenzdenken und
komplementärer Anspruchshaltung aufseiten der Patienten hat auch hier dazu
geführt, dass das Nicht-akzeptierenKönnen der „alternativen“ Adoption
beziehungsweise Verzicht auf Kinder
durch betroffene Paare offensichtlich
ausreicht, sich über schwerstwiegende
ethische Einwände hinwegzusetzen und
Kinder auf Probe zu zeugen – mit der
erklärten „Option“, diese im Falle genetischer Defekte nicht weiterleben zu
lassen.
Ich frage mich wirklich, ob es noch
denkbare Ansprüche vonseiten der
Gesellschaft an die Ärzte gibt, die diese
auf Dauer und kategorisch zurückweisen. Wenn der dringende Kinderwunsch eines Paares ausreicht, Menschen zu zeugen und nachher im
wahrsten Sinne des Wortes wegzuwerfen, warum soll der doch sicher höher
zu bewertende dringende Wunsch eines Schwer- oder gar Todkranken,
durch Transplantation geholfen zu bekommen, nicht als Rechtfertigung fragwürdiger Organbeschaffung dienen?
Was man mit dem (nicht in dem Entwurf, aber andernorts in diesem Zusammenhang verwendeten) Argumentationsmuster:
„Erstens, die Leute wollen es, zweitens, verhindern kann man es sowieso
nicht, drittens, sonst gehen sie ins Ausland“ noch alles begründen könnte, will
ich hier gar nicht ausmalen. Das zur
Zeit noch politisch korrekte kategorische Nein gegenüber dem Klonen von
Menschen wird dann mit Sicherheit
auch irgendwann einem „Klonen ja,
aber in engen Grenzen“ weichen.
Die „deutliche Absage an jede Art
eugenischer Selektion und Zielsetzung“ („eugenische Ziele dürfen mit
der Präimplantationsdiagnostik nicht
verfolgt werden“) ist wohl eher der Versuch eines moralischen Feigenblattes.
Präimplantationsdiagnostik mit dem
erklärten Ziel, den Embryo nur bei genetischem Normalbefund weiterleben
zu lassen, ist eugenische Selektion. Das
heißt, wir befinden uns nicht am Rande,
sondern bereits mitten auf der schiefen
Bahn, mit einem Neigungswinkel, der
ein weiteres Abrutschen unausweichlich macht.
Die unbedingte Unverfügbarkeit des
Menschen hat offensichtlich ausgedient; man hat eher den Eindruck, dass
auf der Basis einer grundsätzlichen Verfügbarkeit die Nicht-Verfügbarkeit erst
im Einzelfall begründet werden muss.
So wird zeitgemäß konsenstheoretisch
argumentiert: „deshalb muss die Gesellschaft im öffentlichen Diskurs entscheiden . . .“, „wenn die Gesellschaft
die Präimplantationsdiagnostik mehrheitlich möchte . . .“ usw.Was ist eigentlich, wenn die Gesellschaft mehrheitlich die Positionen eines Peter Singer
oder Dieter Birnbacher übernimmt und
Geschlechtsselektion durch Abtreibung oder Tötung von Kindern bis zur
Geburt und danach wünscht? Sollen
D O K U M E N T A T I O N
wir auch aktive Euthanasie, Klonen von
Menschen oder die Tötung Behinderter
erlauben? Und unser Gewissen mit der
entschuldigenden Feststellung „es gibt
kein schuldfreies Arztsein“ (H. Hepp)
beruhigen? Ich hoffe sehr, dass wir
nicht noch einmal so weit kommen, die
Einsicht in grundlegende Menschenrechte (deren Missachtung die Gesellschaft auch mehrheitlich nicht wollen
darf) erst über die Erfahrung schlimmster Menschenrechtsverletzungen zurückgewinnen zu müssen.
Priv.-Doz. Dr. med. W. Wagner
Claudiusweg 21
64285 Darmstadt
Kein moralischer Protest wird
Fortschritt stoppen
Mit der Präimplantationsdiagnostik
(PGD) werde – so die Autoren – über
Lebensrecht und Lebenswert geurteilt
und ein immer breiterer Weg zu einer
Eugenik von unten beschritten; bestimmte Krankheiten und ihre Träger
würden diskriminiert und ein gesellschaftlicher Konsens über die Vermeidbarkeit behinderten Lebens riskiert.
Grundsätzlich: wer aus den heiltechnischen Möglichkeiten der modernen
Medizin das Recht, ja die ethische
Pflicht ableitet, auch schwer behinderte
Föten dysgenisch zum Leben zu verurteilen, der hat damit auch das „Recht“
des eugenischen Fötozids usurpiert.
Zur Eugenik: „Steigerung der Fähigkeiten“ ist das erklärte Ziel auch anderer (nicht gentherapeutischer) Interventionen in der Medizin. Warum sollte
dann eine genetisch optimierte Gesundheit, Intelligenz und Schönheit die
Würde des Menschen verletzen? Das
Tabu ist jedenfalls gebrochen und die
historische Kontinuität seit Aristoteles
und Plato, seit Luther und Nietzsche
wiederhergestellt. Nicht nur Nobelpreisträger der Medizin, wie Watson
und Crick, fordern eine eugenische Selektion, auch aufgeklärte Philosophen,
wie Sir Julian Huxley, Peter Singer, Dieter Birnbacher, Peter Sloterdijk, Ronald Dworkin und andere. Die Drift zur
Eugenik von unten wird zudem zunehmen: Kein Gesetz, keine Ethik und keine Staatsgrenze wird dem Druck der
Eltern standhalten, genetische Gesund-
heitsprogramme in ihre Kinder einbauen zu lassen. Der PGD-Tourismus nach
London und Brüssel zeigt es heute
schon.
Zur Gentherapie nach PGD: Was soll
unmoralisch daran sein, einen genetischen Defekt so früh wie möglich zu korrigieren? Mit ethischem Rigorismus und
irrationalen Glaubenssätzen lässt sich
das Problem sicherlich nicht lösen. Schon
haben amerikanische Gerichte ein Recht
des Kindes formuliert, körperlich und
geistig gesund geboren zu werden. Alles
andere erfülle den Tatbestand einer Kindesmisshandlung. Man verfügt ja auch
dann über künftig Lebende, wenn man
nichts tut, wenn man genetische Programmierfehler a priori heilig spricht und
a posteriori gutes Geld an schlechte Gene verschwendet.
Zur Diskriminierung Behinderter
durch PGD: Kein Behinderter will
selbst behinderte Kinder! Natürlich
muss einem behinderten Kind, das geboren wurde, alle erdenkliche Liebe
und Zuwendung zuteil werden. Aber:
Muss in Deutschland alle 90 Minuten
ein geistig behindertes Kind geboren
werden? Braucht die Gesellschaft Behinderte um ihrer eigenen Menschlichkeit willen, wie Behindertenvertreter
und Greenpeace-Aktivisten (wohl auch
im Blick auf ihre eigene Existenzberechtigung) beteuern? Robert L. Sinsheimer meint dagegen, dass eine Gesellschaft ohne Behinderte „zwar weniger menschlich, dafür aber humaner
sein könnte“.
Zum Schluss: Die Stimmen für eine
PGD und Keimbahntherapie werden
immer gewichtiger. Ich gehe jede Wette
ein, dass das Verbot über kurz oder lang
aufgehoben wird.Wer noch dagegen argumentiert, hat schon verloren. Kein
moralischer Protest wird den Fortschritt stoppen. Gendiagnostik und
Gentherapie werden noch in diesem
Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit
werden, von jedermann bejaht und gewollt. Die „political“ und „moral correctness“ von heute wird sich als der politische und moralische Irrtum von morgen erweisen. Und die Deutschen sind
dabei, den Anschluss an die Zukunft
wieder einmal zu verschlafen.
Dr. med. Egon Kehler
Salzstraße 1
83404 Ainring
Notwendiger Impuls
Die Stellungnahme aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum
Richtlinienentwurf der BÄK fordert zu
einigen Anmerkungen heraus, das ist
offensichtlich von der Autorin auch gewollt.
Œ Frau Riedel leitet ihre Gegenposition zum BÄK-Entwurf mit einer provokativ wirkenden Feststellung ein: „Die
Präimplantationsdiagnostik (PGD) steht
im Widerspruch zum Embryonenschutzgesetz“ (ESG). Dies ist eine unbewiesene Meinung, die sich das BMG
offenbar zu Eigen gemacht hat. Dagegen lässt die BÄK die Frage offen, ob
PGD im Widerspruch zum ESG steht
oder ob lediglich aus dem ESG eine
Entscheidung über die Rechtmäßigkeit
der PGD nicht zweifelsfrei abzuleiten
ist, sie neigt zu der letztgenannten Einschätzung und sieht gesetzgeberischen
Handlungsbedarf, um die PGD aus der
gesetzlichen Grauzone herauszubringen. Aus Sicht der BÄK könnte durch
Gesetzespräzisierung oder -ergänzung
schneller eine Klärung möglich sein als
aus Sicht des BMG, daran aber scheint
dem BMG nicht gelegen zu sein („Eile
[ist] nicht geboten“).
 Frau Riedel kritisiert, dass der
Richtlinienentwurf der BÄK zum jetzigen Zeitpunkt, ihrer Meinung nach zu
früh, vorgelegt wurde, „bevor die öffentliche Diskussion hierzu begonnen hat“.
Diese hat längst begonnen und ist seit
Monaten in den Medien in vollem
Gange. Nach meinem Ermessen war es
höchste Zeit, dass die BÄK mit einer klaren und klar begründeten Stellungnahme in die Öffentlichkeit gegangen ist.
Ž Frau Riedel kritisiert den Blick
auf die Regelungen in unseren europäischen Nachbarstaaten, die auch in der
Präambel des BÄK-Entwurfes erwähnt
werden. Diese Kritik erscheint mir aus
mehreren Gründen fragwürdig. Mit
diesem Blick will sich keiner der „eigenen Verantwortung entziehen“ oder
einer „eigenen, innerstaatlichen Entscheidung“ aus dem Wege gehen. Das
Verhalten von zehn uns eng verbundenen Nachbarstaaten mit vergleichbaren
gesellschaftlichen und sozialen Strukturen sagt sehr viel über die gesellschaftliche Realität und das gesellschaftliche
Bewusstsein in unserem Kulturbereich
17
D O K U M E N T A T I O N
und damit auch bei uns aus und sollte
deshalb bei unserer Entscheidungsfindung mit einfließen. Im Übrigen sind
„innerstaatliche“ diesbezügliche Unterschiede bei uns selbst nicht geringer
als die gegenüber unseren Nachbarn. Es
wäre politische Kurzsichtigkeit, das
nicht wahrnehmen zu wollen.
 Frau Riedel argumentiert mit der
Meinung von Mucoviscidosiskranken:
„Menschen beispielsweise mit Mucoviscidose, die ein lebenswertes Leben
führen, verurteilen diese Methode zu
Recht.“ Es geht nicht um die Frage
nach lebenswertem oder lebensunwertem Leben, alles Leben ist lebenswert.
Das wird insbesondere von den Verfassern des BÄK-Entwurfes so gesehen,
darauf gründet sich auch der ganz bewusste Verzicht auf einen Indikationenkatalog. Die ethische Verantwortung
bei der PGD bezieht sich auf die von
der Mutter für sie als unzumutbar empfundene Belastung durch ein zu erwartendes in der Regel weiteres schwerstbehindertes Kind. Dieses der Mutter als
Diskriminierung behinderten Lebens
anzulasten ist Hybris. Dass ein Mukoviscidosiskranker das nur schwer differenzieren kann, muss man ihm zugestehen, deswegen kann man aber seine
Meinung nicht zum Maßstab machen.
 Frau Riedel schreibt: „Es besteht
die Gefahr, dass in der Gesellschaft eine
Erwartunghaltung für gesunde Kinder
entsteht und es Eltern schwer gemacht
wird, sich für ein behindertes Kind zu
entscheiden.“ Die Erwartungshaltung
für ein gesundes Kind ist so alt wie die
Menschheit. Sie ist – aus welchen Gründen auch immer – in unserer Gesellschaft sehr hoch, was beispielsweise an
der häufigen Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik zum Ausschluss einer
Trisomie 21 erkennbar ist. Diese Grundhaltung mag man bedauern, aber man
muss sie zur Kenntnis nehmen. Die bei
der in der BÄK-Richtlinie vorgesehenen
restriktiven Handhabung der Methode
durch PGD hinzukommenden wenigen
Fälle, bei denen außerdem für jeden erkennbar ist, dass es sich um AusnahmeSituationen handelt oben unter , ändern an dieser Erwartungshaltung in unserer Gesellschaft nichts.
Im Richtlinienentwurf der BÄK erkenne ich einen notwendig gewordenen
Impuls von großem Gewicht, der die
18
ethische Verantwortung im Gebrauch
des technisch Möglichen erkennen lässt.
Das wird unterstrichen durch die von Sabine Rieser in ihrem Kommentar zitierten Aussagen von Herrn Kollegen Hepp,
dem federführenden Mitglied der Arbeitsgruppe.
Prof. Dr. med. Theodor Luthardt
Scheuergasse 4
79271 St. Peter
Was soll dieser Umweg?
Ich habe die bisherigen Beiträge zur
Präimplantationsdiagnostik mit Interesse verfolgt. Die Formulierung „Der
Embryo in vivo steht unter dem realen
Schutz der Frau, der Embryo in vitro . . .
steht nur unter dem rechtlichen Schutz“
lässt mich jedoch aufmerken. Über das,
was in der Frau geschieht, hat die Frau
selbst Einfluss/Zugriff. Was ist außerhalb derselben tabu (?).
Im Klartext: Wird im Rahmen einer
Vorsorgeuntersuchung eine mögliche
Schädigung festgestellt, darf die Frau
(werdende Mutter) straffrei abbrechen.
Wird am Embryo in vitro eine Schädigung festgestellt, dürfte nicht interveniert werden. Nach Implantation (in vivo!) dürfte die Mutter nach geltendem
Gesetz wieder abbrechen.
Was soll dieser Umweg? Oder will der
Gesetzgeber behinderten Nachwuchs?
Michael Rost
Oberstraße 4
54293 Trier
Müssen wir alles machen?
. . . Seinem Kommentar hat Herr Jachertz die Überschrift „Am Rande der
schiefen Bahn“ gegeben und damit wohl
isoliert die Präimplantationsdiagnostik
gemeint. In Wahrheit sind wir schon
längst drauf auf der schiefen Bahn, die
Tötung unerwünschten Lebens bedeutet:
De-facto-Freigabe der Abtreibung in
den ersten drei Schwangerschaftsmonaten; – Pränatale Diagnostik mit der Folge, dass heute Neugeborene mit früher
häufigen Missbildungen, wie Down-Syndrom oder Spina bifida, kaum noch vorkommen; – In-vitro-Fertilisation mit
Hinnahme des „Verwerfens“ überschüs-
siger Embryonen. – Jetzt das Vorhaben,
die assistierte Reproduktion im Sinne
der „Präimplantationsdiagnostik“ zu erweitern.
Schon dieses Wort ist ein Euphemismus. Man bemüht sich keineswegs nur
um Erkenntnisgewinn, sondern ausdrücklich darum, zwischen lebenswerten
und lebensunwerten Embryonen zu unterscheiden und danach zu handeln.Dass
man dazu die Behauptung aufstellt, es
gehe nicht um eugenisch orientierte
Nachwuchsplanung, kann nur als dreiste
Lüge und als Lippenbekenntnis angesehen werden mit dem Ziel, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen.An die
ersterwähnten Eingriffe haben sich viele
schon gewöhnt, achselzuckend geht man
über die Rechte der Embryonen hinweg,
und unser Parlament hat das mit dem reformierten § 218 StGB teilweise gesetzlich abgesegnet.
Was hat es zu bedeuten, wenn ein
Schwangerschaftsabbruch rechtswidrig,
jedoch bei Einhaltung bestimmter Regeln straffrei ist? Mich erinnert das an
Pontius Pilatus. Ist es wirklich ethisch zu
rechtfertigen, dass wir durch Budgets allenthalben an die Grenzen der dem
Medizinbetrieb zugestandenen Mittel
stoßen und gleichwohl extrem hohe Kosten für High Med in Form von assistierter Reproduktion akzeptieren, wo doch
gleichzeitig sozial nicht passende Embryonen getötet werden. Müssen wir alles machen, was die anderen im Ausland
tun, aus Angst, dass wir wissenschaftlich
zurückbleiben? Es ist in Deutschland gesellschaftlicher Konsens, dass die Abschaffung der Todesstrafe einen ethischen Fortschritt bedeutet, obwohl sie in
anderen Ländern weiter in Gebrauch ist.
Warum wird dann die Tötung am Beginn
des Lebens akzeptiert? Weil Embryonen
sich nicht äußern und angeblich auch
nicht leiden? Weil es sich, wie manche sagen, nicht um menschliches Leben, sondern um empfindungslose Zellklumpen
handelt?
Die Präimplantationsdiagnostik ist
nichts als ein weiterer Schritt auf dem bereits eingeschlagenen Weg, der gekennzeichnet ist durch Rechtsunsicherheit
und rücksichtslose Anwendung wissenschaftlich-technischen Fortschritts. . . .
Dr. med. Wolfram Kirmeß
Kleine Geest 3–5
31592 Stolzenau
D O K U M E N T A T I O N
Moralisten werden die
Entwicklung nicht aufhalten
Alles ist gut, wenn es gut ist. Auch die
Präimplantationsdiagnostik, wenn sie
mit Vernunft und Augenmaß erfolgt.
Ich stimme mit Herrn Jachertz überein.
Er schreibt: „ . . . dann wird man auf
Dauer mit der Auswahl ungeborenen
Lebens leben müssen.“
Die Wissenschaft hat dem Menschen
geholfen, ungewollte Schwangerschaft
zu vermeiden. Sie wird auch helfen,
dem genetisch bedingten „Defekt“, also dem Ungesunden vorzubeugen – sozusagen als Methode der Wahl. Natürlich werden die Moralisten aller Konfessionen und Fraktionen ihr Verdikt
verkünden, wie immer lauthals und mit
allen Mitteln. Aber sie werden die Entwicklung nicht aufhalten, nur verzögern. Die Wissenschaft ist keine Glaubensgemeinschaft, das weiß man, und
das ist gut so.
Wenn der Mensch mit seinen Irrungen und Wirrungen noch eine kleine
Chance hat, dann wird es die Wissenschaft sein.
Dr. med. Alfons Werner Reuke
Sommerhalde 42
71672 Marbach
Orientierung verloren
Mehr noch als der eigentliche Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik (PGD) fordert das
Vorwort dazu zu einer Stellungnahme
heraus. Dem Leser stockt der Atem,
wenn indirekt die Frage formuliert wird,
ob es sich um eine Ausnahme vom Tötungsverbot handelt oder gar keine Tötung vorliegt. Wie anders soll man es
denn nennen, wenn einem Lebewesen
die Voraussetzungen zum Weiterleben
entzogen beziehungsweise vorenthalten
werden? Und wodurch sollte eine Ausnahme vom Verbot – für den Arzt insbesondere – zu töten begründet sein?
Tatsächlich kann eine Ausnahme vom Tötungsverbot oder das Nichtvorliegen einer Tötung nur (an)erkennen, wer den
Beginn menschlichen Lebens und damit
seiner Schutzwürdigkeit entgegen wissenschaftlicher Erkenntnis nicht mit dem
Zeitpunkt der Verschmelzung von Eiund Samenzelle identisch sehen will. Eine
Definition aber, wann denn das Leben
dann beginnt, steht aus, dürfte heiß umstritten sein und birgt jede Menge Gefahren in sich. Der Konflikt der PGD mit
dem Embryonenschutzgesetz (ESchG)
wird auf das Verbot von Untersuchungen
an Embryonen im Stadium zellulärer Totipotenz und das Verbot der fremdnützigen Verwendung von Embryonen reduziert. Dabei soll doch die PGD für Paare
bereitstehen, „für deren Nachkommen
ein hohes Risiko für eine bekannte und
schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht“. Das heißt: Embryonen mit „Veränderung des Erbmaterials“, die zur Tötung anstehen, werden
zwangsläufig auftreten,sie sind zwar nicht
das Ziel der PGD, aber auch nicht „unerwünschte Nebenfolge oder ein Fehlschlag“, wie Prof. Hepp zitiert wird. Die
PGD steht daher eindeutig im Widerspruch zum ESchG § 1 Abs. l Nr. 2 und § 2
Abs. l. Auch eine Konfliktreduzierung
durch PGD, indem nämlich „eine Entscheidung über einen eventuellen Abbruch einer fortgeschrittenen Schwangerschaft vermieden“ würde, kann ich nicht
erkennen. Es ist derselbe Mensch, der
getötet wird, freilich in einer anderen
Phase seines Lebens. Seine Gestaltlosigkeit und die mögliche Vielzahl von Embryonen durch IVF täuschen nur eine
Konfliktreduzierung vor!
Gänzlich der Nachvollziehbarkeit
entzieht sich das Vorwort, wenn von einer „Absage an jede Art eugenischer Selektion und Zielsetzung“ die Rede ist,
geht es doch gerade um die Feststellung
veränderten Erbmaterials durch die
PGD und anschließende Aussonderung
menschlicher Individuen aufgrund dieser Veränderungen. Wenn voranstehend
betont wird, die Bundesärztekammer
orientiere sich an einem Menschenbild,
das „von Respekt vor allen Menschen,
einschließlich denen mit geistigen, seelischen und körperlichen Beeinträchtigungen, geprägt ist“, muss leider anhand
der Unvereinbarkeit der PGD mit dieser
Grundhaltung festgestellt werden, dass
die Bundesärztekammer hier offenbar
die Orientierung verloren hat. Mit Einführung der PGD aber wird zweifelsohne nach und nach der Respekt vor den
Menschen mit derartigen Beeinträchtigungen verloren gehen. Eine weitere
Formulierung hinterlässt den Eindruck
von Orientierungslosigkeit und mich rat-
los: Was nämlich soll „eine große Fähigkeit und Bereitschaft zu hinreichend
konfliktarmen Lösungen“ sein und hervorbringen? Gibt es etwas zwischen dem
elterlich-ärztlichen Entscheid über „leben dürfen“ oder „sterben müssen“?
Dr. med. G. Haasis
Max-Reger-Straße 40
28209 Bremen
Wo bleibt die Achtung?
Œ Allgemein: Das DÄ widmet Themen der Reproduktionmedizin in den
letzten Monaten mehr Raum, als ihrer
Bedeutung im tatsächlichen Medizinbetrieb entspricht. Cui bono? In welche
Richtung sollen wir beeinflusst werden?
 Obwohl über die Einführung der
PGD in Deutschland keineswegs Einvernehmen besteht, legt die Bundesärztekammer bereits einen Entwurf zu einer Richtlinie für dieses Verfahren vor,
als ob mit der Einführung fest zu rechnen wäre. Dieses Vorgehen kann als
Versuch der Manipulation gedeutet
werden.
Ž Der Versuch, die Indikationen für
die PGD durch Richtlinien und Kommissionen zu begrenzen, ist sicher zum
Scheitern verurteilt, wie die Vergangenheit lehrt. Man denke nur an die Geschichte der Schwangerschaftsverhütung
oder an die des Schwangerschaftsabbruchs. Also ist, wenn die PGD eingeführt wird, mit zunehmender Ausweitung des Indikationsbereichs zu rechnen.
Wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Richtlinien hier nur eine Feigenblatt-Funktion haben.
 Die Erlaubnis, einen Embryo mit
den genetischen Merkmalen einer schweren genetisch bedingten Krankheit zu
„verwerfen“, enthält eine Botschaft an
alle geborenen Träger dieser Krankheit:
„Wir hielten es für besser, du wärest
nicht geboren.“ Dieses Gedankengut
kennen wir doch aus dem Dritten Reich.
Ob wir einen Behinderten in einer Anstalt umbringen oder einen Embryo im
16-Zellen-Stadium „verwerfen“ – die
Geisteshaltung ist die gleiche. Wo bleibt
die Achtung vor dem Menschen und seinem Schöpfer?
Dr. med. Winfrid Gieselmann
Finkenwiesenstraße 1
75417 Mühlacker
19
D O K U M E N T A T I O N
Ärztliche Entscheidungen im
Einzelfall unter
Ausnahmebedingungen
Als Mitglied der zitierten Bioethikkommission des Justizministers in Rheinland-Pfalz begrüße ich den Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer zu
einer „Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“.
55 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des
verbrecherischen Hitler-Regimes muss
endlich auch in Deutschland eine Debatte über ethische Grundfragen an den
Grenzen des menschlichen Lebens möglich sein, die – wie Frau Riedel sie fordert
– unvoreingenommen und offen geführt
werden sollte.
Ausgangspunkt aller Betrachtungen
sollte im Falle der PGD das Rat suchende Paar sein, das ein genetisches Risiko
für die Vererbung einer schwerwiegenden chromosomalen oder molekularen
Störung beziehungsweise Fehlbildung
trägt und einen fortbestehenden Kinderwunsch hat. So war der Ausgangsfall
gelagert, der die behandelnden Ärzte
veranlasste, die Ethikkommission der
Medizinischen Universität in Lübeck
anzurufen. Nach Anhörung mehrerer
Sachverständiger gab sie das Votum ab,
dass die Maßnahme einer PGD als medizinisch vertretbar anzusehen ist, die
Kommission sich jedoch wegen der bestehenden Rechtslage – Verbot durch
das Embryonenschutzgesetz – an der
Abgabe eines positiven Votums gehindert sieht. Aus der Sicht der behandelnden Ärzte fassten Ludwig und Diedrich
(1) alle für und gegen die Einführung
dieser medizinischen Maßnahme sprechenden Argumente zusammen.
Die Thesen der Bioethikkommission
im Bericht vom 20. Juni 1999 (2) gehen
von derselben sehr engen, restriktiven Indikationsstellung zur PGD aus, die auch
der Richtlinienentwurf übernommen hat.
Ausgehend von der derzeitigen Rechtslage des Verbotes der Entnahme von totipotenten Blastomeren aus dem – überlebensfähigen – Embryo und dem sehr engen Zeitfenster zwischen verlorener Totipotenz der Blastomere und noch Erfolg
versprechender Implantation des Embryos handelt es sich bei der PGD an
nicht mehr totipotenten Blastomeren um
eine wahre medizinische Hightechme-
20
thode mit großer psychischer Belastung
der betroffenen Eltern, die nicht ohne
Not angewendet werden dürfte. Entscheidend ist und bleibt der Gesichtspunkt, dass die Eizelle ausschließlich zur
Herbeiführung einer – weniger belasteten – Schwangerschaft bei genetisch belasteten Paaren befruchtet wird und nicht,
wie Frau Riedel schreibt, die Eizelle „zunächst nur zu diagnostischen Zwecken
künstlich befruchtet wird“. Die Bioethikkommission hat sich weder dazu entschließen können, der Frau ein Recht auf
ein gesundes Kind zuzusprechen noch ihr
den Verzicht auf – weitere, gegebenenfalls unbelastete – Kinder abzuverlangen.
Diesen besonderen Schutz des Kindes
durch die Frau, nämlich die Mutter, erkennt auch Frau Riedel in ihrem Aufsatz
an. Sie übersieht allerdings, dass in dem –
bislang in Deutschland einzigen – Beispielsfall die Eltern schon ein behindertes
Kind haben, zwei Schwangerschaften wegen Feststellung der Genmutante abgebrochen wurden und das Paar sich die
Nöte und Belastungen mit einem weiteren behinderten Kind nicht mehr zutraute. Insofern kann eine PGD in dem von
der Richtlinie vorgezeichneten sehr engen Rahmen auch nicht als Argument
dafür herhalten,damit würde behindertes
Leben möglicherweise diskriminiert.
Frau Riedel dürfte auch nicht erkannt haben, dass die Entscheidung zu einem weiteren Kind durch das Rat suchende Paar
und erst in letzter Konsequenz durch die
Frau getroffen werden kann.
In These 11.9 stellt die Bioethikkommission fest, dass es ein Wertungswiderspruch wäre, würde man Paaren mit dem
Risiko der Übertragung eines Gendefektes die PGD aus Rechtsgründen verwehren, gleichwohl aber die spätere Pränataldiagnostik mit möglichem Schwangerschaftabbruch nach festgestellter Indikationslage erlauben. In These III. 2 b)
stellt die Kommission fest, dass die psychische und physische Belastung durch
einen Schwangerschaftsabbruch, bei
dem es auch zu Spätfolgen für die Frau
kommen kann, ungleich größer ist als die
Belastung durch die Entscheidung, einen
Embryo nicht zu transferieren. Dieses
Argument macht sich der Richtlinienentwurf in Analogie zu der medizinischen
Indikation in § 218a StGB zu Eigen.
Diese Analogie hält Frau Riedel für
fragwürdig. Eine Erklärung hierfür mag
in der Tatsache begründet sein, dass es
sich bei jenem Kollektiv von Frauen, die
den beratenen, aber rechtswidrigen Abbruch anstreben, das Frau Riedel im
Blick haben dürfte, um ein von den Rat
suchenden Paaren, die eine PGD wünschen, völlig verschiedenes Kollektiv
handelt. Der Grundgedanke der Bioethikkommission und des Diskussionsentwurfes, dass es um ärztliche Entscheidungen im Einzelfall und unter besonderen Ausnahmebedingungen geht,
die in die erhöhte Sorgfaltspflicht des
Arztes gestellt sind, wird in der Stellungnahme von Frau Riedel nicht ausreichend deutlich. In ihren Thesen III, 3 hat
sich die Kommission aber auch sehr eingehend mit verschiedenen Argumenten
auseinander gesetzt, die alle auf die
„Dammbruchgefahr“ hinauslaufen, die
schon zu den derzeit gültigen Ausschlussbedingungen des Embryonenschutzgesetzes geführt haben.
1. Ludwig, M und Diedrich, K. „Embryonenforschung in Deutschland?“ in Rittner Ch. et
al. (Hrg.) „Genomanalyse und Gentherapie:
Medizinische, gesellschaftspolitische, rechtliche und ethische Aspekte“, Gustav Fischer
Verlag, Stuttgart, 1997.
2. Präimplantationsdiagnostik: Thesen zu den
medizinischen, rechtlichen und ethischen
Problemstellungen, Bericht der BioethikKommission des Landes Rheinland-Pfalz
vom 20. Juni 1999. Ministerium der Justiz
Rheinland-Pfalz.
Prof. Dr. med. Ch. Rittner
Institut für Rechtsmedizin der
Johannes-Gutenberg-Universität
Am Pulverturm 3, 55131 Mainz
Anregungen
Ein entscheidender Unterschied zwischen Präimplantationsdiagnostik (PGD)
und Pränataldiagnostik (PND) besteht
für mich in dem Umstand, dass die Pränataldiagnostik in der Regel eine Janein-Entscheidung zu einem einzelnen
Kind darstellt. Dagegen ermöglicht die
Präimplantationsdiagnostik in der Regel eine Auswahl aus einer größeren
Zahl an Embryonen (zur Zeit noch
durch das Embryonenschutzgesetz beschränkt auf drei).Wenn man genug Embryonen ohne ein bestimmtes Merkmal
zur Verfügung hat, besteht dadurch eine
latente Versuchung, auch noch auf andere Merkmale zu testen. In Belgien
scheint dies durchaus gängige Praxis zu
D O K U M E N T A T I O N
sein, indem den Eltern außer der Abklärung der ursprünglichen Fragestellung zusätzlich im Vorfeld der PGD aktiv ein Screening auf häufigere rezessive
Anlageträgereigenschaften angeboten
wird, um dann ein eventuelles weiteres
Risiko ebenfalls zu testen.Aber auch ohne weitere Untersuchungen ergibt sich
bei rezessiven Erkrankungen ganz von
allein die Schwierigkeit, wie mit heterozygoten Embryonen (also ohne eigenes
Erkrankungsrisiko) umgegangen werden soll, wenn auch homozygot unauffällige Embryonen zur Verfügung stehen.
Der Verweis auf die Eltern als darüber
bestimmende Personen kann zu schwierigen Situationen führen, da ein heterozygoter Befund in der Pränataldiagnostik in aller Regel nicht als Argument für
eine unzumutbare Belastung der
Schwangeren anerkannt würde. Mit welcher Begründung sollte er es dann in der
Präimplantationsdiagnostik sein?
Ich möchte daher die Frage in den
Raum stellen, ob es nicht möglich wäre,
bei PGD immer nur eine einzelne Eizelle zu befruchten, zu diagnostizieren und
dann über diesen Embryo eine Ja-neinEntscheidung zu treffen. Dies würde sowohl bei den Ärzten als auch bei den Eltern natürliche Hemmschwellen erhalten, mit dem „Embryonenmaterial“
nicht allzu großzügig und entpersonalisiert umzugehen. Es hätte außerdem den
wichtigen Vorteil, dass auf diese Weise
möglichst wenig Embryonen verworfen
werden müssten, denn es leuchtet unmittelbar ein, dass umso mehr Embryonen
das gesuchte genetische Merkmal aufweisen werden, je mehr pro Elternpaar
erzeugt werden. Dies scheint mir auch
dem Geist des Embryonenschutzgesetzes noch am ehesten nahe zu kommen.
Viele Reproduktionsmediziner werden praktische Einwände gegen diesen
Vorschlag erheben und insbesondere eine Verminderung der Schwangerschaftrate beziehungsweise eine Erhöhung
der dafür notwendigen Zyklenzahl befürchten. Dies müsste möglichst gründlich und ohne Vorurteile untersucht werden. Die Daten, die anhand künstlicher
Befruchtung (IVF und ICSI) gewonnen
wurden, können jedoch nicht ohne weiteres dazu herangezogen werden, da es
sich hierbei um Paare mit Fruchtbarkeitsstörungen gehandelt hat, was bei
PGD in der Regel nicht der Fall wäre.
Möglicherweise wird eine Frau auf diese
Weise mehr Punktionen benötigen, dafür
könnte eventuell auf die Stimulationsbehandlung verzichtet werden (?). Der
Trend scheint aber in der Reproduktionsmedizin ohnehin zur Reduzierung
der Embryonenzahl zu gehen, um die belastenden Mehrlingsschwangerschaften
zu vermindern. Die neuen Richtlinien sehen deshalb bereits bei IVF und ICSI
vor, einer Frau unter 35 Jahren nur noch
maximal zwei Embryonen zu übertragen
(Richtlinien zur assistierten Reproduktion, DÄ Heft 49/ 1998).
Falls diese – nach meiner Ansicht optimale – Verbindung eines möglichst sicheren Embryonenschutzes bei gleichzeitiger Vermeidung von Schwangerschaftsabbrüchen (als das wesentliche
Argument für PGD) nicht realisierbar
sein sollte, müsste zumindest die Grenze
von zwei oder drei Embryonen, die
gleichzeitig erzeugt und untersucht werden dürfen, unbedingt eingehalten werden. Es sollte auch eindeutig geregelt
werden, wie mit heterozygoten Embryonen bei rezessiven Erkrankungen umgegangen wird. Das ist keine akademische
Diskussion ohne praktische Relevanz: In
Belgien wird bei X-chromosomal rezessiven Erkrankungen auf Wunsch der Eltern bereits eine Selektion gegen weibliche verdeckte Anlageträger vorgenommen (Liebaers, persönliche Mitteilung).
Da kein Embryo einer Frau gegen ihren
Willen übertragen werden kann, wird jede vorherige Vereinbarung umgehbar
bleiben. Analog zu der Geschlechtsmitteilung bei PND vor der 12. Schwangerschaftswoche könnte deshalb erwogen
werden, einen heterozygoten Befund
grundsätzlich nicht anders als einen homozygot unauffälligen Befund mitzuteilen (worauf die Eltern bereits im Vorfeld
hingewiesen würden).
Ärztliches Ziel der PGD kann nur die
Hilfestellung bei einem bestehenden elterlichen Konflikt sein, nicht die möglichst effiziente Verhinderung von Menschen mit genetischen Erkrankungen.
Insofern ist der Absatz: „Bei einer PGD
darf nur auf diejenige Veränderung des
Erbmaterials untersucht werden, die zu
der infrage stehenden schweren genetischen Erkrankung führt, für die das Paar
ein hohes genetisches Risiko hat.“ ausdrücklich zu begrüßen. Um das darin angestrebte Ziel der eigenen Beschrän-
kung zu gewährleisten, sollte aber auch
ein Screening der Eltern auf weitere genetische Veränderungen im Vorfeld der
PGD abgelehnt werden.
Der Qualität wäre es sicherlich zuträglich, wenn nur wenige, wissenschaftlich ausgerichtete Zentren für PGD entstehen dürften: Jede Technik muss ausreichend geübt werden, um möglichst zuverlässig zu sein. Schließlich werden die
genannten Grenzen der PGD nur so lange wirksam bleiben, wie eine kommerzielle Nutzung auf Dauer verhindert werden kann, da eine Anschaffung der
benötigten Ressourcen unter dem Druck
steht, sich auch den entsprechenden
Bedarf zu erzeugen.
Dr. med. Barbara Leube
Institut für Humangenetik und Anthropologie
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstraße 1
40225 Düsseldorf
Euphemismus
Die novellierte Fassung des § 218 ermöglicht es nach chromosomalen oder
genetischen Defekten jeglicher Art zu
untersuchen und anschließend die
Schwangerschaft abzubrechen – und
zwar zu jedem Zeitpunkt. Grundsätzlich ist auch eine Untersuchung auf das
Geschlecht möglich.
Damit hat der Gesetzgeber festgestellt, dass die „positive Eugenik“ im Rahmen der Schwangerschaft rechtens ist und
die alleinige Entscheidung darüber bei
der Frau liegt. Und tatsächlich ist dies in
der Bundesrepublik jährlich zigtausendfache Praxis, und jeder tätige Frauenarzt
und Humangenetiker weiß, dass die Vorstellungen darüber, was „defekt“ oder
was „gesund“ ist, von Frau zu Frau sehr
unterschiedlich sind. Einen gewissen Einhalt bieten die Richtlinien der Humangenetiker (im Hinblick auf die Geschlechtsmitteilung), doch sind dies Selbstverpflichtungen der behandelnden und diagnostizierenden Ärzte – der Gesetzgeber
schreibt dies keineswegs vor.
Es ist kaum anzunehmen, dass der
Gesetzgeber in der jahrelangen Diskussion über die Novellierung des § 218 es
„übersehen“ hat, dass durch die jetzige
Formulierung des § 218 der pränatalen
Diagnostik nach allen erdenklichen Gesichtspunkten mit der Möglichkeit des
21
D O K U M E N T A T I O N
nachfolgenden Schwangerschaftsabbruches de facto Tür und Tor geöffnet wurde.
Die Präimplantationsdiagnostik würde diese Prinzipien, wie sie im Rahmen
einer Schwangerschaft als legal erachtet
werden, auf den Embryo vor seiner Einnistung übertragen. Mehr nicht.Wenn also schon „am Rande der schiefen Bahn“,
dann hätte dieser Aufschrei im Rahmen
der Novellierung des § 218 kommen
müssen. Ist er aber nicht.
Die vorgeschlagenen Richtlinien des
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer nehmen sich im Gegensatz
zur Praxis des novellierten § 218 ausgesprochen restriktiv aus. Der jetzige Aufschrei der Empörung hat deshalb euphemistische Züge, denn: wie will man es
noch verstehen, dass ein und dieselbe
Diagnostik und Vorgangsweise am Embryo vor seiner Einnistung verboten sein
soll, während sie nach seiner Einnistung
de facto ohne Einschränkung und in allen Lebensaltern (also auch an lebensfähigen Feten) zulässig ist.
Nicht vergessen werden darf, dass das
Verfahren der Pränataldiagnostik eine
Befruchtung außerhalb des Körpers (Invitro-Fertilisation) voraussetzt, also vergleichsweise aufwendig ist. Es ist deshalb
davon auszugehen, dass die betroffenen
Paare, sofern sie normal fertil sind, auch
weiterhin auf die PGD verzichten, ihre
Kinder auf normalem Wege zeugen und
die Untersuchungen dann in der Schwangerschaft vornehmen lassen werden.
Doch was ist mit solchen Ehepaaren,
die auf eine In-vitro-Fertilisation angewiesen sind (zum Beispiel aufgrund
beidseits fehlender Eileiter der Frau)
und bei denen gleichzeitig eine bekannte
genetische Vorerkrankung besteht?
Muss man dann sehenden Auges auf die
entsprechende Diagnostik bei dem Embryo-in-vitro verzichten, um ihn anschließend einzusetzen, und im Rahmen der
Schwangerschaft exakt dieselbe Untersuchung durchzuführen – freilich mit der
Konsequenz eines dritten Eingriffs, nämlich dem des Schwangerschaftsabbruches? Geht diese absichtliche Zumutung von zwei zusätzlichen Körperverletzungen (Pränataldiagnostik und
Schwangerschaftsabbruch) ethisch wirklich in Ordnung, oder ist das nicht auch
schon längst „auf der schiefen Bahn“?
Geist und Buchstabe des Gesetzes vereinbar ist: Ist Kinderlosigkeit tatsächlich
als so schwere Beeinträchtigung des Gesundheitszustands anzusehen, dass dafür
der Schutz des ungeborenen Lebens
zurückstehen muss?
Mit der Zulassung der PID würde von
ärztlicher und gesetzgeberischer Seite
auch dieser kalkulierte Einsatz der FD
moralisch positiv sanktioniert; dies entspräche einem Paradigmenwandel der
moralischen Rechtfertigung von PD sowie der Interpretation des § 218a Abs. 2
StGB. Sowohl die PID als auch sämtliche
Verfahren der PD sind vor diesem Hintergrund kritisch zu hinterfragen, und die
implizit im Raum stehende Frage „Gibt
es ein Recht auf (gesunde) Kinder?“ ist
explizit zu diskutieren.
Prof. Dr. Dr. W. Würfel
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologische Endokrinologie und Fortpflanzungsmedizin in der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), c/o
Frauenklinik Dr. Wilhelm Krüsmann
Schmiedwegerl 2–6
81241 München
Dr. med. Hans-Jürgen Pander
Institut für Klinische Genetik
Städtische Frauenklinik
Obere Straße 2, 70190 Stuttgart
Gibt es ein Recht auf
(gesunde) Kinder?
auf eine Schwangerschaft zu verzichten
und damit ein Risiko für ihren Gesundheitszustand aufgrund einer genetischen
Erkrankung eines zukünftigen Kindes zu
vermeiden; sie hat somit alternative
Möglichkeiten, nicht „an der Furcht vor
einem genetisch bedingt schwerstkranken Kind gesundheitlich zu zerbrechen“
(1). Die Abwägung besteht in dieser Situation somit zwischen dem bewussten
Verzicht auf biologisch eigene Kinder
und den Grundrechten des Gezeugten.
Die meisten in genetischer Beratung
und PD Tätigen können andererseits
nicht an der Tatsache vorbeisehen, dass –
vergleichbar einer zukünftigen Nutzung
der PID – zunehmend die Entscheidung
für die Durchführung einer PD schon
primär mit dem Entschluss zu einer
Schwangerschaft gefällt wird. Wir bezweifeln jedoch, dass diese Nutzung der
PD und der medizinischen Indikation
zum Schwangerschaftsabbruch – im Sinn
einer „Schwangerschaft auf Probe“ – mit
Dr. med. K. Mennicke
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Universitätsklinikum Lübeck
Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck
In der Diskussion ethischer und juristischer Aspekte der Präimplantationsdiagnostik (PID) wird meist der Bezug zu
den entsprechenden Regelungen im Rahmen der Pränataldiagnostik (FD) und des
§ 218a StGB Abs. 2 hergestellt (vgl. 1).
Dieser Vergleich ist jedoch nicht zulässig.
Bei der moralischen und juristischen
Rechtfertigung eines Schwangerschaftsabbruchs aus medizinischer Indikation
findet eine Abwägung zwischen dem
Schutz des ungeborenen Lebens und dem
Lebensrecht der Frau statt.Von zentraler
Bedeutung ist hierbei auch, dass die
Schwangere „unschuldig“ in diese Konfliktsituation hineingeriet (hierzu 2).
Im Fall der PID findet demgegenüber
diese Abwägung definitiv nicht statt, da
eine Schwangerschaft noch nicht besteht. Die noch nicht Schwangere hat
zum Beispiel die Möglichkeit, bewusst
22
1. Hoppe, J.-D., und K.-F. Sewing, Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik – Vorwort, DÄ Heft 9/2000.
2. Böckle, F., Schwangerschaftsabbruch –
1. Ethik, in: Eser, A. et al. (Hg.), Lexikon
Medizin, Ethik, Recht, Freiburg 1989, Sp. 963–
969.
Dr. med. Monika Hagedorn-Greiwe
Institut für Humangenetik
Universitätsklinikum Lübeck
Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck
Wir alle sind gefordert
Eindeutige Stellungnahmen von Ärzten/
Ärztinnen und gesellschaftlichen Organisationen sind dringend gefordert:
ΠSelektion der Eltern: Entgegen allen sprachlichen Verschleierungs- und
Verharmlosungstendenzen der Mitglieder des Beirates bleibt festzuhalten: Die
Ehepaare, bei denen – obwohl keine Unfruchtbarkeit vorliegt – vor extrakorporaler Befruchtung eine genetische Untersuchung der befruchteten Eizelle vorgenommen werden kann, werden ausgesucht – bestimmt – selektioniert – wie immer dies bezeichnet werden soll. Sie werden selektioniert nach ihrem Erbgut und
der daraus resultierenden Krankheitsgefährdung des gewünschten Kindes.
D O K U M E N T A T I O N
 Selektion der Kinder: Die Entscheidung, ob die „geschädigte Eizelle“ implantiert oder „verworfen“ wird, richtet
sich nach oberflächlichem Lesen nach der
Beeinträchtigung der Mutter. De facto
aber ist einzig und alleine das Ergebnis
der genetischen Untersuchung entscheidend, denn warum sonst sollte sich ein
Ehepaar dem Stress der künstlichen Befruchtung unterziehen, wenn das Ergebnis der Untersuchung für die Entscheidung der Implantation unerheblich wäre?
Ž Herabsetzung der Tötungsschwelle: Im Vorwort des Entwurfes ist es eindeutig beschrieben: „Die PGD kann allerdings im Einzelfall die spätere Pränataldiagnostik ersetzen und damit zu einer Konfliktreduzierung beitragen, weil
sie Entscheidungen über einen eventuellen Abbruch einer fortgeschrittenen
Schwangerschaft vermeidet.“ Mit anderen Worten: Ein totipotentes Acht-ZellStadium „verwirft“ man – mit weniger
Bedenken –, bei einem Schwangerschaftsabbruch im dritten bis fünften
Monat ist der Tod des sich entwickelnden Menschen greifbarer und führt sicherlich zu stärkeren Konflikten. Der
Mechanismus der Konfliktreduktion
durch Herabsetzung der Tötungsschwelle ist ein Mechanismus, der uns
aus der Zeit des Nationalsozialismus gut
bekannt ist und Werteänderungen nach
sich zieht, die im Nationalsozialismus
zur Vergasung Tausender behinderter
Menschen geführt hat.
 Eigeninteresse der Mitglieder des
Wissenschaftlichen Beirates: Die Mitglieder des Beirates sind auch Forscher,
die eigene Interessen an der Aufweichung von Forschungsgrenzen haben,
die eventuell auch weitergehende eigene
Forschungsvorhaben entwickeln. Wer
sagt uns denn, ob nicht nach Durchsetzung der PGD der nächste Schritt die genetischen Reparationsversuche an den
„kranken“ befruchteten Eizellen sein
werden? Natürlich wieder zum Wohle
des sich entwickelnden Menschen, den
man dann nach „Reparatur“ ja doch implantieren könnte? Wer will denn letztlich verhindern, dass an den „verworfenen“ Zellen weitere Versuche gemacht
werden? Das Interesse von Wissenschaftlern und deren Wunsch nach Anerkennung ist viel zu groß, als dass von
dieser Seite eigene Sanktionen gegen
Missbrauch greifen könnten.
 Die Zusammensetzung der Ethikkommissionen, die Beratung und Aufklärung: Die Beratung und Aufklärung
unterliegt laut Entwurf dem Humangenetiker und dem Gynäkologen (die ausschließlich männliche Form ist auch so im
Entwurf enthalten). Wie immer sind
nicht-ärztliche Gruppen in den Regelberatungen nicht vorgesehen, sondern können zusätzlich angeboten werden. Dabei
gilt festzuhalten, dass auf sozialpsychologischer Ebene – auf der zunächst der Konflikt überhaupt besteht – Mediziner/innen
nach Aus- und Weiterbildung über keinerlei besondere Kompetenz verfügen, eine
Beratung adäquat durchführen zu können. Das Gleiche gilt für die Zusammensetzung der Ethik-Kommissionen.
Wir alle sind gefordert, der Aufweichung des Embryonenschutzgesetzes
und dem Aufbau weiterer selektionierender Maßnahmen entgegenzutreten.
Wer glaubt, durch Nichteinmischung der
Verantwortung für ethische Fragen entgehen zu können, der irrt.
Cornelia Femers
Kühlenberg 20
58644 Iserlohn
Erklärung
Aus jahrzehntelanger weit überwiegend
positiver Erfahrung als Patient und als
jahrzehntelanger berufspolitischer Wegbegleiter der deutschen Ärzteschaft fühle
ich mich zu einer Erklärung verpflichtet:
Ich stimme der Stellungnahme von Joachim Kardinal Meisner voll inhaltlich zu.
Dazu darf ich bemerken, dass ich der
lutherischen Kirche angehöre, ohne mich
wirklich als Christ bezeichnen zu können.
Ich muss mich heute fragen, ob ich bei
der damaligen Diskussion zur künstlichen Insemination meine grundsätzliche
Ablehnung deutlich genug in den Gremien der Bundesärztekammer vertreten
habe. Nach meinen Aufzeichnungen wäre die erste Stellungnahme anlässlich der
Vorbereitungen und der Durchführung
des 62.Deutschen Ärztetages 1959 in Lübeck fällig gewesen. Der Deutsche Ärztetag hielt damals eine homologe intrauterine künstliche Insemination in besonderen Ausnahmefällen mehrheitlich
für ethisch vertretbar.
Der 73. Deutsche Ärztetag 1970 in
Stuttgart erhob dann mehrheitlich keine
generellen Einwände mehr. Er bezeichnete diese nicht mehr als standeswidrig,
aber empfahl sie auch nicht ausdrücklich.
Ich entsinne mich sehr deutlich, dass ich
damals bereits der Auffassung war, hier
verletze der Mensch unter Missbrauch
des naturwissenschaftlich-technischen
Fortschritts eine ihm von der Natur selbst
errichtete Grenze, einen kategorischen
Imperativ des menschlichen Seins.
Ich entsinne mich dieser meiner damaligen Auffassung um so deutlicher,
als ebenfalls in die Siebzigerjahre eine
lebhafte Diskussion zum Thema „Sterbehilfe als Lebenshilfe“ fällt, in der ich
mich eindeutig gegen die Straffreiheit
auch von „passiver“ Sterbehilfe ausgesprochen habe. Das geschah mit dem
Hinweis, dass der Mensch gegebenenfalls, seinem Gewissen folgend, auch gegen geltendes Strafrecht handeln müsse.
Er könne dann lediglich auf einen einsichtigen Richter hoffen, der wohl wissen sollte, dass als unverzichtbarer Bestandteil jeder sittlichen Rechtsordnung
auch Gnade zu gelten habe.
Prof. Dr. h. c. J. F. Volrad Deneke
Axenfeldstraße 16
53177 Bonn
Armutszeugnis
Scham und Mitleid erfüllen einen, wenn
man liest, was die Herren Hoppe und Sewing sowie die Arbeitsgruppe „Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer unter ihrem „Beitrag zur Schärfung des Problembewusstseins“ zur
Präimplantationsdiagnostik verstehen.
Mitnichten wird hier irgendeine ethische
Problematik angeschnitten. Der vorgelegte „Diskussionsentwurf“ ist indes ein
bloßes Abwicklungspapier, welches die
genaueren Modalitäten der Präimplantationsdiagnostik festzulegen versucht. Besonders wertvoll erscheint mir dabei die
Erkenntnis, dass „kein Arzt gegen sein
Gewissen verpflichtet werden kann, an
einer Präimplantationsdiagnostik mitzuwirken“, oder aber die Feststellung, dass
die involvierten Ärzte über entsprechende Kenntnisse und Erfahrung verfügen
müssen. Hierüber besteht in der Tat ein
ganz erheblicher Diskussionsbedarf.
Der Umstand, dass in den einleitenden
Worten eine Präjudiz explizit ausgeschlossen wird, täuscht den intelligenten
23
D O K U M E N T A T I O N
Leser und Herrn Kardinal Meisner nicht
darüber hinweg, dass selbstverständlich
ein Ergebnis vorweggenommen wird. Indem nämlich darüber lamentiert wird, unter welchen organisatorischen Rahmenbedingungen die bereits bejahte Präimplantationsdiagnostik letztendlich vorgenommen werden soll. Mit Spannung erwarte ich den „Diskussionsentwurf“, der
sich damit beschäftigen wird, unter welchen Kautelen dann schließlich die Unterscheidung zwischen „krank“ und „gesund“ getroffen wird und welches Antragsverfahren für die nachfolgende Elimination des „Kranken“ erforderlich ist.
Der „Diskussionsentwurf“ ist ein bemerkenswertes Armutszeugnis der deutschen Ärzteschaft und trägt nichts zu der
inhaltlichen, das heißt sittlichen Auseinandersetzung mit der beschriebenen Problematik bei.Vielmehr scheint die Chance vertan, aus ärztlicher Sicht gerade im
Hinblick auf den rasanten Zuwachs an
diagnostischen und therapeutischen
Möglichkeiten auf die sehr umfangreichen ethischen Folgeprobleme hinzuweisen. Dass ein Theologe uns auf die immer
schwierigeren Grenzen zwischen medizinisch Machbarem und sittlich Zulässigem hinweisen muss, ist bitter.
Man darf es getrost als eine Zumutung bezeichnen, auf welchem Niveau
Thema verfehlt
Zu der Stellungnahme von Kardinal
Meisner ...gibt es nur einen Kommentar:
Thema verfehlt.
Dr. Konrad Ringleb
Brunnenstraße 97, 99974 Mühlhausen
Ausweg: Adoption
Im Vorwort zum Diskussionsentwurf der
BÄK-Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik steht, dass die damit verbundenen
ethischen Konflikte nur dann zu vermeiden sind, wenn „betroffene Paare bewusst
auf Kinder verzichten oder sich zu einer
Adoption entschließen“. Jedoch würden
diese Alternativen von Paaren mit hohen
genetischen Risikofaktoren „häufig nicht
akzeptiert“. Aus früherer andrologischer
Praxis wohl bekannt sind mir viele Vorbehalte gegen eine Adoption, die bei spermatologisch gesicherter Infertilität zur Erfül-
24
sich Kardinal Meisner mit den deutschen Ärzten beziehungsweise ihren repräsentativen Gremien verständigen
muss. Dass er hierbei einen direkten
Vergleich zum ärztlichen Mitwirken an
der historischen „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ heranzieht, ist völlig
zutreffend und legitim. So wie damals
Ärzte es waren, die ihr Wissen in den
Dienst einer verwerflichen Weltanschauung stellten, ist es auch heute wieder unser Berufsstand, der eine vermeintlich ethische Pragmatik zur Verfügung stellt, um ein im Grunde unethisches Vorgehen zu ermöglichen. Heute
wie damals wird sich unser Stand jedoch
letztlich nicht seiner Verantwortung entziehen können.
Unter diesen Umständen ist zu überlegen, inwieweit Stellungnahmen und
so genannte Diskussionsentwürfe der
Bundesärztekammer zu derlei Dingen
überhaupt noch sinnvoll sind. Zur
„Schärfung des Problembewusstseins
im gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildungsprozess“ tragen sie jedenfalls sicherlich nicht bei.
Dr. med. Karl-Anton Kreuzer
Abteilung für Innere Medizin
Medizinische Fakultät Charité der Humboldt-Universität
zu Berlin, Campus Virchow-Klinikum
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
ters – und die Chance der freien Wahl eines Wunschkindes unter verschiedenen
Kleinkindern (nur zu Kleinkindern wurde
geraten) im Waisenhaus klar gemacht
wird. Dies und nicht zuletzt die mit der
Adoption gegebene „Gleichberechtigung“ hinsichtlich der Rechte und Pflichten zur Erziehung und Förderung des
Kindes lässt die Adoption dann in neuem
Licht erscheinen, nicht mehr als bloßen
Notbehelf. Selbstverständlich setzt eine
Beratung, die auch das Selbstvertrauen
und die (durch die Wartefrist oft belastete) Frustrationstoleranz des Paares stützen soll, ein taktvoll-hilfsbereites Verhalten der Behördenpersonen voraus, um
präsumptive Adoptiveltern nicht zu verunsichern. Möglicherweise beruht die geringe Akzeptanz des Adoptionsangebots
auf mehreren Gründen. Zu geringes ärztliches Interesse an einer „nur“ sozio-therapeutischen (aber oft glücklichen) – statt
einer instrumentell machbaren – Erfüllung des Kinderwunsches, unpersönlicher
Formalismus bei Behörden, falsche
Scham vor dem „Makel“ einer ungewollt
kinderlosen Ehe usw. Hätten hier nicht
die Jugendämter, die Kirchen und die
„Medien“ eine wertvolle, gegenüber der
uninformierten Öffentlichkeit viel zu lange vernachlässigte Aufgabe?
Professor Dr. med. Otto P. Hornstein
Danziger Straße 5, 91030 Uttenreuth
lung des Kinderwunsches damals einzig offen stand (abgesehen von der ethisch und
[Personenstands-]rechtlich absolut unzulässigen anonym-heterologen Insemination). Verständliche Ängste oder Vorurteile („Blamage“ für das Paar beziehungsweise den Mann, befürchtete Unterschiebung
„minderwertiger“ Kinder durch die Gesundheitsämter u. a.) waren aber durch
einfühlsame Aufklärung des Paares zu mildern oder zu entkräften. Auch heute noch
könnte sachkundige Adoptionsberatung
viel erreichen, wenn zum Beispiel auch
die langwierige, oft als Zumutung empfundene Gründlichkeit der für beide Seiten – Adoptiveltern und Kind – gleichermaßen verantwortlichen Behörden erläutert wird, andererseits dem Paar die Minimierung von Risiken – Ausschluss erbkranker oder erkennbar belasteter Kinder durch pädiatrische Voruntersuchung,
gesundheitsamtliche Überprüfung des sozialen Milieus und der Gesundheit der
Mutter sowie (nach Möglichkeit) des Va-
Dank an Kardinal Meisner
. . . Die ethische Verrohung geht einher
mit marktförderlichem Mechanismus.
Der Utilitarismus eines Herrn Lenin lässt
grüßen, ebenso der Sozialdarwinismus aller Schattierungen. Die Bundesärztekammer sollte im Wissen um das üble Erbe der
Reichsärztekammer konsequente Hüterin des Lebens sein! Will man in 50 Jahren
wieder behaupten, die katholische Kirche
hätte zu leise gewarnt? Wer das 20. Jahrhundert unter Marktaspekten gleich
Ideologieaspekten betrachtet, kommt zu
der Feststellung,dass insbesondere die katholische Kirche ein Markthemmungsfaktor ist, den das 20. Jahrhundert erfolgreich
beseitigt hat. Dem Deutschen Ärzteblatt
ist für die Veröffentlichung der Stellungnahme von Kardinal Meisner außerordentlich zu danken.
Dr. med. Stephan Kunze
Friedrich-Hegel-Straße 31, 01187 Dresden
D O K U M E N T A T I O N
Heft 17, 28. April 2000
Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer
Von richtigen rechtlichen
Voraussetzungen ausgehen
Zur rechtlichen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik
D
er vom Wissenschaftlichen Beirat
der Bundesärztekammer vorgelegte „Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ hat unterschiedliche Resonanz in
der Öffentlichkeit gefunden. Dabei ist
immer wieder die Frage nach der Vereinbarkeit der Präimplantationsdiagnostik
mit dem Embryonenschutzgesetz aufgeworfen worden, so auch von Riedel (DÄ
Heft 10/2000), die feststellt, die Präimplantationsdiagnostik stehe im Widerspruch zum Embryonenschutzgesetz.
Es überrascht, wie apodiktisch und vehement zugleich Riedel zur Einleitung
ihres Plädoyers für eine unvoreingenommene Debatte behauptet, eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik sei
mit
dem
Embryonenschutzgesetz
(EschG) nicht vereinbar, ohne dass eine
nähere Auseinandersetzung mit dem
Gesetzestext stattgefunden hat.
Ihrem Beitrag, in dem sie die durchaus
nachvollziehbare Forderung einer gesetzlichen Regelung erhebt, stellt Riedel
die These voran, die Präimplantationsdiagnostik stehe im Widerspruch zum
ESchG. Diesem zufolge, so heißt es, dürfe eine Eizelle nur zum Zweck der Herbeiführung einer Schwangerschaft bei
der Frau, von der die Eizelle stammt,
künstlich befruchtet werden;ein Embryo
dürfe auch nur zu diesem Zweck weiterentwickelt und ein extrakorporal erzeugter Embryo dürfe zu keinem anderen
Zweck als zu seiner Erhaltung verwendet werden, siehe § 1 l Nr. 2, § 2 l und II
ESchG. Ziel der Regelung der künstlichen Befruchtung im ESchG sei die Behandlung von Fertilitätsstörungen, also
die Erfüllung des Kinderwunsches einer
Frau oder eines Paares. Dieses von Riedel so betonte Ziel wird im ESchG jedoch gerade nicht ausdrücklich benannt.
Riedels Aussagen zeigen vielmehr, dass
hier der Wunsch des Bestehens eines
Verbotes Mutter der Argumentation ist,
mehr jedoch nicht.
Ein allgemeines Verbot der Präimplantationsdiagnostik könnte sich aus
§ 1 l Nr. 2 ESchG herleiten. Dort heißt
es, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren
oder mit Geldstrafe werde bestraft, wer
es unternimmt, eine Eizelle zu einem
anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau
herbeizuführen, von der die Eizelle
stammt.
Wenn ein Arzt im Rahmen einer Invitro-Fertilisation (IVF) eine Eizelle befruchtet und diese durch Entnahme einer
nicht mehr totipotenten Zelle auf bestimmte genetische Defekte untersucht,
um je nach Befund den Embryo zu transferieren oder nicht, ist fraglich, ob der
Arzt die Eizelle gemäß § 1 l Nr. 2 EschG –
wie Riedel behauptet – zu einem anderen
Zweck künstlich befruchtet, als die
Schwangerschaft einer Frau herbeizuführen – nämlich vielmehr, um eine „Selektionsmöglichkeit“ zu eröffnen. Tatbestandslos handelt, wer mit der Absicht
handelt, eine Schwangerschaft herbeizuführen.
Riedel scheint der Ansicht zu sein,
dass eine solche Absicht bei der Präimplantationsdiagnostik zum Zeitpunkt
der Befruchtung noch nicht besteht. Diese Auffassung wird den tatsächlichen Gegebenheiten jedoch nicht gerecht, da sie
eine künstliche Aufteilung eines einheitlichen Vorganges vornimmt. Die Betroffenen handeln von Beginn der IVF mit
dem Bewusstsein, dass die gesamte Behandlung auf Herbeiführung einer
Schwangerschaft ausgerichtet ist. Dass
die Schwangerschaft noch von einer Bedingung abhängig gemacht wird, stellt
dabei ein separat zu behandelndes Problem dar. So ist die Frage, ob die Absicht
deshalb verneint werden könnte, weil ein
später vorzunehmender Teilakt noch
von einer weiteren Bedingung, das heißt
der Entscheidung der Mutter zum Transfer, abhängig gemacht werden soll. Die
Absicht wird allein nach der voluntativen Beziehung zwischen Täterpsyche
und Taterfolg definiert. Bewusst herbeigeführte und erwünschte Erfolge sind
immer beabsichtigt, auch wenn ihr Eintritt nicht sicher ist (Roxin, Strafrecht
Allgemeiner Teil, Band l, 3. Auflage, § 12
Rdnr. 11; Cramer in: Schönke/Schröder,
25. Auflage, § 15 Rdnr. 67, m. w. N.). Das
Abhängigmachen der Vornahme eines
zukünftig vorzunehmenden Teilaktes
von einem Bedingungsschritt, hier der
Annahme zur Übertragung eines Embryos auf die Mutter, schließt die Absicht, eine Schwangerschaft herbeizuführen, gerade nicht aus. Eine Strafbarkeit nach § 1 l Nr. 2 ESchG kann daher
nicht bejaht werden, wenn die Fertilisation erfolgt. Dieses Ergebnis ist naheliegend, bedenkt man, dass auch bei der
Vornahme einer regulären IVF ohne
Präimplantationsdiagnostik der Arzt
den anschließenden Embryotransfer
stets von der Bedingung abhängig macht,
dass sich die Patientin auch später noch
bereit erklärt, diesen vornehmen zu lassen (hierzu und im Folgenden demnächst
Schneider in MedR 2000. Auf dem Weg
zur Selektion – Strafrechtliche Aspekte
der Präimplantationsdiagnostik). Weiterer Anknüpfungspunkt für eine mögliche Strafbarkeit nach § 1 l Nr. 2 ESchG
kann sein, die „Ausschließlichkeit“ der
Zweckverfolgung in Zweifel zu ziehen.
Die Frage ist, ob nur derjenige tatbestandslos handelt, der die Eizelle ausschließlich deshalb künstlich befruchtet,
um eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der der Embryo
stammt, oder ob der Täter auch einen anderen Nebenzweck mit der künstlichen
Befruchtung verfolgen kann, ohne tatbestandsmäßig zu handeln.
Aus dem Gesetzestext geht nicht hervor, dass die Absicht der Herbeiführung
einer Schwangerschaft durch die gleichzeitige absichtliche Verfolgung eines anderen Zweckes – nämlich zuvor die genetische Struktur des Embryos zu prüfen
– ausgeschlossen ist. Dieses Ergebnis
ließe sich nur im Wege unzulässiger erweiternder Interpretation oder Analogie
gewinnen. Die äußerste Auslegungsgrenze markiert jedoch nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfGE 73,
25
D O K U M E N T A T I O N
206 [234 ff.]; 92, 1 [12]) und vorherrschender Ansicht im Schrifttum (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6.
Auflage, S. 323 m. w. N.) der mögliche
Wortsinn eines gesetzlichen Begriffs.
Im Strafrecht gilt ferner das Verbot
der strafbarkeitsbegründenden oder
-schärfenden Analogie (Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band l, 3. Auflage, § 5 Rdnr. 26 ff., m. w. N.). Art. 103 II
GG macht die Strafbarkeit einer Tat von
einer gesetzlichen Regelung abhängig
und verbietet eine Ausdehnung der
Strafbarkeit über den Gesetzeswortlaut
hinaus auf ähnlich strafbedürftig und
strafwürdig erscheinende Verhaltenweisen.
Diese engen Grenzen verkennt Riedel.
Für die Annahme einer „Ausschließlichkeit“ des verfolgten Zwecks im Sinne des Verbotes eines Nebenzwecks
sind im Gesetz keine Anhaltspunkte ersichtlich.
Von Riedel wird ferner der mit „Missbräuchliche Verwendung“ überschriebene § 2 l EschG als Argument für ein Verbot genannt. Dort heißt es, dass derjenige, der einen extrakorporal erzeugten
[. . .] menschlichen Embryo [. . .] zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden
Zweck [. . .] verwende, mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe
bestraft werde.
Fraglich ist, ob es eine „missbräuchliche Verwendung“ darstellt, den
Embryo nach erfolgter Biopsie und der
Feststellung von bestimmten genetischen Defekten nicht zu transferieren,
sondern in der Petrischale liegen zu lassen, bis er sich nicht weiterentwickeln
kann und daraufhin abstirbt.
Dies setzt zunächst voraus, dass die
„Verwendung“ im Sinne von § 2 l EschG
auch durch Unterlassen begehbar ist
(andere Auffassung Günther, in: Keller/
Günther/Kaiser, § 2 Rn. 34). Unterstellt
man dies, ist im Falle der Vornahme eine
Präimplantationsdiagnostik – welche im
Einverständnis und auf Bitten des betroffenen Ehepaares durchgeführt wird
– § 2 l ESchG in Form des Unterlassens
deshalb nicht einschlägig, weil dem Arzt
die Einsetzung der „selektierten“ Eizelle
entweder gar nicht möglich ist oder es
ihm nicht zuzumuten wäre, gegen den
Willen der Patientin und entgegen dem
Ziel der Behandlung die Eizelle dennoch
26
– etwa unter Täuschung der Patientin –
zu transferieren. Im Fall der Präimplantationsdiagnostik ist die Erfüllung des
Tatbestandes von § 2 l ESchG durch
Nichtübertragung des Embryos, sondern
Liegenlassen, wenn die Patientin einen
Transfer der belasteten Zelle ablehnt,
nicht strafbar.
Ein Verstoß gegen § 2 l ESchG wäre
ferner denkbar, wenn man in der Entnahme und Untersuchung einer Zelle eine Verwendung des Embryos sehen würde, die einem nicht seiner Erhaltung
dienenden Zwecke gewidmet ist, das
heißt mit anderen Worten, wenn man argumentiert, „das Untersuchen“ diene
nicht der Erhaltung und würde somit eine missbräuchliche Verwendung darstellen. Entnimmt der Arzt dem Embryo eine Zelle und beeinträchtigt das die späteren Weiterentwicklungschancen nicht,
insofern als der Embryo noch mit den
regulären Erfolgsaussichten auf Herbeiführung einer Schwangerschaft in den
Mutterleib übertragen werden kann, ist
die Behandlung als „neutrale Handlung“
zu werten. Die Untersuchung ist zwar
nicht notwendig für die Erhaltung, zugleich beeinträchtigt sie eine solche Erhaltung auch nicht. Schon der objektive
Tatbestand scheint nicht erfüllt zu sein.
§ 2 l ESchG verlangt jedoch weiter als
spezielles subjektives Tatbestandsmerkmal die Absicht des Täters, einen nicht
der Erhaltung des Embryos dienenden
Zweck zu verfolgen. Eine solche Absicht
in Form zielgerichteten Wollens ist jedoch nicht gegeben. Es kommt dem Arzt
nicht darauf an, mit der Handlung einen
Zweck zu verfolgen, der nicht der Erhaltung des Embryos dient. Ein Verstoß gegen § 2 l ESchG ist daher auch durch die
Untersuchung nicht gegeben.
Was den § 2 II ESchG betrifft, in dem
es heißt:„Ebenso wird bestraft,wer zu einem anderen Zweck als der Herbeiführung einer Schwangerschaft bewirkt,dass sich ein menschlicher Embryo
extrakorporal weiterentwickelt“, so
muss auch hier auf das Erfordernis der
Absicht, das heißt des dolus directus ersten Grades, hingewiesen werden. Ein
solches zielgerichtetes Wollen ist nicht
gegeben.
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass
der Ausgangspunkt Riedels, die Präimplantationsdiagnostik stehe im Widerspruch zum ESchG, nicht richtig ist.
Welche Konsequenz die fehlende Regelung der Präimplantationsdiagnostik
in Zukunft haben wird und ob der Gesetzgeber sie regeln sollte, ist damit jedoch noch keineswegs geklärt. Den Autoren des Diskussionsentwurfs eine einseitige Fehlinterpretation des Embryonenschutzgesetzes und eine schon deshalb falsche Position zur Präimplantationsdiagnostik vorzuwerfen, ist verfehlt.
Der Entwurf dient gerade dazu, die öffentliche Diskussion anzuregen. Die in
ihm vertretene Position ist rechtlich jedenfalls möglich. Man sollte bei der Beurteilung von richtigen rechtlichen Voraussetzungen ausgehen.
Prof. Dr. Dr. med. h. c. H.-L. Schreiber
Direktor des Juristischen Seminars
Postfach 37 44
37027 Göttingen
D O K U M E N T A T I O N
Heft 17, 28. April 2000
Präimplantationsdiagnostik
als Verantwortung
Dass die Fortpflanzungsmedizin ein
problem- und konfliktbeladenes Feld
ärztlicher Tätigkeit darstellt, ist unverkennbar. So war es nahezu unvermeidbar, dass sich der Wissenschaftliche
Beirat der Bundesärztekammer dieses
schwierigen Terrains angenommen hat,
um den Stand der Wissenschaft in ein
berufsrechtliches Regelwerk oder Vorschläge dazu einzubetten. Die „Richtlinien zur Durchführung der assistierten
Reproduktion“ (1998), die „Richtlinien
zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen“
(1998), die „Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik“ (1998) sind als Niederschlag dieser
Bemühungen zu verstehen. In den
„Richtlinien zur Pränataldiagnostik von
Krankheiten und Krankheitsdispositionen“ wurde der Komplex Präimplantationsdiagnostik ausgeklammert, da
klar geworden war, dass diese wegen
der Sensibilität des Themas eines eigenständigen Papiers bedurfte. Die intensive Bearbeitung durch einen multidisziplinär – in seinen Anschauungen keinesfalls uniform – besetzten Arbeitskreis hat ihren Niederschlag gefunden
in der vom Wissenschaftlichen Beirat
einstimmig gebilligten Form eines „Entwurfs für eine Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“. Der Wissenschaftliche Beirat ist ein Beratungsgremium der
Bundesärztekammer. Dem Vorstand der
Bundesärztekammer steht es frei, wie er
Vorschläge des Wissenschaftlichen Beirats umsetzt. Von diesem Recht hat der
Vorstand der Bundesärztekammer Gebrauch gemacht und die Vorlage des
Wissenschaftlichen Beirats ohne textliche oder inhaltliche Änderungen als
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“
zustimmend zur Kenntnis genommen
und zur Veröffentlichung freigegeben.
Erklärte Absicht sowohl des Wissenschaftlichen Beirats als auch des Vorstands der Bundesärztekammer war es,
einen „Diskurs mit den gesellschaftlichen Gruppen“ (nicht gegen sie!) im
Sinne eines „offenen und sachlichen,
gleichwohl kritischen Dialog“(s) zu
führen. Der Wissenschaftliche Beirat
hat sich in einem ausführlichen Vorwort
mit den Problemen der Präimplantationsdiagnostik auseinander gesetzt und
die Konfliktfelder offen benannt. Bei
der Gestaltung des Richtlinienentwurfs
war der Wissenschaftliche Beirat getragen von dem Bemühen, einerseits dem
Schutz des ungeborenen Lebens, andererseits aber auch gezielt Paaren gerecht zu werden, die „an der Furcht vor
einem genetisch bedingt schwerstkranken Kind gesundheitlich zu zerbrechen
drohen“. Der verständliche Wunsch
nach einem gesunden Kind ist eine sittliche Norm und kann aus der Diskussion nicht dadurch ausgeblendet werden,
dass in der Gesellschaft eine Erwartungshaltung für gesunde Kinder als
Gefahr gebrandmarkt wird.
Einem Dammbruch im Sinne einer
Öffnung der Präimplantationsdiagnostik
für nicht ausschließlich der Erkennung
einer bekannten, schwerwiegenden, unbehandelbaren, genetisch bedingten Erkrankung dienende Indikationen kann
und muss man am ehesten dadurch begegnen, dass man von einem schematisierten Indikationskatalog Abstand
nimmt zugunsten einer verantwortungsbewussten Einzelfallbegutachtung,
die durch Einschaltung von zwei hierarchisch nacheinander angeordneten
Kommissionen untermauert wird.
Es geht an der Sache völlig vorbei und
verlässt den Boden eines an wissenschaftlichen Maximen orientierten Meinungsaustauschs, wenn der Eindruck erweckt wird,aus gutem Grund geschlossene Schleusen gegenüber nationalsozialistischen Gräueltaten seien durch den
Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer wieder geöffnet worden
und wenn die Präimplantationsdiagnostik in die gedankliche Nähe einer Eugenik nationalsozialistischer Prägung
gerückt wird. Letztere stellt den Vollzug
eines von einem verbrecherischen Regime staatlich verordneten und praktizier-
ten Rassenwahns dar, der vor zwangsweisen Sterilisationen,Tötungen und anderen Gräueltaten nicht zurückschreckte.
Das Begehren nach einer Präimplantationsdiagnostik wird demgegenüber
freiwillig und aus eigenem Antrieb
von einem einzelnen Paar aus einer berechtigten individuellen Sorge heraus
an einen Arzt herangetragen, was einen intensiven Beratungs- und Zustimmungsprozess in Gang setzt, bevor
ein Präimplantationsdiagnostik-Verfahren überhaupt aktiv eingeleitet werden
könnte.
Zentrales rechtliches Thema ist die
Frage nach der Vereinbarkeit der Präimplantationsdiagnostik mit dem Embryonenschutzgesetz.Anders als das Bundesministerium für Gesundheit sind sowohl
die Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz unter dem Vorsitz
des (verstorbenen) Justizministers Peter
Caesar als auch der Wissenschaftliche
Beirat der Bundesärztekammer nach eingehender rechtlicher Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Präimplantationsdiagnostik nicht mit dem Embryonenschutzgesetz kollidiert (siehe dazu
Schreibers vorangehenden Beitrag).
Begründet wird diese Einschätzung
dadurch, dass – in Übereinstimmung
mit dem Embryonenschutzgesetz – das
erklärte und einzige Ziel einer In-vitroFertilisation als Voraussetzung einer
Präimplantationsdiagnostik die Herbeiführung einer Schwangerschaft ist.
Erst wenn nach einer Präimplantationsdiagnostik „ein hohes Risiko für eine
bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung“ der Nachkommen erkennbar wird, stellt sich für
die betroffenen Paare die Frage nach
dem Transfer aller zum Zwecke der
Herbeiführung einer Schwangerschaft
befruchteten Eizellen. Die BioethikKommission Rheinland-Pfalz mahnt
zwar an, dass „die Grundvoraussetzungen der Präimplantationsdiagnostik als
wesentlich für die Grundrechte gesetzlich geregelt werden“ (müssen). Sie
stellt aber die Legalität der Präimplantationsdiagnostik damit nicht grundsätzlich infrage, sondern sagt vielmehr:
„Damit dem (gesetzliche Regelung der
Grundrechte, Verfasser) Rechnung getragen wird, sollen folgende Voraussetzungen gelten:
27
D O K U M E N T A T I O N
> hohes genetisches Risiko (als normativer Begriff ohne Festlegung eines
Katalogs bestimmter Erkrankungen)
> Beratung eines Paares über Chancen, Risiken und Alternativen durch den
Arzt
> Einwilligung des Paares.
Die darüber hinausgehenden Modalitäten und Details sollen in Richtlinien
der Bundesärztekammer festgelegt werden, um sie den jeweiligen medizini-
schen Entwicklungen angemessen anpassen zu können.“ Der Vergleich des
Diskussionsentwurfs der Bundesärztekammer mit diesen Desideraten sollte
eigentlich erkennen lassen, dass der Vorschlag der Bundesärztekammer eine gesetzliche Regelung nicht präjudiziert,
sondern vielmehr geeignet ist, eine angemessene gesetzliche Rahmenregelung
inhaltlich auszufüllen. Wenn allerdings
kategorisch festgestellt wird, die Präim-
plantationsdiagnostik stehe im Widerspruch zum Embryonenschutzgesetz,
dann ist die von der Bundesärztekammer angestrebte unvoreingenommene
offene Debatte zumindest erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich.
Der Vorstand des Wissenschaftlichen Beirates
der Bundesärztekammer
Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. K.-Fr. Sewing
Berliner Allee 20 (Ärztehaus), 30175 Hannover
Heft 18, 5. Mai 2000
Schöne Neue Welt
Muss man alles machen, was man kann?
Fortschritt allein genügt nicht, es kommt auch auf die Richtung an.
D
ie Wissenschaft bewegt sich mit
gewaltigen Schritten voran, natürlich nur nach vorne . . .? Wer hätte
vor einigen Jahrzehnten von Gentherapie, Klonierung oder Präimplantationsdiagnostik (PGD = preimplantation genetic diagnosis) zu träumen gewagt?
Doch, diese Träumer gab es. Es lohnt
einmal wieder, Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ aus dem Bücherschrank
zu nehmen. Eine Gruselfiktion der
Zwanzigerjahre, visionär aus heutiger
Sicht. Die Klonierung ist dort Routine, als „Bokanowsky-Verfahren“ standardisiert und gesellschaftlich (angeblich) akzeptiert. Einen Schönheitsfehler
hat das Ganze natürlich; anders als in
der heutigen Realität verliert der Organismus beim Klonieren Kompetenz.
Das Ideal also ist der ungeklonte
Mensch, der, der nicht dem „Bokanowsky-Verfahren“ unterzogen wurde und
seine Individualität erhalten durfte.
Je mehr Klon-Kopien es gibt, desto
niedriger die soziale und intellektuelle
Intelligenz der Individuen – so weit
Huxley.
Dahinter steht eine intellektuelle Attitüde, die der Individualität und dem
Unterschied Raum lässt. Nicht die unterschiedslose Schönheit ist wahrhaft
schön, sondern Schönheit kann man
erst an der Bandbreite von hässlich bis
28
göttlich wirklich ermessen. Von diesem
Ideal entfernen wir uns zusehends. Uniformität ist gefragt, Krankheit anstößig
und absondernd; nicht die Bandbreite
menschlicher Individualität, sondern
ihre Konformität mit gesellschaftlichen
Normen soll mit Technikeinsatz erzeugt
werden.
Ein gutes Beispiel hierfür ist der
„Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“,
den der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) unlängst vorgelegt hat.
Nun wäre es sicher unfair, der BÄK
vorzuwerfen, sie fördere an dieser Stelle den Technikeinsatz in der Medizin.
Das tut sie nicht – sie reagiert lediglich
auf wissenschaftliche Entwicklungen
und versucht sie in ethische Dimensionen vor dem Hintergrund rasanter gesellschaftlicher Veränderungen zu stellen. Der Antrieb, der Impuls kommt
von woanders – aus Forschertrieb, aus
der Überlegung, kranken Menschen
helfen zu wollen, aus Zukunftsgläubigkeit und auch aus materiellen Interessen.
Das Embryonenschutzgesetz verbietet die Präimplantationsdiagnostik; die
Manipulation an totipotenten Zellen ist
verboten. Zusätzlich ist es nicht zulässig,
erzeugte Embryonen nicht zu übertragen, also zu verwerfen. Eine groteske
Ironie wäre es also, in der PGD als
„krank“ erkannte Embryonen gleichwohl übertragen zu müssen. Bei wenigen erbgebundenen Krankheitsbildern
könnte PGD helfen. Notwendig wäre
eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes. Der Diskussionsentwurf schlägt
darüber hinaus „Ethikkommissionen“
der Selbstverwaltung vor, die Genehmigungen zur PGD erteilen.
Forschertrieb und
Technikgläubigkeit
Seit einiger Zeit versucht die Wissenschaft, den Zeitraum der Totipotenz
von Zellen für kürzer und kürzer zu erklären. Forschergruppen behaupten,
schon ab dem 4-Zell-Stadium sei eine
Totipotenz nicht mehr sicher. Zugleich
gewinnt die moderne Fortpflanzungsmedizin immer mehr Spielräume zum
erfolgreichen Übertragen von Embryonen, ein Fenster tut sich auf, die
Zellen sind (angeblich) nicht mehr totipotent, die Übertragung ist noch möglich.
Altruistische Ideale
Unter dem Eindruck der großen Trauer
von Familien, die das Risiko genetischer Fehler in sich tragen und oftmals
D O K U M E N T A T I O N
schreckliche Leidensgeschichten von
kranken oder sterbenden Kindern, späten Abtreibungen oder gar intrauterinen Fetoziden hinter sich haben,
wollen Ärzte helfen und diesen Familien das Idealbild „gesunde Kinder“ erfüllen. Es handelt sich dabei um nur circa 100 Paare per annum bundesweit, bei
denen unter dieser Indikation eine
PGD infrage käme. Sie müssten, obwohl sie auf natürlichem Wege zeugungsfähig sind, eine im Reagenzglas
erzeugte Schwangerschaft – mit allen
Risiken – ertragen, nur um den Embryo
einer PGD unterziehen zu können.Verkürzt gesagt: Die technischen Risiken
der In-vitro-Fertilisation (IVF) und
PGD stehen hier den menschlichen
(und auch ethischen) Problemen einer
späten Abtreibung entgegen.
Wahrlich, eine Auswahl zwischen
Beelzebub und Teufel! Auf die einfache
Idee, den Paaren von weiteren Schwangerschaften abzuraten, kommt man offensichtlich nicht. Kinderwunsch ist ein
alle Mittel heiligendes Ziel – auch das
ist angesichts der Irrationalitäten unserer Welt eine groteske gesellschaftliche
Entwicklung.
Finanzielle Auswirkungen
Und natürlich tut sich in der PGD ein
gewaltiges ökonomisches Potenzial auf.
IVF und PGD sind aufwendige und
teure Verfahren; sie werden in anderen
Ländern, wo sie zulässig sind, auch unter ökonomischen Aspekten sehr gewinnbringend angeboten.
Ethischer Deichbruch!
Würde der Diskussionentwurf zu einer
Richtlinie zur PGD verabschiedet und
Wirklichkeit, käme dies in meinen
Augen einem ethischen Deichbruch
gleich. Auch wenn ich sicher bin, dass
die Autoren sich nur von den edelsten
Motiven haben leiten lassen, so halte
ich es doch für ausgeschlossen, die
PGD auf die Paare begrenzen zu können, die erbgebundene Krankengeschichten vorweisen können. Vielmehr
wird im Rahmen aller IVF-Maßnahmen die Frage gestellt werden müssen,
inwieweit das Risiko der iatrogenen
Übertragung „fehlerhafter“ Embryonen überhaupt vertretbar ist. Über kurz
oder lang werden bei allen IVF-Maßnahmen PGDs nötig sein. Und: Wie
verweigert ein Arzt Paaren die PGD im
Rahmen einer IVF? Müssen diese Paare erst selbst eine „genetische Leidensgeschichte“ vorweisen, um in den
„Genuss“ der gewünschten exakteren
Diagnostik zu kommen? Wäre es nicht
– unter denselben pseudoaltruistischen
Maximen – unmenschlich, ihnen diese
Diagnostik vorzuenthalten?
Hier tut sich nicht nur ein gewaltiger
Markt für Ärzte auf – hier entstehen
auch gewaltige Risiken für unsere Gesetzliche Krankenversicherung – es wird
auf Dauer nicht möglich sein, IVF zwar
zu bezahlen, PGD aber nicht.
Schließlich: Sie haben es alle gelesen,
die Entschlüsselung des menschlichen
Genoms steht kurz vor ihrer Vollendung. Damit aber liegt eine mindestens
abstrakte Genkarte vor, in der Aberrationen, Variationen und Strickmusteranomalien des Menschen beschrieben
sind. Wer glaubt, diese Karte prognostiziere mit hundertprozentiger Sicherheit
erbgebundene Krankheiten, der irrt. Einige wenige Krankheiten und ihre Ausprägung sind heute schon erkennbar,
ganz überwiegend aber vermögen wir
zwar die „Strickmusterfehler“ der Natur zu erkennen, ihre Relevanz für das
lebende Individuum aber nicht einzuordnen. Jeder von uns ist Träger solcher
Anomalien – auch der Gesündeste! Der
Grundgedanke der genetischen Selektion aber, dieses „Nichts-mehr-demSchicksal-überlassen-Wollen“, der dem
gesamten Verfahren nun einmal innewohnt, wird zu einer natürlichen Ausmerzung aller Anomalien führen. Wir
sind auf dem direkten Weg zum „qualitätsgesicherten Kind“.
Welchem Arzt könnte man einen
Vorwurf machen, wenn er Eltern eher
zur Abtreibung (oder in unserem Fall
zur Nichtübertragung des Embryos) raten wird, als sie zu bestärken, die
Risiken im Vertrauen auf eine starke Natur in Kauf zu nehmen? Der Bundesgerichtshof hat uns in seiner Rechtsprechung klargemacht, dass fehlerhafte genetische Beratung schadensersatzpflichtig macht. Das kranke Kind wird
zum „Schadensfall“ – nicht der bedauernswerten Eltern, sondern des Arztes!
Fortpflanzungsmedizingesetz
Der Diskussionentwurf der BÄK geht
deswegen einen falschen Weg; in fehlgeleitetem Altruismus sprengt er ethische Dämme. Eine Begrenzung auf wenige Paare – wie vorgesehen – wird sich
nicht durchhalten lassen. Ungewollt
wird der genetischen Selektion die Tür
geöffnet. Fortschrittsgläubigkeit macht
blind vor den Risiken. Noch ist es an
der Zeit gegenzusteuern. Deswegen
hat der Vorstand der BÄK auch lediglich einen „Diskussionsentwurf“ vorgelegt. Am Ende der Diskussion kann
also durchaus auch das Einstampfen
des Papiers stehen.
Die Bundesregierung plant, das Embryonenschutzgesetz im Lichte neuer
wissenschaftlicher Erkenntnisse zu
überarbeiten. In einem Fortpflanzungsmedizingesetz müssten dann auch Fragen der IVF und der PGD geregelt werden.
Ich plädiere für ein Verbot der
Präimplantationsdiagnostik.
Dr. med. Frank Ulrich Montgomery
Präsident der Ärztekammer Hamburg
Vorsitzender des Marburger Bundes
29
D O K U M E N T A T I O N
Heft 18, 5. Mai 2000
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der Bundesärztekammer
Präimplantationsdiagnostik –
medizinische,
ethische und rechtliche Aspekte
Der von der Bundesärztekammer vorgelegte „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik“, dokumentiert in Heft 9/2000, wurde von einem Arbeitskreis des
Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer ausgearbeitet. Dessen Vorsitzender, Prof.
Dr. med. Hermann Hepp, Verfasser des nachfolgenden Artikels, hat Inhalt und Hintergründe
des Richtlinienentwurfes vor dem Vorstand der Bundesärztekammer und später auch in einem
BÄK-Presse-Seminar erläutert. Auf diese Ausführungen geht der Artikel zurück.
Hermann Hepp
1. Definition und Methode
Jede Schwangerenvorsorgeuntersuchung
ist eine pränataldiagnostische Maßnahme. Pränataldiagnostik (PND) und/
oder -therapie definieren als pränatalmedizinische Verfahren die fötomaternale Medizin der Geburtshilfe.
Die Präimplantationsdiagnostik ist
im Gegensatz zur invasiven und
noninvasiven Pränataldiagnostik nur
im weiteren Sinne ein pränatalmedizinisches Verfahren, da die Diagnostik
vor der Implantation des Embryos, das
heißt vor Beginn der Schwangerschaft,
ansetzt.
Unter Präimplantationsdiagnostik
versteht man die Diagnostik nach Invitro-Fertilisation (IVF) an einem Embryo vor dem intrauterinen EmbryoTransfer (ET). Anstelle der für den
deutschen Sprachraum sich anbietenden Abkürzung PID wird das englische
Kürzel PGD bevorzugt (englisch:
preimplantation genetic diagnosis =
PGD), da PID durch Pelvic inflammatory disease besetzt ist und der Hinweis auf „genetic“ in der Definition eine Eingrenzung des diagnostischen
Verfahrens signalisiert. Im Übrigen ist
PGD in der internationalen Wissenschaftssprache etabliert.
Die PGD zur Aufklärung des genetischen Status des Embryos hat zur Vor-
30
aussetzung eine In-vitro-Fertilisation
(IVF). Edwards, einer der „Väter“ der
IVF, hatte bereits 1965 – lange vor der
Geburt des ersten Kindes nach IVF
(1978) – die Idee, aus Trophoblastzellen
der Blastozyste über eine Geschlechtsbestimmung x-chromosomal gebundene Erkrankungen diagnostizieren zu
können.
Durch die Fortschritte der modernen Reproduktionsmedizin wurde diese Vision zur Wirklichkeit. Es entwickelten sich zwei Indikationsebenen:
die Therapie der Sterilität und die Diagnostik am Embryo. Beide Verfahren –
Diagnostik und Therapie – verfolgen
unterschiedliche Ziele. Die IVF mit ET
hat als Therapieverfahren zum Ziel,
einem ungewollt kinderlosen Paar zu
einer Empfängnis und einer erfolgreich verlaufenden Schwangerschaft zu
verhelfen. Die PGD hat zum Ziel, ein
mit hohen Risikofaktoren belastetes
Paar nach einer „Zeugung auf Probe“
(in vitro) und der Diagnostik an einer
entnommenen Blastomere im Falle eines pathologischen Befundes durch Selektion, das heißt durch Sterbenlassen
des in Warteposition stehenden Embryos, vor einem kranken Kind zu bewahren.
Der mittels IVF entstandene Embryo befindet sich drei Tage in einem
Kulturmedium. Danach erfolgt die
Biopsie von einer oder zwei Blastomeren, an denen die molekulargenetische
Untersuchung mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) oder Fluoreszenzin-situ-Hybridisierung (FISH) vorgenommen wird. Bei der zur Diagnostik
entnommenen Blastomere handelt es
sich nach dem 8-Zell-Stadium nicht
mehr um eine totipotente Zelle (Embryo). Die Diagnostik erfolgt demnach
nicht an einem Embryo im Sinne einer
einen Embryo verbrauchenden Diagnostik. Da das Ergebnis der Gendiagnostik
nach etwa drei bis acht Stunden vorliegt,
bedarf es keiner Kryokonservierung
des in Warteposition befindlichen Embryos.
Als eine Alternative zur PGD wird
die Präkonzeptions- beziehungsweise
Präfertilisationsdiagnostik, also die
Untersuchung des Polkörpers der nicht
fertilisierten Eizelle diskutiert. Sie lässt
lediglich eine indirekte Aussage über
den genetischen Status der Eizelle zu.
Nur das mütterliche Genom ist beurteilbar. Problematisch scheint auch das
Phänomen des Crossing-Over zu sein,
bei dem sich sowohl im Polkörper als
auch in der Eizelle selbst ein betroffenes Allel befinden kann (Ludwig et al.,
1998).
Von der erfolgreichen Anwendung
einer PGD berichteten erstmals Handyside et al. (1990). Nach jetzigem
D O K U M E N T A T I O N
Kenntnisstand scheint das Verfahren in
geübter Hand sowohl in der Durchführung wie auch in der Diagnostik sicher zu sein. Es ist in weltweit 29 Zentren, davon 10 in den USA, erprobt.
Auch wenn die Zahl der an mehr als 400
Paaren durchgeführten PGD und der
mehr als 100 geborenen Kinder nach
PGD noch bei weitem für eine endgültige Aussage hinsichtlich der Risiken des
Verfahrens selbst wie auch hinsichtlich
der durch das Verfahren verursachten
Fehlbildungsrate zu klein ist, so kann
vorläufig doch konstatiert werden, dass
die Schwangerschaftsrate nach PGD
mit 26 Prozent derjenigen nach konventioneller IVF-Therapie entspricht
(Ludwig und Diedrich, 1999).
Eine Indikation zur PGD wird derzeit bei anamnestisch stark belasteten
Paaren gesehen, für deren Nachkommen ein hohes Risiko für eine bekannte
und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht, zum Beispiel
Muskeldystrophie Duchenne, FragilesX-Syndrom und andere.
2. Rechtliche und ethische
Aspekte
Es besteht Konsens, dass mit der PGD
schwerwiegende rechtliche und ethische Probleme aufgeworfen werden.
Die juristische Diskussion kreist um
zwei Komplexe:
1. Besteht ein Wertungswiderspruch
zwischen dem seit 1991 gültigen Embryonenschutzgesetz (ESchG) und dem
1995 erneut reformierten § 218 StGB?
2. Ist die PGD mit dem ESchG kompatibel?
Die ethische Diskussion kreist, unabhängig von der rechtlichen Entscheidung, um den Konflikt, dass mittels IVF
die Entwicklung menschlichen Lebens
mit dem Ziel einer Schwangerschaft
eingeleitet, der so gezeugte Embryo unter Umständen jedoch nicht in die Gebärmutter transferiert wird und so –
nach einer Zeugung unter Vorbehalt –
im Falle einer schweren, genetischen
Erkrankung eine gezielte Selektion des
Embryos erfolgt. Mit diesem ethischen
Problemkreis in unmittelbarem Zusammenhang steht schließlich die Frage, ob
die PGD lediglich eine zeitlich vorgezogene PND sei? Diese vier die PGD be-
stimmenden Fragen sollen im Folgenden besprochen und vorläufigen Antworten zugeführt werden.
2.1 ESchG und reformierter § 218 StGB
– ein Wertungswiderspruch?
Von den Befürwortern der PGD wird
auf den Wertungswiderspruch zwischen
dem seit 1991 gültigen ESchG und dem
am 29. Juni 1995 im Deutschen Bundestag mehrheitlich verabschiedeten § 218
StGB verwiesen. Es könne doch wohl
nicht sein, dass dem Embryo in vitro eine höhere Schutzwürdigkeit zuerkannt
würde als dem Embryo in vivo, der seit
In-Kraft-Treten der Fristenlösung bis
12 Wochen p. c. nach Pflichtberatung
straffrei getötet werden dürfe.
Diese Argumentation greift insofern
zu kurz, als der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes mit seinem Urteil vom 28. Mai 1993 gegen den Mehrheitsbeschluss des Deutschen Bundestages vom 27. Juli 1992 erneut festgeschrieben hat, dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der
Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht, also als rechtswidrig angesehen
wird und demgemäß rechtlich verboten
bleiben muss. Die im Bundestag beschlossene „reine“ Fristenlösung (1992)
wurde als Bruch mit der gültigen Verfassung bezeichnet und mit Streichung
des Wortes „nicht“ (rechtswidrig) die
nicht rechtswidrige Fristenlösung verworfen und somit dem Leben des Ungeborenen Vorrang vor der Selbstbestimmung der Mutter eingeräumt.
Die Bewertung der Abtreibung als
grundsätzlich rechtswidrige Tötung
menschlichen Lebens wurde erneut
festgeschrieben.
Im § 8 Abs. 1 des am 1. Januar 1991 in
Kraft getretenen ESchG wird der
Rechtsstatus des menschlichen Embryos erneut bestätigt: „Als Embryo im
Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle,
die sich bei vorliegenden, dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu
teilen und zu einem Individuum entwickeln vermag.“ Die Schutzpflicht des
Staates gegenüber dem Embryo „von
Anfang an“ ist in diesem Rechtsstatus
des Embryos begründet. Der Grundgedanke des ESchG ist erneut, das Leben
und die Integrität der befruchteten, entwicklungsfähigen menschlichen Eizelle
vom Zeitpunkt der abgeschlossenen
Kernverschmelzung an strafrechtlich zu
schützen. Das heißt auch – es gibt keinen Raum (Zäsur) für die Annahme einer rechtlich ungeschützten Frühphase
des Menschen. Handlungen gegen den
Embryo in vitro sind danach rechtswidrig und unter Strafe gestellt, während in
vivo – nach der Implantation – das
Strafgesetz (§ 218 StGB) zugunsten einer Beratungspflicht zurücktritt.* Das
ESchG gibt darüber hinaus dem Lebensrecht des Embryos grundsätzlich
Vorrang vor dem Grundrecht der Forschungsfreiheit.
Die juristische Argumentation beim
§ 218 StGB basiert auf dem Rechtsstatus der Mutter, der in Konflikt zum Lebensrecht des Embryos oder des Fötus
treten kann. Danach ist der legale
Schwangerschaftsabbruch lediglich wegen Unzumutbarkeit des Austragens
der Schwangerschaft für die Mutter
straflos (keine Rechtfertigung), während zum Beispiel die Verwendung beziehungsweise der Verbrauch von Embryonen für die Forschung oder die
Diagnostik nicht aus einer subjektiven
Notlage des Einzelnen heraus erfolgt.
Das konkurrierende Gut, welches den
Konflikt definiert und Straffreiheit begründet, ist nicht die subjektive Not des
Einzelnen, sondern etwa das gesundheitspolitische Ziel der Allgemeinheit,
zum Beispiel die Verbesserung der Ergebnisse der Sterilitätstherapie. Auch
zum § 219 d StGB, welcher die Nidationsverhütung straffrei lässt, wurde eine
Analogie entwickelt. Mit Verzicht auf
Strafbewährung der Präimplantationsphase in vivo redet der Gesetzgeber
nicht der willkürlichen Verfügbarkeit
dieser Phase das Wort, sondern er verzichtet nur für eine durchaus besondere
Kollision der Rechtsgüter – prinzipielle
Schutzwürdigkeit des Embryos und Familienplanung der Frau durch Hormone oder Spirale – während der frühesten Phase der Schwangerschaft auf
Strafrechtschutz (Laufs, 1989). Diese
Position wird auch durch den Kommen*Die Präimplantationsphase in vivo ist nicht durch den
§ 218 StGB erfasst.
31
D O K U M E N T A T I O N
tar zum ESchG von Keller et al., 1992,
die sich auf Deutsch und Eser beziehen,
bestätigt und gestützt: „Bezüglich eines
generellen Wertungswiderspruchs zwischen kategorischen strafbewehrten
Verboten der Embryonenforschung einerseits, der strafrechtlichen Duldung
der Nidationsverhütung und des
Schwangerschaftsabbruches andererseits sind die Unterschiede der jeweiligen Interessenkollisionen zu bedenken.
Dem Schwangerschaftsabbruch zugrunde liegt eine aus der symbiotischen
Verbindung zwischen schwangerer
Frau und ungeborenem Kind erwachsene, höchst persönliche und gegenwärtige Konfliktsituation. Diese Lage lässt
sich nicht mit der des Forschers vergleichen, der ohne persönliche Not zur
Mehrung seines Wissens und Ansehens
um möglicher zukünftiger Vorteile für
die Menschheit willen fremdes Leben
aufopfern will. Dass die Rechtsordnung
darauf verzichtet, schwangere Frauen
mit dem Mittel des Strafrechts zu zwingen, Mutter zu werden, taugt deshalb
nicht als Argument dafür, dem Forscher
Embryonen verbrauchende Experimente zu ermöglichen.“
Es ist wohl davon auszugehen, dass
dieser Kommentar von Keller et al. nicht
nur die verbrauchende Embryonenforschung in die Wertungsdiskussion rückt,
sondern auch die aus diagnostischen
Gründen gezielte Schaffung eines nicht
unter allen Umständen zu transferierenden Embryos in vitro und damit das
Problem der Embryo-Selektion.
Persönlich meine ich, dass man zum
§ 219 StGB, der mit Verzicht auf rechtliche Sanktionierung der Präimplantationsphase in vivo die Nidationsverhütung ermöglicht, wohl einen Wertungswiderspruch zum hohen Schutzanspruch des Embryos in vitro sehen
kann.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass zunächst zwischen der im
§ 218 a Abs. 2 StGB i. d. F. des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes (1992)
im Bundestag geregelten und als nicht
strafbar und nicht rechtswidrig deklarierten Fristenlösung und dem ESchG
(1991) zweifellos ein tiefer Wertungswiderspruch bestand. Dieser wurde erst
durch die im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wiederhergestellte
Rechtswidrigkeit des Schwangerschafts-
32
abbruchs aufgehoben: Die Tötung eines
Embryos in vivo ist straffrei und rechtswidrig. Die Tötung eines Embryos in
vitro ist rechtswidrig und strafbewehrt.
Bei der Tötung in vivo (nach der Implantation) sieht der Gesetzgeber lediglich wegen einer subjektiven Notlage
der Einzelnen nach Pflichtberatung von
Strafe ab – ein Konflikt, der beim Embryo in vitro, das heißt in der Hand
Dritter (Biologe und/oder Arzt), in der
Regel nicht existiert.
Ob bei schwerer genetischer, anamnestischer Belastung der die Straffreiheit im § 218 StGB begründende Konflikt vor einer geplanten Präimplantationsdiagnostik antizipierbar ist und auf
diese Weise ein Verbot dieser Diagnostik tatsächlich einen Wertungswiderspruch zum gültigen § 218 a bewirken
würde und ob der zu Recht aufgebaute
besondere Schutz des Embryos in vitro
in eng einzugrenzenden und zu beschreibenden Indikationen für eine
PGD aufzuheben ist, wird später (Kapitel 3) hinterfragt.
2.2 PGD und ESchG
Man kann das durch die Etablierung
der PGD neue Machbare mit Blick auf
das ESchG gleichsam positivistisch entscheiden und ohne die vorhergehende
Prüfung einer etwaigen Kompatibilität
fordern, das Gesetz habe sich dem neuen Machbaren anzupassen und sei gegebenenfalls zu ändern. Dieser Ansatz
ist nach meiner Überzeugung ebenso
wenig für das Zusammenleben der
Menschen in einer Gesellschaft akzeptabel wie jenes in der ethischen Diskussion um die Fortschritte der assistierten
Reproduktion erhobene Postulat:
„Ethics do not stand still, they have to
move with technology“ (Edwards,
1988).
Sowohl die Bioethik-Kommission
des Landes Rheinland-Pfalz unter der
Leitung des damaligen Justizministers,
P. Caesar (1999), wie auch die Arbeitsgruppe des Wissenschaftlichen Beirates
der Bundesärztekammer (BÄK) gingen in ihren Diskussionen von dem in
unserem Land gültigen, den Embryonenschutz regelnden Gesetz aus.
Zunächst ist festzuhalten, dass die
IVF mit anschließendem Embryotransfer als ärztliches Standardverfahren zur
Behandlung der Sterilität nach Abs. B
IV Nr. 15 in der 1998 überarbeiteten
neuen Musterberufungsordnung (MBO)
zulässig ist, wenn die nach § 13 MBO
maßgebenden Richtlinien der Ärztekammer eingehalten werden.
Die Frage, ob die Präimplantationsdiagnostik, die eine IVF als diagnostische Einstiegstechnik zur Voraussetzung hat, mit dem seit 1. Januar 1991
gültigen ESchG kompatibel ist, wird
unter Juristen kontrovers diskutiert.
Zunächst geht es um die Frage, ob die
PGD einen Verstoß gegen § 2 I. ESchG
darstellt. Nach diesem Paragraphen ist
es verboten, einen extrakorporal erzeugten Embryo zu einem nicht seiner
Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden. Würde die Diagnostik an einer
noch totipotenten Zelle erfolgen, also
an einem zum Zweck der Diagnostik
klonierten Zwilling, wodurch dieser
vernichtet wird, wäre der Tatbestand
des § 2 I. ESchG erfüllt und die PGD
schon von diesem Ansatz her strafrechtlich verboten. Jede Zelle, soweit
sie noch Totipotenz besitzt, ist über § 8
I. ESchG als Embryo strafrechtlich geschützt. Denn als Embryo im Sinne des
§ 8 gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom
Zeitpunkt der Kernverschmelzung an,
ferner jede, einem Embryo entnommene
totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen
der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag. Der
Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG ist also bereits für die befruchtete
Eizelle markiert. Erfolgt die Diagnostik nach Entnahme an einer nicht mehr
totipotenten Blastomere, die also nach
§ 8 I. ESchG nicht als „Embryo“ geschützt ist, liegt kein Verstoß gegen § 2 I.
ESchG im Sinne einer verbrauchenden
Forschung vor (Schreiber u. Schneider,
1999).
Die Frage, ab wann eine aus einer befruchteten Eizelle hervorgehende Zelle
ihre Totipotenz verliert, scheint mittlerweile wissenschaftlich eindeutig beantwortet. Dies soll spätestens nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums des
Embryos der Fall sein (Beier, 1999).
Neuere Untersuchungen lassen den
Schluss zu, dass wahrscheinlich bereits
im Vier-Zell-Stadium nicht mehr alle
Blastomeren totipotent beziehungswei-
D O K U M E N T A T I O N
se soweit differenziert sind, dass sie ihre
Totipotenz verloren haben. Eine Biopsie im späteren Teilungsstadium ist im
Hinblick auf die optimale Chance der
Nidation von Nachteil. Je später der
Transfer des in Warteposition stehenden
„Restembryos“ erfolgt, desto schlechter
wird die Synchronisation mit der hormonalen Situation der Frau und somit
die Chance der Nidation.
Abschließend ist festzustellen, dass
mit der PGD an nicht totipotenten Zellen kein Embryoverbrauch erfolgt, vorausgesetzt, der „Restembryo“ wird aufgrund der genetisch unauffälligen Diagnose im gleichen Zyklus transferiert.
Auf den Nichttransfer des Embryos wegen der Feststellung der die PGD indizierten Erkrankung ist später einzugehen.
Im Mittelpunkt der juristischen Diskussion hinsichtlich einer Kompatibilität der PGD mit dem ESchG steht die
Frage des Verstoßes vor allem gegen § 1
I. Nr. 2 ESchG. Dort heißt es: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafe wird bestraft, wer es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen
Zweck künstlich zu befruchten, als eine
Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt.“ Für
Laufs (1992) ist eine In-vitro-Fertilisation i. S. einer bedingten Zeugung beziehungsweise unter dem „Vorbehalt der
Tötung bei Qualitätsmängeln“ unzulässig. In die gleiche Richtung denkt Beckmann (1999), wenn er ausführt, dass bei
einer IVF zwecks Durchführung einer
PGD diese ausschließlich zum Zweck
der präimplantatorischen Qualitätskontrolle geschehe und daher gegen § 1 I.
Nr. 2 ESchG verstoße. Ratzel und Heinemann (1998) argumentieren dagegen:
„Auch wenn feststeht, dass ein belasteter Embryo nicht übertragen werden
soll, ist die Verwerfung dieses Embryos doch nicht Ziel der künstlichen Befruchtung beziehungsweise der
Weiterentwicklung des Embryos. Die
Verwerfung des Embryos ist lediglich
als eine dem Täter höchst unerwünschte
Nebenfolge oder als ein Fehlschlag gegenüber dem eigentlich erstrebten Ziel,
nämlich dem der Herbeiführung der
Schwangerschaft, anzusehen. Eine Absicht im Sinne zielgerichteten Wollens
(Keller et al., 1992, Zit. b. Ratzel u. Heinemann) liegt nicht vor.
Die durch eine schwer belastete
Anamnese betroffenen Eltern entscheiden sich nach eingehender humangenetischer Beratung, die in jedem Falle zu fordern ist, für das Ziel Schwangerschaft.
Von Beginn an handeln die Betroffenen
in Antizipation des Konflikts mit dem
Bewusstsein, dass die IVF mit PGD darauf ausgerichtet ist, eine Schwangerschaft herbeizuführen (Schreiber u.
Schneider, 1999).
Ratzel und Heinemann (1998) ergänzen diesen Gedankengang mit dem Argument, dass bei jeder IVF der nachfolgende Transfer von Bedingungen abhängt, – zum Beispiel körperliche und
psychische Befindlichkeit der Frau
und/oder pathologische Veränderungen
am Embryo, die keine Nidation erwarten oder eine spontane Fehlgeburt prognostizieren lassen et cetera. „Die bloße
Inkaufnahme des Untergangs gezeugter
Embryonen führt nicht zur Strafbarkeit
der künstlichen Befruchtung, solange
das Motiv des Handelns die Herbeiführung der Schwangerschaft ist.“
Das Unterlassen eines Transfers bedeutet demnach keinen Embryonenverbrauch, der nach § 2 I. einen strafbewehrten Tatbestand darstellen würde,
und verstößt auch nicht gegen § 1 I. Nr. 2.
Auch nach Meinung von Schreiber und
Schneider geht aus § 1 I. Nr. 2 nicht hervor, dass die Absicht der Herbeiführung
einer Schwangerschaft durch die gleichzeitige absichtliche Verfolgung eines anderen Zweckes ausgeschlossen ist.
Zusammenfassend ist festzustellen,
dass die PGD bei Entnahme und Diagnostik an einer nicht mehr totipotenten Zelle nicht nach § 1 I. Nr. 2 ESchG
und § 2 I. Nr. 2 verboten und so mit dem
seit 1. Januar 1991 gültigen ESchG
kompatibel ist.
3. Status des Embryos und
ethische Implikationen
Im Zentrum der ethischen Diskussion
steht der Status des Embryos. Die
Rechtsordnung geht im ESchG davon
aus, dass die Schutzwürdigkeit des Embryos vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an besteht und begründet
diese mit den Wertentscheidungen des
Grundgesetzes für Menschenwürde
und Lebensschutz.
Die Frage ist, ob die PGD die Menschenwürde berührt, nachdem nach unserer Rechtsordnung menschliches Leben bereits mit der Befruchtung unter
das Gebot der Achtung der Menschenwürde fällt und daher zu schützen ist.
Jede medizinische Diagnostik und Forschung an und mit Embryonen, die –
i. S. einer Einstiegstechnik – durch IVF
erst möglich wurde, wirft die Frage nach
dem Menschen und dem Menschenbild
des Forschers auf. Es geht um den Status dessen, an dem wir handeln. Das
Problem liegt also nicht in der Forschung selbst, sondern im „Objekt“ der
Forschung.
Es stellen sich zwei zentrale Fragen:
Ab wann ist dem neuen menschlichen Leben „Würde und damit Lebensrecht und Schutz zuzubilligen“?
Worin liegt die Begründung, und
wie ist der Umfang der zu gewährenden
Grundrechte bemessen?
3.1. Naturwissenschaftliche Fakten
Nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis beginnt neues menschliches Leben
mit der Vereinigung des mütterlichen
haploiden Chromosomensatzes der Eizelle und des väterlichen haploiden
Chromosomensatzes der Samenzelle,
das heißt nach Abschluss der Befruchtungskaskade (Beier, 1992). Diese beginnt mit dem Eindringen eines Spermiums in die Eizelle (Imprägnation) und
endet mit der Fusion der Zellkerne
(Konjugation). In den Zellkernen liegt
nach der ersten Teilung das neue Genom in seiner definitiven Form vor. Mit
dem neuen diploiden Genom ist der gegenüber väterlichem und mütterlichem
Organismus genetisch neue Mensch
konstitutiert.
Nach Braude (1987) beginnt die erste Genexpression zwischem dem Vierund Acht-Zell-Stadium. Bis zu diesem
Stadium hat die einzelne Blastomere,
aus dem Verband herausgelöst, die
Fähigkeit, sich zu einem neuen Embryo
zu entwickeln. Der Vorgang ist identisch mit der spontanen Bildung eines
eineiigen Zwillings. Das bedeutet, dass
in dieser frühen Phase der Entwicklung
die einzelnen Zellen des Embryos noch
totipotent sind.
In der Diskussion um den Beginn der
Schutzwürdigkeit beziehen sich Einzel-
33
D O K U M E N T A T I O N
ne auf diese Möglichkeit der Zwillingsbildung und meinen, dass der Terminus
a quo personaler menschlicher Existenz
frühestens mit dem Ende der orthischen Teilbarkeit gegeben sein kann. So
stellt auch der Theologe Fuchs (1989)
fest: „Solange Zellen noch teilbar sind,
können sie nicht schon menschliches Individuum und Person sein, diese Möglichkeit besteht aber gemäß der Biologie im allgemeinen bis zum 14.Tag.“ Für
Fuchs wäre die Eliminierung des Embryos in diesem frühen Stadium oder
die Verhinderung der Implantation
nicht tötender Abortus, könnte jedoch
nur aus wichtigen Gründen gestattet
sein; sie stände zwischen Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch. Die „Individuation“ nach der ersten Zellteilung wäre danach potenzielles, aber nicht zwangsläufig in jedem
Falle individuelles menschliches Leben,
wenngleich auch im Regelfalle die damit ausgelöste Dynamik für die individuelle Menschwerdung bestimmend ist.
In philosophischem Sinne besagt Individualität, dass etwas nicht mehr auf
kleinere Einheiten rückführbar ist, ohne dass es seine Qualität verliert. Diesen Gedanken führt Wuermeling (1985)
konsequent fort und zeigte auf, dass
biologisch die Teilung eines frühen Embryos keine Aufteilung in kleinere Einheiten, sondern eine Form der Lebensäußerung „Vermehrung“ darstellt.
So auch Rager (1992): „Wenn aus einem Individuum mehrere Individuen
hervorgehen können, wie das bei jeder
Zellteilung der Fall ist, so folgt daraus,
dass das ursprünglich eine Individuum
die Möglichkeit für eine Mehrzahl für
Individuen in sich trägt.“ Der Zeitpunkt des Ungeteiltseins des Embryos
erweist sich danach als unzureichend
zur Definition des Beginns individuellen menschlichen Lebens.
Über die Frage des Beginns menschlichen Lebens in naturwissenschaftlicher Sicht besteht Konsens. Die Frage
nach dem Beginn personalen Lebens ist
mit den Denkkategorien der Naturwissenschaft nicht zu denken. Es geht hierbei nach meiner Überzeugung um die
Einführung eines Wertaxioms: Ob und
inwieweit wir neuem artspezifischen
und in seiner Potenzialität auf personales Leben hin angelegten Leben Wertschätzung und damit Schutzwürdigkeit
34
zuerkennen und vor allem, wie absolut
wir diese setzen.
3.2 Schutzwürdigkeit
des Embryos
So besteht auch ein weitgehender Konsens darüber, dass sich die Schutzwürdigkeit des Embryos auf seine Natur
als früheste Form einer individuellen
menschlichen Existenz gründet. Ebenso
besteht weitgehend Übereinstimmung
darüber, dass die Schutzwürdigkeit des
Embryos mit der Bildung des Genoms
beginnt, wenngleich Einzelne für den
Umfang der Schutzwürdigkeit und damit des Rechtsschutzes terminologische
Abstufungen – Zygote, Konseptus oder
Präembryo – einführen, um hiermit im
Falle einer gebotenen ethischen Güterabwägung auch Abstufungen des
Rechtsschutzes einzufordern. In Art. 2
Abs. 2 S. 1 des GG ist verankert: „Das
Leben des Menschen ist von Anfang an
in seinen Schutz genommen.“
Bei der Bemessung des Umfanges
der Schutzwürdigkeit menschlicher
Embryonen sind wir heute im nationalen und vor allem im internationalen
Dialog mit zwei Positionen konfrontiert. Die einen erkennen das Lebensrecht und den Schutz im umfassenden
Sinne kategorisch an, was jede Güterabwägung hinsichtlich eines Ziels –
auch von hohem medizinischen Range
– ausschließt. Die anderen relativieren
in grundsätzlicher Anerkennung des
Lebensschutzes dieses Prinzip im Sinne
einer Güterabwägung auf Zwecke hin,
was nach sorgfältiger Prüfung eines
nachgewiesenen hochrangigen Zieles
eine Forschung an und mit Embryonen
zulässt. Diese Position beruft sich auf
die „prozesshafte“ Verwirklichung individuellen personalen Seins in Realisierungsstufen (Abschluss der zellulären Totipotenz, Möglichkeit zur
Mehrlingsbildung etc.) und plädiert daher für einen diesen Stufen entsprechenden abgestuften Rechtsschutz.
Die Menschenrechtskonvention zur
Biomedizin des Europarates von 1997
(„Bioethik-Konvention“) verbietet in
Artikel 18, 2 die Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken. Art. 18,
1 fordert von den Mitgliedstaaten, in denen Embryonenforschung zugelassen ist,
die Gewährleistung eines „angemesse-
nen Schutzes“ des Embryos. Ein explizites Verbot zur verbrauchenden Forschung an Embryonen, die im Deutschen
Embryonenschutzgesetz strafrechtlich
untersagt ist, enthält die Regelung in 18, 1
nicht, doch betrachtet sie den Embryo als
schützenswertes Rechtsgut und schiebt
die Beweislast für den Nachweis angemessenen Schutzes dem nationalen Gesetzgeber zu (Honnefelder, 1998).
Die Richtlinien zur Forschung an
frühen menschlichen Embryonen (1985)
des Wissenschaftlichen Beirates der
Bundesärztekammer, wie auch der Bericht der Benda-Kommission (1986),
hatten sich für ein „grundsätzliches“
Verbot der Erzeugung von Embryonen
zu Forschungszwecken ausgesprochen.
Dieses bedeutete kein kategorisches
Nein. Einigkeit bestand darüber, dass
über etwaige Ausnahmen – ohne dass
seinerzeit die Präimplantationsdiagnostik speziell im Blick war –, sofern überhaupt zulässig, die zentrale Kommission
der Bundesärztekammer zu entscheiden
hätte. Das Votum der „Benda-Kommission“ bezog sich, wie jenes der MaxPlanck-Gesellschaft und der DFG, vor
allem auf die etwaige Zulassung einer
Forschung an überzähligen Embryonen.
Im Zentrum der ethischen Diskussion über die PGD steht die Tatsache,
dass der während der Diagnostik in
Warteposition befindliche Embryo wegen seines Geschädigtseins selektiv
„stehen gelassen“ und so dem Untergang preisgegeben wird.
Konkret auf die PGD abgestellt,
heißt daher die Frage, ob mit Rücksicht
auf die gesundheitlichen und/oder sozialen Lebensinteressen der Mutter die
Schutzwürdigkeit einer positiven Güterabwägung unterworfen werden darf
und daraus ein abgestufter Rechtsschutz resultiert.
Wie bei der konventionellen PND
gibt es bei Einsatz der PGD Argumente
für wie auch gegen deren Anwendung.
Die im Thesenpapier der BioethikKommission des Landes RheinlandPfalz aufgeführten Pro- und Kontra-Argumente im Umgang mit der Präimplantationsdiagnostik sind in der Tabelle zusammengefasst.
Die Argumente definieren den Interessenkonflikt, in den dieser medizinische
Fortschritt das betroffene Paar, die betreuenden Ärzte und die Gesellschaft
D O K U M E N T A T I O N
stürzt. Sowohl die Pro- wie auch die Kontra-Argumente sind von hohem Gewicht
und lassen hinsichtlich der ethischen
Zulässigkeit der PGD keine Rangordnung zu. Der Interessenkonflikt wird bestimmt durch die Interessen der betroffenen Paare, den Therapieauftrag der behandelnden Ärzte, den in Art. 2 Abs. 2
S. 1 des Grundgesetzes verankerten anerkannten Status des Embryos und den
daraus abgeleiteten Lebensschutz „von
Anfang an“. Eine klare ethische Lösung
des Konflikts ist nur über den Verzicht
auf eine weitere Schwangerschaft möglich. Ob der Gesetzgeber mit Rücksicht
auf die Interessenkollision eine derartige
persönliche Entscheidung verlangen
kann, ist zumindest fraglich. Im Zentrum
der ethischen Abwägung steht die Frage,
ob das für ein friedliches Zusammenleben einer Gesellschaft höchste Gut, nämlich die Achtung des Lebensrechts von
Anfang an, in Anerkennung der Antizipation des etwaigen Konfliktes relativiert
und eine PGD zugelassen werden darf.
Das Lebensrecht würde nicht absolut in
Frage gestellt und menschliches Leben
nicht generell wegen seiner genetischen
Schädigung als lebensunwertes Leben
zur Disposition gestellt.
Dies setzt voraus, dass die PGD nur
für Paare zugelassen wird, die um ihr
Risiko der Weitergabe einer unheilbaren genetischen Krankheit wissen und
´
Tabelle
C
mit Hilfe der Präimplantationsdiagnostik eine „Schwangerschaft auf Probe“
mit Spätabbruch vermeiden wollen.
Man kann einwenden, dass hierbei
die Befürwortung der PGD über den
ethisch zumindest fragwürdigen Ansatz
einer PND nach Schwangerschaft auf
Probe versucht wird. Nach Hanak
(1984) verbietet jedenfalls das geltende
Recht der Frau nicht, das Risiko eines
kranken Kindes unter den Vorbehalt einer gesetzlichen Korrektur zu stellen.
Zugegeben – im ethischen Diskurs ist
diese die Tötung beziehungsweise „Stehenlassen“ oder „Aussondern“ in das
Therapiekonzept einbeziehende Handlungsweise anders zu beurteilen, als
wenn die Patientin durch die PND in
Not und Panik gerät und der Abbruch
nach § 218 a Abs. 2 die Not wendet
(Wuermeling, 1990). Aber, wie schon
ge-sagt, für ein Hochrisikopaar ist der
Konflikt auch ohne Schwangerschaft
antizipierbar, vergleichbar jenem Paar,
das erst durch die PND in einen Konflikt gestürzt wird. In der geistigen Vorwegnahme des zu erwartenden schweren Konflikts nimmt das Hochrisikopaar beim Wunsch nach einer PGD das
auch nicht vollkommen risikofreie Verfahren der IVF auf sich. Unstrittig ist,
dass ein später Schwangerschaftsabbruch für die Betroffenen wie auch für
den tötenden Arzt psychisch und kör-
´
Argumente pro und kontra einer Anwendung der PGD an nicht totipotenten Zellen
Pro
Kontra
Wunsch des Paares mit starker
genetischer Belastung auf ein
gesundes Kind
Bewertung embryonalen menschlichen Lebens unter dem Aspekt
eventuell gezielter Selektion
Psychische und physische Belastung
durch späten Schwangerschaftsabbruch nach „Schwangerschaft auf
Probe“
Entscheidung zur Selektion unter
Umständen leichter in vitro als später
in vivo – Reduktion der Ehrfurcht
vor dem menschlichen Leben
Diagnose einer genetischen Störung
des Embryos vor Eintritt der
Schwangerschaft
Öffnung zur allgemeinen Akzeptanz
und Anspruch auf das „Kind nach
Maß“ – Dammbruch zur Eugenik
Diskriminierung von Leid und
Behinderung. Rückzug der Solidargemeinschaft
Eventuell Verminderung der Lebenschance des „Restembryos“ durch
diagnostische Manipulation
Tab. 1 in gekürzter Fassung n. Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz (1999)
perlich eine außerordentliche Belastung darstellt.
Die Anerkennung und Zulassung
der PGD in streng definierten Indikationsbereichen ist mit Blick auf die
Handhabung der PND nur über eine Güterabwägung beziehungsweise
über das kleinere anstelle des größeren
Übels möglich.
Dem schwerwiegenden Argument gegen eine Zulassung der PGD, nämlich die
Öffnung einer weiteren Tür zur Selektion
und zu einem Dammbruch hin zur verbrauchenden Embryonenforschung, ist
durch die gesetzgeberische Festlegung
auf eng umschriebene Sonderfälle entgegenzuwirken. Diesem Ziel dienen unter
anderem die von der Arbeitsgruppe des
Wissenschaftlichen Beirats der BÄK vorgelegten Vorschläge von Richtlinien für
die Anwendung der PGD.
Die Tatsache, dass die Pro-Argumente einer Einführung der PGD identisch sind mit jenen seinerzeit für die
Einführung der PND vorgebrachten
Begründungen, führt zur Diskussion
der beiden Verfahren.
4. PGD und PND
Die PGD kann nicht, wie vielfach
geäußert, schlichtweg als eine vorverlegte PND angesehen werden. Zunächst hat die PGD das mit körperlichen
und seelischen Risiken für die Mutter behaftete Verfahren der In-vitro-Fertilisation – hormonelle Stimulation, Follikelpunktion und IVF – zur Voraussetzung.
Darüber hinaus weist die PGD, wie aus
den Pro- und Kontraargumenten ablesbar, eine andere ethische Handlungsqualität auf:Die konventionelle PND hat – in
der Regel (s. u.) – nicht primär einen selektiven oder sogar eugenischen Ansatz.
Im Zentrum der PND steht der informative, über Beratung nicht selten lebenserhaltende und zunehmend auch intrauterin-therapeutische Ansatz. Pränataldiagnostik mit einem primär und ausschließlich selektiven Ansatz ist ethisch
fragwürdig – wenn wohl rechtlich zulässig (s. Hanak). Der Gesetzgeber hat die
„embryopathische Indikation“ zum
Schwangerschaftsabbruch im reformierten § 218 StGB gerade deshalb gestrichen und deren Inhalte in der medizinischen Indikation „versteckt“ (Hepp,
35
D O K U M E N T A T I O N
1996), da er aus der Gesetzessystematik
jeden selektiven Ansatz beziehungsweise
jedes Urteil über lebenswert und lebensunwert nehmen wollte – was jedoch, wie
von mir mehrfach gezeigt, utopisch ist.
Die PND ist heute ein Verfahren, durch
das die Eltern – in der Regel – unerwartet
in Not und Panik geraten, und der Abbruch der Schwangerschaft ohne primär
selektiven Ansatz, das heißt ohne bereits
vor der Empfängnis antizipierten Konflikt, erfolgt. Es ist jedoch unbestreitbar,
dass mit der Entwicklung immer subtilerer Verfahren der PND in der Gesellschaft das Bewusstsein über die Möglichkeit der Selektion menschlichen Lebens
hin zum Anspruch auf das unbehinderte
Kind gewachsen ist, auch wenn der Gesetzgeber diesen selektiven Ansatz durch
die Subsumierung in die mütterlichmedizinische Indikation verstecken oder
verneinen wollte.
Die klinische Wirklichkeit lässt uns
immer wieder erleben, dass Paare im
Wissen um die medizinischen Möglichkeiten der PND, zum Beispiel bei Bestehen eines deutlich erhöhten Altersrisikos für die Empfängnis eines Kindes mit
Down-Syndrom, eine „Schwangerschaft
auf Probe“ anstreben, erleben und nach
„positiver“ PND den Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen. Die so
genannte „Altersindikation“ zur PND
ist nicht mehr und nicht weniger als die
Antizipation dieses Konfliktes. Die im
Bereich der PND Handelnden stehen
zudem unter dem Druck des Haftungsrechtes. Man kann mit Hilfe der PND die
Geburt eines gesunden Kindes gleichsam erzwingen, indem man aufeinander
folgende Schwangerschaften so lange
abbricht, bis ein nachweislich gesundes
Kind empfangen wird.
In diesen Fallkonstellationen wird der
Konflikt auf dem Boden der Autonomie
der Mutter und der ihr durch ein krankes
Kind nicht zumutbar erscheinenden Belastung für die Phase nach der Geburt
gleichsam antizipiert. Die Antizipation
dieses schweren Konfliktes erfolgt für
Eltern eines genetisch und auf den Tod
hin schwer erkrankten Kindes – im Gegensatz zur allgemeinen „Altersindikation“ – aus der erlebten Wirklichkeit.Aufgrund der anamnestischen Erfahrung eines genetisch schwer kranken Kindes
steht das Lebensrecht des Embryos beziehungsweise Fötus gegen die antizi-
36
pierte, gesundheitliche Gefährdung der
zukünftigen Mutter und bewirkt so eine
Analogie von Embryoselektion in vitro
nach PGD und Schwangerschaftsabbruch in vivo nach PND, da . . . „die real
existierende Schwangerschaft für das
Bestehen des Konfliktes nicht konstitutiv ist“ (Woopen, 1999).
Es gibt demnach nicht nur die unter
Vorbehalt stehende (bedingte) Zeugung, sondern im Hinblick auf die Möglichkeiten der PND auch die unter Vorbehalt stehende Schwangerschaft. Bei
diesem Ansatz ist die PGD tatsächlich
eine zeitlich vorverlegte PND – mit anders gearteten und derzeit höheren medizinischen Risiken.
Nimmt man diese medizinische
Wirklichkeit zur Kenntnis und bejaht
für bestimmte Fallkonstellationen die
aufgezeigte Analogie von PND zu
PGD, dann ist in einem zu erwartenden
Fortpflanzungsmedizingesetz die PGD
nur dann strafrechtlich zu verbieten,
wenn auch eine „Schwangerschaft auf
Probe“ expressis verbis als ein Verstoß
gegen § 218 a Abs. 2 geahndet wird. Anderenfalls bestünde ein Wertungswiderspruch zwischen § 218 a Abs. 2 und
ESchG – wobei die Beweisführung für
eine „illegale Schwangerschaft auf Probe“ mit Abbruch der Schwangerschaft
wohl sehr schwierig sein dürfte.
5. Schlussbemerkung
Der Bedarf und die klinische Notwendigkeit einer PGD sind ebenso wenig ein
ethisches Argument wie der Hinweis auf
die Praxis in benachbarten Ländern. Der
Zweck beziehungsweise das Ziel heiligt
nicht das Mittel. Dennoch sind wir durch
das neue Machbare herausgefordert, uns
mit den medizinischen, ethischen und
rechtlichen Aspekten ernsthaft, das heißt
ergebnisoffen, auseinander zu setzen.
Im Zentrum der ethischen Pro- und
Kontra-Diskussion steht der Status des
Embryos. In der Präambel des Vorschlags einer Richtlinie zur PGD (2000)
hat die Kommission des Wissenschaftlichen Beirates der BÄK die Frage, ob es
sich bei „positiver“ PGD und dem von
diesem Ergebnis abgeleiteten Nichttransfer des Embryos um eine Ausnahme vom Tötungsverbot handelt, zum
Beispiel vor dem Hintergrund eines ab-
gestuften Schutzkonzepts, oder ob keine Tötung vorliegt, nicht abschließend
beantwortet und eine weitere rechtliche
Diskussion und ethische Würdigung gefordert. Der Richtlinienvorschlag wird
als wichtiger Beitrag zu dieser notwendigen Diskussion verstanden und soll
„dazu dienen, eine sachgerechte Regelung herbeizuführen“.
In Berücksichtigung des sehr ernst zu
nehmenden Kontra-Arguments eines
mit Zulassung der PGD eintretenden
Dammbruchs hält die Kommission des
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, wie die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz, die
PGD nur unter eng gefassten Voraussetzungen für zulässig. Ein Wertungswiderspruch zum ESchG § 1 I Nr. 2 ESchG
und § 2 I wird nicht erkannt (s. o.).
In dem Vorschlag der Richtlinien
wird unmissverständlich gefordert, dass
mit der PGD keine eugenischen Ziele
verfolgt werden dürfen. Keine Indikation für eine PGD sind insbesondere
die Geschlechtsbestimmung ohne
Krankheitsbezug,
das Alter der Eltern,
eine Sterilitätstherapie durch assistierte Reproduktion.
Der Richtlinienentwurf geht hiermit
weit hinter das Indikationsspektrum für
eine PND zurück.
Der Vorschlag beschreibt die Zulassungsbedingungen für die PGD mit
den berufsrechtlichen Voraussetzungen,
gibt Anweisungen für das Antragsverfahren an die bei der Landesärztekammer gebildete Kommission, die ihr Ergebnis der der Bundesärztekammer assoziierten Kommission mitteilt. In dieser „Kommission Präimplantationsdiagnostik“ sollen die Disziplinen Humangenetik, Gynäkologie, Andrologie, Pädiatrie, Ethik und Recht vertreten sein.
Neben der Festlegung der fachlichen, personellen und technischen Voraussetzungen sind in einem Kapitel
„Durchführungsbedingungen“ die Richtlinien über Aufklärung, Beratung, Einwilligung, Gewinnung von Blastomeren, Transfer und Nichttransfer von
Embryonen sowie die Verfahrens- und
Qualitätskontrolle beschrieben.
„Mit Vorlage dieses Diskussionsentwurfes zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik strebt die Bundesärztekammer einen Diskurs mit den
D O K U M E N T A T I O N
gesellschaftlichen Gruppen an und erhofft sich dabei einen offenen und sachlichen, gleichwohl kritischen Dialog“ –
so Hoppe und Sewing im Vorwort des
Diskussionsentwurfes.
Unabhängig davon, ob die Gesellschaft sich in einem zu erwartenden
Fortpflanzungsmedizingesetz pro oder
kontra Zulassung der PGD ausspricht,
wird die Debatte über den vorliegenden Diskussionsentwurf eine erneute
und, wie ich hoffe, ehrlichere Diskussion über die tatsächlichen Inhalte der
PND und ihre Folgen bewirken und so
das Problembewusstsein für die medizinische und gesellschaftliche Wirklichkeit der Pränatalmedizin fördern.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 1213–1221 [Heft 18]
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Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Hermann Hepp
Klinikum der Universität München
Frauenklinik Großhadern
81366 München
Heft 20, 19. Mai 2000
Medizinethik
Mindestmaß an Schutz
für die Zukunft
Über Präimplantationsdiagnostik und die Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarats wurde auf dem
Ärztetag kontrovers diskutiert.
E
in eigener Tagesordnungspunkt zum
Thema Präimplantationsdiagnostik
(PGD = preimplantation genetic
diagnosis) war in diesem Jahr beim 103.
Deutschen Ärztetag nicht vorgesehen.
Dennoch wurde intensiv über die PGD
und ihre Folgen diskutiert. Die Debatte
um den von der Bundesärztekammer
vorgelegten „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ (Heft 9/2000) stehe beispielhaft für die Ethikdiskussionen, die in
nächster Zeit geführt werden müssten,
sagte Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer auf der Eröffnungsveranstaltung.
Sie wies darauf hin, dass nach Auffassung des Bundesgesundheitsministeriums die PGD nicht erlaubt sei. Aber
Gesetze ließen sich ändern. Sie sei viel-
mehr gegen die Präimplantationsdiagnostik, weil es damit Ärzten und potenziellen Eltern gestatten würde, über
lebens- und nicht lebenswertes Leben
zu entscheiden. Sie befürchtet, „dass wir
von den schweren Einzelfällen rasch
zur Verallgemeinerung kommen könnten und damit auf eine gefährliche
Bahn, die unseren Blick auf Krankheit
und Behinderung dramatisch verändern würde“. Es sei eine Grenze erreicht, die nicht überschritten werden
dürfte.
Dass die Debatte notwendig sei, betonte auch der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. JörgDietrich Hoppe. Schließlich würden die
in der Fortpflanzungsmedizin tätigen
Ärztinnen und Ärzte regelmäßig mit
dem Wunsch nach PGD konfrontiert.
37
D O K U M E N T A T I O N
Deshalb müsse eine Entscheidung getroffen werden, ob die Präimplantationsdiagnostik kategorisch abgelehnt
werden solle oder man sie bei
streng begrenzten Indikationen zulassen wolle.
Ein Verbot der PGD würde letztlich
dazu führen, dass wieder auf die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik verwiesen würde und man sich bei entsprechenden Ergebnissen möglicherweise für einen Schwangerschaftsabbruch entscheidet, sagte Hoppe. Seiner
Auffassung nach ist eine isolierte Diskussion der Präimplantationsdiagnostik
ohne eine generelle Diskussion über
den Paragraphen 218 unvertretbar. Dr.
med. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Ärztekammer Hamburg, befürchtet wie Fischer einen ethischen
Deichbruch. Über kurz oder lang würden bei allen In-vitro-Fertilisationsmaßnahmen PGDs nötig sein. Montgomery plädierte deshalb für ein Verbot
der Präimplantationsdiagnostik. Ein Entschließungsantrag von Dr. med. HeinzMichael Mörlein wurde zurückgezogen. Darin hatte er vorgeschlagen, die
gesetzliche und die berufsrechtliche Regelung der Präimplantationsdiagnostik
an die Regelung zur Amniozentese anzulehnen.
Von den Anträgen zum Tätigkeitsbericht der Bundesärztekammer, die ethische Fragestellungen berührten, wurde
insbesondere die Empfehlung des Vorstands der Bundesärztekammer, die
Menschenrechtskonvention zur Biomedizin des Europarats zu ratifizieren,
kontrovers diskutiert. Diese so genannte Bioethik-Konvention ermöglicht unter bestimmten Voraussetzungen die
Forschung an nicht einwilligungsfähigen Patienten. Prof. Dr. med. Eggert
Beleites, Präsident der Landesärztekammer Thüringen, betonte die Notwendigkeit einer völkerrechtlich verbindlichen Konvention, um ein Mindestmaß an Schutz für die Zukunft zu
gewährleisten. „Wir dürfen nicht so lange warten, bis wir nicht mehr mitreden
dürfen.“ Durch Ratifizierung würden
die auf nationaler Ebene geltenden
höheren Schutzbestimmungen nicht aufgehoben.
Montgomery verwies dagegen auf
die Entschließung des 100. Deutschen
Ärztetages in Eisenach, mit der die
38
Bundesregierung vor einer Ratifizierung der Menschenrechtskonvention
zur Biomedizin gewarnt worden war.
Mit dem Verweis auf den Standortnachteil gegenüber den Nachbarländern werde nach einer Ratifizierung
der Druck von Industrie und Wissenschaft schon bald dazu führen, „das
Schutzniveau bei uns herunterzufahren“. Als blauäugig bezeichnete er die
Ansicht von Beleites, die Debatte um
Ethik in der medizinischen Forschung
etwa in den USA lasse sich durch europäische Konventionen beeindrucken.
Der gerade bekannt gewordene Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium, der vorsehe, Teile menschlicher Gene patentierbar zu machen,
zeige zudem deutlich, dass wir auch in
Deutschland „bereits auf der schiefen
Ebene sind“. Mit knapper Mehrheit
lehnten die Delegierten den von Montgomery eingebrachten Änderungsantrag zur Vorstandsvorlage ab. Sie
stimmten jedoch einer Änderung zu,
wonach die Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zur Biomedizin
nur unter der Voraussetzung erfolgen
soll, dass der Schutz von nicht einwilligungsfähigen Menschen gewährleistet ist.
Mit großer Mehrheit sprach sich der
Deutsche Ärztetag gegen die Verwendung von Informationen über das
menschliche Genom zu kommerziellen
Zwecken aus. Die Patentierbarkeit von
Genomen zum Schutz von biotechnologischen Erfindungen lehnten die Delegierten ab. Sie wandten sich zudem gegen einen Auskunftsanspruch von Versicherungen auf vorliegende Informationen aus einer Gendiagnostik. Befürchtet wird, dass aus Angst vor versicherungsrechtlichen Nachteilen diese
wichtige Diagnostik nicht in Anspruch
genommen wird.
Gisela Klinkhammer,
Thomas Gerst
Heft 22, 2. Juni 2000
Fortpflanzungsmedizin
Absage an jede Art
eugenischer Zielsetzung
Bundesgesundheitsministerin Fischer möchte das
Embryonenschutzgesetz durch ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz ablösen.
D
ie Geburt des ersten „Retortenbabys“ Louise Joy Brown hatte im
Jahr 1978 für weltweites Aufsehen
gesorgt. Heute ist die In-vitroFertilisation (IvF) in vielen Ländern
Routine. In Deutschland sind den Methoden der Fortpflanzungsmedizin durch
das Embryonenschutzgesetz (EschG)
Grenzen gesetzt. Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer will dies jedoch durch ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz abgelöst sehen, da ihr
die Gesetzgebung von 1991 nicht
mehr zeitgemäß erscheint. Zur besseren „Entscheidungsfindung“ hatte sie
Ende Mai rund 600 Ärzte, Natur- und
Geisteswissenschaftler, Juristen sowie
Politiker zu einem dreitägigen Symposium nach Berlin eingeladen. Dort zog
sich vor allem die Problematik der
Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis = PGD), der
auch ein eigener Tagesordnungspunkt
gewidmet war, wie ein roter Faden
durch die Diskussion. Es ging unter anderem aber auch um den Einsatz von
Keimzellspenden sowie die Gewinnung
und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen.
Mithilfe der Fortpflanzungsmedizin
könne ein Kinderwunsch Realität werden, auch wenn die biologischen Vor-
D O K U M E N T A T I O N
aussetzungen dagegen sprächen, sagte
Fischer zu Beginn der Veranstaltung.
„Was jedoch aus Sicht des Einzelnen ein
Fortschritt ist, kann Konsequenzen haben, die die Gesellschaft womöglich
ganz grundlegend verändern.“ Die
Möglichkeit, individuelles Leid zu verhindern, bedeute keine Rechtfertigung
dafür, auch alles Machbare zu tun.
Durch die neuen Techniken könne ein
Klima entstehen, das den perfekten
Menschen immer mehr zur Norm
werden lasse und das es schließlich
als rechtfertigungsbedürftig erscheinen
lasse, wenn ein behindertes Kind zur
Welt kommt. Diese Auffassung wurde
von zahlreichen Teilnehmern des Symposiums geteilt. So sagte Prof. Dr. rer. biol. habil. Elmar Brähler, Leipzig, dass
die Entwicklung der medizinischen
Technik im Einzelfall zur programmierten Zeugung im Labor unter Einbeziehung von individuellen und sozial
akzeptierten Wunschkriterien führen
könnte. Die Männer würden zu Statisten degradiert, die Frauen würden zu
Objekten der Lust, die Kinder zu Produkten. Mehrere Vertreter von Behindertenverbänden verwahrten sich
ebenfalls dezidiert gegen jegliche Form
selektiver pränataler Diagnostik.
Kritik an PGD
Einem „Machbarkeitswahn“ erteilte
auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med. JörgDietrich Hoppe, eine Absage. Er warnte
aber gleichzeitig davor, die Vorteile der
modernen Fortpflanzungsmedizin zu
übersehen. So bewerteten kinderlose
Ehepaare die Reproduktionsmedizin
oft als letzte Möglichkeit, ihrem Leiden
mit Hilfe fortpflanzungsmedizinischer
Technik begegnen zu können. In
Deutschland sei es in den letzten Jahren
zu einer enormen Ausweitung im Bereich der Reproduktionsmedizin gekommen. Neue wissenschaftliche Entwicklungen und molekularbiologische
Kenntnisse hätten es außerdem möglich
gemacht, im Rahmen der In-vitro-Fertilisation die Anlage schwerster genetischer Erkrankungen – allerdings nur
solcher – durch die PGD schon in einer
sehr frühen Phase der Entwicklung
menschlichen Lebens zu erkennen.
Bisher keine Richtlinie
In Presseberichten zur Präimplantationsdiagnostik ist häufig die Rede
davon, die Bundesärztekammer befürworte mittels einer Richtlinie die
PGD unter strengen Auflagen. So ist
es nicht. Bisher jedenfalls. Die Bundesärztekammer hat lediglich einen
Diskussionsentwurf zur einer solchen Richtlinie vorgelegt; der wurde
in Heft 9/2000 veröffentlicht. Daran
schließt sich bis heute eine kontroverse Diskussion an. Eine Beschlussfassung der Bundesärztekammer
DÄ
steht aus.
Doch gerade diese Art der Diagnostik stieß auf scharfe Kritik zahlreicher
Kongressteilnehmer. „Präimplantationsdiagnostik ist de facto Eugenik, unabhängig von den Absichten oder Einstellungen derjenigen, die sie praktizieren“, betonte Privatdozentin Dr. phil.
Kathrin Braun, Hannover. Für Dr.
med. Dr. phil. Barbara Meier, Salzburg, könnte durch die Anwendung
von PGD eine fragwürdige Entwicklung von einem Wunsch nach einem
Kind zu einem „Recht“ beziehungsweise einer „Pflicht“ zu einem gesunden
Kind die Folge sein.
Der Theologe Prof. Dr. theol. Ulrich
Eibach, Bonn, sieht die Präimplantationsdiagnostik sogar als mit dem Grundgesetz unvereinbar, nach dem die „Menschenwürde unantastbar und unverlierbar jedem Augenblick des Lebens von
der Zeugung bis zum Tod zugeeignet
ist“. Mit der PGD werde gegen dieses
Verständnis von Menschenwürde verstoßen, „dadurch, dass eine konflikthafte
Konkurrenz zwischen dem Leben des
Embryos und den Lebensinteressen der
Frau beziehungsweise des Paares nicht
naturhaft schon vorliegt, sondern erst
durch das bewusste Handeln Dritter, der
Ärzte, hervorgerufen wird mit dem Ziel,
die Embryonen bei mangelnder Qualität
zu verwerfen“. PGD öffne die Tore zu
weitergehenden Selektionen von und
Manipulationen an Embryonen.
Hoppe betonte dagegen, dass ein sehr
restriktiver Einsatz der Präimplantationsdiagnostik eine deutliche Absage an
jede Art von eugenischer Zielsetzung
und Selektion begründe. Da die Medizin
mit dieser diagnostischen Möglichkeit
in Grenzbereiche ärztlichen Handelns
vordringe, habe die Bundesärztekammer durch ihren Wissenschaftlichen
Beirat einen „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ vorgelegt“ (Heft 9/2000). Darauf, dass im Zusammenhang einer Diskussion über PGD auch über den Paragraphen 218 StGB neu nachgedacht
werden müsse, hatte Hoppe bereits auf
dem 103. Deutschen Ärztetag in Köln
hingewiesen. Der Frankfurter Neonatologe Prof. Dr. med. Volker von Loewenich wies darauf hin, dass der menschliche Embryo im Glase strikten Schutz
genieße, während er im Uterus nur sehr
eingeschränkt geschützt sei. Beim nicht
implantierten Embryo treffe der Tod ein
so gut wie nicht ausdifferenziertes Individuum. Die Alternative zum Nichtimplantieren sei die gesetzlich mögliche
Abtreibung, bei der ein viel weiter ausdifferenziertes menschliches Wesen
getötet würde, über dessen Leidensfähigkeit man nichts Genaues wisse.Vor
allem aber für die betroffene Frau sei
die Abtreibung die weitaus traumatischere Intervention.
Braun vertrat die Auffassung, dass die
Schwangerschaft ein einzigartiger „Umstand“ sei, der mit keinem anderen
gleichgestellt werden könne. Der Embryo beziehungsweise Fötus könne nicht
durch Dritte gegen den Willen der Frau
geschützt werden, ohne die Würde der
Frau zu verletzen. Da dies bei Embryonen außerhalb des Frauenleibes nicht
der Fall sei, könnten und müssten diese
geschützt werden. PGD könne nicht mit
Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau legitimiert werden.
Fischer wendet sich jedenfalls gegen
eine neue Diskussion über die Abtreibungsgesetzgebung. Die bestehende
Regelung sei Ergebnis einer langwierigen und schwierigen Kompromissfindung. Es gebe keine Veranlassung,
diesen Kompromiss wieder infrage zu
stellen, da die Möglichkeit der vorgeburtlichen Auswahl von Embryonen
nicht mit einer tatsächlich eingetretenen Schwangerschaft verglichen werden könne. Die Gesundheitsministerin
ist der Überzeugung, dass eine Verknüpfung mit der strafrechtlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs
39
D O K U M E N T A T I O N
jedwede Entscheidungsfindung in Sachen Fortpflanzungsmedizin unmöglich
machen werde.
Konstruktive Diskussion
Doch sollte das Embryonenschutzgesetz überhaupt revidiert oder durch ein
neues Gesetz abgelöst werden? Ebenso
wie bei der PGD gehen auch bei dieser
Frage die Meinungen auseinander. Im
Bereich der Fortpflanzungsmedizin seien Staat und Ärzteschaft gleichermaßen
gefordert, sagte Hoppe. Während die
Ärzteschaft „sehr frühzeitig berufsrechtliche Regelungen zur Fortpflanzungsmedizin erlassen hat und laufend
aktualisiert, ist es Sache des Bundesgesetzgebers, die vor allem sozialrechtlich
erforderlichen
Rahmenbedingungen
für eine ethisch vertretbare Fortpflanzungsmedizin zu entwickeln“. Der Gesetzgeber wäre gut beraten, „die medizinischen und naturwissenschaftlichen
Fragen sowie Fragen der ärztlichen
Ethik im System ärztlicher Selbstverwaltung zu belassen“.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete
Hubert Hüppe lehnt jegliche Änderung
des Embryonenschutzgesetzes ab. „Über
Parteigrenzen hinweg besteht Einigkeit,
dass der Schutz menschlicher Embryonen unangetastet bleiben muss.“ Doch
eben dieser Schutz ist für Fischer durch
das Gesetz offensichtlich nicht mehr
eindeutig gewährleistet. Denn zum
Beispiel bei der PGD gehen die Rechtsauslegungen auseinander. Während
das Bundesgesundheitsministerium die
Präimplantationsdiagnostik mit dem
EschG für unvereinbar hält, kommt Prof.
Dr. med. Hermann Hepp, München, zu
dem Schluss, dass die Präimplantationsdiagnostik an einer nicht mehr totipotenten Zelle mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar sei (dazu Heft
18/2000). Am Ende des Symposiums
war sich Fischer in diesem Punkt sicher:
Sie will in einem neuen Fortpflanzungsmedizingesetz die PGD verbieten.Auch
der Genehmigung einer Eizellspende
stehe sie nach wie vor skeptisch gegenüber. Der möglicherweise zu regelnde
Widerspruch bei der Verwendung embryonaler Stammzellen sei ihr erst auf
Heft 30, 28. Juli 2000
Kinderwunsch
Zu dem Beitrag „Fortpflanzungsmedizin:
Absage an jede Art eugenischer Zielsetzung“
von Gisela Klinkhammer in Heft 22/2000:
Gesetzgebung leistet Vorschub
Unter eugenischer Zielsetzung versteht
man das Bestreben, unter Anwendung
medizinischer, insbesondere genetischer Erkenntnisse den Fortbestand
günstiger Erbanlagen in einer menschlichen Population zu fördern und zu sichern.
Wenn auch im genannten Artikel schon
in der Titelzeile vermittelt werden soll,
dass es sich hierbei um ein unter allen
Umständen aus moralischen Erwägungen abzulehnendes Verhalten handelt,
so lautet doch der nüchterne Befund,
dass die bundesdeutsche Gesetzgebung
ganz eindeutig dieser Zielsetzung Vorschub leistet, indem sie de facto den gezielten Abbruch behinderter Föten
straflos lässt. Denn wer wollte bestreiten, dass Fruchtwasseruntersuchungen
bei Schwangeren deshalb durchgeführt
werden, um Fehlbildungen frühzeitig
40
zu erkennen und den betroffenen Fötus
abzutreiben, weswegen von dieser Methode ausgiebig Gebrauch gemacht
wird.
Der Einwand unserer Gesundheitsministerin, dass die „Möglichkeit der vorgeburtlichen Auswahl von Embryonen
nicht mit einer tatsächlich eingetretenen Schwangerschaft verglichen werden könne“, entbehrt jedlicher Beweiskraft . . .
Wenn in dem Artikel außerdem die
Rede davon ist, dass der Fötus nicht gegen den Willen der Frau geschützt werden könne, ohne ihre Würde zu verletzen, so muss sich der Urheber einer solchen Theorie (Braun) fragen lassen,
warum dies nach der Geburt durchaus
möglich sein soll: Eine nach der Geburt
vom Vater des Kindes verlassene Frau,
die daraufhin sich außerstande sieht,
das Kind alleine aufzuziehen beziehungsweise dies als gegen ihre Würde
gerichtet sieht, hat jedenfalls keine
Möglichkeit, ihr Kind straflos zu
töten . . .
Dr. Martin Klein
Hermann-Hesse-Weg 2
97276 Margetshöchheim
dem Symposium wirklich deutlich geworden. Diese Problematik hatte Prof.
Dr. iur. Dr. h. c. Rüdiger Wolfrum erläutert. Er hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die fremdnützige Forschung
an Embryonen in Deutschland weitgehender als in anderen Staaten verboten
sei. „Bleibt in Deutschland die Herstellung von embryonalen Stammzellen
verboten, wäre es dann nicht konsequent, in Deutschland auch die Anwendungen aus den entsprechenden
Forschungsarbeiten zu untersagen, um
dem Vorwurf der doppelten Moral zu
entgehen?“ fragte Wolfrum.
In vielen anderen Bereichen soll die
Debatte, deren konstruktiven Beginn in
Berlin die Ministerin begrüßte, fortgeführt werden. Deutlich wurde bei dem
Symposium bereits jetzt, dass eine gesetzliche Regelung der angesprochenen
Probleme, die nach dem Willen der Gesundheitsministerin noch in dieser Legislaturperiode durchgesetzt werden soll,
nicht nur den Embryonenschutz betrifft,
sondern Auswirkungen auf die gesamtgesellschaftliche Wertehaltung haben
Gisela Klinkhammer
wird.
D O K U M E N T A T I O N
Heft 28–29, 17. Juli 2000
Präimplantationsdiagnostik
Nochmals: Öffentlicher Diskurs
Anhaltende Diskussion im Leserkreis:
Schwerpunkte sind weiterhin rechtliche und ethische Probleme.
Der Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der
Bundesärztekammer zur Präimplantationsdiagnostik, veröffentlicht in Heft 9, hat eine umfangreiche Diskussion in der Öffentlichkeit
und nicht zuletzt auch im Deutschen Ärzteblatt ausgelöst. Der Zusage der Redaktion
entsprechend, sich nach Kräften am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, folgen auf diesen
Seiten weitere Stellungnahmen und Kommentare. Sie beziehen sich nicht nur auf die
Richtlinien selbst, sondern auf die vorangegangene Leserdiskussion (Heft 17) sowie Berichte und Kommentare unter anderem von
Dr. med. Frank Ulrich Montgomery sowie Prof.
Dr. med. Hermann Hepp. Einige Stellungnahmen beziehen sich zudem auf Kommentare
seitens des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer in Heft 17. Die Redaktion
hat gelegentlich unter gleichartigen Zuschriften auswählen müssen. Die nachfolgenden
Stellungnahmen geben jedoch insgesamt den
Diskussionstand wieder, sofern er die Redaktion erreicht hat.
Wir beenden fürs Erste die Aussprache.
Kein Grund, das Tor zu öffnen
U
lrike Riedel, Abteilungsleiterin
für Gesundheitsfürsorge und
Krankheitsbekämpfung im Bundesgesundheitsministerium, hat in Heft
10/2000 des Deutschen Ärzteblattes den
Standpunkt vertreten, die Präimplantationsdiagnostik (PGD ) stehe im Widerspruch zum Embryonenschutzgesetz
(ESchG). Auch Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer hat sich in diesem Sinne geäußert. In der Debatte
über den Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer für eine Richtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik wird diese
Auffassung jedoch angezweifelt. Ferner
betont der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, Prof. Dr. K.-F. Sewing, sowohl
die Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz als auch der Wissenschaftliche Beirat seien „nach eingehender rechtlicher Prüfung zu dem Ergeb-
nis gelangt, dass die Präimplantationsdiagnostik nicht mit dem Embryonenschutzgesetz kollidiert“.
Der Bericht der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz kommt zwar in These II 10 zu dem Ergebnis, dass die PGD
mit der grundlegenden Vorschrift des
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG vereinbar sei. Da
sich die inhaltliche Begründung für diese Auffassung aber in einem Satz erschöpft, kann von einer eingehenden
rechtlichen Prüfung kaum die Rede
sein. Der Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer für eine Richtlinie
zur Präimplantationsdiagnostik enthält
selbst auch keine argumentative Auseinandersetzung mit dem ESchG. Allerdings haben sich der Leiter der Arbeitsgruppe, die den Entwurf erarbeitet hat,
Prof. Dr. Hermann Hepp, und Prof. Dr.
H.-L. Schreiber für den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer
nachträglich zur Vereinbarkeit mit dem
ESchG geäußert.
Auch unter Berücksichtigung dieser
Stellungnahmen führt eine detaillierte
Prüfung jedoch zu dem Ergebnis, dass
wesentliche Verfahrensschritte der Präimplantationsdiagnostik nach dem Embryonenschutzgesetz strafbar sind.
Verbot der IVF zu
diagnostischen Zwecken
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG macht sich
strafbar, wer „es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich
zu befruchten, als eine Schwangerschaft
der Frau herbeizuführen, von der die
Eizelle stammt“. Von den Befürwortern der PGD wird diese Strafbestimmung als nicht einschlägig betrachtet,
da das Verfahren schließlich darauf gerichtet sei, eine Schwangerschaft bei der
betroffenen Frau herbeizuführen –
wenn auch nach Durchführung diagnostischer Maßnahmen. Die Verwerfung
von diagnostisch auffälligen Embryo-
nen sei lediglich „eine dem Täter höchst
unerwünschte Nebenfolge“.
Bei genauer Betrachtung des Verfahrens der PGD stellt sich jedoch heraus,
dass die „Befruchtung der Eizelle“ – so
die tatbestandsmäßige Handlung gem.
§ 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG – nicht von vornherein mit dem Ziel erfolgt, eine
Schwangerschaft bei der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Die
Befruchtung erfolgt zunächst ausschließlich zum Zweck der präimplantorischen Qualitätskontrolle. Erst dann
entscheidet sich, was mit dem Embryo
geschehen soll. Die Entscheidung,
durch Übertragung des Embryos in die
Gebärmutter eine Schwangerschaft anzustreben, fällt nicht vor oder bei der
Befruchtung, sondern erst nach der Untersuchung der befruchteten Eizelle.
Dies wird auch im Richtlinienentwurf
der Bundesärztekammer deutlich:
„Nach PGD ist in einem erneuten
Aufklärungs- und Beratungsgespräch
mit dem Paar zu klären, ob und gegebenenfalls welche der Embryonen transferiert werden sollen . . .“ Das ganze
Verfahren wurde schließlich entwickelt,
um nicht „irgendeinen“, sondern nur einen auf bestimmte Krankheiten hin getesteten Embryo transferieren zu können. Vor und bei der Befruchtung steht
die „Qualität“ des Embryos aber noch
nicht fest. Die Herbeiführung einer
Schwangerschaft mit dem durch IVF erzeugten Embryo ist im Zeitpunkt der
Befruchtung daher nicht beabsichtigt.
Wollte man annehmen, dass die genannten Bestimmungen des ESchG die
Herbeiführung einer Schwangerschaft
nur als „Endziel“ eines Vorgangs mit
verschiedenen Teilschritten voraussetzen, wären in der Phase zwischen Befruchtung und Übertragung Manipulationen jedweder Art möglich, solange nur
letztendlich wenigstens ein Embryo auf
die Frau übertragen werden soll. Eine
sachgemäße Interpretation des ESchG
41
D O K U M E N T A T I O N
kann aber nur darin bestehen, dass sich
das Tatbestandsmerkmal „Herbeiführung einer Schwangerschaft“ auf den
einzelnen extrakorporal erzeugten Embryo bezieht. Die Formulierung des
ESchG ist insoweit an Eindeutigkeit
kaum zu überbieten. Es kommt darauf
an, welcher Zweck konkret bei der Befruchtung der Eizelle hinsichtlich genau
dieser Eizelle verfolgt wird. Wenn die
Herbeiführung einer Schwangerschaft
beabsichtigt ist, ist die Befruchtung der
Eizelle zulässig. Besteht diese Absicht
nicht und erfolgt die Entscheidung über
den Transfer erst zu einem späteren
Zeitpunkt – nach der Diagnose –, liegt
eine nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG „missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken“ vor. Der zunächst ausschließlich verfolgte Zweck
der künstlichen Befruchtung ist die Selektion genetisch belasteter Embryonen. Der später eventuell hinzukommende Transfer auf die Frau kann den
bereits vollendeten Verstoß gegen das
ESchG in seiner rechtlichen Bedeutung
nicht mehr beeinflussen. Dass die Methode der IVF hier „missbraucht“ wird,
ist auch daran erkennbar, dass diejenigen Paare, für die PGD in Betracht
kommt, regelmäßig in ihrer natürlichen
Fortpflanzungsfähigkeit nicht eingeschränkt sind.
Der Hinweis von Schreiber, dass das
Ergebnis der Diagnostik nur eine Bedingung der Entscheidung für die Herbeiführung der Schwangerschaft sei
und der Arzt auch bei regulärer IVF
„den anschließenden Embryotransfer
stets von der Bedingung abhängig
macht, dass sich die Patientin auch später noch bereit erklärt, diesen vornehmen zu lassen“, geht fehl. Zum einen
ändert dies nichts daran, dass der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG bereits
verwirklicht ist, wenn die „Bedingung“
für den Embryotransfer eintritt. Zum
Zweiten werden hier ersichtlich zwei Situationen verglichen, die unter völlig
unterschiedlichen Voraussetzungen stehen. Voraussetzung einer „normalen“
IVF-Behandlung ist die Einwilligung
der Frau in die Befruchtung und die
Übertragung der Eizellen. Damit ist die
„Bedingung“, mit dem Transfer der
Embryonen einverstanden zu sein, bei
jeder IVF-Behandlung von vornherein
gegeben. Bei der PGD ist diese Bedin-
42
gung jedoch im Zeitpunkt der Befruchtung von vornherein nicht gegeben. Sie
kommt erst später hinzu. Damit liegt
nur im Fall der PGD eine echte „bedingte Zeugung“ vor. Aus dem Ablauf
der normalen IVF-Behandlung lässt
sich kein Argument für die PGD gewinnen.
Verbot der Verwendung totipotenter
Zellen zur Diagnostik
Weitgehende Einigkeit besteht darin,
dass ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ESchG
vorliegt, wenn totipotente Zellen (bis
etwa zum 8-Zell-Stadium) zum Zweck
der PGD entnommen und „verbraucht“
werden. Die entnommenen totipotenten Zellen sind gem. § 8 Abs. 1 ESchG
einem Embryo gleichgestellt. Ihr Verbrauch im Rahmen der Diagnose dient
offensichtlich nicht dem Erhalt dieser
Zellen und stellt daher einen Verstoß
gegen § 2 Abs. 1 ESchG dar. Sachlich
könnte man das Verfahren auch als
„Klonierung“ eines Zwillings (durch
Abspalten einer totipotenten Zelle) beschreiben, der für Diagnosezwecke verbraucht werden soll. Damit ist auch der
Straftatbestand von § 6 Abs. 1 i. V. m. § 8
Abs. 1 ESchG erfüllt.
Verwerfung des (Rest-)Embryos
bei positivem Befund
Wenn die PGD ergibt, dass der getestete Embryo den befürchteten Gendefekt
hat, wird er nicht auf die Frau übertragen, sondern „verworfen“. Dies ist wiederum nach § 2 Abs. 1 ESchG strafbar.
Denn das „Wegschütten“ oder anderweitige Abtöten des genetisch auffälligen Embryos dient „nicht seiner Erhaltung“ und wird von § 2 Abs. 1 ESchG erfasst.
Kann dem entgegengehalten werden,
dass die einzige Möglichkeit, sich der Bestrafung zu entziehen, nämlich die Übertragung des Embryos auf eine Frau,
ebenfalls strafbar wäre (§ 6 Abs. 2
ESchG)? Kann das Recht jede denkbare
Verhaltensalternative unterschiedslos
unter Strafe stellen?
Die Lösung dieses Problems liegt darin, die Geltung von § 6 Abs. 2 ESchG zu
hinterfragen. Wenn das Gesetz ausdrücklich in dieser Vorschrift für geklonte Embryonen eine „Tötungspflicht“
vorsieht,weil sie nicht auf eine Frau übertragen werden dürfen, liegt ein Verstoß
gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 1 GG
vor. In dem Bestreben, menschliche Klone zu verhindern, ist der Gesetzgeber offensichtlich über das Ziel hinausgeschossen. Das Verbot, genetisch identische
Mehrlinge künstlich herzustellen, ist
nachvollziehbar, berechtigt aber nicht
dazu, einmal verbotswidrig entstandene
menschliche Embryonen per Gesetz zum
Tode zu verurteilen. § 6 Abs. 2 ESchG ist
daher aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht anzuwenden. § 2 Abs. 1 ESchG
bleibt damit auf den Umgang mit denjenigen Restembryonen, die nach der Diagnostik nicht transferiert werden sollen,
anwendbar.
Wertungswiderspruch und
„PGD-Tourismus“
Von den Befürwortern der PGD wird –
nicht ganz zu Unrecht – angeführt, dass
die Schutzbestimmungen des ESchG in
einem Wertungswiderspruch zu der weitgehenden Zulässigkeit von embryopathisch motivierten Abtreibungen stünden. Ferner würden ausländische Forscherteams die Technik ohnehin anwenden. Während de facto das Problem nur
ins Ausland verlagert werde („PGD-Tourismus“), führe ein Verbot der PGD zu
einer wesentlichen Erschwerung der wissenschaftlichen Weiterentwicklung auf
diesem Gebiet.
Der Wertungswiderspruch zu den
Abtreibungsbestimmungen ist de lege
lata hinzunehmen. Er war auch dem
Gesetzgeber zum Zeitpunkt der Verabschiedung des ESchG bekannt. Ob die
Begründungen für die unterschiedliche
Behandlung menschlicher Embryonen
im oder außerhalb des Mutterleibes
tragfähig sind, kann hier nicht erörtert
werden. Differenzierungsgesichtspunkte gibt es durchaus. Jedenfalls ist es
nicht zwingend, die Auflösung eines
Wertungswiderspruchs in Richtung des
niedrigeren Schutzniveaus zu fordern.
Aus verfassungsrechtlichen Gründen,
dem Benachteiligungsverbot für Behinderte (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG), wäre vielmehr das Gegenteil angemessen. Hinzu
kommt, dass durch die PGD embryopathisch motivierte Schwangerschaftsabbrüche nicht wirklich vermieden werden können, weil „zur Absicherung“
D O K U M E N T A T I O N
des Ergebnisses der PGD in der Regel
eine spätere Pränataldiagnostik erforderlich ist.
Auch der Verweis auf die Praxis im
Ausland überzeugt nicht. Der deutsche
Gesetzgeber kann nur für den eigenen
Zuständigkeitsbereich Regelungen treffen. Abweichende Bestimmungen im
Ausland beeinflussen die Begründetheit
der nationalen Regelung nicht. Die in
Deutschland geltenden Arbeitsschutzbestimmungen können beispielsweise nicht
schon deshalb zur Disposition gestellt
werden, weil in Japan oder Indien das
Schutzniveau niedriger ist. Wenn es vernünftige Gründe für Schutzbestimmungen gibt, sollten sie verwirklicht werden –
und möglicherweise anderen Staaten als
Beispiel dienen. Das muss auch und vor
allem für den Schutz menschlichen Lebens gelten.
Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass
der Anwendung der PGD in Deutschland gegenwärtig mehrere Strafvorschriften des ESchG entgegenstehen.
Dies gilt nicht nur bei der Verwendung
totipotenter Zellen. Die PGD stellt nach
geltendem Recht generell eine missbräuchliche Anwendung von Fortpflanzungstechniken dar.
Die rechtspolitische Frage, ob die bestehenden Schutzvorschriften geändert
werden sollten, ist damit zwar nicht beantwortet. Falls sich aber die gesellschaftlichen, ethischen und verfassungsrechtlichen Einschätzungen, die zum ESchG
geführt haben, seit dessen Verabschiedung im Jahr 1990 nicht verändert haben,
gibt es keinen Grund, das Tor zur bedingten Zeugung mit vorgeplanter Selektion
und einkalkulierter Vernichtung menschlicher Embryonen zu öffnen.
Literatur beim Verfasser
Rainer Beckmann
Richter am Amtsgericht
Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik
der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages
Friedenstraße 3a, 97318 Kitzingen
Wertungswidersprüche – oder
widersprüchliche Wertungen?
In der Debatte über die Einführung der
Präimplantationsdiagnostik auf der
Grundlage einer Richtlinie der Bundesärztekammer taucht, um die Zulässig-
keit der PID zu begründen, immer wieder die Argumentationslinie auf, es gebe
einen Wertungswiderspruch zwischen
§ 218 StGB neuer Fassung und einem
Verbot der PID. Es könne nicht sein, dass
dem Embryo in vitro eine höhere
Schutzwürdigkeit zuerkannt wird als
dem Embryo in vivo, dessen Abtreibung
nach § 218 a StGB straffrei möglich sein
kann. Demgegenüber betont Hepp zu
Recht, dass auf der Grundlage der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Tötung eines Embryos in vivo rechtswidrig ist; insoweit besteht in
der Tat kein Wertungswiderspruch. Hepp
versucht dann aber dennoch einen Wertungswiderspruch unter Berufung auf die
klinische Wirklichkeit, die Möglichkeit
einer „Schwangerschaft auf Probe“ unter
§ 218 StGB und einen auf den Zeitpunkt
der PID antizipierten Schwangerschaftskonflikt zu konstruieren. Dagegen ist
Folgendes einzuwenden:
Œ Auf der Suche nach einem möglichen Wertungswiderspruch kommt es
entscheidend darauf an, die richtigen Bezugspunkte zu wählen. Nicht die Nichtdurchführung der PID „zwingt“ später
zu einem Schwangerschaftsabbruch, sondern die Durchführung der In-vitro-Fertilisation.Wenn die Rede von einem antizipierten Schwangerschaftsabbruch sein
soll, muss konsequent antizipiert werden, das heißt nicht nur bis zur Möglichkeit der PID, sondern bis zum Segen der
IVF. Die entscheidende Frage lautet
dann, ob im Zeitpunkt der Durchführung der IVF entweder eine Situation
vorliegt, die bereits zu diesem Zeitpunkt
einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen würde, oder ob bereits zum Zeitpunkt der IVF feststeht, dass später ein
Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt
sein wird. Im ersten Fall ist die Durchführung der IVF nicht nachvollziehbar.
Im zweiten Fall ist wesentlich, dass die
medizinische Indikation des § 218 a Abs.
2 StGB ausschließlich auf die Gesundheit der Frau und nicht auf das Kind abstellt. Zum Wegfall der früheren embryopathischen Indikation formuliert Eser in
Schönke/Schröder, Kommentar zum
StGB,25.Auflage:„Obgleich es schon bei
der bisher (das heißt nach § 18 StGB
a. F.) eingeräumten Zulassung eines
Schwangerschaftsabbruchs im Falle einer genetischen und pränatalen Schädigung des Kindes nicht um die Verhinde-
rung erbkranken Nachwuchses als solches ging, sondern letztentscheidend damit allein der Schwangeren die befürchtete psychische Belastung erspart werden sollte, war damit die Gefahr nicht
auszuschließen, dass dadurch langfristig
das Tor zur platten Eugenik geöffnet
werden könnte.“ . . . „Deshalb ist vor jedem Automatismus zwischen Befund
und Schwangerschaftsabbruch zu warnen.“
Was bedeutet das für einen „antizipierten Schwangerschaftskonflikt“ im
Zeitpunkt der IVF? Dass eine physische
Gesundheitsgefahr für die Frau, die eine
Abtreibung nach § 218 a Abs. 2 StGB
rechtfertigt, aufgrund einer durch die
PID festzustellenden Behinderung des
Kindes droht, ist unwahrscheinlich. Soweit bereits im Zeitpunkt der Durchführung einer IVF bei der Gesamtwürdigung der Umstände soziale Aspekte eine
Abtreibung rechtfertigen würden, wäre
die Durchführung der IVF nicht nachvollziehbar. Bleiben psychische Gesundheitsgefahren für die Frau.Muss in einem
solchen Fall die IVF durchgeführt werden? Wenn bei einem Paar mit hohem
Risiko für eine schwerwiegende Behinderung des Nachwuchses (nur dann soll
nach dem Richtlinienentwurf eine PID
zugelassen werden) diese Behinderung
eine solche seelische Gefahr für die Mutter bedeuten würde, dass dies eine Abtreibung rechtfertigte, stellt sich die Frage,ob in dieser Situation die IVF gerechtfertigt ist. Werden hier nicht mit dem Segen einer neuen Technik Mutter und
Kind in einen Schwangerschaftsabbruch
getrieben? Diese Fragen werden umso
drängender, wenn man bedenkt, dass der
PID ausschließlich eine rationale Entscheidung zu ihrer Durchführung vorangeht, was im Fall der natürlichen Fortpflanzung mit derselben Ausschließlichkeit nicht als Regelfall unterstellt werden
kann.Wenn üblicherweise pränatale Diagnostik und PID verglichen werden, sei
hier die Frage gestellt, weshalb die IVF
eine Konfliktsituation überhaupt aufbauen muss, nur weil sie sich nach einer
PID möglicherweise „einfacher“ lösen
lässt als nach einer PND.
 Unter Berufung auf die in der klinischen Wirklichkeit bestehende Möglichkeit einer „Schwangerschaft auf Probe“
in Verbindung mit der PND konstruiert
Hepp dann doch einen angeblichen Wer-
43
D O K U M E N T A T I O N
tungswiderspruch zwischen § 218 StGB
und einer Nichtzulassung der PID. Dem
ist entgegenzuhalten, dass aus der Möglichkeit des kalten Missbrauchs einer Regelung, die einen existenziellen Konflikt
lösen soll, nicht der Schluss zulässig ist
auf die Ausweitung der vom Gesetz notgedrungen zugelassenen Konfliktlösung
auf Fälle des gezielten Missbrauchs. Keine Gleichheit im Unrecht!
Ž Dem noch vorgängig ist die Frage,
wie sich die so genannte „Schwangerschaft auf Probe“ und eine zu prognostizierende psychische Belastung der
Frau vereinbaren lassen. Auch bei einer
„Schwangerschaft auf Probe“ kann die
Frau nicht sicher sein, dass eine Abtreibung zulässig sein wird. Wenn sie
trotzdem eine Entscheidung für eine
„Schwangerschaft auf Probe“ trifft,
schreitet sie in berechnender Absicht in
eine Konfliktlage, die ihr das Gesetz
ausnahmsweise abnehmen will. Entweder ist der Konflikt dann ernst, dann ist
die rationale Entscheidung für eine
„Schwangerschaft auf Probe“ weder
nachvollziehbar noch sanktionierbar.
Oder das mit dem Konflikt war doch
nicht so ernst gemeint. Dann scheidet
eine Berufung auf § 218 a Abs. 2 StGB
aus. In jedem Fall lassen sich kühles
Kalkül und existenzieller Konflikt nicht
vereinbaren.
 Man könne „mit Hilfe der PND die
Geburt eines gesunden Kindes gleichsam
erzwingen“, formuliert Hepp. Das mag
schon sein, dass man das kann. Zu dieser
Haltung passt aber nicht, dass sich Hepp
direkt im nächsten Satz auf einen „Konflikt auf dem Boden der Autonomie der
Mutter und der ihr durch ein krankes
Kind nicht zumutbar erscheinenden Belastung für die Phase nach der Geburt“
beruft. Muss die IVF zugelassen werden,
um die Geburt eines gesunden Kindes
gleichsam zu erzwingen?
 Diese Argumente zeigen, dass jedenfalls ein „Dammbruch“, ausgehend
von § 218 StGB, zur Zulässigkeit der PID
nicht zwingend ist. Bei genauer Betrachtung, insbesondere der Tatsache, dass
§ 218 a StGB nur auf die Gesundheit der
Mutter schaut und dass Bezugspunkt für
eine Antizipation des Konflikts nicht die
PID, sondern die IVF ist, wird deutlich,
dass § 218 StGB als Argument für die
Zulässigkeit der PID nicht taugt. Die Berufung auf Missbrauchsmöglichkeiten in
44
der klinischen Wirklichkeit führt andererseits zur Frage, ob es letztlich gar nicht
um die Auflösung von Wertungswidersprüchen geht, sondern darum, den
Damm etwas zu lockern. Die medizinische Machbarkeit ist dafür kein Grund.
Regierungsrat Steffen Walter
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst
Baden-Württemberg
Königstraße 46, 70173 Stuttgart
Menschenzucht
Ich möchte einen Gesichtspunkt in die
Diskussion einbringen, der bisher keine
Beachtung fand und wohl auch wissentlich verschwiegen wurde.
Im Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik (PGD) steht im Vordergrund die Situation von kinderlosen Paaren, bei deren Kindern ein genetisches Risiko besteht. In diesen Fällen kann nach einer Invitro-Fertilisation zu einem sehr frühen
Zeitpunkt eine genetische Überprüfung
des Embryos erfolgen und gegebenenfalls
das krankhafte Produkt vernichtet oder
auch manipuliert werden. De facto reicht
die Problematik weit über diese eng umgrenzte Situation hinaus, und durch keine
noch so strenge Regelung wird sich die
PGD auf Dauer auf diesen Bereich beschränken lassen.
Die Präimplantationsdiagnostik kann
nur durchgeführt werden, wenn ein Embryo nach der Befruchtung in vitro zur
Verfügung steht. Diese Situation wurde
erstmals mit der Technik der In-vitroFertilisation (IVF) möglich. Bei diesem
Verfahren erfolgt allerdings die Befruchtung der Eizelle durch eins von der Vielzahl der vorhandenen Spermien, der
natürlichen Situation entsprechend unbeeinflusst.
Anders ist dies bei der Technik der intracytoplasmatischen Spermieninjektion
(ICSI), die nahezu zwingend eine PGD
erfordert, eine artifizielle Befruchtung.
Bei ICSI wird ein Spermium selektiert
und gezielt manuell gesteuert in eine Eizelle gebracht und damit der Befruchtungsprozess in Gang gesetzt. Es sei darauf hingewiesen, dass die beiden Techniken PGD und ICSI fast zeitgleich entwickelt wurden. Die primäre Indikation
für ICSI ist die männlich bedingte Sterilität, das heißt in den Fällen, wo defekte,
pathologische oder unreife Spermien
vorliegen, die von sich aus nicht die
Fähigkeit haben zu befruchten. Selbst bei
einer Azoospermie kann mit aus Hodenbiopsien gewonnenen Spermien durch
intracytoplasmatische Injektion eine Befruchtung erzwungen werden. Bei dieser
Ausgangssituation ist mit einer gesteigerten Zahl von genetischen Störungen zu
rechnen; nicht nur genetisch bedingte
Sterilität wird weitergegeben. Welchen
Einfluss die mechanische Irritation bei
der Manipulation hat, ist letztlich nicht
geklärt. Defekte und Fehlentwicklungen
beim Embryo sollen dann mit der PGD
erfasst und eliminiert werden.
ICSI wird zwar von den Kassen nicht
bezahlt, aber dennoch in ständig steigendem Umfang durchgeführt. Diese Praxis
zeigt, welchen Einfluss gesetzgeberische
Maßnahmen auf die Anwendung von
neuen Techniken haben, obwohl eine
Entscheidung des Bundesausschusses
Ärzte und Krankenkassen, ICSI nicht
als Kassenleistung anzuerkennen, vorliegt. Daher ist es fraglich, ob entsprechende Regelungen für PGD überhaupt
greifen werden. Für die Entscheidung
pro oder kontra PGD wesentlich erscheint mir die Einsicht, dass ICSI plus
PGD Menschenzucht ist, der Beginn einer genetischen Selektion beim Menschen. Selektiert wird gezielt ein Spermium zur Befruchtung, und nach der Befruchtung kann der Embryo in Abhängigkeit von der genetischen Diagnose selektiert werden. Beide Techniken sind
Eugenik: ICSI im negativen Sinn, da
spontan nicht zur Befruchtung taugliche
Spermien zur Fertilisation manipuliert
werden und als Folge davon mit einem
Weiterreichen von Fehlinformationen
an die Kinder gerechnet werden muss.
PGD im „positiven“ Sinn, da hier ein
Aussortieren nach der Fertilisation in
vitro erfolgt.
Dem Verbot einer PGD, wie von
Montgomery gefordert, muss ein Verbot
von ICSI vorausgehen. Der Beitrag von
Montgomery ist klar und eindeutig, der
von Hepp wortreich und unverbindlich.
Noch so ausgeklügelte Regularien werden nicht verhindern, dass die PGD aus
vielfältigen Gründen bei in vitro gezeugten Embryonen erfolgen wird.
Ich hoffe, dass sich noch viele einsichtige und verantwortungsbewusste Mediziner zum eindeutigen Nein bekennen.
D O K U M E N T A T I O N
Die breite „öffentliche Meinung“ ist sicherlich überfordert. Das zeigt die unreflektierte, breite Zustimmung zu ICSI,
offensichtlich ist es schwer, den qualitativen Unterschied zwischen der natürlichen Befruchtung und der künstlichen zu
verstehen. ICSI und PGD sind die Techniken für eine Eugenik.
„Gegen das, was der Fortschritt der
Fortpflanzungstechnik, der zwangsläufig
auch ein Fortschritt an Eugenik ist, an
moralisch Zweifelhaftem noch zu bieten
hat, wird die Atombombe ein sittliches
Kinderspiel gewesen sein.“ (C. Koch,
Ende der Natürlichkeit. Eine Streitschrift zu Biotechnik und Bio-Moral,
Hanser 1994)
Prof. Dr. Gerhard Bettendorf
ehem. Direktor der Abteilung für klinische und
experimentelle Endokrinologie und des
Reproduktionszentrums der Universität Hamburg
Friedrich-Kirsten-Straße 19, 22391 Hamburg
Kinderlosigkeit:
Zumutbares Schicksal
Es ist wohltuend, in einer ärztlich-anthropologischen Grundsatzdiskussion,
die im Kontext der Präimplantationsdiagnostik (PID) entbrannt ist, aus dem
Mund wenigstens eines Kammerpräsidenten kompetente und insofern auch
mutige Worte zu hören,die einen eigenen
Standpunkt klar formulieren, der nicht
unbedingt Zeitströmungen hörig ist.
Dafür möchte ich dem Hanseaten Montgomery danken und Respekt zollen, dass
er aus einem tiefen ärztlichen Verantwortungsbewusstsein heraus unpolemisch,
aber unmissverständlich zur aktuellen Situation der PID-Diskussion eine prospektive Sichtweise entwickelt, die würdig neben einer solchen von Aldous
Huxley steht.
Gestatten Sie mir aber noch eine persönliche Ergänzung. Wie Herr Hepp im
gleichen Heft schreibt, hat die PID zur
Aufklärung des genetischen Status des
Embryos eine In-vitro-Fertilisation zur
Voraussetzung. Hier an der ursächlichen Wurzel dieser ganzen Problematik
möchte ich ansetzen. Ich stelle die Frage, ob in einer Welt, die bevölkerungspolitisch überquillt, überhaupt eine IVF
sozialethisch zu rechtfertigen ist. Hinzu
kommt, dass unsere Solidargemeinschaft im medizinischen Bereich heute
bereits überfordert ist, sogar wenn es
um existenziell bedrohliche Situationen
geht. Im Kontext dazu möchte ich nur
auf die im gleichen Heft erschienene Arbeit „Radioonkologie, Strahlenbiologie
und medizinische Physik“ Bezug nehmen, wonach es „wegen des hohen finanziellen Aufwandes . . . Protonen für
den klinischen Einsatz . . .“ in Deutschland erst seit 1998 möglich war, eine
Therapieeinheit zu errichten. Hier stellt
sich mir als langjährigem Frauenarzt
trotzdem die Frage, ob ein Kinderwunsch – bei Würdigung aller Fakten –
Priorität haben muss beispielsweise vor
der Therapie besonderer maligner Tumoren? Kinderwunsch, so edel er sein
mag, ist keine Existenzfrage. Verzicht
auf ein Kind – ob primär oder bei Verdacht auf genetisches Risiko – ist ein zumutbares Schicksal, zumindest rechtfertigt es nicht die finanzielle Belastung der
Solidargemeinschaft. Der Kinderlosigkeit lässt sich überdies durch die Möglichkeit der Adoption eines der vielen
armen Kinder auf unserer schönen neuen Welt begegnen. Dies könnte mit echter Liebe zum Kind erreicht werden, allerdings nicht durch narzisstische Liebe
zu sich selbst oder Forschernarzissmus,
alles möglich zu machen, koste es, was
es wolle.
Dr. med. Günter Link
Auf der Halde 13, 87439 Kempten
Die PGD kommt
Sehr geehrter Herr Kollege Montgomery, Sie (und alle anderen) können dieses Thema wenden und drehen, wie Sie
wollen. Die PGD kommt so bestimmt
wie der nächste Winter, letzten Endes
routinemäßig ohne besondere Indikation. – Nein, ich bin kein Prophet.
Dr. med. Josef Sliva
73117 Wangen
Nachdenken über Limitierung
der künstlichen Befruchtung
Den Ausführungen von Dr. Montgomery ist im Hinblick auf die Präimplantationsdiagnostik absolut zuzustimmen. Zu
fragen wäre nur, ob es tatsächlich ungewollt ist, dass der genetischen Selektion
die Tür geöffnet wird, wenn die Deutsche
Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe schon die Forcierung der Pränataldiagnostik für notwendig hält, weil
immer weniger Kinder geboren werden.
Der wenige Nachwuchs in Deutschland
soll dann im Sinne des „Designer
Child’s“ wenigstens gesund sein.
Prof. Hepp widerspricht sich in seinem Beitrag zur PGD leider selbst.
Wenn das menschliche Leben – nach
einhelliger naturwissenschaftlicher Meinung – mit der Konjugation der haploiden Chromosomensätze beginnt, dann
ist die Präimplantationsdiagnostik eine
sehr frühe Form der Pränataldiagnostik
und hat nichts mit der Implantation und
dem Beginn der Schwangerschaft zu
tun. Pränataldiagnostik ist eine Untersuchung des Menschen vor seiner Geburt. Ist dies der subtile Versuch, doch
eine Abstufung des Lebensrechtes zu
erreichen?
Es ist zudem erstaunlich, dass in der
Debatte um die PGD die Befruchtungskontrolle kaum erwähnt wird. Vor der
Präimplantationsdiagnostik steht bereits
die Untersuchung der befruchteten Eizelle auf ihre Vorkerne. Bereits ein Abweichen von den „normalen“ zwei Vorkernen führt zur Vernichtung der Zygoten, obwohl man weiß, dass sich mindestens 14 Prozent dieser Embryonen normal entwickeln können. Die Selektion,
die Vorsicht vor dem nicht ganz Normalen und die Unterscheidung zwischen lebenswert und lebensunwert beginnt damit schon vor der genetischen Untersuchung. Leider blieb bisher auch zu wenig
beachtet, dass amerikanische Fortpflanzungsmediziner die anschließende Pränataldiagnostik zur Sicherung des Ergebnisses der PGD besonders empfehlen.
Die Meldung über 50 000 vernichtete
Embryonen in England – ebenfalls in
Heft 18/2000 – müsste jede weitere Diskussion über die Präimplantationsdiagnostik im Keim ersticken und – wie von
Dr. Montgomery gefordert – zu einem
absoluten Verbot führen.
Notwendig ist zusätzlich ein intensives
Nachdenken über eine gesetzliche Einschränkung der Pränataldiagnostik und
Limitierung der künstlichen Befruchtung . . .
Dr. med. Claudia Kaminski
Ottmarsgässchen 8, 86152 Augsburg
45
D O K U M E N T A T I O N
Ethisch nicht vertretbar
Herrn Dr. Montgomery ist sehr zu danken für sein klares Plädoyer, die Präimplatationsdiagnostik zu verbieten. Dabei bildet weniger die Diagnostik an
sich das Problem; vielmehr sind es die
Konsequenzen, die sich aus dieser Diagnostik ableiten. Solange therapeutische Möglichkeiten fehlen und solange
lediglich die Tötung des ungeborenen
Menschen die Folge ist, lässt sich die
Präimplantationsdiagnosik ethisch nicht
vertreten.
Natürlich ist es Aufgabe eines jeden
Arztes, Krankheit zu verhindern. Doch
auch hier sind seinem Handeln ethische
Grenzen gesetzt. Es ist keine Prophylaxe, eine Erkrankte/einen Erkrankten
frühzeitig zu identifizieren und dann zu
töten.
Dr. Rupert Pullen
Anemonenweg 1, 42553 Velbert
Alternativen
In den Diskussionsbeiträgen zur Präimplantationsdiagnostik kann man leider
nicht durchweg erkennen, dass im Mittelpunkt aller Überlegungen ein Ehepaar mit Kinderwunsch steht, das ein hohes genetisches Risiko trägt und damit
rechnen muss, dass eine oder eine weitere Fehlgeburt,Totgeburt oder Geburt eines schwer geschädigten oder bald sterbenden Kindes zu befürchten ist. Wir
Ärzte werden zum genetischen Risiko
beziehungsweise Wiederholungsrisiko
gefragt, nennen die Gefahr und sind dem
ärztlichen Ethos verpflichtet vorzubeugen und zu heilen. Die Präimplantationsdiagnostik bietet die Möglichkeit der
Verminderung des Risikos, dass schwer
defektive Nachkommen entstehen, bevor der Embryo in den Mutterleib transferiert wird, bevor die Nidation als Bindung von Embryo und Mutter erfolgt
und bevor Organsysteme entstehen, die
das Menschenkind erst einmal lebensfähig werden lassen. Und schließlich
wird ein Schwangerschaftsabbruch bis
zur zwölften SSW (oder gar noch später?) vermieden.
Der BÄK-Richtlinienentwurf gibt eine simple Empfehlung, wie die ethischen
Konflikte der PID vermeidbar sind: „indem betroffene Paare bewusst auf Kinder
46
verzichten oder sich zu einer Adoption
entschließen“. Der Ethos vom Verzicht
entspricht der Schicksalsergebenheit gegenüber einer höheren Gewalt. Ärztlicher Ethos erlaubt uns nicht, apathischnihilistisch Krankheiten, Leiden und
Schäden als Schicksal hinzunehmen, solange Hoffnung auf Vermeidung und
Heilung besteht.
Der BÄK-Richtlinienentwurf nennt
leider nicht die schlechten Chancen für
eine Adoption. In Deutschland warten
sechs bis acht Ehepaare auf ein adoptierbares Kind, die meisten warten frustriert jahrelang, bis sie schließlich für
die Adoption zu alt geworden sind. Der
BÄK-Richtlinienentwurf nennt leider
auch nicht eine seit über 30 Jahren in
Deutschland sehr erfolgreich praktizierte Heilbehandlung, die dem Rat suchenden Ehepaar unbedingt genannt
werden sollte, die donogene (gespendete, d. Red.) Insemination und donogene
IVF aus genetischer Indikation. Sie ist
weder ethisch noch rechtlich unzulässig.
Seit Jahren existieren Richtlinien zur
Spenderauswahl und zur Verfahrensweise.
Das Ehepaar muss selbst zwischen
Adoption, donogener Befruchtung und
Verzicht entscheiden.
Prof. Dr. E. Günther
Max-Steenbeck-Straße 46, 07745 Jena
Anspruchsdenken verschließen
Mit der In-vitro-Fertilisation hat man
die Basis ärztlichen Handelns verlassen. Mit ESchG und Richtlinien zur
PID versucht man jetzt Dämme aufzurichten, die wahrscheinlich nicht lange,
auf keinen Fall ewig halten werden. Offen wird in einzelnen Diskussionsbeiträgen bereits von eugenischen Zielsetzungen gesprochen. Zuerst wollte
man nur den Kinderwunsch von Paaren
erfüllen, jetzt wird bereits von amerikanischen Gerichten ein Recht des Kindes
auf körperliche und geistige Gesundheit festgelegt, demnächst wird ein behindertes Kind seine Eltern auf Schadensersatz verklagen können. Und niemand kann sich damit entschuldigen,
das habe er nicht gewollt.
Erst 1968 wurde von der Bundesregierung das 1933 erlassene „Gesetz zur
Verhütung erbkranken Nachwuchses“
endgültig für unwirksam erklärt, vorher
war es nur dispensiert. Die Idee der Eugenik geht auf Sir Francis Galton
zurück, welcher forderte, eine verantwortungsvolle Menschheit müsse ihre
„Zuchtwahl“ selbst in die Hand nehmen, um die Bevölkerung vor einem
vermeintlichen biologischen Niedergang zu bewahren. Und 1930 rief der
Generalsekretär der American Eugenics Society aus: „In Zukunft wird der
Mensch auf das 20. Jahrhundert zurückblicken und es das eugenische Jahrhundert nennen. Eugenik fegt wie eine
große Religion über die Welt.“ Der Medizin wuchs die Rolle des Vollstreckers
des sozial Wünschenswerten und
scheinbar wissenschaftlich Erforderlichen zu. Wie es geendet hat, wissen wir.
Was vergessen wurde, ist die Resonanz,
welche diese Ideen seinerzeit hatten.
Selbst die späteren Friedensnobelpreisträger Aiva und Gunnar Myrdal
forderten ein schonungsloses Sterilisationsprogramm, und der amerikanische
Physik-Nobelpreisträger W. Shockley
wollte alle Menschen mit niedrigem IQ
sterilisiert wissen. Zwangssterilisationen so genannter Erbkranker fanden
bis in die jüngste Zeit in europäischen
Ländern statt.
Und jetzt leben diese Ideen in neuem
Gewand wieder auf. Statt der Zuchtwahl
geht es jetzt um die Evolution, „es sei an
der Zeit, dass der Mensch seine Evolution selbst in die Hand nehme“, so Nobelpreisträger James Watson auf einem
Symposion der Universität von Kalifornien in Los Angeles 1998. Vordergründig
wird die Notwendigkeit einer Keimbahntherapie mit dem bisherigen Misserfolg der somatischen Gentherapie begründet.James Watson stritt mögliche Erfolge der somatischen Therapieform
rundweg ab, darauf könne man warten,
„bis die Sonne erlischt“. Gerade die Möglichkeit des Verwerfens von misslungenen
Keimen im Blastozystenstadium wurde
von allen anwesenden Wissenschaftern
(Molekularbiologen, Evolutionsbiologen,
Ethikern) als der große Vorteil gegenüber
der unsicheren somatischen Gentherapie
ohne Widerspruch begrüßt. Keimbahntherapie sei schließlich nur eine Erweiterung der somatischen Gentherapie,
gab der Molekularbiologe John Campbell zu verstehen. Sie verurteilten einhellig alle Versuche von gesetzlichen Regle-
D O K U M E N T A T I O N
mentierungen von Keimbahneingriffen.
Gewisse Bedenken scheinen aber doch
zu bestehen, denn es wurde postuliert,
dass keinesfalls genetische Veränderungen zwangsläufig von Generation zu Generation weitergegeben werden dürften,
was durch den Einbau von Steuerungsmechanismen verhindert werden soll
(eine Zusammenfassung ist im Internet
unter http://www.ess.ucla.edu:80/huge/
report.html zugänglich).
Die evolutionsbiologische Notwendigkeit genetischer Defekte sollte bei
der Diskussion genetischer Manipulationen nicht außer Acht gelassen werden. Unser Überleben beruht auf einem
ständigen genetischen Lotteriespiel.
Das hohe Maß genetischer Variabilität
gehört zur Grundbedingung allen Lebens. Einen genetisch definierten Idealtyp gibt es nicht. Als Preis dafür haben
wir die Anzahl mehr oder weniger genetischer Varianten zu zahlen. Aus
zwingenden
evolutionsbiologischen
Gründen kann kein Mensch, kein Lebewesen, genetisch völlig unbeschädigt
und gesund sein. Und deshalb ist es angemessen, selbst den Zustand gewöhnlicher Gesundheit nicht als naturgegebene Norm anzusehen oder gar als
Menschenrecht einzufordern.
Die Medizin sollte sich jedem ihr
angetragenen Anspruchsdenken verschließen, umso konsequenter, wenn dadurch ethische Konflikte vorprogrammiert sind. Bei Sterilität oder genetisch
schwer belasteten Paaren, wie im Fall der
Ethikkommission der Med. Univ. Lübeck, sollte man von einer Schwangerschaft abraten.
Die Ethik darf sich nicht dem so genannten Fortschritt anpassen, „die Seele
ist um sehr vieles älter als der menschliche Geist“ (K. Lorenz).
Literatur beim Verfasser
Dr. med. Rolf Klimm
Bach 2, 83093 Bad Endorf
Verunglimpfung deutscher
Ethikkommissionen
Grundlegend falsch, schon im Titel und
dann noch mehrfach im Text, ist die angeblich von der modernen Medizin gelehrte Gleichsetzung von „menschlich
sein“ mit „Mensch sein“. Spermien, Ei-
zellen und Embryonen des Menschen
sind zwar menschlich, aber sie sind noch
kein halber oder ganzer Mensch. Diese
frühesten Entwicklungsformen menschlichen Lebens haben weder die laut Bibel (Buch Genesis) notwendige Form
noch den göttlichen Odem. Wenn die
katholische Amtskirche durch ihr Verbieten von Kondom und Pille (und jetzt
Präimplantationsdiagnostik) diese Frühestformen schützen möchte, so können
(und werden) den Kirchenoberen hierbei selbst von ihren eigenen Gläubigen
nur noch wenige folgen.
Auch Embryonen sind mit Sicherheit
in den ersten zwei Wochen keine Kinder
oder Menschen, weil ein Mensch nicht
zu zwei Menschen, der Embryo in diesem Zeitraum aber noch zu eineiigen
Zwillingen werden kann – er ist also
noch nicht einmal ein In-dividu-um, ein
Unteilbares. Zudem ist das typische
Schicksal von Embryonen, wie auch von
Keimzellen, der frühe Tod: mindestens
zwei Drittel sterben vor der Monatsblutung und gehen in der Regel mit der Regel unbemerkt ab.
In unserer Zeit der höchstentwickelten medizinischen Fürsorge für Frühgeborene den Vorwurf der „dumpfen
Mentalität . . . für das . . . nicht behinderte und kräftige Leben“ aufzustellen,
zeugt von Unkenntnis oder Missachtung. Wird für behinderte Kinder und
Erwachsene heute nicht getan, was
früher schlicht unmöglich war? Wie
hoch war denn in der Zeit vor der heutigen Medizin die Kindersterblichkeit, als
die Menschen mit Gebeten und Gottes
Hilfe auskommen mussten?
Da Kardinal Meisner die Kollaboration deutscher Ärzte mit dem Nazi-Regime anspricht, so darf daran erinnert
werden, dass der Vatikan als erster Staat
jene Machtergreifung mit dem Konkordat völkerrechtlich anerkannte und dieser Vertrag immer noch gültig ist . . .
Bemerkenswert auch, dass ein Kardinal zweimal im Namen der Christen redet, obwohl er wissen müsste, dass die
meisten christlichen Religionen die extreme Position der katholischen Amtskirche auf dem Gebiet der Fortpflanzung keineswegs zu teilen vermögen . . .
Kultur des Lebens
Positiv und beachtenswert ist die Entschiedenheit, mit der Joachim Kardinal
Meisner, Erzbischof von Köln, seine
Stimme für den Schutz allen menschlichen Lebens erhebt. Ich freue mich, dass
er sich für Klarheit in der Debatte um
die Präimplantationsdiagnostik auf diese Weise engagiert.
Gerade eine „Schärfung des Problembewusstseins“ ist bei dieser Diskussion angesagt. Die Debatte für und
wider die Präimplantationsdiagnostik
sollte dabei auf den freiheitlichen
Grundsätzen dieses Rechtsstaates beruhen. Vor allem die deutsche Staatsidee,
die sich in Artikel eins des Grundgesetzes niederschlägt, stellt einen hohen moralischen Anspruch, der verantwortungsbewusstes Handeln voraussetzt.
Daher geht es in erster Linie nicht um
„Einzelfallentscheidungen“, sondern
vielmehr um den grundsätzlichen Primat des Schutzes allen menschlichen
Lebens.
Ich bin sicher, dass es nicht nur mir,
als hoffentlich angehender Medizinstudentin, sondern vielen ein Anliegen ist,
jene ethisch-moralischen und naturrechtlichen Werte in dieser Gesellschaft
ohne Abstriche aufrechtzuerhalten. Leben ist zu bejahen. Daraus erwächst das
Gebot, die Schwachen und Hilflosen in
ihrer Ganzheit zu akzeptieren und zu
fördern.
Die Geste seitens der Bundesärztekammer, zu einem offenen und sachlichen, gleichwohl kritischen Dialog mit
der Öffentlichkeit beizutragen, zeigt,
dass sogar bei der Forderung nach einem sehr restriktiven Einsatz der
Präimplantationsdiagnostik nicht über
die Köpfe hinweg entschieden werden
darf und ein Entgegenkommen ihrerseits möglich ist.
Alice Kang
Rheinstraße 39, 53179 Bonn
Dr. Manfred Schleyer
Diplom-Biologe, Institutstraße 22,
81241 München-Pasing
47
D O K U M E N T A T I O N
Heft 47, 24. November 2000
Präimplantationsdiagnostik
Ethisches Dilemma der
Fortpflanzungsmedizin
Ärzte, Politiker, Juristen und Theologen diskutierten bei einer
öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission des
Bundestages „Recht und Ethik der modernen Medizin“ über
Chancen und Risiken der PGD.
E
ine schottische Familie mit fünf
Kindern verlor durch einen Unfall
die einzige Tochter. Sie möchte jetzt
mithilfe von Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis = PGD) garantiert wieder ein
Mädchen bekommen. Diesen „Fall“ der
zurzeit in Großbritannien diskutiert
wurde, trug der Vorsitzende des Marburger Bundes und Präsident der Ärztekammer Hamburg, Dr. med. Frank
Ulrich Montgomery, in Berlin vor.
„Direkter Weg zum
qualitätsgesicherten Kind“
Auch wenn in Deutschland die Präimplantationsdiagnostik nicht zur Geschlechtswahl genutzt werden soll, so
hält Montgomery die PGD dennoch für
den „direkten Weg zum qualitätsgesicherten Kind“. Bei einer öffentlichen
Anhörung der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ drückte er die Befürchtung aus,
dass die PGD nicht auf die Paare begrenzt werden könne, die erbgebundene Krankheitsgeschichten vorwiesen.
„Über kurz oder lang werden bei allen In-vitro-Fertilisations-Maßnahmen
PGDs nötig sein“, so Montgomery. Die
Entschlüsselung des menschlichen Genoms stehe kurz vor ihrer Vollendung.
Damit aber liege eine mindestens abstrakte Genkarte vor, in der Aberrationen, Variationen und Strickmusteranomalien des Menschen beschrieben
sind. „Jeder von uns ist Träger solcher
Anomalien – auch der Gesundeste.“
Der Grundgedanke der genetischen Selektion, der dem ganzen Verfahren in-
48
newohne, werde zu einer natürlichen
„Ausmerzung aller Anomalien“ führen.
Prof. Dr. med. Klaus Diedrich, Medizinische Universität zu Lübeck, hält diese
Befürchtungen für unbegründet. So sei
ein Screening auf mehrere monogenetische Veränderungen allein aufgrund des
normalen Hintergrundrisikos in der Bevölkerung wenig sinnvoll.Die weltweiten
Zahlen demonstrierten außerdem eindrucksvoll, dass die PGD immer noch eine in der Anwendung sehr begrenzte
Technik sei. Um einem Missbrauch vorzubeugen, habe die Bundesärztekammer
(BÄK) im März einen Diskussionsentwurf zur PGD (Deutsches Ärzteblatt,
Heft 9/2000) vorgelegt, in dem ein Diagnosenkatalog eindeutig abgelehnt und
in klarer Weise die Diagnostik vorgegeben werde. Durch eine Beibehaltung des
Verbots der PGD würden möglicherweise deutsche Paare zu kommerziell orientierten Einrichtungen im Ausland getrieben, auf deren ethische und medizinische
Standards man keinerlei Einfluss habe,
befürchtet Priv.-Doz. Dr. med. Wolfram
Henn, Homburg/Saar.
Doch ist es eigentlich gerechtfertigt,
einem Embryo, bei dem Behinderungen
festgestellt wurden, das Lebensrecht zu
verwehren? Nein – ist die deutliche Antwort von Karl Finke, Behindertenbeauftragter des Landes Niedersachsen. Er
betrachtet es „mit Sorge und Kritik, dass
Behinderung zunehmend als ein mit modernen medizintechnologischen Methoden aus der Welt zu schaffendes Übel angesehen wird. Menschen mit Behinderungen erlebten dies schon heute als eine
mangelnde Akzeptanz gegenüber denjenigen, die dem gesellschaftlichen Leitbild von Gesundheit, Leistungsfähigkeit
und Fitness nicht entsprechen.“ Führende Fortpflanzungsmediziner und Biologen, wie kürzlich der Nobelpreisträger
James Watson, sprächen bereits von einem Recht auf ein nichtbehindertes
Kind, so Finke. Ein Recht, das sich zu einer Pflicht zur eugenischen Selektion
verkehren könne. Die PGD intensiviere
die schon in der pränatalen Diagnostik
angelegte Tendenz zur eugenisch motivierten Auslese behinderten Lebens und
öffne gleichzeitig die Tür zur positiven
Eugenik. Studien zeigten zum Beispiel,
dass in mehr als 90 Prozent der Fälle, in
denen einer Frau im Rahmen von pränataler Diagnostik mitgeteilt wird, sie erwarte ein Kind mit Down-Syndrom, eine
Abtreibung vorgenommen werde.
Doch diese Schwangerschaftsabbrüche, die bei festgestellter Behinderung nach pränataler Diagnostik aufgrund der medizinischen Indikation bis
zum Ende der Schwangerschaft möglich sind, könnten gerade durch PGD
verhindert werden, erläuterte Prof. Dr.
jur. Joachim Renzikowski, Universität
Halle-Wittenberg. Ein später Abbruch
einer „Schwangerschaft auf Probe“ sei
nichts anderes als eine künstliche Frühgeburt und mit erheblichen Belastungen für die Mutter und die Leibesfrucht
verbunden, so der Jurist.
Eindeutige gesetzliche
Regelung gefordert
Dr. Hildburg Wegener, Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik,
wies allerdings darauf hin, dass die Methode der PGD ebenso fehleranfällig
wie aufwendig sei. Deshalb werde der
schwangeren Frau im Richtlinienentwurf der BÄK zur Absicherung des
Ergebnisses eine Fruchtwasseruntersuchung empfohlen. Ein Schwangerschaftsabbruch müsse also eventuell
trotz Präimplantationsdiagnostik vorgenommen werden. Wegener vertritt
außerdem die Auffassung, dass die Inanspruchnahme einer Präimplantationsdiagnostik und ein Schwangerschaftsabbruch nach pränataler Diagnostik gar
nicht miteinander verglichen werden
dürften: „Bei einem Schwangerschaftsabbruch reagieren die Beteiligten auf eine schicksalhaft vorgegebene Situation.
Bei der PGD liegt keine Schwanger-
D O K U M E N T A T I O N
Baby genetisch
ausgewählt
In Frankreich ist zum ersten Mal ein
genetisch ausgewähltes Kind zur Welt
gekommen. Das Baby wurde im
Béclère-Krankenhaus im südlich von
Paris gelegenen Departement Hautsde-Seine geboren. Damit wurde in
Frankreich erstmals die Präimplantationsdiagnostik angewandt. Das Kind
ist nicht von der unheilbaren Krankheit betroffen, die einer der Elternteile in sich trägt und möglicherweise
afp
übertragen hätte.
schaft vor. Die Beteiligten reagieren auf
eine Situation, die sie selbst im Wissen
um die sich daraus ergebenden Entscheidungen erst herbeigeführt haben.“
Auch von Juristen wird diese Einschätzung geteilt. „Die Situation des
(ungewollt) gezeugten Embryos in vivo
ist mit der Situation eines (bewusst und
gewollt) erzeugten Embryos in vitro in
keiner Weise vergleichbar“, sagte Dr.
iur. Elke H. Mildenberger, Universität
Münster. Deshalb sei es konsequent,
wenn das Embryonenschutzgesetz
(ESchG) eine künstlich befruchtete Eizelle bereits vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an schütze, im Paragraphen 218 dagegen dem Interesse einer
ungewollt schwangeren Frau Vorrang
eingeräumt und nidationsverhütende
Maßnahmen nicht bestraft würden.
Ihrer Ansicht nach ist die PGD mit dem
Embryonenschutzgesetz nicht vereinbar.
Prof. Dr. med. Karl Friedrich Sewing,
Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK, teilt diese Auffassung
nicht. Dennoch plädierte er für eine eindeutige gesetzliche Regelung, um „bestehende Wertungswidersprüche aufzuheben oder diese gar nicht aufkommen zu
lassen. Die gesetzlichen Regelungen sollten sich aber auch im Blick auf das europäische Ausland ausrichten mit dem
Ziel, ethische Schieflagen zu vermeiden,
etwa in dem Sinne, dass es nicht unbedingt ethischen Normen folgt, wenn wir
im eigenen Land Entwicklungen unterbinden, die im Ausland gewonnenen Ergebnisse jedoch im eigenen Land nutzen
wollen.“ Sobald die gesetzlichen Rahmenbedingungen klar seien, werde zu
prüfen sein, ob und gegebenenfalls in
welcher Weise berufsrechtliche Regeln zu
erarbeiten oder zu modifizieren seien. Sewing betonte, dass an der prinzipiellen
Schutzwürdigkeit des Embryos festgehalten werden müsse. Es sei allerdings nicht
auszuschließen, dass in Einzelfällen eine
Güterabwägung getroffen werden müsse.
Dagegen vertritt Finke die Auffassung, dass der dem Grundgesetz zugrunde liegende Menschenwürdegedanke davon ausgehe, dass ein Embryo vom Moment seines Entstehens an schützenswert
sei. Der niedersächsische Behindertenbeauftragte wies darauf hin, dass ein abgestufter Schutzstatus des Embryos je
nach Entwicklungsstadium im Gegensatz zu anderen Staaten in der Bundesrepublik nicht vorgesehen sei. Das deutsche Rechtssystem schütze den Embryo
als solchen, betonte auch der Theologe
Prof. Dr. Dietmar Mieth,Tübingen.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, begrüßte die „ergebnisoffene“ Diskussion bei der Anhörung. „Das ethi-
sche Dilemma, Paaren mit hohen genetischen Risikofaktoren neue Perspektiven öffnen zu können, damit zugleich
aber ethische Tabus zu berühren, erfordert eine gesamtgesellschaftliche Wertediskussion auf breiter Grundlage“, so
Hoppe. Er räumte ein, dass ein Patentrezept für diese Fragen nicht in Sicht sei.
Schließlich dürfe man nicht ignorieren,
dass die betroffenen Paare in der Regel
weder bewusst auf Kinder verzichten
noch sich zu einer Adoption entschließen, sondern die PGD in anderen
Staaten in Anspruch nehmen. Wenn die
PGD in Deutschland zugelassen werden
sollte, dann nur, so der Diskussionsentwurf der BÄK, wenn Rechtssicherheit
und ein hohes Schutzniveau über strenge und restriktiv zu fassende Zulassungskriterien erreicht werden können.
Über die rein medizinischen Aspekte
dieses Verfahrens hinaus sei es unverzichtbar, dass der Bundesgesetzgeber
die im Zivil- und Strafrecht notwendigen Regelungen vornehme, forderte der
Gisela Klinkhammer
BÄK-Präsident.
Heft 48, 1. Dezember 2000
Präimplantationsdiagnostik
Unterschiedliche
Schutzwürdigkeit
Auf Wertungswidersprüche weist der Vorsitzende des
Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer hin.
U
nzulässig ist die Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis = PGD) in Portugal,
Österreich und der Schweiz. In den meisten europäischen Ländern ist sie entweder gesetzlich erlaubt, oder entsprechende Gesetzesvorhaben sind in Vorbereitung. In Deutschland ist es umstritten, ob die PGD mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar ist. In einem
Fortpflanzungsmedizingesetz, das demnächst möglicherweise das Embryonenschutzgesetz ablösen wird, soll nach Vorstellung von Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer die Präimplantationsdiagnostik verboten werden.
Nach Ansicht von Prof. Dr. med. KarlFriedrich Sewing, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, verstößt die PGD nicht
gegen das bestehende Embryonenschutzgesetz. Er kritisierte Bestrebungen, die Präimplantationsdiagnostik explizit zu verbieten, obwohl ein eventueller „PGD-Tourismus“ kein Argument dafür sei, diese Methode zu gestatten. Er hält es jedoch generell für
ethisch fragwürdig, Wissen, das im Ausland entwickelt wurde, anschließend in
Deutschland zu nutzen.
Zwar müsse gerade in Deutschland in
Fragen des Lebensschutzes ein hoher
49
D O K U M E N T A T I O N
Heft 51–52, 25. Dezember 2000
Standard gelten, betonte Dr. med. Christiane Woopen, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats, anlässlich der Medica in Düsseldorf vor Journalisten. Einen Wertungswiderspruch sieht sie jedoch in der unterschiedlichen Schutzwürdigkeit des Embryos in vitro und in
vivo. „Ein Gesetzgeber, der nidationsverhütende Maßnahmen nicht verbietet, der Schwangerschaftabbrüche nach
Pränataldiagnostik nicht verbietet, der
die Schwangerschaftsvermeidung durch
die ,Pille danach‘ nicht der Beratungsregelung zum Schutz des ungeborenen Lebens unterwirft, kann die Präimplantationsdiagnostik nicht mit der Begründung
verbieten, es gehe um den Schutz des
Embryos.“ Den Hinweis darauf, dass bei
bestehender Schwangerschaft in vivo
der Embryo unter dem realen Schutz
der Frau stehe, hält Woopen für realitätsfern. So begännen 53,6 Prozent der
Frauen mit einem bekannten hohen Risiko für eine schwere genetisch bedingte
Krankheit oder Behinderung des Kindes eine Schwangerschaft nur im Hinblick auf eine Pränataldiagnostik mit
möglicherweise folgendem Schwangerschaftsabbruch. Auch wenn man so genannte Schwangerschaftsabbrüche auf
Probe als problematisch erachte, müsse
man im Rahmen rechtlicher Regelungsmöglichkeiten das geringere Übel nicht
verbieten, fordert die Medizinethikerin.
Gesellschaftlicher Diskurs
Auch Sewing ist dieser Auffassung.
Wenn der Embryo einen uneingeschränkten Schutz besäße, so sei dieser
auch uneingeschränkt bis zur Geburt zu
beanspruchen. Mit der Begründung einer symbiotischen Situation in vivo
werde dieser Schutz im Sinne einer Güterabwägung beim straffreien Schwangerschaftsabbruch allerdings eingeschränkt.
Sewing und Woopen begrüßten den
gesellschaftlichen Diskurs. „Auf breiter
Ebene sollte deutlich werden, dass es
nicht nur um Detailfragen der Fortpflanzungsmedizin geht. Vielmehr geht
es um Prinzipien übersteigende grundsätzliche Fragen über unsere Haltungen
zu menschlichem Leben in all seiner
Vielfalt und seinen Entwicklungsstufen“, sagte Woopen. Gisela Klinkhammer
50
Präimplantationsdiagnostik
Zunehmendes Lebensrecht
Genetische Untersuchungen am Embryo in vitro
im medizinischen und juristischen Kontext*
Rudolf Neidert
V
or dem Hintergrund biomedizinischer Umbrüche – die „Entschlüsselung“ des menschlichen
Genoms und die Stammzellgewinnung
durch Klonen von Embryonen – spielt
sich in der deutschen Fachöffentlichkeit eine kontroverse Diskussion um
die Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis = PGD)
ab; zum ersten Mal wurde sie durch den
„Lübecker Fall“ im Jahr 1995 in die Öffentlichkeit gebracht. Angestoßen hat
die aktuelle medizinisch-ethisch-juristische Debatte die Bundesärztekammer
(BÄK) im Februar dieses Jahres mit
ihrem Diskussionsentwurf einer PGDMusterrichtlinie (1). Verstärkt wurde
dieser Diskurs durch ein dreitägiges
fortpflanzungsmedizinisches Symposium des Bundesministeriums für Gesundheit Ende Mai in Berlin (2). Auch
die Enquete-Kommission „Recht und
Ethik der modernen Medizin“ des
Deutschen Bundestages hat sich mit
diesem Thema beschäftigt. Die intensive Kontroverse, die sich vor allem im
Deutschen Ärzteblatt zwischen März
und Juli niedergeschlagen hat, zeigt leider noch das Trennende stärker als das
Verbindende; dasselbe gilt für die Vorträge und Diskussionen auf dem Symposium. Dabei gehen die Fronten quer
durch die „Lager“ der Theologen, Ethiker, Ärzte und Juristen (3).
Der vorliegende Aufsatz möchte
deshalb die Diskussion – im Zusammenhang werdenden Lebens in vitro
und in vivo – durch einen empirischen
Zugang zu der Problematik voranbringen, und zwar auf zweifache Weise: indem er zunächst die medizinischen Gegebenheiten der embryonal-fetalen
Entwicklung des Ungeborenen, zum
* Zum Diskussionsentwurf einer Muster-Richtlinie der Bundesärztekammer in Heft 9/2000 und den dazu erschienenen
Beiträgen in den Heften 9, 10, 14, 16–18, 22 und 28–29
anderen die wichtigsten juristischen,
vor allem gesetzlichen Gegebenheiten
herausarbeitet. Im Zentrum seiner Betrachtungen steht dabei das nicht nur
nach dem Grundgesetz oberste Rechtsgut: menschliches Leben – das Leben
des geborenen und das erst „werdende
Leben“ des ungeborenen Menschen.
Medizinische Gegebenheiten
Das genetische Diagnostikverfahren
der PGD (4) umfasst drei Abschnitte:
Erzeugung von bis zu drei Embryonen
mit herkömmlicher In-vitro-Fertilisation (IVF), und zwar meist durch Mikroinjektion (ICSI); die genetische Untersuchung von je einer oder zwei aspirierten Embryonalzellen (nach dem Stadium der Totipotenz); schließlich der
Transfer der nicht geschädigten oder –
und darin liegt der ethische Angelpunkt
– das Absterbenlassen der geschädigten
Embryonen. Insgesamt ein aufwendiges
und die Frau belastendes Verfahren –
was erklärt, dass die Fallzahlen weltweit
auch zehn Jahre nach den ersten Verfahren in engen Grenzen geblieben sind.
Das Gesamtverfahren der PGD
spielt sich meist in den ersten drei Tagen nach Beginn der „künstlichen“ Befruchtung ab, nachdem die Embryonen
das Acht- bis 14-Zell-Stadium erreicht
haben. Die embryonalen Entwicklungen sind keine plötzlichen Schritte, sondern Prozesse: so ist schon die Konzeption eine „Befruchtungskaskade“ mit
14 Schrittfolgen, und die Expression
der Gene des neuen Individuums zeigt
sich erst im Acht-Zell-Stadium. Setzt
man den Beginn embryonalen und
menschlichen Lebens bei der Befruchtung an und definiert man ihn zugleich
genetisch – Vereinigung zweier haploider Chromosomensätze zu einem di-
D O K U M E N T A T I O N
ploiden Genom –, muss man die „Unschärfe“ dieses circa drei Tage währenden Vorgangs konstatieren.
Vorab ein kurzer Blick auf den „Beginn vor dem Beginn“ embryonalen Lebens! Auch die Gameten von Frau und
Mann, Ei- beziehungsweise Samenzelle,
„leben“, aber noch nicht im konstitutiven Sinn eines Individuums; dies tun sie
erst nach der Kernverschmelzung zum
Embryo. Von dem Heranwachsen des
Ungeborenen kann hier nur weniges angedeutet werden: Im Übrigen verweise
ich auf die Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirates der BÄK über
„Pränatale und perinatale Schmerzempfindung“ (5). Unbewusste Schmerzempfindung mit Reaktionen des Ungeborenen beginnt bereits in der frühen Fetalzeit – noch in den ersten zwölf Wochen –
und nimmt kontinuierlich zu. Ab der
22. Woche post conceptionem (p. c.) ist
ein bewusstes Schmerzerlebnis des Fetus
zunehmend wahrscheinlich. Insgesamt
wird die pränatale Schmerzempfindung
als „werdende Funktion“ beschrieben –
also auch hier keine festen Einschnitte.
Ungefähr zur selben Zeit – ab der 20.
bis 22. Woche p. c. – hat der Fetus die so
genannte extrauterine Lebensfähigkeit
erreicht, kann dann also nach einem
Schwangerschaftsabbruch überleben.
Auf diese schockierenden „Spätabbrüche“ hat die Bundesärztekammer
mit der „Erklärung zum Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik“ und mit der gemeinsamen Empfehlung der einschlägigen Fachgesellschaften zur „Frühgeburt an der Grenze
der Lebensfähigkeit“ von 1998 reagiert
(6). Die Erklärung der BÄK empfiehlt
dem Arzt, die extrauterine Lebensfähigkeit in der Regel als zeitliche Begrenzung für einen Abbruch anzusehen, weil
sich zu diesem Zeitpunkt „der Schutzanspruch des ungeborenen Kindes aus
ärztlicher Sicht nicht von demjenigen
des geborenen unterscheidet“. Die
Empfehlung stellt den Grundsatz auf,
lebenserhaltende Maßnahmen seien zu
ergreifen, wenn für das Kind auch nur
eine kleine Chance zum Leben bestehe.
Das Ausmaß, in dem embryonal-fetales Leben „geopfert“ wird, zeigt sich
in folgenden Zahlen (7): 1999 (mindestens) 130 471 legale Abbrüche, davon
97,2 Prozent nach der Beratungsregelung – also ohne Indikation – in den er-
sten zwölf Wochen p. c. (§ 218 a Abs.
StGB). Auf die medizinische Indikation
(§ 218 a Abs. 2) entfielen 3 661 Abbrüche (= 2,8 Prozent), teils vor, teils
nach der 13. Woche (von Woche 13 bis
22 noch 1,4 Prozent; ab Woche 23 – der
Zeit der „Spätabbrüche“ – 0,1 Prozent,
absolut „nur“ 164 Fälle). Die amtliche
Statistik schweigt zu den Abbrüchen
aufgrund pränataldiagnostischer Befunde. Für 1994 werden mehr als 800
solcher Abbrüche aufgrund fetaler Pathologien oder auffälliger genetischer
Befunde angegeben (8) – die meisten
wohl ab der 13. Woche.
Rechtliche Gegebenheiten
Während naturwissenschaftliche Fakten als solche keine moralischen Grenzen aufzeigen, sind gesetzliche Gegebenheiten Normsetzungen – zwar keine ethischen, aber rechtliche. Dabei
zählt nicht nur ein Steinchen des
Rechts, sondern letztlich das ganze Mosaik eines Rechtsgebietes: bei der PGD
nicht nur ein Paragraph des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) oder dieses ganze Gesetz, sondern die Gesamtheit der menschliches Leben regelnden
Normen.
Das ESchG ist ein sehr abstraktes
Strafgesetz, selbst für Juristen schwer
auszulegen (9). Unbestritten strafbar ist
es, für die genetische Diagnostik eine
noch totipotente, das heißt zur Entwicklung des ganzen Individuums fähige
Zelle zu verwenden, da das Gesetz diese einem Embryo gleichstellt (10). Für
das rechtliche Hauptproblem – das
„Verwerfen“ eines genetisch geschädigten Embryos – gilt Folgendes: Nach § 2
Abs. 1 macht sich strafbar, wer einen extrakorporal erzeugten Embryo „zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden
Zweck . . . verwendet“. Ein Verwenden
durch Unterlassen – das Absterbenlassen eines geschädigten Embryos durch
Nichtübertragen – ist jedoch nicht tatbestandsmäßig; § 2 Abs. 1 trifft schon
deshalb nicht zu. Außerdem fehlt es an
dem „Zweck“, das heißt an der Absicht
des Täters, die mehr ist als Vorsatz: es
müsste ihm gerade darauf ankommen,
den Embryo nicht zu erhalten; tatsächlich ist ihm dies jedoch höchst unerwünscht. Man wird dem Paar, das eine
PGD vornehmen lässt, nur gerecht,
wenn man seinen – meist sehnlichsten –
Kinderwunsch moralisch ernst nimmt,
auch sein Bemühen, diesem Kind eine
absehbare schwerste Krankheit zu ersparen. Es kommt auf den Gesamtvorgang „IVF mit PGD“ an, nicht auf unselbstständige Teilakte. Den „Täter“
Arzt würde man sonst, obwohl er aus
ärztlichem Ethos der Krankheitsverhütung Patienten hilft und Mitverantwortung für künftiges Leben übernimmt, mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren bedrohen. „Die Aufgabe des
Strafrechts beschränkt sich auch sonst
darauf, das ethische Minimum festzulegen . . .“ (11).
Das ESchG gilt nur für die wenigsten
Embryonen, die in vitro gezeugten – und
für diese nur von der Befruchtung bis zur
Nidation. In derselben Entwicklungsphase genießen die natürlich gezeugten
Embryonen keinerlei Lebensschutz,
weshalb nidationshemmende Mittel
straflos vertrieben und angewendet werden dürfen. Unter dem Gesichtspunkt
des „Lebensschutzes von Anbeginn“ eine widersprüchliche Rechtslage! (12)
Mit dem Abschluss der Einnistung
des Embryos in der Gebärmutter
(§ 218 a Abs. 1 StGB) beginnt das Recht
des Schwangerschaftsabbruchs. In den
ersten zwölf Wochen p. c. gilt die so genannte Beratungsregelung (§ 218 a
Abs. 1) – praktisch eine „Fristenregelung mit Beratungspflicht“ (13); der abbrechende Arzt handelt ohne Indikation, auf Wunsch der Frau. Hinter deren
Selbstbestimmungsrecht lässt das Gesetz das Lebensrecht des Ungeborenen
zurücktreten, wenn auch unter dem
Verdikt der Rechtswidrigkeit. Fast alle
anderen legalen Abbrüche fallen unter
die medizinische Indikation (§ 218 a
Abs. 2), die den Abbruch für „nicht
rechtswidrig“ erklärt.
Auch der Lebensschutz des Ungeborenen durch die medizinische Indikation ist gering, lässt der Tatbestand des
§ 218 a Abs. 2 doch außer der Gefahr
für das Leben der Schwangeren auch eine solche für deren körperlichen oder
seelischen Gesundheitszustand genügen – das Leben des bereits herangewachsenen Kindes gilt dem Gesetz somit weniger als die Gesundheit der
Frau! Diese Rechtslage erstreckt sich
sogar über den Zeitpunkt der extraute-
51
D O K U M E N T A T I O N
rinen Lebensfähigkeit des Nasciturus
hinaus bis – theoretisch – zur Geburt.
Dann, mit dem Ende der für das Ungeborene so lebensgefährlichen Zeit der
Schwangerschaft, macht die Rechtsordnung gleichsam einen Sprung: „Die
Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt
mit Vollendung der Geburt“ (§ 1 BGB);
und zugleich gewährt das StGB dem
nunmehr geborenen Menschen mit seinen Tötungsparagraphen 211 und 212
vollen Lebensschutz.
Ansätze einer vermittelnden
Lösung
Sowohl die medizinischen als auch die
rechtlichen Gegebenheiten lassen –
trotz gravierender Inkonsequenzen der
Gesetzeslage – in etwa eine gemeinsame Linie erkennen, an der eine an der
Empirie orientierte und von ihr legitimierte Lösung der PGD-Frage ansetzen kann.
Die Embryonal- und Fetalentwicklung zeigt sich als „stufenloses Kontinuum“ (14); signifikante Entwicklungsschritte kann nur die ethische Bewertung des empirischen Substrats
festmachen. Hervorzuheben ist die bewusste Schmerzempfindung; es ist ja
gerade dieser erste Ausdruck einer
leib-seelischen Einheit, woran ethischrechtlich eine erhöhte Schutzbedürftigkeit von Embryo und Fetus anzuknüpfen haben. Schließlich sind es die potenzielle Lebensfähigkeit außerhalb
des mütterlichen Körpers und als Abschluss dieser Entwicklung die Geburt.
Über den Beginn embryonalen Lebens
sollte Konsens herrschen: die Entstehung eines genetisch neuen Individuums mit Verschmelzung von Ei- und
Samenzelle – zwar erst potenzielles Leben als Mensch, aber kontinuierlich
wachsendes Leben, bis dieses sich vollem menschlichen Leben vor der Geburt angenähert und mit dieser vollendet hat (15).
Die vergleichbare Linie des geltenden Rechtes verläuft ebenfalls im Sinne
wachsenden Schutzes, allerdings in groben Stufen: widersprüchlich in der ersten Stufe von der Befruchtung bis zur
Einnistung: verfassungsrechtlich volles
menschliches Leben, einfachgesetzlich
nur im „Ausnahmefall“ (in vitro) ge-
52
schützt. Als zweite, große Stufe folgt
dann die frühe Schwangerschaftszeit
von der Nidation bis zur zwölften Woche: mit dem fragilen Schutz des Embryos durch das Beratungskonzept des
Bundesverfassungsgerichts. Ab der 13.
Woche p. c. (dritte Stufe) schränkt das
Gesetz die Abbruchmöglichkeit auf die
ungleich strengere medizinische Indikation ein.
Mag sich übrigens das Verfassungsgerichtsurteil von 1993 im Sinne von
Menschenwürde und Lebensschutz
noch so kategorisch lesen – letztlich
rechtfertigt es die Beratungslösung – eine „Quasi-Freigabe“ embryonalen Lebens. Dahinter verbirgt sich, dass das
Gericht ungeborenes Leben mitnichten
als absolutes Rechtsgut (wie die Menschenwürde) begreift, das keiner Güterabwägung fähig wäre; vielmehr lässt
es in der Zwölf-Wochen-Frist dessen
fast völlige Verdrängung durch das Entscheidungrecht der Frau zu, setzt bezeichnenderweise aber für die Zeit danach durch die medizinische Indikation
höhere Anforderungen an eine Abwägung zulasten des Nasciturus. Kurzum:
Gesetz und Rechtsprechung anerkennen tatsächlich, wenn auch zum Teil uneingestanden, die Notwendigkeit eines
höheren Rechtsschutzes bei höherem
Alter des Ungeborenen (16).
In den konkreten Vorschriften, die
für ungeborenes Leben gelten, drückt
sich der ethische und rechtliche Status
aus, der im geltenden Recht dem Embryo beziehungsweise Fetus zugebilligt
wird. Wo dieses gesetzliche Recht Widersprüche in sich oder zum Verfassungsrecht aufweist, ist durch Auslegung, erforderlichenfalls durch Gesetzesänderung, Widerspruchsfreiheit herzustellen: orientiert am Prinzip der Einheit unserer Rechtsordnung. In der
Phase zwischen Zeugung und Einnistung lässt sich die Diskrepanz zwischen
dem Schutz des natürlich und des
„künstlich“ gezeugten Embryos nur
zum Teil durch dessen in vitro höhere
Verletzlichkeit erklären – rechtfertigen
lässt sie sich nicht, geht es doch hier wie
dort um dasselbe embryonale Leben.
Der verbleibende Widerspruch zeigt
nur allzu deutlich die im rechtlichen
Kontext schwer zu integrierende
Schutzhöhe künstlich gezeugten Lebens bis zur Nidation. Gemessen an
dem hehren verfassungsgerichtlichen
Prinzip einer Gleichwertigkeit ungeborenen und geborenen Lebens (17),
klafft allerdings die Schere zwischen
dem Lebensschutzpostulat und dem –
trotz Schutzkonzept – schwachen
Schutz durch die Beratungsregelung
(ab der Nidation) empfindlich auseinander. Immerhin soll der Abbruch in
dieser Zeit von der Rechtsordnung missbilligt sein und lediglich straflos bleiben
– anders als der vom Gesetz für „nicht
rechtswidrig“ erklärte Abbruch aus medizinischer Indikation, die nach den ersten zwölf Wochen praktisch allein zum
Tragen kommt.
Mit der extrauterinen Lebensfähigkeit des Nasciturus ist dann der
„Durchbruch“ in der Entwicklung ungeborenen Lebens erreicht, dem höchste Rechtserheblichkeit zukommt. Eine
Erstreckung der Indikation des § 218 a
Abs. 2 – eigentlich einer medizinisch-sozialen – auf diese Endphase des Ungeborenen als eines selbstständig Lebensfähigen verträgt sich schlechterdings
nicht mit dem hier vertretenen und empirisch belegten, auf ein volles
Menschsein hin wachsenden Leben
des Embryos und Fetus. In dieser „vierten Stufe“ müsste deshalb dem Lebensrecht des Ungeborenen vergleichbares
Gewicht wie der Rechtsposition der
Schwangeren beigemessen werden – zu
realisieren nur durch eine Einschränkung des § 218 a Abs. 2 (18). Ohne
einen „zeitlichen Sicherheitsabstand“
zwischen der medizinischen Indikation,
die eine Tötung des Ungeborenen
rechtfertigt, und dem Tötungsverbot
des Strafgesetzbuchs ab der Geburt
würde die innere Akzeptanz eben dieses Verbotes unterhöhlt.
Zusammengefasst bedeutet der
skizzierte Lösungsansatz Folgendes:
grundsätzliches Lebensrecht des Embryos ab der Befruchtung mit Rücksicht
auf seine Möglichkeit, Mensch zu werden (Potenzialität), jedoch zwischen
Zeugung und Geburt ein entwicklungsbedingtes Heranwachsen aus rudimentären Anfängen bis zum sich auf die
Geburt hin vollendenden Rechtsstatus
– ein zwischen den Extrempositionen
vermittelndes Konzept. Selbstverantwortung und -entscheidung der Frau
verdienen umso mehr Berücksichtigung, je früher der Embryo in seiner
D O K U M E N T A T I O N
Entwicklung steht; umgekehrt fordert
das Lebensrecht des heranwachsenden
Fetus umso größere Achtung, je mehr
sich dieser dem geborenen Menschen
annähert. Dies hat gegenläufige Konsequenzen: für die Schlussphase der
Schwangerschaft eine grundsätzliche
Unzulässigkeit der Spätabtreibung lebensfähiger Kinder, für den ersten Abschnitt die Möglichkeit einer Güterabwägung auch zulasten des eben erst gezeugten embryonalen Lebens.
In den ersten Tagen spielt sich ja die
PGD ab; doch welches Gewicht soll das
keimende Lebensrecht der winzigen
Morula in der Petrischale besitzen? Ein
einfacher Umkehrschluss von dem
zweiten, unter der Beratungslösung stehenden Abschnitt – Alleinentscheidung
der Frau erst recht hier! – wäre voreilig.
Gewiss überzeugt die gegen die PGD
vorgetragene These von der Unvergleichbarkeit der Situationen in vitro
und in vivo (19) im Wesentlichen nicht:
denn hier wie dort sieht sich die Frau
mit dem Dilemma konfrontiert, ein
schwerstgeschädigtes Kind austragen
zu sollen – bei einer PGD würde dieser
Konflikt nur „antizipiert“, aber gleichwohl real erlebt. Zudem wäre es ein
rechtlicher Widerspruch, denselben geschädigten Embryo in vitro nicht absterben, in vivo dagegen durchaus abtreiben lassen zu dürfen – ein zu Recht
häufig vorgebrachtes Argument.
Allerdings ist in der Petrischale das
„künstlich gezeugte“ Leben tatsächlich
wesentlich gefährdeter, da seine Abtötung ohne ärztlichen Eingriff im Körper
der Mutter möglich ist. Deshalb sollte
eine rechtliche Regelung dieser Diagnostik von einer engen genetischen Indikation ausgehen, die in einem formellen Verfahren – nach Billigung durch eine Ethikkommission – festzustellen wäre. Dies hat der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer mit seinem
restriktiven und verantwortungsvollen
Diskussionsentwurf vorgeschlagen. Die
an einer PGD Beteiligten würden dann
rechtmäßig handeln.
Eine vom Vorstand der Bundesärztekammer – nach Ablauf der Diskussionsphase – verabschiedete MusterRichtlinie müsste von der jeweiligen
Ärztekammer umgesetzt werden; da
nach hier begründeter Auffassung die
PGD nicht strafbar ist, wäre dies auch
ohne weiteres möglich. Allerdings sollte dieses Verfahren von erheblicher
Grundrechtsrelevanz durch den Gesetzgeber über eine gesetzliche Klarstellung, wenn auch in engen Grenzen,
ausdrücklich erlaubt werden.
Anmerkungen
Mein Dank für Hinweise auf Literatur bzw. zum Manuskript dieses Aufsatzes gilt den Professoren K. Bayertz
(Ethik), H. M. Beier, K. Diedrich und W. Holzgreve (Medizin) sowie F. Hufen und H.-L. Schreiber (Recht).
1. DÄBl v. 3. 3. 2000, S. A-525 ff. Die verantwortliche
Arbeitsgruppe der BÄK stand unter der Federführung
von H. Hepp. Der „Lübecker Fall“ (von K. Diedrich und
E. Schwinger wegen Mukoviszidose-Belastung des
Paares beantragte PGD) fand durch die dortige EthikKommission 1996 ein zwiespältiges Votum (ethisch
ja, nach ESchG nein).
2. Zwei Tagungsbände „Fortpflanzungsmedizin in
Deutschland“ dürften Anfang 2001 bei Nomos, Baden-Baden, erscheinen (Wiss. Red. D. Arndt, Berlin,
und G. Obe, Essen). Kritik an dem Symposium übt H.
M. Beier in: Reproduktionsmedizin 2000/16, S. 332 ff.
3. Die folgenden Kurzbelege sind exemplarisch und notwendigerweise subjektiv: Für die Theologen Rendtorff
eher pro und Mieth eher kontra (R. auf dem Symposium, M. in: Ethik Med, Bd. 11, Suppl. 1); für die Ethiker
Bayertz pro, Graumann kontra (beide auf dem Symposium); für die Naturwissenschaftler Ludwig/Diedrich
pro, Kollek kontra (L./D. in: Gynäkologie 4/98, S. 353 ff.,
K.: Präimplantationsdiagnostik, Tüb. u. Basel, 2000);
für die Juristen Schreiber pro, Laufs kontra (Schr. in:
DÄBl v. 28. 4. 2000, S. A-1135 ff., Laufs im Symposium
und in: Ethik Med 1999/11, S. 55 ff.).
4. Zum Verfahren ausführlich R. Kollek (Fußnote 3, S.
27 ff.), M. Ludwig/B. Schöpper/K. Diedrich in: Reproduktionsmedizin 1999/15, S. 65 ff., und H. M. Beier:
Assistierte Reproduktion, München 1997 („Befruchtungskaskade“, S. 10 f.).– Ende 1999 gab es insgesamt nur 424 nach PGD geborene Kinder aufgrund
von 499 Schwangerschaften bei 1 317 Patientinnen
(Mitteilung Prof. Diedrich).
5. DÄBl v . 21. 11. 1991, S. A-4157 ff.
6. DÄBl v. 20. 11. 1998, S. A-3013 ff. Die Arbeitsgruppe
des Wiss. Beirates der BÄK stand wie diejenige zur
PGD unter der Federführung von H. Hepp. Gemäß
Empfehlung in: Frauenarzt 12/1998, S. 1803 ff. (unter
Mitwirkung u. a. von H. Hepp und W. Holzgreve).
7. Statistisches Bundesamt, Gesundheitswesen, Fachserie 12, Reihe 3 1999 (zur Methodik – Untererfassung – dort 2.3); die Dauer der abgebrochenen
Schwangerschaft ist p. c. berechnet (2.4.).
8. M. Ludwig/K. Diedrich in: Ethik Med 1999/11, Suppl.
1, S. 38 ff. (39): 838 Fälle für 1994.
9. Bei den Juristen gegen Strafbarkeit H.-L. Schreiber
(Mitglied der BÄK-AG) in: DÄBl v. 28. 4. 2000, S. A1135 f., Ch. Rittner in: DÄBl v. 28. 4. 2000, S. A-1130 f.,
R. Ratzel in: DÄBl v. 28. 4. 2000, S.A-1125 f., S. Schneider in: MedR 2000/8, S. 360 ff., B. Tag in: Kämmerer/
Speck, Geschlecht und Moral, Heidelberg 1999, S. 87
ff., R. Neidert in: MedR 1998/8, S. 347 ff., Bericht der
Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz v. 20. 6. 1999,
Teil II Vorbem. und Thesen II. 8 ff., im Ergebnis auch
M. Frommel (Symposium); für Strafbarkeit A. Laufs in:
Ethik Med 1999/11, S. 55 ff., R. Beckmann in: DÄBl
v. 17. 7. 2000, S. A-1959 ff., U. Riedel in: DÄBl v. 10. 3.
2000, S. A-586 f., R. Röger in: Schriftnr. der Juristenv.
Lebensrecht e.V., Nr. 17 (2000), S. 55 ff. – Bei den juristischen Laien gegen Strafbarkeit insb. H. Hepp (im
Anschluss u. a. an Schreiber) in: DÄBl v. 5. 5. 2000, S.
C-930 ff.; für Strafbarkeit R. Kollek (Fußnote 3), Kap. 6
(jedoch zum Teil ohne zureichende juristische Interpretation).
10. § 8 Abs. 1 ESchG. – Ende der Totipotenz nach dem 8Zell-Stadium (H. M. Beier in: Reproduktionsmedizin
1998/14, S. 41 ff. und 2000/16, S. 332 ff.). Im Ausland
punktiert man schon vor dem 8-Zell-Stadium; allerdings ist die Diagnostik auch noch danach möglich.
11. H.-L.Günther im Komm. Zum ESchG von Keller/Günther/Kaiser 1992, Rz. 34 zu § 2.
12. So – über den Gegenstand der Entscheidung (§ 218)
hinaus – das Bundesverfassungsgericht am 28. 5.
1993 (Bd. 88, S. 203 ff., 251 f.) und u. a. A. Laufs
(Fußnote 3).
13. H. Tröndle, Komm. zum StGB, Rz 14 b vor § 218. Mit
seinem Beratungskonzept verfolgt das BVerfG immerhin das Ziel, dem Lebensschutz des Ungeborenen
in der Frühphase der Schwangerschaft durch austragungsorientierte Beratung statt durch Strafdrohung zu dienen (Fußnote 12, S. 264 ff.).
14. Stellungnahme des Wiss. Beirates der BÄK (Fußnote
5), Ziffer 2.
15. So ausdrücklich auch der Ethiker K. Bayertz (Symposium, Fußnote 3), der eine „gradualistische Auffassung“ vertritt: wachsender, graduell abgestufter Status zwischen Befruchtung und Geburt. Dass auf der
leiblich-seelischen Grundlage von Personalität der
Gradualismus auch von einem Moraltheologen vertreten werden kann, zeigt das Beispiel von B. Irrgang,
dargestellt von P. Fonk: Schwangerschaft auf Probe?
. . . in: Ethica 7 (1999), S. 29 ff. und 143 ff. (161 f.).
16. Ansatzweise E. G. Mahrenholz und B. Sommer in ihrer abweichenden Meinung zu BVerfGE 88, S. 203 ff.
(342). Auch das eigentliche Urteil anerkennt, dass
das Lebensrecht nicht absolut gilt (S. 253 f.); sogar in
das „Recht auf Leben“ des (geborenen) Menschen
darf aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden
(Art. 2 Abs. 2 GG). Der in der ethischen Diskussion oft
unkritische Umgang mit der (absoluten) „Würde des
Menschen“ (Art. 1 Abs. 1 GG) verdiente eine gesonderte verfassungsrechtliche Widerlegung.
17. BVerfGE 39 (S. 1 ff., 37 f.) und E 88 (S. 203 ff., 251 f.)
sowie H. Tröndle (Fußnote 13), Rz. 19 vor § 218, mit
weiteren Nachweisen.
18. Eine Änderung fordert auch A. Laufs (Symposium,
Fußnote 3). Mögliche Ansatzpunkte einer Änderung:
Befristung der medizinischen Indikation, übergesetzlicher Notstand. E. G. Mahrenholz und B. Sommer
(Fußnote 16, S. 345) weisen auf das niederländische
StGB hin (Abbruch nur bis zur 24. Woche).
19. Insbesondere R. Kollek (Symposium der Ärztekammer Berlin am 11. 4. 2000, auch Publikation Fußnote
3, S. 210 f.). Überzeugend gegen diese These Chr.
Woopen, Zeitschr. für med. Ethik 1999, S. 233 ff. (mit
einem Überblick über die Vertreter der Nichtvergleichbarkeits-These). Dieselbe Autorin erörtert Argumente zur ethischen Bewertung der PGD und deren Folgen in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik,
Bd. 5, 2000, S. 117 ff. (auch zu Kriterien für ein abgestuftes Schutzkonzept, S. 119).
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 3483–3486 [Heft 51–52]
Anschrift des Verfassers:
Ministerialrat a. D. Dr. jur. Rudolf Neidert
Herrengarten 15
53343 Wachtberg
53
D O K U M E N T A T I O N
Heft 14, 6. April 2001
DISKUSSION
zu dem Beitrag
Zunehmendes
Lebensrecht
von
Ministerialrat a. D. Dr. jur.
Rudolf Neidert
Lebensrecht-Kompromiss
birgt viele Risiken
„Zunehmendes Lebensrecht“ – diese Begriffsprägung setzt den Gedanken vom
„werdenden“ beziehungsweise „wachsenden Leben des Embryos und Fetus“
voraus „auf ein volles Menschenleben
hin“. Nicht notwendigerweise logisch,
das ganze Gedankengebäude jedoch erhellend, wird „die Entstehung eines genetisch neuen Individuums mit Verschmelzung von Ei- und Samenzelle“ mit
dem Terminus „potenzielles Leben als
Mensch“ in Verbindung gebracht. Dieser
nun ist nichts anderes als interessenorientierte und somit gewollte Irreführung: Es
entsteht nach Verschmelzung von Ei und
Samenzelle kein potenzielles, sondern
einsehr reales Leben, ein sehr potentes
dazu, dessen ungeheure Entwicklungsmöglichkeiten und rasantes Entwicklungstempo, dessen Verletzlichkeit aber
auch dem Betrachter nahe legen, dass gerade in den frühesten Entwicklungsphasen dieses Menschen eine besondere
Schutzbedürftigkeit bestehen könnte.
Denn fest steht: So eindeutig wie es kein
potenzielles und kein werdendes Leben
gibt, so eindeutig ist das durch die Verschmelzung der Keimzellen Entstandene
eben Leben und von Anfang an Mensch,
ja ein einmaliges und unverwechselbares
Individuum.
Wie trivial, ethisch-rechtlich eine erhöhte Schutzbedürftigkeit an einer Schmerzempfindung, an einer potenziellen Lebensfähigkeit außerhalb des mütterlichen
Körpers oder an der Geburt festmachen
zu wollen: Schmerzen können provoziert,
aber auch genommen werden; der Zeitpunkt der Überlebensfähigkeit außerhalb
des Mutterleibes verschiebt sich pro Dekade, ja bald von Jahr zu Jahr, weiter vor
zu immer früheren Schwangerschaftsstadien; und nicht erst das Dilemma der
Spätabtreibungen hat aufgezeigt, wie
54
wahrhaft abwegig es ist, das Recht, ein
Menschenleben beenden zu dürfen, auf
die Tatsache der noch nicht erfolgten Geburt zu beziehen, wohingegen Frühgeborene gleicher Behinderung oder Erkrankung volles Lebensrecht zugeschrieben
wird und voller Schutzanspruch.
Wie gern gehen an diesem Punkt die
Gedanken auf die schiefe Bahn. Was
heißt denn auch schon lebensfähig? Wie
lebensfähig ist denn ein Neugeborenes,
gar ein behindertes Neugeborenes? Doch
nur in dem Maße, wie sich Mutter und Vater und gegebenenfalls Ärzte und Schwestern ihm zuwenden beziehungsweise eine Pflegefamilie, eine bestellte Person, eine gesellschaftliche Einrichtung, im weitesten Sinn: die Solidargemeinschaft. Wie
aber ist es um die Solidargemeinschaft
mit Behinderten und Kranken in einer
Gesellschaft bestellt, die Spätabtreibungen rechtlich verankern ließ? Hat uns Peter Singers Gedankengut nicht bereits soweit infiziert, dass die Bereitschaft
wächst, das Lebensrecht Neugeborener
mit Behinderung zur Disposition zu stellen?
Mag der Wunsch nach einer vermittelnden Lösung auch noch so verständlich
sein, ein Kompromiss in Sachen Lebensrecht birgt viele Risiken, wie auch aus
der Formulierung eines zunehmenden
Lebensrechtes ersichtlich wird. Es bedarf
nur des Perspektivwechsels vom späten
zum früheren Lebensstadium hin, und es
wird ein abnehmendes Lebensrecht daraus. Gibt es dann vielleicht auch ein maximales Lebensrecht, etwa zum Zeitpunkt
der vollen Handlungs- und Leistungsfähigkeit, der vollen Gesundheit und des
vollen Wohlbefindens (entsprechend dem
„vollen Menschsein“?), dem mit Rückgang dieser Fähigkeiten und Eigenschaften Abnahme verordnet wird? Die angeblich von Gesetz und Rechtsprechung anerkannte „Notwendigkeit“ eines altersbezogenen abgestuften Rechtsschutzes der
Ungeborenen ist auch nur politisch verordnet.
Dr. med. Gerhard Haasis
Max-Reger-Straße 40
28209 Bremen
Unklare Begriffe,
zweifelhafte Schlüsse
In allem, was Rudolf Neidert über Feten
schreibt, gebe ich ihm gern Recht. Bei seinen Thesen über Zygoten und Embryo-
nen jedoch sehe ich zwei Schwierigkeiten.
Erstens können auch nach mehr als einer Woche noch (ohne dass es dazu eines
menschlichen Eingriffs bedürfte) aus einem Embryo eineiige Zwillinge entstehen. Zumindest so lange haben wir es mit
einem „Dividuum“ zu tun. Was den Zeitraum nach den ersten beiden Wochen post
conceptionem (p. c.) betrifft, so bin ich mir
nicht sicher, ob es einen Begriff von Individualität gibt, der sich auf etwas ohne Zentralnervensystem (ZNS) und ohne persönliche Geschichte anwenden lässt.
Zweitens ist der Ausdruck „unbewusste Schmerzempfindung“ recht dunkel.
„Es tut weh, aber ich merke davon nichts“
ist eine widersprüchliche Auskunft. Der
Hinweis auf „Reaktionen des Ungeborenen“ trägt nicht zur Aufklärung bei. Es
gibt keinen Schmerz ohne Bewusstsein
(von Schmerz), und es gibt kein Bewusstsein ohne ein ZNS oder ein ZNS-Äquivalent. Und Letzteres fehlt im frühen Embryonalstadium nachweislich.
Solange die Begriffe, die wir benutzen,
unklar bleiben, sind die Schlüsse, die wir
aus ihnen ziehen, zweifelhaft.
Andreas Scholtz M. A.
Bredowstraße 18
10551 Berlin
Klärung vor Vermittlung
Die Idee des zunehmenden Lebensschutzes ist zumindest genauso plausibel
wie absurd. Das Paradox wird durch unterschiedliche Perspektiven ausgelöst:
zwar mag die intrauterine Entwicklung eine Tendenz der Zunahme nahe legen, andererseits geschieht jene in einer so engen
zeitlichen Abfolge, dass jegliche Abstufungen genauso unzulässig sein dürften.
Die eine Sichtweise mag eine Unterscheidung bei einem Abstand von wenigen Wochen, ja Tagen sogar für zulässig erklären,
die andere lässt fragen, was dieser Abstand an der Balance zwischen dem Lebensrecht des Kindes und der Selbstverantwortung („Lebensinteressen“) der
Mutter ändern kann. Meine Kritik ist
nicht, dass der Autor nur die eine Perspektive dargestellt hatte. Dass diese jedoch zur „vermittelnden Lösung“ erklärt
wurde, empfinde ich intellektuell als befremdend.
Methodologisch ist zu fragen, ob hier
der Vermittlungsversuch überhaupt begründet sei und nicht eher vor der
D O K U M E N T A T I O N
Klärung der Frage der eventuellen PGD
der gesetzliche Lebensschutz revidiert
werden müsste.Wenn in Berlin jede dritte
Schwangerschaft abgebrochen wird, dann
ist ernsthaft zu fragen, ob das Beratungskonzept seine Aufgabe erfüllt. Sonst setzen wir das gleiche Modell fort: hoher Anspruch in der Theorie und eine verheerende Praxis. Also Klärung vor Vermittlung!
Dr. med. Rafael Mikolajczyk
Friedrichrodaer Straße 121
12249 Berlin
Kaum absehbare
Auswirkungen
Rudolf Neidert will mit seinem Beitrag
die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik „durch einen empirischen Zugang“ voranbringen. Als Lösungsansatz
propagiert er einen „Gleichklang“ zwischen dem kontinuierlichen Heranwachsen des ungeborenen Kindes und dessen
rechtlichem Schutz. Am Anfang der vorgeburtlichen Entwicklung soll das Lebensrecht des Embryos in weitem Umfang zur Disposition stehen. In späteren
Stadien verdiene der Embryo umso
größere Achtung, „je mehr sich dieser
dem geborenen Menschen annähert“.
Dieser Ansatz wirkt auf den ersten Blick
in sich stimmig. Tatsächlich gibt es für diesen „Gleichklang“ biologischer Wachstumsprozesse mit rechtlichen Schutzbestimmungen weder einen rational nachvollziehbaren Grund, noch wird dieses
Prinzip von seinen Verfechtern selbst
ernst genommen.
Der Mensch macht während seines
Lebens eine ausgeprägte Entwicklung
durch. Er wird bekanntlich nicht vom
Klapperstorch gebracht, fällt also nicht
„fertig“ vom Himmel. Er entsteht, wie alle Lebewesen, aus kleinsten Anfängen
heraus, entwickelt sich allmählich und
kontinuierlich zu einer – individuell sehr
unterschiedlichen – „ausgewachsenen“
Form, altert, verliert wieder an Leistungsfähigkeit und stirbt schließlich. Es
ist keineswegs einleuchtend, irgendeiner
Phase dieses Lebens allein aufgrund der
biologischen Entwicklungsstufe größeren rechtlichen Schutz angedeihen zu
lassen als einer anderen. Bei der Suche
nach einer angemessenen rechtlichen
Bewertung der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen lautet die
Grundfrage: Geht es um den Schutzanspruch des menschlichen Lebewesens
als solches oder um die Wertschätzung
bestimmter Bewusstseinszustände und
Fähigkeiten? Schmerzempfinden findet
sich auch bei den Tieren. Soll also der
empfindungslose Embryo rechtlich weniger Schutz genießen als ein ausgewachsener Hund, ein Schwein oder ein Huhn
– wie der australische Bioethiker Peter
Singer meint? In vielen Leistungsbereichen haben Haustiere einen weiten Vorsprung vor ungeborenen – aber auch
neugeborenen – Kindern. Soll es wirklich
darauf ankommen? Dann müsste Kleinkindern noch bis zum Alter von ein bis
zwei Jahren das Lebensrecht abgesprochen werden.
Unsere Rechtsordnung basiert auf der
Unantastbarkeit der Menschenwürde.
Sie ist das Fundament der Verfassung.
Die Würde des Menschen kann aber
nicht mit dem Körperwachstum, der physischen oder der intellektuellen Leistungsfähigkeit anwachsen und gegebenenfalls auch wieder abnehmen. Würde
und (Nutz-)Wert unterscheiden sich
prinzipiell. Deshalb kann aus einzelnen
biologischen Entwicklungen auf dem
Weg zum „fertigen“ Menschen (wann ist
der Mensch „fertig“?) ein unterschiedlicher Grundstatus nicht abgeleitet werden. Gerade das Recht auf Leben, die
Voraussetzung und Basis aller anderen
Grundrechte, kann von der „Nützlichkeit“ oder Leistungsfähigkeit des einzelnen Menschen nicht abhängen. Neidert
nimmt das von ihm postulierte Prinzip
„wachsendes Leben gleich wachsender
Schutz“ selbst nicht wirklich ernst, weil
er es auf den Zeitraum vor der Geburt
beschränkt. Die „Logik des Wachsens“
überschreitet diese Grenze. Die Geburt
ist sicher ein wichtiger Einschnitt im Leben des Menschen, seine biologische
Entwicklung bleibt an diesem Punkt
aber keineswegs stehen. Die Leistungsfähigkeit des Neugeborenen befindet
sich fast auf dem Nullpunkt. Der Säugling ist von der Hilfe und Zuwendung anderer völlig abhängig. Sowohl körperlich
als auch geistig ist er noch meilenweit
vom Entwicklungsstand eines Erwachsenen entfernt. Warum sollte dann das
Recht auf Leben nicht auch nachgeburtlich noch „wachsen“ oder in Alter und
Krankheit sowie im Falle einer Behinderung „abnehmen“? Wer hier nicht konsequent seinen Begründungsansatz für das
Lebensrecht durchhält, setzt sich dem
Verdacht aus, nur ein bestimmtes Ergebnis erzielen zu wollen.
Die von Neidert angeführten Stufen
der menschlichen Entwicklung (Schmerzempfinden, extrauterine Lebensfähigkeit), die er für rechtlich relevant hält,
sind auch für sich genommen nicht geeignet, eine Abstufung des Lebensrechts zu
rechtfertigen.
Ansatz- und begründungslos bezeichnet Neidert die „bewusste Schmerzempfindung“ als „ersten Ausdruck einer leibseelischen Einheit“. Die Seele hat er in der
Schilderung der „medizinischen Gegebenheiten“ nicht erwähnt. Ich bezweifle, dass
die Seele Gegenstand der medizinischen
Wissenschaft ist oder mit den naturwissenschaftlichen Methoden der Medizin beschrieben oder erfasst werden kann. Wenn
Neidert aber von der Existenz einer Seele
ausgeht, warum sollte dann die Schmerzempfindung das erste Erkennungszeichen
dieser Seele sein? Die Seele als geistiges
Sein- und Wirkprinzip (oder wie man sie
auch immer definieren mag) könnte bereits lange vor dem Beginn der Schmerzempfindlichkeit vorhanden sein, zum Beispiel in dem zehn- oder zwölfzelligen
Frühembryo, den Neidert im Rahmen der
PGD zu opfern bereit ist.Wäre es nicht nahe liegend anzunehmen, dass der Embryo
von Anfang an beseelt ist, da er die Fähigkeit zu bewusster Schmerzempfindung
hervorbringt? Die von Neidert behauptete
„Relevanz“ der Schmerzempfindlichkeit
für die Frage der rechtlichen Schutzwürdigkeit entbehrt einer sachlichen Begründung. Eine solche wird auch nicht zu finden sein. Schließlich führt eine beeinträchtigte oder aufgehobene Schmerzempfindlichkeit bei geborenen Menschen auch
nicht zu einer Minderung des Rechts auf
Leben.
Den „Durchbruch“ in der Entwicklung ungeborenen Lebens sieht Neidert
erst mit der extrauterinen Lebensfähigkeit erreicht. Ihr spricht er „höchste
Rechtserheblichkeit“ zu. Die Fähigkeit,
außerhalb des Mutterleibes überleben zu
können, ist aber ebenfalls ungeeignet, die
Schutzwürdigkeit ungeborener Kinder zu
beeinflussen. Je nach der individuellen
Konstitution des ungeborenen Kindes
kann diese Überlebensfähigkeit schon
nach dem fünften Schwangerschaftsmonat gegeben sein. Der Zeitpunkt lässt sich
aber nicht abstrakt für alle Fälle einheitlich bestimmen. Die extrauterine Lebensfähigkeit ist aber kein Wesensmerkmal
des Embryos, sondern hängt von den medizinischen Kenntnissen des behandelnden Arztes und der technischen Aus-
55
D O K U M E N T A T I O N
stattung der Klinik ab. Ein Kind, das auf
der neonatologischen Abteilung eines
deutschen Krankenhauses im sechsten
Schwangerschaftsmonat „überlebensfähig“ ist, wird im gleichen Entwicklungsstadium in einem Land der „Dritten
Welt“ nicht überleben, weil die notwendigen Geräte und Medikamente fehlen.
Das Kind ist aber unabhängig vom Ort
der Geburt dasselbe. Während noch vor
dreißig bis vierzig Jahren viele Kinder
im siebten Schwangerschaftsmonat als
Frühgeborene nicht überlebensfähig waren, wären sie es heute ohne weiteres. Das
kann aber nicht bedeuten, dass heute
Kinder während der Entwicklung im
Mutterleib „schneller“ zu schutzwürdigen Menschen werden als in den 60erJahren. Der Zeitpunkt der extrakorporalen Überlebensfähigkeit sagt etwas über
das ärztliche Können und den Stand der
medizinischen Technik, aber nichts über
die „Menschqualität“ oder die rechtliche
Schutzwürdigkeit eines Lebewesens aus.
Das Kriterium der Lebensfähigkeit wäre
im Übrigen ein Argument für den stärkeren strafrechtlichen Schutz künstlich erzeugter Embryonen durch das Embryonenschutzgesetz, den Neidert als problematisch ansieht. Im Rahmen der In-vitroFertilisation werden schließlich menschliche Embryonen einige Tage außerhalb
des Mutterleibes am Leben erhalten. Sie
müssten somit nach dem Kriterium der
„extrauterinen Lebensfähigkeit“ in diesem frühen Entwicklungsstadium besonderen rechtlichen Schutz genießen. Nach
dem Transfer des Embryos in die Gebärmutter müsste der Schutzstatus wieder
abnehmen, um gegen Ende der Schwangerschaft erneut anzusteigen – ein zwar
tatsächlich aus Rechtsvorschriften ableitbares Auf und Ab des Lebensschutzes,
das allerdings rationaler Logik entbehrt.
Die Abhängigkeit von günstigen Umgebungsbedingungen für das Weiterleben
ändert an der Qualität des Subjekts
nichts und kann daher auch kein Kriterium für den rechtlichen Schutzanspruch
sein. Unterschiedliche Schutzbestimmungen sind daher – wenn überhaupt –
nur mit anderen Argumenten zu begründen.
Fragwürdig ist auch der „empirische Zugang“ Neiderts zu den Rechtsfragen. Die
unterschiedlichen Rechtsfolgen in einzelnen gesetzlichen Regelungen müssen keineswegs Ausdruck eines unterschiedlichen
Grundrechtsstatus hinsichtlich diverser
vorgeburtlicher Entwicklungsstadien des
56
Menschen sein. Vor allem lässt sich aus widersprüchlichen Regelungen im einfachen
Recht kein Schluss auf die grundrechtliche
Schutzwürdigkeit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)
ziehen. Neidert erkennt selbst an, dass dort,
wo Widersprüche zu anderen Gesetzen
oder zum Verfassungsrecht bestehen, „erforderlichenfalls durch Gesetzesänderung“
Widerspruchsfreiheit herzustellen sei. In
welche Richtung die Gesetzesänderungen
gehen müssten, kann sich nicht aus dem
einfachen Recht, sondern nur aus einer
Orientierung am Verfassungsrecht ergeben. Ein abgestuftes Lebensrecht lässt sich
aus der Verfassung nicht begründen. Das
Bundesverfassungsgericht hat vielmehr
entschieden, dass „die von Anfang an im
menschlichen Sein angelegten potenziellen
Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen“. „Liegt die Würde
des Menschseins auch für das ungeborene
Leben im Dasein um seiner selbst willen,
verbieten sich jegliche Differenzierungen
der Schutzverpflichtung mit Blick auf Alter
und Entwicklungsstand dieses Lebens.“
Der menschliche Embryo hat daher auch
im Frühstadium seiner Entwicklung vor der
Nidation Anteil am Schutz der Menschenwürde und des Rechts auf Leben und darf
im Rahmen der PGD nicht zur Disposition
gestellt werden.
Neidert gibt letztlich nur vor, eine
„vermittelnde Lösung“ anzubieten. Der
von ihm favorisierte gradualistische Ansatz endet schlicht in einer Befürwortung
der PGD. Dies stellt keine „mittlere“ Position dar – auch nicht, wenn die PGD nur
unter einschränkenden Bedingungen zugelassen werden soll. Zwischen Leben
und Tod gibt es keine Mitte. Diejenigen
Embryonen, die im Rahmen der PGD
„aussortiert“ werden, bleiben nicht in einem Zwischenstadium hängen, sondern
sterben ab. Das ist dem Verfahren immanent und wird von allen Beteiligten von
vornherein einkalkuliert.
Wenn – wie Neidert es vorschlägt –
„Selbstverantwortung und -entscheidung
der Frau“ umso mehr Berücksichtigung
verdienen, „je früher der Embryo in seiner Entwicklung steht“, dann sind nennenswerte Restriktionen im Umgang mit
Embryonen überhaupt nicht begründbar.
Dann müssen sie nicht nur für das
vermeintliche „Recht auf ein gesundes
Kind“, sondern auch für andere, sicherlich „hochwertige“ Interessen in Forschung und Therapie geopfert werden.
Die Entscheidung über die Zulassung der
Präimplantationsdiagnostik ist daher ei-
ne Grundsatzentscheidung mit kaum absehbaren Auswirkungen für den weiteren
Umgang mit dem menschlichen Leben.
Literatur beim Verfasser
Rainer Beckmann
Richter am Amtsgericht, Mitglied der
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages
„Recht und Ethik der modernen Medizin“
Friedenstraße 3 a, 97318 Kitzingen
Schlusswort
Vier Leserzuschriften, eine eher pro, die
anderen kontra; drei echte Leserbriefe,
ein Gegen-Aufsatz von über fünf Spalten
– was lässt sich darauf „kurz“ antworten?
Nun denn: Ich gäbe eine vermittelnde Lösung nur vor (Mikolajczyk, Beckmann).
Gewiss vermittle ich nicht zwischen Ja
und Nein zur PID, wohl aber zwischen den
Extremen „volles Lebensrecht ab Zeugung“ und „erst ab Geburt“. – Dass Haasis nicht einmal Potenzialität gelten lassen will, entzieht seiner eigenen Position
„Leben von Anbeginn“ den Boden;
PID-Gegner stützen sich sonst gerade
darauf. – Die „Logik des Wachsens“
überschreite die Grenze der Geburt
(Beckmann). Ich begründe das gewachsene Schutzbedürfnis des Fetus mit
Schmerzempfindung und Lebensfähigkeit (etwa 20 Wochen vor der Geburt!)
und fordere ein strengeres Abtreibungsrecht zugunsten reifer Feten. – „Unbewusste Schmerzempfindung“ (dies zu
Scholtz) ist ein sinnvoller Begriff, den der
in Fußnote 14 zitierte Wissenschaftliche
Beirat der BÄK verwendet.
Letztlich geht es mir um Konsequenz
und Ehrlichkeit angesichts unseres (auch
vom BVerfG gebilligten) Abtreibungsrechts. „Menschenwürde“ wird zur Phrase, wenn man sie für Embryonen in vitro
fordert, aber in vivo über 130 000 Abbrüche im Jahr zulässt. Da wünschte ich
mir mehr Einsatz für Leben und Würde
lebensfähiger Feten und gegen die Barbarei der Spätabtreibungen – auch dies ist
meine Konsequenz zunehmenden Lebensrechts!
Dr. jur. Rudolf Neidert
Herrengarten 15
53343 Wachtberg
D O K U M E N T A T I O N
Heft 51–52, 25. Dezember 2000
Präimplantationsdiagnostik
Mirjam Zimmermann
Ruben Zimmermann
Gibt es das Recht auf
ein gesundes Kind?
Eine ethische Anfrage zum „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie
zur Präimplantationsdiagnostik“ der Bundesärztekammer
D
ie Bundesärztekammer (BÄK)
hat in ihrem „Diskussionsentwurf
zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ (Deutsches Ärzteblatt 9/2000) die fächerübergreifende
Tragweite der Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis
= PGD) benannt und zu einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung
mit dem Thema aufgerufen. Zentral ist
dabei folgende Frage: Welche ethische
Bedeutung hat der Wunsch der betroffenen Eltern nach einem (gesunden)
Kind?
Die prinzipielle Schutzbedürftigkeit
des ungeborenen Lebens wird im Vorwort zum Diskussionsentwurf hervorgehoben. Wenn aus diesem Grundsatz
zugleich die zerstörende „Untersuchung von Embryonen im Stadium zellulärer Totipotenz“ und „fremdnützige
Verwendung von Embryonen“ verworfen werden, kann man folgern, dass die
Verfasser auf die Nennung eines zeitlichen Beginns dieser Schutzbedürftigkeit des ungeborenen Lebens verzichten.
Keine subjektive Notlage
Der Embryo ist von Beginn, das heißt
ab dem Zeitpunkt der Fertilisation,
schutzbedürftig im Sinne von Grundgesetz Art. 2 Abs. 2: „Jeder hat das Recht
auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Hier folgt der Wissenschaftliche
Beirat der BÄK der geltenden Gesetzeslage, wie sie etwa im Embryonenschutzgesetz (EschG) § 8 Abs. 1 oder im
Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 28. Mai 1993 zum Schwangerschaftsabbruch festgeschrieben wurde.
Die Verwerfung eines Embryos in vitro,
an dem ein genetischer Defekt diagno-
stiziert wurde, muss demnach als
rechtswidrige Tötung eines menschlichen Lebens betrachtet werden.
Allerdings besteht zum Beispiel
nach Meinung der juristischen Vertreter der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz in ihrem Bericht zur PGD
„das Recht auf Leben nach Artikel 2
Abs. 2 GG nicht uneingeschränkt, sondern unterliegt gesetzlichen Schranken. Es muss gegen andere, verfassungsrechtlich garantierte Rechte, wie
das Persönlichkeitsrecht, die Gesundheit der Mutter und das Elternrecht abgewogen werden“ (Bericht 1999, These
II 4).
Die entscheidende Frage in der Einschätzung der PGD lautet deshalb:
Kann es Gründe geben, die das prinzipielle Lebensrecht des Embryos so relativieren, dass im Falle eines NichtTransfers – das entspräche dem Sterbenlassen des Embryos im Sinne einer
passiven Tötung – von der Strafverfolgung abgesehen werden kann? Kann also analog zur gängigen Rechtspraxis
beim Schwangerschaftsabbruch nach
Pränataldiagnostik die Verwerfung eines erkrankten Embryos in vitro nach
Präimplantationsdiagnostik als „rechtswidrig, aber straffrei“ eingestuft werden?
Bei der Tötung ungeborenen
menschlichen Lebens in vivo – das
heißt der Abtreibung – sieht der Gesetzgeber lediglich wegen einer subjektiven Notlage der Mutter nach
Pflichtberatung von einer Strafe ab.
Im Blick auf den Embryo in vitro besteht diese subjektive Notlage zunächst
nicht, weil er sich in der Hand Dritter
(Biologe/Arzt) befindet. Es wäre also
zu fragen, ob bei schwerer genetischer
Belastung der Eltern der bei einer
Schwangerschaft die Straffreiheit be-
gründende Konflikt als Rechtfertigung
für eine PGD antizipierbar ist. Die
BÄK bejaht dies, wenn es in der Richtlinie heißt: „Ausschlaggebend ist, dass
diese Erkrankung zu einer schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung der künftigen Schwangeren beziehungsweise der Mutter führen könnte.“ (Abs. 2: Indikationsgrundlage)
Dabei wird allerdings außer Acht gelassen, dass im Fall des Schwangerschaftsabbruchs nach Pränataldiagnostik eine Schwangerschaft bereits besteht und ein schon existierendes erkranktes Kind den genannten Konflikt
für die Mutter auslöst. Ärztlicher Rat
und ärztliches Handeln reagieren hierbei auf eine schon bestehende Krankheitssituation.
Anders im Fall der PGD: Hier wird
der mögliche schwere Konflikt erst
durch ärztliches Tun herbeigeführt,
denn durch die assistierte Reproduktion entsteht mit „hohem Risiko“, wie
der Richtlinienentwurf vorschreibt, ein
Kind, durch dessen Schädigung eine
schwerwiegende Beeinträchtigung der
Mutter zu befürchten ist. Ist es mit dem
Ethos ärztlichen Handelns vereinbar,
eine solche Konfliktsituation absichtlich herbeizuführen? Rechtfertigt es die
Notlage der zukünftigen Mutter, eine
Situation künstlich herbeizuführen, die
mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tötung eines menschlichen Embryos zur
Folge hat?
„Lebensinteressen“
In der ethisch-rechtlichen Bewertung
ist jedoch nicht die Gesundheit der
Mutter angesichts eines erkrankten
Kindes mit dem Lebensrecht des Em-
57
D O K U M E N T A T I O N
bryos aufzurechnen (wie beim Schwangerschaftsabbruch), sondern die Frage
heißt, wie Prof. Dr. med. Hermann
Hepp als Vorsitzender des BÄKArbeitskreises erläutert, „ob mit Rücksicht auf die gesundheitlichen und/
oder sozialen Lebensinteressen der
Mutter die Schutzbedürftigkeit (des
kranken Embryos in vitro) einer positiven Güterabwägung unterworfen
werden darf und daraus ein abgestufter Rechtsschutz resultiert.“ (Hepp
2000, 218).
Wenn man also die Rechte der Mutter geltend machen will, dann geht es
um „Lebensinteressen“, sei es die
Angst, „an der Furcht vor einem genetisch bedingt schwerstkranken Kind
gesundheitlich zu zerbrechen“ (Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie,
Vorwort), sei es um die Hoffnung auf
ein gesundes Kind. In jedem Fall wird
die schwere Konfliktsituation gegenwärtig nur antizipiert. Die entscheidende Frage lautet also, ob und in welchem
Maß die Wünsche und Interessen der
Mutter, die sich auf einen zukünftigen
Sachverhalt beziehen, ethische Bedeutung erlangen können. Die Ethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz
versichert, dass der Wunsch eines Paares mit hohen genetischen Risikofaktoren „ein eigenes gesundes Kind zu erhalten, (. . .) sittliche Qualität“ hat
(These III 2 a).
Doch wie hoch ist diese „sittliche
Qualität“? Darf sich der „Kinderwunsch“ ausdrücklich auf „Wunschkinder“, nämlich gesunde eigene Kinder
beschränken? Wenn sich der Wunsch
allgemein auf Kinder beziehen würde,
wäre entweder durch Verzicht auf biologische Elternschaft (Adoption, Besamung) oder durch Inkaufnahme eines
behinderten Kindes die PGD überflüssig. Der Wunsch der Eltern bezieht sich
folglich auf eigene gesunde Kinder, sofern man „gesund“ im Sinne der Abwesenheit der zu befürchtenden genetischen Schädigung definiert.
Hedonismus-Prinzip
In rechtlicher Hinsicht etwa nach Art. 6
Abs. 2 GG sind zwar „Pflege und Erziehung der Kinder (. . .) das natürliche
Recht der Eltern“, allerdings wird da-
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bei die Existenz der Kinder selbstverständlich vorausgesetzt. Können Eltern hingegen auch Rechte auf die Existenz gesunder Kinder geltend machen,
oder kann man diesem Wunsch zumindest hohe sittliche Qualität bescheinigen?
Wer dazu beiträgt, das Leid einer betroffenen Familie (durch Vermeidung
einer Schwangerschaft auf Probe oder
durch Nicht-Transfer eines kranken
Kindes) zu verringern beziehungsweise
das Glück der Eltern durch ein gesundes Kind zu vermehren, ist dem so genannten Hedonismus-Prinzip verpflichtet: Nach dieser Maxime ist es ethisch
geboten, Leid zu verringern und Glück
zu vergrößern. „Der klassische Utilitarist betrachtet eine Handlung als richtig, wenn sie ebenso viel oder mehr Zuwachs an Glück für alle Betroffenen
produziert als jede andere Handlung,
und als falsch, wenn sie das nicht tut“
(Singer 1994, 17).
Präferenz-Utilitarismus
Da sich die ethische Bewertung allerdings zunächst nicht auf eine schon existierende Handlung bezieht, sondern
auf einen Wunsch beziehungsweise ein
bestimmtes Interesse der Eltern, handelt es sich bei dieser Argumentation
um eine Spielart des klassischen Utilitarismus, dem „Präferenz-Utilitarismus“, wie er beispielsweise von Richard Marvin Hare (Oxford) vertreten
wurde. Nach dieser Variante werden
nicht die Handlungen, sondern die
Präferenzen, das heißt die Interessen
und Wünsche, der betroffenen Personen gegeneinander abgewogen. Eine
Handlung wird nach dem Grad der
Übereinstimmung ihrer zu erwartenden Folgen mit den Wünschen der betroffenen Personen bewertet. In dieser
Weise kann dem „Interesse (der Mutter), kein missgebildetes Kind zu haben, das die normale Entwicklung der
übrigen Familie verhindern oder stark
beeinträchtigen kann“ (Hare 1992,
376), hohe sittliche Qualität zugesprochen werden.
Das Hedonismus-Prinzip wird gerade von Vertretern des Präferenz-Utilitarismus mit der Perspektive der „Totalansicht“ (total view) verknüpft: Den
moralischen Wert einer Handlung kann
an nur aus der Gesamtsumme des
Glücks aller Betroffenen eruieren.
Nach Hare und Singer spielt es keine
Rolle, ob die Gesamtsumme des Glücks
durch die Lustvermehrung existierender Wesen oder durch die Vermehrung
lustfähiger Wesen angestrebt wird (Singer 1994, 139).
Wenn es ethisch gerechtfertigt
scheint, mit dem Ziel der Leidverringerung gesunde Embryonen zu produzieren, kranke aber zu verwerfen, dann
findet exakt die Argumentation des
Präferenz-Utilitarismus mit Hedonismus-Prinzip und Totalansicht Anwendung. Denn, so Singer, „für den Präferenz-Utilitarismus ist das dem getöteten Wesen zugefügte Unrecht nur ein
zu beachtender Faktor, und die Präferenz des Opfers könnte manchmal
durch die Präferenzen von anderen
aufgewogen werden“ (Singer 1994,
130). Wenn man die bei Präimplantationsdiagnostik gestellte Problematik als
„Interessenkonflikt“ definiert, bei dem
„Lebensinteressen“ der Mutter und
Lebensinteresse des Embryos abgewogen werden müssen, dann unterstreicht
das die Beobachtung, dass die Argumentation des Präferenz-Utilitarismus
bemüht wird.
Peter Singer und Richard Marvin
Hare befürworten aber nicht nur die selektive Chance des Schwangerschaftsabbruchs, sie sind auch der Auffassung,
dass die Eliminierung von leidenden
Menschen auch nach der Geburt, zum
Beispiel bei behinderten Säuglingen,
möglich sein sollte. „Säuglinge zu töten
kann nicht gleichgesetzt werden mit
dem Töten normaler menschlicher
Wesen oder anderer selbstbewusster
Wesen. (. . .) Das Leben eines Neugeborenen hat für dieses weniger Wert
als das Leben eines Schweins, eines
Hundes oder eines Schimpansen für das
nichtmenschliche Tier“ (Singer 1994,
233.219).
Ethische Dammbrüche
Die Ethik Singers beruht auf Voraussetzungen (wie Speziezismuskritik, reduktionistisches Menschenbild, vgl. dazu
Zimmermann 1996 und 1997), die von
den Verfassern des Diskussionsent-
D O K U M E N T A T I O N
wurfs nicht geteilt werden. Dennoch
sollte es zu denken geben, dass sich
die durch die Argumentation begründete abgestufte Schutzwürdigkeit des Embryos in vitro problemlos auf andere
Bereiche menschlichen Lebens übertragen lässt. In dem Maß, wie man dem
Hedonismus-Prinzip Raum gewährt,
wird man sich bei konsistenter Argumentation kaum gegen ethische
Dammbrüche in anderen Bereichen
wehren können.
Die Argumentation in der medizinischen Praxis läuft auf einer anderen
Ebene: Die Verfechter der PGD wollen
mit hohem Ethos Menschen helfen, und
zwar Menschen, die „an der Furcht vor
einem genetisch bedingt schwerstkranken Kind gesundheitlich zu zerbrechen drohen“ (Bundesärztekammer, Vorwort zum Richtlinienentwurf).
Wenn die Hilfe für die betroffenen
Menschen jedoch darin besteht, ihnen
zu einem „gesunden“ eigenen Kind zu
verhelfen, dient die Erzeugung (und
Verwerfung) der Embryonen letztlich
fremden Zwecken.
Immanuel Kant wollte dieser Verzweckung des menschlichen Lebens einen Riegel vorschieben. Eine Formulierung seines so genannten kategorischen Imperativs in der „Grundlegung
der Metaphysik der Sitten“ lautet:
„Handle so, dass du die Menschheit in
deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als
Zweck, und niemals bloß als Mittel gebrauchst“ (Kant 1991, 79). Der Mensch,
und das gilt auch für das Kind und den
Embryo in jedem Entwicklungsstadium, „existiert als Zweck an sich selbst“.
Ein Embryo kann deshalb nicht zum
Mittel der Furchtbekämpfung seiner
Eltern angesichts ihres Wunsches auf
ein gesundes eigenes Kind eingesetzt
werden.
„Praktische Ethik“
Fazit: Weder die klinische Notwendigkeit noch der Hinweis auf die Praxis in
Nachbarländern können als ethisches
Argument hinreichen (Hepp 2000,
1221). Ebenso wenig kann der Wunsch
der Eltern nach einem gesunden Kind
eine ethische Validität beanspruchen,
die das Lebensrecht anderen menschlichen Lebens außer Kraft setzen könnte. Wenn man anerkennt, dass die
Schutzwürdigkeit des menschlichen
Embryos vom Zeitpunkt der Fertilisation an besteht, dann könnte das
Lebensrecht des Embryos nur dann
einer positiven Güterabwägung mit
den Interessen der Mutter unterworfen werden, wenn der spätere, die
Straffreiheit bei Schwangerschaftsabbruch begründende Konflikt im Analogieschluss bereits bei der PGD antizipiert wird. Eine ethische Argumentation, die dies bejaht, stützt sich
auf utilitaristische Maximen wie Interessenabwägung, Hedonismus-Prinzip
und Totalansicht unter Einbeziehung
noch nicht existierender Wesen. Wem
diese „praktische Ethik“ angemessen
erscheint, der findet darin einen moralischen Rückhalt zur Begründung der
Präimplantationsdiagnostik. Wer jedoch gegenüber dieser Moralphilosophie mit ihren bekannten Konsequenzen (vgl. Peter Singers Euthanasie-Thesen) skeptisch bleibt, sollte die
ethische Argumentation in der Begründung der PGD noch einmal überdenken.
Literatur
1. Hare RM: Das missgebildete Kind. Moralische Dilemmata für Ärzte und Eltern. In: Leist A (Hg.): Um Leben
und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord,
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 3. Aufl. 1992; 374–383
(zuerst: The Abnormal Child: Moral Dilemmas of Doctors and Parents, Dokumentation in Medical Ethics 3,
1974).
2. Hepp H: Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie der
Bundesärztekammer: Präimplantationsdiagnostik –
medizinische, ethische und rechtliche Aspekte, Dt
Ärztebl 2000; 97: A-1213–1221 [Heft 18].
3. Höffe O: Einführung in die utilitaristische Ethik, Tübingen, ²1992.
4. Kant I: Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785),
Stuttgart, 1991.
5. Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz (Hg.): Präimplantationsdiagnostik. Thesen zu den medizinischen, rechtlichen und ethischen Problemstellungen.
Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 20. Juni 1999, Alzey, 1999.
6. Singer P: Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart:
Reclam, 1994 (orig. Cambridge 1993).
7. Zimmermann M, Zimmermann R: Präferenz-Utilitarismus. Zur Neuausgabe der „Praktischen Ethik“ von Peter Singer, Zeitschrift für Evangelische Ethik 40 (1996),
295–307.
8. Zimmermann M: Geburtshilfe als Sterbehilfe? Zur
Behandlungsentscheidung bei schwerstgeschädigten
Neugeborenen und Frühgeborenen, Frankfurt a. M.
u. a., 1997.
9. Zimmermann M, Zimmermann R: Präimplantationsdiagnostik: Chance oder Irrweg?, Zeitschrift für Evangelische Ethik 45 (2001), 47–57.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 3487–3489 [Heft 51–52]
Anschrift der Verfasser:
Dr. theol. Mirjam Zimmermann
Dr. theol. Ruben Zimmermann
Nadlerstraße 17
69226 Nußloch
E-Mail: [email protected]
Heft 8, 23. Februar 2001
Medizinische Ethik
Zu dem Beitrag „Gibt es das Recht auf ein gesundes Kind?“ von Dr. theol. Mirjam Zimmermann und Dr. theol. Ruben Zimmermann in Heft
51–52/2000:
Nichts für Nichtmediziner!
Bei diesem Thema ist eine sachliche
Diskussion geboten. Leider vermitteln
die Autoren dieses Artikels durch ihre
Ausdrucksweise, dass es ihnen weniger
auf eine solide Bewertung der Präim-
plantationsdiagnostik (PGD) – eventuell unter Einbeziehung der Erfahrungen
anderer Länder – als auf eine polemische Debatte ankommt. Bereits die
Überschrift „Recht auf das gesunde
Kind?“ ist einer ernsthaften Debatte in
einer medizinischen Zeitschrift unangemessen. Auch die Autoren wissen
natürlich, dass es bei der PGD nicht um
„Gesundheit“ des Kindes schlechthin
geht, sondern nur um die Vermeidung
von bestimmten Krankheiten, die wir
heute erkennen können (deren Liste
mit der Zeit sicherlich zunehmend länger werden wird). Auch geht es nicht
um „kranke“ Embryonen, sondern um
solche mit früh erkennbaren genetischen Schäden. Polemisch ist auch die
Behauptung, mit der Erlaubnis der
PGD würde einer weitergehenden Eugenik Tür und Tor geöffnet. Jede medizinisch-technische Entwicklung hat ihre
Missbrauchsmöglichkeiten. Gab es
nicht auch ernsthafte Menschen, die vor
den Gefahren der Narkose gewarnt haben?
59
D O K U M E N T A T I O N
Die Ansicht, die PGD missachte ethische Normen unserer Gesellschaft,
missachtet gröblich die Einzelschicksale
betroffener Eltern und Kinder. Wer
kann sich das Recht nehmen, sich über
die Sorgen der Betroffenen hinwegzusetzen. Ich denke, dass in unserer Gesellschaft das Wohl des Einzelnen das
höchste Gut ist. Oder wollen wir tatsächlich wieder eine Unterordnung des
Individualwohls unter den gesellschaftlichen Nutzen? Das hat, gleich unter
welchem Vorzeichen, das freiheitliche
Denken noch nie gefördert.
Beispielhaft zeigt dieser Artikel das Dilemma der Ethik der Naturwissenschaften auf: sie kann nicht selbst Neues erschaffen, sondern kann nur wissenschaftliche Ergebnisse anderer Wissenschaften
bewerten. Die Basis der Bewertung bleibt
oft unklar, so auch in diesem Artikel.Wie
ein Journalist sucht der Ethiker Beispiele
aus der Literatur, die seinen Standpunkt
untermauern, ohne ein Für und Wider
umfassend zu berücksichtigen. Dazu
gehören auch abschreckende Beispiele
von Autoren, die über das jeweilige Ziel
hinaus gedacht haben, wie der in diesem
Artikel zitierte Autor Singer.
Ich plädiere dafür, Fragen der medizinischen Ethik nicht in die Hände von
Nichtmedizinern zu legen. Diejenigen,
die eine Entwicklung vorantreiben, sind
verantwortlich für deren Richtung,
denn nur sie kennen die Möglichkeiten,
die in dieser Entwicklung stecken. Diese Wissenschaftler müssen sich über die
ethischen Auswirkungen ihrer Technik
Gedanken machen. Die Delegation an
Ethiker gleich welcher Herkunft, die
sich mühsam mit der Anwendung solcher Techniken vertraut machen müssen, bedeutet fast immer einen Schritt
zurück. Es bedeutet auch, wichtige
Aspekte der Wissenschaft aus der Hand
zu geben.
Prof. Dr. med. W. Krause, Klinik für Andrologie und
Venerologie, Universitäts-Hautklinik,
Deutschhausstraße 9, 35037 Marburg
Menschenwürde
nicht tangiert
Ich empfehle den Autoren, die Frage
einmal umgestellt zu diskutieren: Gibt
es das Recht des Kindes auf Gesund-
60
heit? Ich denke, die Theologen werden
mit ihrem insinuiertem „HedonismusPrinzip“ Schwierigkeiten bekommen. In
der Tat: Die Deutschen holen in der
Gen-Technik auf. Das ist erfreulich und
auch notwendig, denn Engländer und
Franzosen sind schon weiter. Wir haben
die reelle Chance, die Vererbung
furchtbarer Krankheiten und Missbildungen zu vermeiden. Wenn das gelänge, welch ein Segen und welch ein Triumph für die biomedizinische Forschung!
Die Einsprüche und Bedenken der Moralisten aller Konfessionen können den
wissenschaftlichen Fortschritt allenfalls
verzögern, aber ihn nicht aufhalten. Der
ethische Diskurs ist ein Faktum, er mag
die Forschung begleiten, aber er soll sie
nicht behindern. Die Menschenwürde,
von der stets die Rede ist, wird durch die
Implantationstechnik nicht tangiert,
wenngleich die Wertvorstellungen von
Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent unterschiedlich bleiben werden.
Der Gesetzgeber ist nun aufgefordert,
eindeutige und verbindliche Regeln zu
treffen. Im Gesetz soll sich die vertretbare (nicht die wahre oder falsche)
Bioethik wiederfinden. Schiller im Wallenstein: „Das ganz Gemeine ist’s, das
ewig Gestrige, was immer war und immer wiederkehrt, und morgen gilt, weil’s
heute hat gegolten . . . “
Dr. Alfons Werner Reuke, Sommerhalde 42, 71672
Marbach am Neckar
Eugenische Selektion?
Als Eltern von drei Kindern, darunter
eines mit Down-Syndrom, sehen wir
mit zunehmender Sorge die Entwicklung auf dem Gebiet der Pränataldiagnostik. Unter der Ehrfurcht gebietenden Maske der „Medizinischen Indikation“ kommt die altbekannte Fratze der
eugenischen Selektion zum Vorschein.
Es ist erschreckend, wie gelassen und
routiniert Spätabtreibungen von Feten
mit Trisomie 21 abgewickelt und inzwischen kaum noch hinterfragt werden.
Leider ist es so, dass Frauen oftmals zu
einer Amniozentese gedrängt werden
(mit allen fatalen Konsequenzen),
Frauen, die einem solchen Eingriff anfangs vielleicht unentschlossen oder gar
ablehnend gegenüberstanden („Ich
empfehle Ihnen eine Fruchtwasseruntersuchung.“). Es wird der Anschein erweckt, die Amniozentese sei Bestandteil einer modernen Schwangerschaftsvorsorge (für Frauen ab 35). Etwas
mehr Sorgsamkeit seitens der „beratenden“ Ärzte wäre hier angebracht. Diese
sind mangels eigener Anschauung und
Reflexion vielfach nicht in der Lage, die
liebenswerte Individualität eines Kindes mit Down-Syndrom zu würdigen.
Die Entscheidung zur Spätabtreibung
demonstriert scheinbar Selbstbestimmung, verheißt Befreiung und Ungebundenheit, entlässt die Betroffenen
aber häufig in schwere Krisen, die, auch
wenn man sie aus eigener Kraft überwunden, pharmakologisch gemeistert
oder psychotherapeutisch ausbehandelt
glaubt, doch Narben im Gemüt hinterlassen. Unser Erleben in der Familie
und die Erfahrung vieler Eltern zeigen
ganz klar, dass es durchaus Sinn macht
und tiefe Freude bereitet, teilnehmend
die Entwicklung eines Down-Kindes zu
begleiten, unterstützt durch vielfältige
und hervorragende Fördermöglichkeiten. Das Down-Syndrom lässt sich eben
nicht auf die Auflistung typischer Stigmata reduzieren . . . Kein unbedeutender Lichtblick in einer Welt, die in vielen Bereichen als kalt, abweisend und
hart empfunden wird. Es mag schon
sein, dass ein Mensch mit Down-Syndrom außerstande ist, die Anforderungen unserer Leistungsgesellschaft zu erfüllen. Kann dies aber seine vorgeburtliche Tötung in irgendeiner Weise
rechtfertigen?
Dres. med. Isabel und Christoph Starz, ValentinBecker-Straße 2, 97769 Bad Brückenau
D O K U M E N T A T I O N
Heft 1–2, 8. Januar 2001
Medizinische Ethik
Weiterhin
Diskussionsbedarf
Die deutschen Ärzte sind sich weitgehend einig. Die Gesetze
sollten nicht alles erlauben, was medizinisch möglich ist.
D
ie Niederländer legalisieren die
aktive Sterbehilfe, in Großbritannien ist soeben das therapeutische
Klonen genehmigt worden, in zahlreichen europäischen Staaten ist die
Präimplantationsdiagnostik erlaubt. In
Deutschland sind sich Ärzte und Politiker weitgehend einig: Es soll nicht alles
erlaubt werden, was möglich ist. So will
zum Beispiel Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer die Präimplantationsdiagnostik (preimplantation genetic diagnosis = PGD) unmissverständlich in einem neuen Fortpflanzungsmedizingesetz verbieten. Dies soll das bisher geltende Embryonenschutzgesetz
ablösen. In Gang gesetzt wurde die Diskussion über diese Methode der
vorgeburtlichen Diagnostik durch einen von der Bundesärztekammer vorgelegten, von deren Wissenschaftlichem
Beirat ausgearbeiteten „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“. Nach dem Entwurf kann eine streng auf den Einzelfall
bezogene Indikationsstellung zur PGD
infrage kommen. Das Spektrum möglicher Indikationen ist äußerst eng gefasst und bezieht sich ausschließlich auf
Paare, bei deren Nachkommen nachgewiesenermaßen ein hohes Risiko für eine schwerwiegende, genetisch bedingte
Erkrankung besteht.
Das Bundesgesundheitsministerium
lehnt eine Präimplantationsdiagnostik
dagegen unter anderem deswegen ab,
weil die Gefahr bestehe, dass in der Gesellschaft eine Erwartungshaltung für
gesunde Kinder entstehen könnte und
es Eltern schwer gemacht werde, sich
für ein behindertes Kind zu entscheiden. Auch in der Bundesärztekammer
(BÄK) sei die Meinungsbildung über
die Präimplantationsdiagnostik keineswegs abgeschlossen, betont deren Prä-
sident, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich
Hoppe. Vielmehr habe die BÄK die
Diskussion angeregt, um zu entscheiden, ob und inwieweit die PGD in
Deutschland Anwendung finden soll.
Ein Argument, das für die Anwendung
der PGD angeführt wird, ist, dass sie
Spätabtreibungen verhindern könnte.
Bei festgestellter Behinderung nach
pränataler Diagnostik sind derzeit aufgrund der medizinischen Indikation
Abtreibungen bis zum Ende der
Schwangerschaft möglich. Dazu erklärte Andrea Fischer, dass es zwischen den
beteiligten Ministerien und dem Bundestag Arbeitsgruppen gebe, die sich
mit dieser Problematik beschäftigten.
„Dort wird darüber nachgedacht, dass
Spätabtreibungen nur in bestimmten
Zentren gemacht werden sollen, mit
entsprechender vorheriger Beratung.
Dies soll Spätabtreibungen sehr stark
einschränken.“
Auch zum therapeutischen Klonen,
das durch das Embryonenschutzgesetz
(ESchG) verboten ist, fordert Hoppe eine gesellschaftliche Diskussion. Eine
Lockerung des ESchG hält er für den
falschen Weg. Es müsste vielmehr geklärt werden, ob nicht auch mit körpereigenen erwachsenen Stammzellen
neue Therapien für bisher unheilbare
Krankheiten entwickelt werden könnten. Nach Hoppes Überzeugung wird
das Klonen von Embryonen erhebliche
Auswirkungen auf „unser Verständnis
von Menschenwürde und schützenswertem Leben“ haben. Ministerin Fischer
teilt diese Auffassung: „Wenn wir die
Forschung an embryonalen Stammzellen erlauben, würde dies den Einstieg in
die Produktion überzähliger Embryonen bedeuten. Das ist zurzeit aber nicht
erlaubt, und ich meine auch nicht, dass
wir diesen Weg gehen sollten.“ Sie
räumt aber ebenso wie die CDU-Parteivorsitzende Angela Merkel ein, dass es
eine Grauzone im ESchG gibt: Im Ausland gewonnene embryonale Stammzellen können nach Deutschland importiert werden. „Trotzdem kann sich ein
Land dafür entscheiden, dass es an dieser Erforschung nicht an vorderster
Stelle teilnimmt, die Ergebnisse später
jedoch nutzt“, sagte Merkel.
In den Niederlanden hat Ende November 2000 das Parlament ein Gesetz
beschlossen, wonach aktive Sterbehilfe
unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt sein soll.Auch in Deutschland gibt
es, so Hoppe, eine Bewegung, die auf die
Abschaffung des § 216 des Strafgesetzbuches hinarbeitet, in dem die Tötung
auf Verlangen unter Strafe gestellt ist.
Bundesjustizministerin Herta DäublerGmelin sprach sich strikt gegen solche
Bestrebungen aus. Die BÄK hatte aktiver Euthanasie in ihren Grundsätzen
zur ärztlichen Sterbebegleitung ebenfalls eine deutliche Absage erteilt.
Ärzte sollten Leben erhalten und nicht
Gisela Klinkhammer
töten.
Heft 3, 19. Januar 2001
Embryonenschutz
Englische
Verführung
Das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat neuerdings einen
gewissen Ruf, gegenüber dem Fortschritt in der Biotechnologie besonders
aufgeschlossen zu sein und die tradierte
Ethik, angesichts allerlei hoch gespannter Hoffnungen, infrage zu stellen. Die
Lehre vom Segen der reinen Marktwirtschaft schwappt so vom Wirtschaftsund Finanzteil ins Kulturelle.
Ganz in diesem Sinne erschien dort
am 29. Dezember letzten Jahres ein Artikel „gegen eine Ethik mit Scheuklappen“, in dem Karl-Friedrich Sewing die
Entscheidung des britischen Unterhauses zum so genannten therapeutischen
Klonen verständnisvoll würdigte und
Kritiker aus Deutschland als „verbale
Schnellfeuergewehre“ abtat. Lediglich
61
D O K U M E N T A T I O N
Bundeskanzler Schröder bekam ein
Lob wegen seiner „Ansätze einer differenzierten Betrachtungsweise“.
Sewing spricht sich für Forschung an
embryonalen Stammzellen aus, „überzählige“ Embryonen, die bei der künstlichen Befruchtung anfielen, sollten
eingesetzt werden dürfen. Die traditionellen Verfahren hätten wohl ausgedient, der Aufbruch zu neuen Ufern
sei gerechtfertigt, begründet Sewing.
Wenn im Ausland mit embryonalen
Stammzellen geforscht werde, dürfe
sich die deutsche medizinische Wissenschaft nicht verweigern.
Sewing firmiert in der Frankfurter
Allgemeinen als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, nicht als Privatmann.
Dem würde man selbstverständlich die
Freiheit zubilligen, seine Meinung in
dieser Weise zu artikulieren und gegen (angebliche) ethische Scheuklappen aufzufahren. Für den Vorsitzenden
einer offiziellen Einrichtung der Ärzteschaft gelten andere Spielregeln.
Sewing vertritt Auffassungen, die
vielleicht von interessierten Forschern
geteilt werden, nicht aber von der verfassten Ärzteschaft. Er segelt somit unter falscher Flagge. Er segelt freilich im
Strom des Zeitgeistes, gehört er doch zu
jenen, die angestrengt danach suchen,
Forschung an Embryonen, die bisher
nicht erlaubt und ärztlich umstritten ist,
zu rechtfertigen.
Lockt Sewing mit dem noch relativ
schlichten Hinweis auf das Ausland,
dann der neue Kulturstaatsminister in
des Bundeskanzlers Kabinett mit philosophischen Versuchungen, was nahe
liegt, ist doch Julian Nida-Rümelin Professor für Bioethik: Für ihn (so sein
Artikel im Berliner Tagesspiegel vom
3. Januar) ist das ausschlaggebende Kriterium die Menschenwürde.
So weit, so gut. Doch dann kommt’s.
Die rhetorische Frage, ob das Klonen
eines Embryos die Menschenwürde beschädige, beantwortet er: „Die Antwort
ist für mich: zweifellos nein.“ Denn, so
Nida-Rümelins Rechtfertigung: „Die
Achtung der Menschenwürde ist dort
angebracht, wo die Voraussetzungen
erfüllt sind, dass ein menschliches
Wesen entwürdigt werde, ihm seine Selbstachtung genommen werden
kann. Daher lässt sich das Kriterium
62
der Menschenwürde nicht auf Embryonen ausweiten. Die Selbstachtung eines
Embryonen lässt sich nicht beschädigen.“ Das ist die anspruchsvolle Ver-
brämung des Bioethikers Nida-Rümelin von Sewings schlichtem Utilitarismus. Die Schlittenfahrt hat begonNorbert Jachertz
nen.
Heft 7, 16. Februar 2001
Embryonenschutz
Zu dem Kommentar „Englische Verführung“
von Norbert Jachertz in Heft 3/2001:
Journalistische Schlittenfahrt
Im Deutschen Ärzteblatt hat dessen
Chefredakteur Norbert Jachertz meinen Aufsatz „Warum nicht Embryonen? Gegen eine Ethik mit Scheuklappen“ in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung vom 29. Dezember 2000 „kommentiert“. Die Äußerungen von Jachertz (inhaltlich hat er sich mit dem
Aufsatz überhaupt nicht auseinander
gesetzt) zeigen, dass es in ihm Gott sei
Dank wenigstens einen Menschen in
Deutschland gibt, der auf die schwierigen Fragen der modernen Medizin eine
Antwort weiß. Er wird auch sicherlich
Gleichgesonnene finden, die ihm die
Richtigkeit seiner Denke bestätigen. Im
Namen der von ihm gleichermaßen wie
ich gescholtenen interessierten Forscher (Diese haben der Ärzteschaft seit
Jahrhunderten durch ihre Arbeit ermöglicht, ihre Patienten auf hohem wissenschaftlichem und technischem Niveau erfolgreich zu behandeln.) entschuldige ich mich dafür, dass sie anders
denken als Jachertz. Ob Jachertz wohl
weiß, dass nicht gerade die dümmsten
Ärzte, Naturwissenschaftler, Juristen,
Theologen und Philosophen zurzeit in
den verschiedensten Gremien (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Deutsche Forschungsgemeinschaft, European Science Foundation)
um einen sachgerechten und ethisch
und rechtlich vertretbaren Umgang mit
den modernen medizinischen Problemen ringen? Bei solchen Äußerungen
des Chefredakteurs des Deutschen Ärzteblattes darf sich niemand wundern,
wenn die Diskussion um die brennenden Themen der modernen Medizin auf
hohem sachkundigem und ethischem
Niveau (wenn man von den Äußerungen von Nida-Rümelin einmal absieht,
mit dem Jachertz mich gerne gedanklich zu identifizieren versucht) nicht im
Deutschen Ärzteblatt, sondern (auch
von Ärzten) in den großen Tages- und
Wochenzeitungen geführt wird. Eine
journalistische Schlittenfahrt nach
Jachertzschem Strickmuster schadet der
deutschen Ärzteschaft, nicht aber
demjenigen, den er im Fadenkreuz
seines „Kommentars“ hat.
Prof. Dr. med. Karl-Friedrich Sewing, Vorsitzender
des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer,
Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln
Wer ist die deutsche
Ärzteschaft?
Herr Jachertz greift den Vorsitzenden
des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer, Prof. Dr. Sewing,
wegen seines Aufsatzes in der FAZ
massiv an, indem er die Behauptung
aufstellt – als Chefredakteur des Deutschen Ärzteblattes als solcher gekennzeichnet –, dass Sewings Auffassungen
zwar „von interessierten Forschern“,
aber nicht von der „verfassten Ärzteschaft“ geteilt würden.
Wer ist das? Die gesamte deutsche
Ärzteschaft? Der Deutsche Ärztetag?
Der Präsident/Vizepräsident der Bundesärztekammer? Wann hat eine Abstimmung über das therapeutische Klonen stattgefunden? Das müsste mir
entgangen sein!
Es ehrt die Herren Prof. Hoppe und
Dr. Montgomery, wenn sie für die Beibehaltung des deutschen Embryonenschutzgesetzes plädieren, das therapeutisches Klonen verbietet. Dennoch
handelt es sich dabei nur um ihre persönliche Meinung. Auch dem Chefredakteur des Mitteilungsblattes aller
deutschen Ärztinnen und Ärzte steht
eine solche apodiktische Feststellung
nicht zu. Sie hat eine herabsetzende
Tendenz, die gerade bei einem so sensiblen Thema Herrn Jachertz nicht gut zu
Gesicht steht. Warum nicht den ethischen Diskurs im Deutschen Ärzteblatt
eröffnen, wie zur PID geschehen? Warum nicht ein Leserforum, wo jeder zu
Wort kommt? Es sind im Übrigen
D O K U M E N T A T I O N
längst nicht nur „interessierte (etwa
profitorientierte?) Forscher“, die sich
mutig dafür aussprechen, dass Deutschland nicht bei dem Anspruch verharrt,
eine Insel höchster ethischer Maßstäbe
in Europa bleiben zu wollen und dabei
die Entwicklung eines der aussichtsreichsten therapeutischen Ansätze dieses Jahrtausends zu verpassen.
Prof. Dr. med. Ch. Rittner, Institut für
Rechtsmedizin, Johannes Gutenberg-Universität
Mainz, Am Pulverturm 3, 55131 Mainz
Heft 10, 9. März 2001
Unter falscher Flagge?
Mit scharfen Worten kritisiert Jachertz
die in der FAZ getätigte Meinungsäußerung zur Stammzellenforschung von Sewing, dem Chef des Wissenschaftlichen
Beirats der Bundesärztekammer. Er habe nicht „die Meinung der verfassten
Ärzteschaft“ wiedergegeben und „segele unter falscher Flagge“. Ziel der Forschung mit (pluri-, nicht toti-potenten!)
humanen Stammzellen ist die Entwicklung von Therapien für bisher nicht behandelbare Krankheiten. Dies ist wohl
zunächst ein akzeptables, ja respektables
Ansinnen eines Arztes. Dasselbe gilt für
Konzepte des therapeutischen Klonens,
mit dessen Hilfe klinisch dringend
benötigtes Gewebe, keine Embryonen
hergestellt werden sollen. Ebenfalls eine
Absicht, die ein Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der verfassten
deutschen Ärzteschaft wohl (auch öffentlich) äußern darf, vielleicht sogar
muss (?).
Gegen diese (zukünftigen) Heilmethoden, deren Erforschung unter Verwendung embryonaler Stammzellen in
den USA, in England und Frankreich
auch mittels therapeutischen Klonens
mittlerweile politisch akzeptiert sind,
steht das deutsche Embryonenschutzgesetz. Dieses spricht jeder befruchteten humanen Eizelle, gleich welchen
Stadiums und wo immer sich diese befindet, den vollen Umfang der Menschenwürde zu. Gleichzeitig verschreibt und implantiert die „verfasste
deutsche Ärzteschaft“ Millionen von
Frauen Spiralen zur Kontrazeption, die
nichts anderes tun, als solche „Embryonen“ unter dem Schutz der gesellschaftlichen Akzeptanz zu töten.
Gleichzeitig vollzieht die „verfasste
deutsche Ärzteschaft“ unter dem
Schutz des Gesetzgebers jährlich über
200 000 Abtreibungen an Embryonen
in weitaus fortgeschritteneren Entwicklungsstadien.
Wer segelt hier unter falscher Flagge?
Der Diskurs macht doch unmissverständlich deutlich, dass die Definition
der „Würde des Embryos“ dringend
neu bedacht werden will. Eine abstufende Einschätzung des „moral status
of the embryo“, wie von der Europäischen Kommission definiert, stellt wohl
die einzig intelligente und praktikable
Lösung dar. Ein Umdenken in diese
Richtung scheint dringend geboten und
folgt nicht der „englischen Verführung“, sondern dem Stand der medizinischen Wissenschaft. Auf der Insel
wurde seit langem und sehr sorgfältig
diskutiert, ob auf diese Weise (hoffentlich) verfügbare Behandlungsverfahren
für englische Patienten in Großbritannien entwickelt werden sollen oder ob
man sie importiert beziehungsweise
Kranke im Ausland behandeln lässt.
Prof. Dr. med. Axel Haverich,
Klinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie, MHH,
Carl-Neuberg-Straße 1, 30625 Hannover
Anmerkung (zugleich zu den Briefen von
Sewing und Rittner in Heft 7): Mein
Kommentar „Englische Verführung“ kritisierte,
dass Sewing als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer Auffassungen vertrat, die der Beschlusslage der
verfassten Ärzteschaft nicht entsprechen. Als
Vorsitzender eines offiziellen Gremiums der
Bundesärztekammer hätte sich Sewing an die
Beschlusslage halten oder deutlich machen
müssen, dass er sich als Privatmann äußerte.
Die verfasste Ärzteschaft ist ein eingeführter
Begriff. Gemeint ist in diesem Fall die in
Ärztekammern und in der Arbeitsgemeinschaft der Ärztekammern, nämlich der
Bundesärztekammer, organisierte Ärzteschaft;
sie hat im Deutschen Ärztetag, der Hauptversammlung der Bundesärztekammer, eine
aus demokratischen Wahlen hervorgegangene oberste Repräsentanz. Der Deutsche
Ärztetag hat sich bisher gegen therapeutisches Klonen und Embryonenforschung ausgesprochen.
Norbert Jachertz
Heft 4, 26. Januar 2001
Bioethik
CDU lotet noch
Grenzen aus
Mahnende Stimmen bei einem
Kongress in Berlin
A
ngela Merkel hat eine breite öffentliche Debatte über die ethische
Verantwortung der Wissenschaft und die
Grenzen der Gentechnik gefordert.
Die CDU-Vorsitzende äußerte sich beim
Bioethik-Kongress ihrer Partei im Dezember in Berlin. Er stand unter dem
Motto: „Auch in Zukunft menschenwür-
dig leben – Ethik und Gentechnologie im
21. Jahrhundert“.
Merkel zeigte sich sowohl gegenüber
der Präimplantationsdiagnostik wie gegenüber Gentests skeptisch. Im Fall derartiger Tests müsse der Gesetzgeber verhindern, dass Arbeitgeber und Versicherer
Zugang zu Daten von Kunden oder ihren
Mitarbeitern erhielten.
Der stellvertretende Vorsitzende der
CDU, Jürgen Rüttgers, bezeichnete es als
skandalös, dass derzeit wieder offen gegen
die Geburt behinderter Kinder votiert
werde. Grundüberzeugungen von der
Würde des Menschen und seiner unbedingten Schutzwürdigkeit dürften nicht
zugunsten „postmoderner Beliebigkeit“
Rie
aufgegeben werden.
63
D O K U M E N T A T I O N
Heft 4, 26. Januar 2001
Meinungsaustausch mit dem Bundeskanzler
Kurskorrekturen bei den
Budgets im Gespräch
Ein Treffen zwischen Gerhard Schröder, Jörg-Dietrich Hoppe und
Manfred Richter-Reichhelm war seit längerem eingeplant, der Wechsel
im Bundesgesundheitsministerium angeblich nicht. Nun wird mit
Ulla Schmidt um die Umsetzung ärztlicher Forderungen gerungen.
F
reundlich, inhaltsreich, unvoreingenommen – so beschrieben Prof. Dr.
Jörg-Dietrich Hoppe und Dr. Manfred Richter-Reichhelm übereinstimmend die Atmosphäre beim Meinungsaustausch mit dem Bundeskanzler am
18. Januar. Gerhard Schröder hatte den
Präsidenten der Bundesärztekammer
(BÄK) und den Ersten Vorsitzenden
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV) schon vor einigen Wochen eingeladen. Nun nahmen auch die neue Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt
teil sowie die Parlamentarische Staatssekretärin im BMG, Gudrun SchaichWalch, und der Beauftragte für die Belange der Behinderten, Karl-Hermann
Haack, alle SPD.
Dennoch: „Eine angenehme Atmosphäre reicht nicht. Es müssen Ergebnisse her“, sagte Richter-Reichhelm gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt.
Das habe man auch deutlich gemacht.
Der Kanzler wisse, dass die Ärzteschaft
die Konfrontation nicht suche, aber zu
Aktionen bereit sei. Hoppe ist der Auffassung, dass ein wichtiger Antrieb für
Gespräche wie das gerade geführte der
Wunsch Schröders sei, durch die Lösung der gröbsten Probleme die Gesundheitspolitik aus Wahlkämpfen herauszuhalten.
Für handfeste Ergebnisse reicht ein
einstündiges Gespräch nicht aus, ebenso wenig eine Kanzlerzusage. Um die
Probleme zu beseitigen, die die Ärzteschaft belasten, sind Mehrheiten in den
Parlamenten von Bund und Ländern
erforderlich. Einige Themen wurden jedoch am 18. Januar zumindest problematisiert und mögliche Alternativen
besprochen.
64
So soll geprüft werden, ob die Honorar- und Arzneimittelbudgets durch andere sinnvolle Alternativen ersetzt werden. Richter-Reichhelm sagte, man habe budgetablösende individuelle Richtgrößen für die Arzneimittelversorgung
in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) als Ziel genannt. Was die
Honorarbudgets anbelangt, so wurde
im Kern über Regelleistungsvolumina
gesprochen. Noch für diese Woche sind
dazu weitere Gespräche zwischen Vertretern der Ärzteschaft und dem BMG
angesetzt.
Schröder hat zugesagt, sich dafür einzusetzen, dass noch in dieser Legislaturperiode das Wohnortprinzip eingeführt
wird. Damit wäre die Zahlung der ärztlichen Vergütung nach dem Kassensitz
abgeschafft.
Erörtert wurde weiterhin, welche
Konsequenzen sich für die Ärzte aus
dem Krankenkassenwechsel von immer
mehr Versicherten und aus Steuerungsinstrumenten wie dem Risikostrukturausgleich ergeben. Ebenso war die besondere Situation von Ärztinnen und
Ärzten in den fünf neuen Bundesländern Thema.
Breiten Raum nahm nach den Worten
Hoppes das Gespräch über medizinethische Fragen ein. Schröder ließ in der offiziellen Erklärung des Bundeskanzleramtes unter anderem verbreiten, man
stimme mit der Ärzteschaft überein, dass
nur die ethisch vertretbaren Potenziale
der Gentechnik für die Behandlung von
Krankheiten genutzt werden sollen.
Politische Beobachter glauben dennoch, dass Schröder und Schmidt auf diesem Feld gewisse Lockerungen anstreben (siehe auch „Seite eins“ in diesem
Heft). Dem Präsidenten der Bundesärztekammer zufolge hat Schröder erklärt,
er wolle in Sachen Embryonenforschung
keine Regelung wie in Großbritannien.
Gesetzesinitiativen, die die derzeitige
Rechtslage verändern, sind wohl nicht
geplant, damit auch keine Verschärfungen. Schröder will sich jedoch offenbar
mittelfristig die Option offen halten, Forschung an embryonalen Stammzellen in
einem gewissen Rahmen zu erlauben,
ebenso den eng begrenzten Einsatz der
Präimplantationsdiagnostik. Diese Möglichkeit favorisiert der Wissenschaftliche
Beirat der BÄK; eine Beschlussfassung
des Verbandes der Bundesärztekammer
steht bisher aus. Im Gespräch ist derzeit
im Übrigen ein neuer Ethikrat, der direkt
beim Kanzler angesiedelt würde.
Bei diesen und anderen Fragen wird
in Zukunft neben Schmidt und SchaichWalch der zweite Staatssekretär Dr.
Klaus Theo Schröder ein Wort mitzureden haben (dazu auch „Seite eins“).
Richter-Reichhelm, zugleich KVVorsitzender in Berlin, kennt ihn als
ruhigen, sachlichen Gesprächspartner.
Auch zu Gudrun Schaich-Walch habe
man einen guten Draht. „Sie ist seit langem in diesem Themenfeld sachkundig“, bekräftigt Hoppe. Er sieht eine
Chance darin, dass das Bundesgesundheitsministerium nun in der Hand des
großen Koalitionspartners ist.
Ulla Schmidt auf Schröders Linie
Einfach wird es aber auch in Zukunft
nicht. Denn innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion sind die Meinungen, welche gesundheitspolitischen Reformen
D O K U M E N T A T I O N
die richtigen sind, geteilt. Schröder steht
für einen eher wirtschaftsfreundlichen,
„modernen“ Kurs; er wird sich kaum eine Ministerin ausgesucht haben, die eine völlig andere Linie vertritt. SchaichWalchs Position ist schwer zu bestimmen. Sie hat sich in letzter Zeit zum Beispiel für eine Überprüfung des Leistungskatalogs der GKV ausgesprochen
wie auch für Alternativen zur jetzigen
Budgetpolitik. Ihr jüngster Vorschlag
zielte darauf ab, den Ärzten mehr Zeit
einzuräumen, ein überzogenes Arzneimittel-Jahresbudget auszugleichen. Vieles traf in ihrer Fraktion keinesfalls
auf Zustimmung. Dort stehen Klaus
Kirschner, der Vorsitzende des Bewertungsausschusses für Gesundheit, und
Regina Schmidt-Zabel, die neue gesundheitspolitische Sprecherin, eher für
eine traditionelle Haltung. Und was ist
von Ulla Schmidt zu erwarten? Da sie
keine gesundheitspolitische Erfahrung
besitzt, weiß man über ihre Absichten
noch nicht viel. Schröder hat jedoch im
Gespräch mit Hoppe und RichterReichhelm bekräftigt, dass in der nächsten Legislaturperiode eine Reform der
GKV nach dem Muster der Rentenversicherung ansteht. Für diese Thematik
wäre die neue Ministerin, die als ausgewiesene Rentenexpertin gilt, dann gut
Sabine Rieser
gerüstet.
Heft 4, 26. Januar 2001
Gentechnik
Der Zweck heiligt die Mittel
Das Ziel, Gewebe aus embryonalen Stammzellen zu züchten
und Therapien zu entwickeln, lässt ethische Bedenken in den Hintergrund treten.
D
ie Karten in der Gesundheitspolitik werden neu gemischt. Das
betrifft auch die Gentechnik. Die
Parlamentarische Staatssekretärin im
Bundesgesundheitsministerium, Gudrun Schaich-Walch (SPD), kündigte bereits an, dass es keine übereilten gesetzlichen Neuregelungen geben werde,
damit wohl auch kein neues Fortpflanzungsmedizingesetz in dieser Legislaturperiode. Bisher hatte Ex-Gesundheitsministerin Andrea Fischer als
„Bremse“ in Sachen Gentechnik gegolten. Ihr Eckpunktepapier sah vor,
Präimplantationsdiagnostik und das
Klonen von menschlichen Embryonen
zu verbieten. Wenn es nun bei dem aus
dem Jahr 1990 stammenden Embryonenschutzgesetz bleibt, wird auch der
Import und damit die Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland
erlaubt bleiben.
Diskussion im EU-Parlament
„Das erste geklonte Baby wird früher
zur Welt kommen, als dem ersten Parkinson-Patienten durch embryonale
Stammzellen wirksam geholfen wird“,
meint Dr. med. Peter Liese (CDU),
Mitglied des Europäischen Parlaments,
angesichts dieser Entwicklung. „Wir
müssen die Chancen der Gentechnik
nutzen, aber die Menschenwürde muss
das oberste Prinzip sein.“ Am 16. Januar hat im Europäischen Parlament der
Ausschuss „Humangenetik und die anderen neuen Technologien in der modernen Medizin“ seine Arbeit aufgenommen. 36 Mitglieder aus allen politischen Fraktionen werden sich ein Jahr
lang mit den Möglichkeiten und Gefahren der DNA-Analyse, der Präimplantationsdiagnostik sowie mit den Fragen
des Klonens von menschlichen Embryonen und der Patentierung von biotechnologischen Erfindungen beschäftigen.
Das Europäische Parlament lehnt
das Klonen von Menschen grundsätzlich ab. Liese befürchtet dennoch bald
einen Dammbruch in Europa. Der
Grund: Die britische Regierung will
das Herstellen von menschlichen
Embryonen durch die gleiche Methode
erlauben, die zum geklonten Schaf
Dolly führte. Am 20. Dezember 2000
hat sie dafür die Unterstützung des
Unterhauses (jedoch nicht des Oberhauses) bekommen. Die Methode sei
notwendig, um Patienten mit Erkrankungen wie Parkinson oder Diabetes
zu helfen, argumentieren die Befürworter des therapeutischen Klonens.
Indes hofft Liese auf den entschiede-
nen Widerstand von Staats- und Regierungschefs gegen die britische Initiative.
Geklontes Baby ist nicht weit
Wenn einmal das Ziel, dem Menschen
zu helfen, über den ethischen Bedenken
stünde, sei das Klonen nicht mehr aufzuhalten, meinen Kritiker. Ein Beispiel
dafür ist Baby Adam in den USA.Adam
wurde durch Präimplantationsdiagnostik und In-vitro-Fertilisation so selektiert, dass er seiner an Leukämie erkrankten Schwester als Zellspender dienen konnte.
Für die Hoffnung auf Hilfe dürfe
nicht der Embryonenschutz geopfert
werden: „Es ist viel einfacher, geklonte
menschliche Embryonen in den Uterus
einzupflanzen, als aus menschlichen
embryonalen Stammzellen wirksame
Therapien zu entwickeln“, gibt Liese zu
bedenken. Trotzdem gebe es Alternativen. Für aussichtsreich hält Liese die
Forschung an adulten Stammzellen.
Diese könnten beispielsweise aus der
Nabelschnur gewonnen werden, wogegen sonst der Embryo zerstört würde.
Große deutsche Pharma-Unternehmen
investieren bereits in die adulte StammDr. med. Eva A. Richter
zellforschung.
65
D O K U M E N T A T I O N
Heft 4, 26. Januar 2001
Z
unächst sah es so aus, als bahne sich
in der Regierungskoalition bei der
Einstellung zu medizinethischen
Fragen ein Kurswechsel an. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte Ende
letzten Jahres vor „ideologischen
Scheuklappen“ bei Fragen der Gentechnik gewarnt. Julian Nida-Rümelin
hatte noch vor seinem Amtsantritt als
neuer Kulturstaatsminister Embryonen
eine Menschenwürde abgesprochen.
Die neue Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Gudrun Schaich-Walch (SPD),
grenzte sich von der Linie der bisherigen Gesundheitsministerin Andrea Fischer ab. Schaich-Walch hält es nämlich
nicht für erforderlich, noch in dieser Legislaturperiode ein Fortpflanzungsmedizingesetz zu verabschieden. Darin
wollte Fischer die Präimplantationsdia-
Medizinethik
Irritationen
gnostik unmissverständlich verbieten.
Das therapeutische Klonen ist zwar
nicht erlaubt, eine Lücke im Gesetz ermöglicht jedoch das Forschen mit embryonalen Stammzellen aus dem Ausland.
Die Äußerungen der Politiker
stießen allerdings sogar in den eigenen
Reihen auf Protest. So bezeichnete der
Parlamentarische Geschäftsführer der
SPD, Wilhelm Schmidt, die Ankündigungen Schaich-Walchs als „verfrüht“.
Auch die Bündnisgrünen sind irritiert:
Darüber müsse in der Koalition zunächst geredet werden, teilten sie mit.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, registrierte, dass der Bundeskanzler
die wirtschaftlichen und therapeutischen Aspekte offensichtlich gegenüber
dem Lebensschutz stärker gewichte als
Andrea Fischer.
Möglicherweise überrascht von diesen Reaktionen, bekräftigte Schröder inzwischen, dass „Deutschland auf die Forschung mit adulten Stammzellen setzt“.
Bundesjustizministerin Herta DäublerGmelin (SPD) betonte ebenfalls, dass es
keinen Kurswechsel geben werde. Sie
warnte davor, dass Gentests bei Embryonen zu einer „Selektion von Menschen“
führen könnten. Es bleibt allerdings zu
bezweifeln, ob die Bundesregierung nicht
letztlich doch die Gentechnik vorwiegend unter ökonomischen GesichtspunkGisela Klinkhammer
ten bewerten wird.
Heft 7, 16. Februar 2001
O
bwohl eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes vorerst in
die Ferne gerückt ist, bleibt die
Fortpflanzungsmedizin ein brisantes
Thema. Besonderer Streitpunkt: die
Präimplantationsdiagnostik (PID). Das
Positionspapier von Ex-Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer, das unter anderem das Verbot der PID vorgesehen hatte, ist inzwischen in einer
Schublade des BMG verschwunden.
Konkrete Vorstellungen, in welchen
Punkten das Embryonenschutzgesetz
geändert werden sollte, liegen jedoch
auch von anderen Seiten vor.
Bei einer Podiumsdiskussion der
Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft, der Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie und der KaiserinFriedrich-Stiftung tauschten sich Ende
Januar in Berlin Ärzte, Ethiker, Naturwissenschaftler, Juristen und Politiker
über aktuelle Entwicklungen und Kontroversen innerhalb der Fortpflanzungsmedizin aus. Prof. Dr. med. Heribert Kentenich, Chefarzt der Frauenklinik der DRK-Kliniken Westend,
Berlin, stellte sein Konzept zur Änderung des Embryonenschutzgesetzes
vor, das großen Zuspruch fand.
Kentenich plädierte für eine „limitierte, jedoch positive Regelung der
PID in Deutschland“. Die Information
und Beratung der Paare müsse verbes-
66
Fortpflanzungsmedizin
Die Gewichteverschieben sich
Ob die Präimplantationsdiagnostik in Deutschland
zugelassen werden soll, ist weiterhin umstritten. Die
Zahl der Befürworter nimmt jedoch zu.
sert werden, um es ihnen zu ermöglichen, sowohl den Weg der PID als auch
den „normalen“ Weg zu einer Schwangerschaft zu gehen, sagte der Gynäkologe. Im Fortpflanzungsmedizingesetz
müsse es hierfür eine klare gesetzliche
Regelung geben. Die Grenzen, die das
Embryonenschutzgesetz derzeit setzt,
hält Kentenich für „unzeitgemäß und
an die Konfliktsituation nicht konkret
genug adaptiert“. Die spezifische Geschichte Deutschlands dürfe nicht dazu
führen, dass die Reproduktionsmedizin
generell in Deutschland einer sehr restriktiven Regelung unterworfen werde. Paare würden im Zweifelsfalle die
PID im Ausland vornehmen lassen oder
eine „Schwangerschaft auf Probe“ eingehen.
„Die PID kann nicht unabhängig von
der Pränataldiagnostik diskutiert werden“, betonte der Präsident der Bun-
desärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med.
Jörg-Dietrich Hoppe. Die momentane
„Unlogik im Schutz des Lebens“ hätte
er auch beim Kanzlergespräch Anfang
Januar dargestellt und auf den dringenden Regelungsbedarf hingewiesen. Die
Meinung innerhalb der BÄK zur PID
sei heterogen, aber würde prinzipiell dem
im Frühjahr 2000 vorgelegten Diskussionsentwurf entsprechen, so Hoppe.
„Vor dem Hintergrund der „Schwangerschaft auf Probe“ müsste die PID erlaubt sein“, meinte Dr. med. Christiane
Woopen, Institut für Geschichte und
Ethik in der Medizin der Universität
Köln, Mitglied des Wissenschaftlichen
Beirats der BÄK. In dessen Arbeitsgruppe „Präimplantationsdiagnostik“
sei über mögliche Änderungen des Entwurfs gesprochen worden, berichtete
sie. So müsse der Screeningeffekt bei
der PID noch deutlicher ausgeschlossen
D O K U M E N T A T I O N
Heft 8, 23. Februar 2001
und die psychosoziale Beratung verstärkt werden.
Dass der Forderung nach einer humangenetischen Beratung vor einer PID
im Diskussionsentwurf der BÄK nicht
genügend Rechnung getragen werde,
monierte Prof. Dr. rer. nat. Karl Sperling,
Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik. Im Übrigen
vertrete seine Fachgesellschaft die Ansicht, dass die PID grundsätzlich allen
Frauen zur Verfügung stehen sollte, die
ein erhöhtes genetisches Risiko für eine
schwerwiegende kindliche Erkrankung
tragen. Die PID sei eine Möglichkeit
der vorgeburtlichen Diagnostik, die
Schwangerschaftsabbrüche und die damit verbundene Belastung der Betroffenen vermeiden könne. „Eine PID darf
jedoch nur unter Einhaltung strikter
Richtlinien erfolgen“, betonte Sperling.
Prof. Dr. jur. Friedhelm Hufen, Lehrstuhl für öffentliches Recht der Universität Mainz, plädierte nicht nur für die
Zulassung der PID. Er ging sogar noch
weiter: „Da die Pränataldiagnostik zur
Nachgefragt
DÄ: Die Bundesregierung will
eine Überarbeitung des Embryonenschutzgesetzes vorerst
auf Eis legen. Halten Sie eine
Novellierung zurzeit für nötig?
Ulrike Flach: Das wäre nur
die zweitbeste Lösung. Besser
wäre ein neues Fortpflanzungsmedizingesetz, das diesen Bereich umfassend regelt.
Die Forschung und die medizinischen Anwendungsmöglichkeiten rasen voran, das Recht
humpelt hinterher. Eine Verschiebungsstrategie ist grundfalsch. Die FDP meint, dass
wir noch in dieser Legislaturperiode entweder ein Fortpflanzungsmedizingesetz oder eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes brauchen.
DÄ: In welchen Punkten würden Sie das Embryonenschutzgesetz ändern?
Ulrike Flach: Wir wollen eine
offene, fraktionsübergreifende
Diskussion zur Schaffung von
rechtlichen Rahmenbedingungen für die Präimplantationsdiagnostik (PID). Dieses
Verfahren ist ja nach Meinung
Verfügung steht, ist ein absolutes Verbot der PID unangemessen.“ Aus verfassungsrechtlicher Sicht bedürfe nicht
die Zulassung, sondern das Verbot der
PID einer Rechtfertigung.
Auch andere Änderungen des Embryonenschutzgesetzes, für die sich Kentenich in der Berliner Veranstaltung einsetzte, wären nach Ansicht Hufens verfassungsrechtlich in vollem Umfang
möglich. Kentenich forderte unter anderem die Zulassung der Eizellspende.
Es sei ein „Skandal“, dass die Eizellgewinnung in Deutschland schwieriger sei
als die Samenzellgewinnung und sich
ein Arzt potenziell strafbar mache,
wenn er die Adresse eines Behandlungszentrums im Ausland weitergebe.
Für die Samenzellspende forderte Kentenich klare gesetzliche Regelungen.
Ferner sprach er sich dafür aus, die Forschung an Embryonen und ihre Selektion unter strengen Limits zu erlauben.
Gegner der PID waren bei der Podiumsdiskussion in Berlin nicht anweDr. med. Eva A. Richter
send.
anerkannter Rechtsexperten
prinzipiell im Embryonenschutzgesetz schon vorgesehen. Die PID könnte bei Invitro-Fertilisation generell anwendbar sein, müsste aber in
der Entscheidungsgewalt der
Eltern bleiben. Gleichzeitig
müssten natürlich Missbrauchschranken eingebaut werden.
Die PID muss auf die Verhinderung genetischer Erkrankungen dort beschränkt werden,
wo die Eltern das Risiko sehen
und begründen können.
DÄ: Gibt es für Sie Tabus?
Ulrike Flach: Natürlich! Tabu ist beispielsweise die
Züchtung von Menschen. Tabu sind auch alle Manipulationen, die darauf zielen, Kinder nach Wunsch mit blauen
oder grünen Augen, blonden
oder schwarzen Haaren zu
schaffen. Außerdem müssen
wir uns immer fragen: Rechtfertigt das Ziel den Eingriff?
Die Erfüllung des Kinderwunsches für Eltern mit hohen genetischen Risiken rechtfertigt
ihn, nicht aber die Züchtung von Zwitterwesen aus
Mensch und Tier. Wir werden
aber noch oft vor einem Abwägungskonflikt stehen.
DÄ: Unter welchen Bedingungen würden Sie die PID
erlauben?
Ulrike Flach: Die Bundesärztekammer hat einen Entwurf
vorgelegt, den ich als Grundlage für geeignet halte. Darin
sind klare Zulassungsbedingungen und berufsrechtliche
Voraussetzungen enthalten.
DÄ: Ist die PID nicht der erste
Schritt zum „Designer-Baby“?
Ulrike Flach: PID ist eine
Methode für einen sehr eingeschränkten Kreis von Eltern.
Wenn keine medizinischen
Gründe vorliegen, sondern
einfach das „Wunschkind“
geschaffen werden soll, würde ich keine Zustimmung zur
Anwendung geben. Freilich:
Die technischen Möglichkeiten für das „Designer-Baby“
gibt es. Die Gesellschaft muss
sich darüber einigen, welche
Werteorientierung gelten soll.
PID ist ja nur ein Werkzeug; es
kommt darauf an, zu welchem
Zweck es verwendet wird.
Die Fragen stellte Dr. med. Eva A. Richter
Medizinische Ethik
Auf
Schlingerkurs
Wohin die Bundesregierung
bei der Gentechnik steuert,
bleibt unklar.
E
in möglicher Kurswechsel der Bundesregierung in der Gentechnik
zeichnet sich bereits seit längerem ab.
In einer Antwort auf eine kleine Anfrage
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die
letzte Woche vorgelegt wurde, bezieht die
Regierung Stellung unter anderem zu
den Themen Fortpflanzungsmedizingesetz und geplante Einrichtung eines nationalen Ethikrates. Klare Aussagen lässt
die Koalition jedoch vermissen.
Die damalige Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer wollte noch in dieser Legislaturperiode ein Fortpflanzungsmedizingesetz verabschieden, in dem unter anderem die Präimplantationsdiagnostik eindeutig verboten werden sollte. Um
möglichst schnell zu klaren Positionen zu
kommen, hatte das Bundesgesundheitsministerium im letzten Jahr ein hochkarätiges Symposium veranstaltet. Doch
Fischers Bestrebungen finden zurzeit offenbar keine Fortsetzung.
Ausweichend fällt jedenfalls die Stellungnahme zu einem künftigen Fortpflanzungsmedizingesetz aus. Die Bundesregierung: Auf dem Symposium sei
der „derzeitige Meinungsstand der medizinischen Wissenschaft und Praxis, der
Forschung, Ethik, Rechtswissenschaft
und Sozialwissenschaft von den unterschiedlichen Standpunkten aus dargestellt und kontrovers diskutiert“ worden.
Vor der Entscheidung über gesetzliche
Regelungen sollte nach Auffassung der
Bundesregierung die Debatte im Bundestag intensiv fortgesetzt werden. Und
bei dem von Andrea Fischer vorgelegten
Eckpunktepapier, in dem sie ihre Vorstellungen dargelegt hatte, habe es sich nicht
„um ein innerhalb der Bundesregierung
abgestimmtes Konzept für ein mögliches
Fortpflanzungsmedizingesetz gehandelt,
sondern um ein Positionspapier, das die
67
D O K U M E N T A T I O N
Meinung der damaligen Bundesministerin für Gesundheit wiedergab“.
Andrea Fischers strikte Auffassung
werde jetzt nicht mehr geteilt, sagte der
Präsident der Bundesärztekammer
(BÄK), Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich
Hoppe, der Katholischen NachrichtenAgentur. Hoppe glaubt indessen nicht
an einen generellen Kurswechsel der
Bundesregierung in der Biomedizin. So
haben sich beispielsweise Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin und
Bundesforschungsministerin Edelgard
Bulmahn deutlich gegen das Klonen von
Embryonen zu Forschungszwecken ausgesprochen. Bundeskanzler Gerhard
Schröder und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt seien jedoch möglicherweise bereit, die Präimplantationsdiagnostik in sehr eng gefassten Grenzen
zu gestatten, so der BÄK-Präsident.
Ob bereits wenige Tage alten Embryonen eine Menschenwürde zugesprochen
werden kann, lässt die Bundesregierung
ebenfalls offen. Sie distanziert sich jedenfalls nicht ausdrücklich von Äußerungen
des Kulturstaatsministers Julian NidaRümelin (SPD), der die Auffassung vertritt, dass sich „das Kriterium Menschenwürde nicht auf Embryonen ausweiten“
lässt. „Ethische Argumente sind keine
rechtlichen Argumente“, heißt es dazu in
der Stellungnahme der Bundesregierung.
In der internationalen Philosophie würden Begriffe wie zum Beispiel der der
Menschenwürde gelegentlich anders verwendet als im verbindlichen deutschen
Verfassungsrecht. Die Bundesregierung
sehe sich in ihrem Handeln auch künftig
verfassungsrechtlich verpflichtet, die
Würde des Menschen, wie sie in der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ihren Ausdruck gefunden hat, zu
achten und zu schützen.
Auch zur Zulässigkeit von Gentests
und ihrer Verwertung wurde die Bundesregierung befragt. Sie sieht „für die
Verwertung von aus genetischen Tests
gewonnenen Erkenntnissen beim Zugang zu Sozialversicherungen keinen
Raum“. Die Bundesregierung bewertet
es positiv, dass „in der privaten Kranken-, Unfall- und Lebensversicherung
Gentests gegenwärtig nicht als Voraussetzung für den Abschluss von Versicherungsverträgen verlangt werden“.
Darauf hätte sich die deutsche Versicherungswirtschaft verständigt.
68
Diese Äußerung stieß auf Kritik bei
den Bundestagsabgeordneten Hubert
Hüppe und Annette Widmann-Mauz
(beide CDU). Sie erklären, dass die
Bundesregierung offenbar ungerührt
scheine von den Sorgen der Bürger, die
mit Recht eine verlässlichere Grundlage
erwarteten als Absprachen unter Wirtschaftsunternehmen. Nicht nur bei Oppositionspolitikern, sondern auch in
den eigenen Reihen stieß die Ankündigung Schröders, einen nationalen Ethikrat einzurichten, auf Kritik. Dieser solle, so die Bundesregierung, „die verschiedenen gesellschaftlichen Positio-
nen widerspiegeln“. Während Ulla
Schmidt die Einrichtung eines Ethikrates begrüßt, hält Monika Knoche
(Bündnis 90/Die Grünen) ihn nicht
für erforderlich. Ethikräte hätten keine
Definitionshoheit darüber, was das
ethisch Verantwortbare sei. Außerdem
gebe es bereits einen bei dem Bundesgesundheitministerium zugeordneten Ethikbeirat sowie die vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“. Doch offensichtlich, so Hüppe und
Widmann-Mauz, „passt deren Arbeit
Gisela Klinkhammer
Schröder nicht“.
Heft 10, 9. März 2001
Biomedizin
Kein „Hirtenwort“, sondern
Diskussionsanstoß
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat ein
Thesenpapier zur Bioethik vorgelegt.
D
as Zentralkomitee der deutschen
Katholiken (ZdK) will die Überarbeitung des Embryonenschutzgesetzes oder die Erarbeitung eines
neuen Fortpflanzungsmedizingesetzes
begleiten – und zwar ohne ideologische
Scheuklappen. Dabei hält die katholische Laienorganisation prinzipiell an
ihren Positionen fest, wünscht sich jedoch eine breite gesellschaftliche Debatte. Unter dem hohen Tempo des biomedizinischen Erkenntnisgewinns sowie dem Druck auf die Politiker, die
strengen deutschen Standards im Embryonenschutz zu „nivellieren“, gerate
der ethische Diskurs zunehmend in die
Defensive, warnt das ZdK.
„Nicht nur die Kritiker, sondern auch
die Befürworter des biomedizinischen
Fortschritts müssen die Gründe für ihr
Handeln offen legen“, heißt es im Thesenpapier „Der biomedizinische Fortschritt als Herausforderung für das
christliche Menschenbild“, das das ZdK
am 1. März in Berlin vorstellte. Darin
werden die katholischen Orientierungen
benannt und begründet (www.zdk.de).
Die neun „Orientierungen im
Zeitalter der Biomedizin“ des ZdK:
G
Die Würde des Menschen ist unantastbar; vom
Moment der Zeugung bis zum Tod.
G Das menschliche Leben ist der Verfügbarkeit
des Menschen entzogen; niemand darf darüber
urteilen, wer lebenswert oder lebensunwert ist.
G Das menschliche Leben ist unteilbar; vorgeburtliche Phase und der erste Lebensabschnitt unterscheiden sich nur graduell.
G Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene
und Neuronen.
G Der christliche Glaube stellt Menschen mit
Behinderungen, Krankheiten und Benachteiligungen in den Mittelpunkt; Gendiagnostik darf
nur nach Einwilligung erfolgen.
G Der Mensch bedarf der Erlösung; nahezu religiöse Verheißungen der Medizin und der Technik sind realitätsferne Illusionen.
G Biomedizinische Fortschritte müssen dem Wohl
der Patienten dienen.
G Jeder Mensch ist für sein Handeln verantwortlich; Forscher, Anwender und Nutzer müssen
sich ein eigenes Urteil bilden.
G Der Staat ist auf die Menschenwürde verpflichtet; sie darf nicht der Forschungsfreiheit und
Marktinteressen geopfert werden.
D O K U M E N T A T I O N
Das ZdK wolle nicht belehren, sondern
einen Denk- und Diskussionsanstoß
zum „Jahr der Lebenswissenschaften“
2001 liefern, betonte Dr. Thomas Sternberg, Sprecher des kulturpolitischen Arbeitskreises des ZdK.
Dass es den Katholiken mit der Diskussion Ernst ist, zeigte die öffentliche
Vorstellung des Thesenpapiers. Diese
war nicht als Frontal-, sondern als Diskussionsveranstaltung konzipiert, zu der
Politiker verschiedener Fraktionen, Befürworter, aber auch Gegner der katholischen Position eingeladen waren. Von
ihnen mussten die Verfasser des Papiers
einige Kritik einstecken. Bereits die mit
der Biomedizin verbundenen Visionen
seien zu negativ dargestellt, befand Dr.
Martin Hrabe de Angelis, München, einer der vier Koordinatoren des deutschen Human-Genom-Projektes. Die
Chancen, die die Gentechnik den Menschen bietet, dürften nicht verschwiegen
werden. Die katholische Laienorganisation benennt die „Reproduktionsvision“ (Garantie für die genetische Gesundheit der Neugeborenen), die
„Steuerungsvision“ (frühzeitiges Erkennen von Krankheiten) und die „Heilungsvision“. Gleichzeitig warnte sie davor, dass hinter diesen Visionen häufig
ökonomische Interessen stehen könnten. Ferner bestehe die Gefahr, dass sich
unter dem Deckmantel der Gesundheit
andere Gesichtspunkte einschleichen,
wie eine „effizientere Ressourcenverwertung“ oder der Wunsch nach „Verbesserung der Evolution“.
Dass die Heilung von Menschen die
biomedizinische Forschung rechtfertigt,
erschien auch der anwesenden ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne) zu „trivial“: „Heilung ist kein Wert, der anderes irrelevant
werden lässt“, sagte die Verfechterin eines restriktiven Embryonenschutzes.
Leiden in Kauf zu nehmen, hält Angelis
dagegen für problematisch: „Wenn es die
Möglichkeit gibt zu heilen, müssen wir
dies tun.“ Er warnte davor, dass jetzt das
„ethische Ross zu hoch gesattelt wird“.
Wo die Menschenwürde beginnt, die es
zu schützen gelte, blieb schließlich offen.
Die Katholiken gehen davon aus, dass
das menschliche Leben „im biologischen
Sinn“ und damit die Menschenwürde mit
der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Jede Grenzziehung sei will-
kürlich. Fischer sieht dies ähnlich; man
dürfe jedoch keine Norm daraus ableiten; graduelle Abstufungen seien möglich. So ist es straffrei, die Nidation des
Embryos in den Uterus während der ersten 14 Tage zu verhindern. Der Berliner
Philosoph Prof. Dr. Volker Gerhardt,
Vorsitzender der Bioethik-Kommission
der Deutschen Forschungsgemeinschaft,
plädierte dafür, die Grenze für das
„Menschsein“ bei der Geburt zu ziehen.
Die vorgeburtliche Zeit dürfe jedoch
nicht ignoriert werden, schränkte er ein.
Für zweckmäßig hält er graduelle
Schutzbestimmungen. Diese sähe das
Embryonenschutzgesetz bereits vor,
betonte Wolf-Michael Catenhusen
(SPD), Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium.
Zur Position der SPD äußerte er sich
nicht. Man dürfe jedoch nicht jede
Art von Forschung an Embryonen erlauben. Um einen gesamtgesellschaftlichen Konsens zu finden, könne man allerdings nicht auf Fundamentalisten
Dr. med. Eva A. Richter
eingehen.
Heft 11, 16. März 2001
Bischofskonferenz
Warnung vor Missbrauch
der Gentechnik
Die katholischen Bischöfe lehnen Präimplantationsdiagnostik
und therapeutisches Klonen ab.
D
er Mensch: sein eigener Schöpfer?“ ist der Titel einer Schrift, die
von der Deutschen Bischofskonferenz letzte Woche in Augsburg vorgestellt wurde. Die Antwort lautet erwartungsgemäß „nein“, und dies wird auch
gleich zu Beginn des Papiers begründet:
„Menschliches Leben ist heilig und
steht weder an seinem Anfang noch an
seinem Ende zur Disposition. Das Leben ist der Verfügbarkeit des Menschen
entzogen; da alle Menschen unter Gottes Schutz stehen, darf sich keiner am
Leben des anderen vergreifen.“
Heft 9, 2. März 2001
Ärztinnenbund
Dammbruch befürchtet
Ärztinnen sprechen sich gegen Präimplantationsdiagnostik aus.
D
er Deutsche Ärztinnenbund lehnt die Präimplantationsdiagnostik (PID)
ab. Dabei beruft er sich auf eine Stellungnahme seines Ausschusses für
Ethikfragen. Darin heißt es, dass man mit Einführung der Methode befürchten müsse, dass ihre Anwendung auch auf weniger schwerwiegende
Krankheiten und andere genetische Merkmale ausgeweitet werde. Das
Hauptargument der Befürworter der PID sei, dass dadurch ein Schwangerschaftsabbruch und das damit verbundene Trauma für die Mutter vermieden
werden könne. Die Mutter müsse jedoch bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe
der Ergebnisse der pränatalen Diagnostik damit rechnen, dass das ungeborene
Kind eine erkennbar schwere Erkrankung aufweise. Daher könne es auch
nach PID zu einem Abbruch kommen. Die Stellungnahme kann abgerufen
werden unter: www.aerztinnenbund.de
69
D O K U M E N T A T I O N
Heft 11, 16. März 2001
Folgerichtig wird von den Bischöfen
die Präimplantationsdiagnostik als „Tötung menschlichen Lebens“ kategorisch
abgelehnt. Sie sei ein „eindeutiges Instrument zur Selektion“, da genetisch
belastete Embryonen aussortiert und
vernichtet würden. Sie müsse daher in
Deutschland auch weiterhin verboten
bleiben, fordert die Bischofskonferenz.
Beim therapeutischen Klonen werde
menschliches Leben, das immer zugleich personales und von Gott bejahtes
Leben ist, zum Ersatzteillager degradiert.Auch medizinischer Nutzen könne
kein Verfahren mit menschlichen Embryonen rechtfertigen, das die unantastbare Würde dieses Lebens infrage stelle.
Das reproduktive Klonen wird ebenfalls
abgelehnt, unter anderem weil der Embryo instrumentalisiert würde.
Die Gentherapie wird allerdings nicht
grundsätzlich von den Bischöfen verurteilt. Schon jetzt würden in Deutschland
Gentests für mehr als hundert Krankheiten angeboten. Mit ihrer Hilfe könne
man nicht nur bestehende Krankheiten
feststellen, sondern auch Veranlagungen
für Krankheiten, die sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erst in Zukunft
auswirken würden. Das Recht auf Nichtwissen gehöre allerdings zu den verfassungsmäßig verbrieften Persönlichkeitsrechten. Prädiktive Gentests dürfen nach
Auffassung der Bischöfe weder von Arbeitgebern noch von Versicherungen
verlangt, angenommen oder verwertet
werden. Bei der pränatalen Diagnostik
heben die Bischöfe die Möglichkeit einer
vorzeitigen Therapie hervor.Es könne jedoch nicht gebilligt werden, einen Embryo abzutreiben, bei dem eine Krankheit oder Behinderung festgestellt wurde. Gegen die Keimbahntherapie sprechen nach Ansicht der Bischöfe vor allem
drei Argumente: die noch unausgereifte
Methode; die für die Entwicklung notwendige verbrauchende Embryonenforschung und die Gefahr des Missbrauchs
zur Menschenzüchtung.
Die Bischofskonferenz fordert den
Bundestag auf, den Missbrauch der Gentechnik durch Gesetze zu verhindern.
Unterstützung für ihr Anliegen erhielten
sie unter anderem vom Ratsvorsitzenden
der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Manfred Kock. „In diesen
Fragen passt kein Blatt Papier zwischen
Gisela Klinkhammer
uns“, sagte er.
70
Fortschritt der Biomedizin
Die Politik steht vor der
Quadratur des Kreises
Unser Verhältnis zu Zeugung, Geburt und Tod hat sich
radikal verändert. In dem Buch „Politik des Lebens – Politik des
Sterbens“ beschreibt Andreas Kuhlmann diese Umwälzungen
und macht Vorschläge für Reaktionen der Politik. Das Deutsche
Ärzteblatt veröffentlicht einen auszugsweisen Vorabdruck.
D
urch den Fortschritt der Biomedizin können Krankheitsverläufe
besser begriffen und beeinflusst,
im günstigen Fall abgewehrt und Leiden kuriert werden. Dieser Fortschritt
rüttelt aber zugleich an den Grundfesten des menschlichen Selbstverständnisses: Das Verhältnis zur eigenen Physis, zu Zeugung, Geburt und Tod, zu versehrter Existenz muss neu bestimmt
werden. Mit der Erkenntnis wächst
nicht nur der Aktionsradius, sondern
auch die Definitionsmacht des Menschen in Bezug auf seine eigene Natur.
Je mehr er nämlich über die physischen
Gesetzmäßigkeiten seines Daseins erfährt, desto größer wird zugleich sein
Handlungsspielraum: Mehr und mehr
als Naturwesen beschrieben und begriffen, wird der Mensch zum Subjekt wie
zum Objekt gezielter Manipulation –
zum Artefakt.
Hinsichtlich Zeugung und Elternschaft ist gut zwanzig Jahre nach der ersten erfolgreichen Laborbefruchtung
buchstäblich nichts mehr so, wie es einmal war. Embryonen können zu einem
bestimmten Datum produziert und der
Frau implantiert werden, sie können
aber auch eingefroren und zu einem
späteren Zeitpunkt übertragen werden
– selbst dann, wenn die Ei- und Samenspender inzwischen tot sind. Schließlich
wird der Embryo zum Gegenstand der
Merkmalsselektion und -planung. Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik erlauben es schon heute,
die Geburt von Kindern mit bestimmten schweren Erkrankungen zu verhindern. In dem Maße, in dem das menschliche Genom entschlüsselt und die
Funktionsweise der einzelnen Gene offenbar wird, nimmt auch die Möglichkeit zu, Veranlagungen zu diagnostizieren und eine entsprechende Auswahl zu
treffen. Die Optimierung des Nachwuchses durch Genmanipulation ist als
ein Zukunftsszenario, das von manchen
Fachleuten nach Kräften ausgemalt
wird, in der Öffentlichkeit schon sehr
präsent. Lassen sich unter dem Einfluss
der Fortpflanzungsmedizin mehrere
frühe Lebensstadien unterscheiden,
über deren Eigenschaften und Status zu
befinden ist, so führt die Intensivmedizin dazu, dass sich auch am Ende des
Lebens menschliche Existenz vervielfältigt und ausdifferenziert. Die meisten
entwickelten Gesellschaften sehen es
inzwischen als legitim an, den Menschen Organe zu entnehmen, wenn das
Gehirn nicht mehr arbeitet, der Kreislauf aber durch Apparate aufrechterhalten werden kann.
Vor der Organentnahme müssen die
Ärzte sich vergewissern, dass es sich bei
dem Patienten tatsächlich um einen
Hirntoten handelt. Das verlangt ihnen
wie dem Pflegepersonal ein zutiefst paradoxes Verhalten ab: Weil und obwohl
der Patient noch lebendig aussieht – er
atmet, ist durchblutet, zeigt bestimmte
Reflexe –, muss ihm mitgespielt werden, als handle es sich um eine Leiche.
Damit man sicher sein kann, dass der
Hirnstamm nicht mehr funktioniert,
wird der Körper auf dem Operationstisch in einer Weise malträtiert, die
man einem Lebenden nur zumuten
würde, wenn das irgendeinen therapeutischen Nutzen für diesen selbst verspräche. Durch apparative Tests, vor al-
D O K U M E N T A T I O N
lem aber durch Drücken, Stechen,
Kneifen, durch Einspülen von Eiswasser in die Gehörgänge oder Reizung des
Atemzentrums mit Kohlendioxyd soll
bestätigt werden, dass der Körper nicht
mehr in signifikanter Weise reagiert.
Fällt der Test positiv aus, erklärt man
den Patienten für hirntot und gibt ihn
zur Explantation frei.
Für die Organentnahme wird der
Körper in vielen Fällen vom Brust- bis
zum Schambein aufgeschnitten wie ein
Kadaver, den man nach Belieben ausweiden kann. Auf diese Prozedur reagiert der „tote“ Leib aber durch Ansteigen des Blutdrucks, Hautrötung,
Schwitzen und Muskelkontraktionen.
Dagegen werden Betäubungsmittel
und muskelentspannende Pharmaka
verabreicht, die die Restaktivität des
Körpers unterdrücken. Da aber garantiert sein muss, dass die Organe frisch
bleiben, wird andererseits der Kreislauf
medikamentös unterstützt, damit der
Körper weiterhin seinen Dienst tun
kann. Hirntoddiagnostik und Organexplantation schaffen also eine Sphäre
zwischen Leben und Tod: Die Akteure
müssen von dem, was sie sehen, abstrahieren und sich sagen, dass der Patient
nichts mehr empfindet. Bevor sie explantieren können, müssen sie sich und
anderen dies bestätigen, indem sie die
Leiblichkeit desselben Patienten vehement stimulieren, anstatt ihm, der doch
„tot“ ist, seine Ruhe zu lassen.
Entfesselte Dynamik einer
anonymen Technologie
Die bereits existierenden, zu erwartenden oder auch nur mutmaßlichen
Neuerungen der Biomedizin drohen
das menschliche Selbstverständnis und
die menschlichen Lebensweisen radikal zu verändern. Das meiste, was offiziell als „Politik“ gilt, erscheint dagegen relativ bedeutungslos. Medizintechnologische Innovationen werden
fast immer weitgehend unbemerkt von
der Öffentlichkeit in den wissenschaftlichen Labors entwickelt. Wenn sie
dann plötzlich zum Gegenstand einer
hektischen und geradezu wuchernden
Erörterung werden, geraten die Dispute über Präferenzen und Befürchtungen häufig eher diffus. Die moderne
Medizin erscheint in den Augen ihrer
Kritiker als „Biomacht“, die die Patienten erbarmungslos der eigenen Funktionslogik unterwirft. Diese werde durch
unterschiedlichste Faktoren bestimmt:
den Zwang zur optimalen Anpassung
der Menschen an soziale Erfordernisse,
die entfesselte Dynamik einer anonymen Technologie sowie die Profit- und
Profilierungsinteressen von Wissenschaftlern, Ärzten und des medizinisch-industriellen Komplexes. Das alles forciere den „Fortschritt“ und degradiere den Einzelnen zum bloßen
Opfer, dessen Wünsche und Bedürfnisse keinerlei Berücksichtigung mehr finden würden.
Dieses gerade in Deutschland so verbreitete, mit herrschaftskritischem Furor und mit allen Mitteln politischer
Rhetorik beschworene Szenario einer
menschenfeindlichen Medizin sieht sich
notorisch mit dem Einwand konfrontiert, dass viele therapeutische Neuerungen sehr wohl für sich in Anspruch
nehmen können, den Interessen und
Hoffnungen ganz bestimmter Patienten
zu dienen. Der Verweis, dass Institutionen und Technologien die Autonomie
und das Wohlergehen von Individuen
bedrohen, ignoriert häufig mit frappierender Hartnäckigkeit, welche Bedeutung dem Heilungs- oder Präventionswunsch konkreter Personen für die Legitimierung selbst riskanter oder
ethisch fragwürdiger wissenschaftlicher
und therapeutischer Bemühungen zukommt.
In säkularisierten Gesellschaften
gilt die Gesundheit des Einzelnen als
weithin anerkannter und hoch veranschlagter Wert. Einwände, die den
medizinischen Fortschritt infrage stellen, sind dagegen meistens machtlos.
Gemeinwesen, die sich verfassungsgemäß als Sozialstaaten verstehen, ist
ja das ganz elementare, gerade auch
physische Wohlergehen ihrer Bürger
glücklicherweise nicht gleichgültig. In
solch einem sozialen Rahmen muss das
Heilsversprechen der Medizin auf
fruchtbaren Boden fallen. Gewiss, die
frohe Botschaft der Fortschrittslobbyisten wird häufig geradezu militant
verbreitet. Was sich an ernstlichen
Warnungen selbst dem nur vagen Versprechen auf therapeutische Errungenschaften in den Weg stellt, wird
förmlich niedergewalzt mit dem forschen Verweis, dass Recht hat, wer heilt
oder das Heilen – eventuell – befördert. Die berechtigte Kritik an einem
solchen Fortschrittsfuror sollte aber
nicht darüber hinwegtäuschen, in welchem Maße dieser mit der Akzeptanz
der – meist schweigenden – Mehrheit
rechnen kann.
Hinter der Vorstellung, Wunschkinder „fabrizieren“, Fortpflanzung „managen“ und auch das Sterben souverän
„beherrschen“ zu können, verbergen
sich Extremvisionen persönlicher Autonomie. Daraus werden Forderungen
abgeleitet, die sich mitunter nicht nur
als ethisch fragwürdig, sondern schlicht
als unrealistisch erweisen. Als wäre die
Verfügungsmacht, die der biomedizinische Komplex bereitstellt, nicht schon
eindrucksvoll genug, wird in verzerrender Weise die Kontrollierbarkeit
kreatürlicher Prozesse angepriesen –
und unterschlagen, dass spontane, nicht
voraussehbare und deshalb nicht kalkulierbare physische und psychische
Ereignisse sich zweifellos auch weiterhin geltend machen. Man mag das bedauern oder erleichtert konstatieren –
es zu ignorieren kann jedoch zur Folge
haben, dass das proklamierte Prinzip
der Selbstbestimmung krass verletzt
und den Einzelnen Gewalt angetan
wird.
Man darf sich nichts vormachen: Darüber, ob eine therapeutische Maßnahme
der Selbstbestimmung des Einzelnen
förderlich ist oder nicht, lässt sich selten
Einigkeit erzielen. Kontrovers sind
Möglichkeiten der Biomedizin häufig
vor allem deshalb, weil die Meinungen
auseinander gehen, was unter Autonomie überhaupt zu verstehen ist. Was
heißt es, selbstbestimmt zu leben, und
was heißt es, selbstbestimmt zu sterben?
Die Antworten stehen sich allerdings
nicht in abstrakter, säuberlich ausbuchstabierter Form gegenüber. Umstritten
sind zumeist Situationsdeutungen: Beim
Disput darüber, welche neuen diagnostischen, prognostischen und therapeutischen Verfahren zulässig und erwünscht sind, versuchen die Kontrahenten jene Chancen und Risiken möglichst
anschaulich zu vergegenwärtigen, die
für die Patienten mit dem Einsatz solcher Verfahren einhergehen. Der Humangenetiker, der die Präimplantati-
71
D O K U M E N T A T I O N
onsdiagnostik anpreist, erzählt von Paaren, die schon ein Kind oder gar zwei
Kinder mit Mukoviszidose haben, diese
auch mit aller Liebe und Fürsorge großziehen, sich nun aber sehnlichst noch ein
gesundes Kind wünschen – nicht zuletzt
deshalb, weil Menschen mit Mukoviszidose nur über eine eingeschränkte Lebenserwartung verfügen. Diese Eltern
nun, so lautet der Bericht, haben schon
zwei Kinder im fünften Schwangerschaftsmonat abtreiben lassen, weil sich
nach pränataler Diagnose herausstellte,
dass sie wieder krank sein würden. Um
ihnen eine abermalige Frustration nach
begonnener Schwangerschaft zu ersparen, soll den Eltern nun die nach Auffassung der Beteiligten weniger belastende
Labordiagnostik von Embryonen angeboten werden.
Kritikern dieses avancierten Selektionsverfahrens fällt es erstaunlich
leicht, solche konkreten Wünsche auszublenden. Für sie ist die Frau vor allem das Opfer manipulativer Strategien: Schon das bloße Angebot, diagnostizieren zu lassen, setze die Frauen
nur schwer erträglichen Entscheidungszwängen aus; die Durchführung
der Tests und die Mitteilung abstrakter
Risikozahlen verunsichere sie darüber
hinaus massiv. Und bei „positivem“ Befund bleibe ihnen in Wirklichkeit gar
keine Wahl: Der Druck von Ärzten und
Juristen und der Einfluss eines behindertenfeindlichen sozialen Umfelds
führten dazu, dass sie das aller Voraussicht nach geschädigte Kind – ganz
gleich, was sie selbst sich wünschen –
nicht zur Welt bringen.
Noch kontroverser wird die Meinungsbildung, wenn moralische Normen ins Spiel kommen, die mit dem Autonomieprinzip konkurrieren. Um zu
demonstrieren, dass ein medizinisches
Verfahren die Grundfesten der menschlichen Zivilisation bedroht, setzt man
Werte immer wieder wie Trumpfkarten
ein. Ob Achtung der Menschenwürde,
unbedingter Lebensschutz, Recht auf
„natürliche“ Abstammung oder Schutz
intakter Familienstrukturen – all das
wird beschworen, als verstünde es sich
von selbst, dass zum Beispiel Praktiken
der „therapeutischen“ Selektion, der
Genveränderung oder der Organtransplantation mit diesen Prinzipien unvereinbar seien. Doch solche magischen
72
Bannsprüche, die alle Erklärungen
überflüssig zu machen scheinen, verlieren in der öffentlichen Debatte oft allzu
schnell ihre Eindeutigkeit:Was die Achtung der Menschenwürde eigentlich
konkret gebietet und ob es wirklich ausnahmslos oberstes Gebot sein kann,
menschliches Leben um jeden Preis zu
erhalten, erweist sich dann als unklar
und fragwürdig.
Wenn es um revolutionäre Neuerungen geht, ist die Reaktion meist noch relativ einhellig. Auf die Geburt des ersten „Retortenbabys“ im Jahre 1978
reagierte ein großer Teil der Bevölkerung mit Abscheu oder Befremden.
Dass hier die „Würde“, genauer die
physische und psychische Integrität, der
Frau bedroht sei und dass außerdem
frühe Stadien menschlichen Lebens in
unzulässiger Weise instrumentalisiert
werden könnten, schien intuitiv einzuleuchten. Je mehr jedoch die Erfolgsmeldungen überwogen, desto schwieriger wurde es, an der ursprünglichen kategorischen Ablehnung festzuhalten.
Was sollte eigentlich so verdammenswert daran sein, wenn infertile Paare
mit Kinderwunsch medizinische Hilfe
bei der Zeugung in Anspruch nahmen?
Was sprach umgekehrt dafür, die
„natürliche“ Fortpflanzung für sakrosankt zu erklären? Ohnehin wurde mit
der fortschreitenden Etablierung der
Laborbefruchtung, die man bei Sterilität mittlerweile als Routineverfahren
einsetzte, immer undeutlicher, was „unnatürlich“ in diesem Zusammenhang
eigentlich zu bedeuten hatte.
Politik, die biomedizinische Innovationen zu regulieren sucht, muss mit
umstrittenen Situationsdeutungen wie
mit konkurrierenden moralischen Prinzipien umgehen. Entziehen kann sie
sich dieser Aufgabe nicht. Denn dass reguliert werden muss, erkennen auch die
Verfechter der neuen Verfahren an. Sie
möchten selbst genau wissen, was zulässig ist und was nicht: Dürfen bei der
künstlichen Fertilisation Gameten genutzt werden, die nicht einem der beiden Partner entstammen, und ist die
Herkunft dieser Keimzellen zu dokumentieren und bei Verlangen später
dem Kind mitzuteilen? Was darf oder
muss mit Embryonen geschehen, die
bei der Laborbefruchtung „übrig bleiben“? Wie muss der Arzt bei Risi-
koschwangerschaften aufklären, um
sich vor Regressansprüchen nach der
Geburt eines behinderten Kindes zu
schützen? Wie lässt sich der Hirntod mit
hundertprozentiger Sicherheit feststellen, und wie muss diese Diagnose belegt
werden? Unter welchen Voraussetzungen darf explantiert werden, und an
wen können die Organe weitergegeben
werden?
Die einzelnen Praktiken enthalten eine kaum überschaubare Fülle von
Aspekten, die rechtlich definiert werden
müssen, will man nicht der Willkür Tür
und Tor öffnen. Bei jeder Gesetzgebung
stellt sich dann aber zugleich die Grundsatzfrage, ob das neue Verfahren mit
„der Moral“ der Gesellschaft im Einklang steht. Das zu entscheiden, überfordert staatliche Instanzen in aller Regel. Zumeist werden sie ohnehin erst
dann mit dieser Frage konfrontiert,
wenn durch die Entwicklung und Einführung einer Diagnostik oder Therapie
die Weichen bereits gestellt sind. Die
Entwicklung, die schon voll im Gange
ist, kann dann nur nachträglich „abgesegnet“ und in einem begrenzten Maß
kanalisiert, kaum aber noch grundsätzlich umgelenkt oder aufgehalten werden. Für eine qualifizierte Prognose der
mittel- und langfristigen Konsequenzen
der Innovationen – die auch bei den
Fachleuten selbst umstritten sind – fehlt
den Politikern meist die nötige Sachkenntnis.
Zudem fließen in die Entscheidung
über die Zulässigkeit biomedizinischer
Verfahren so vielfältige und tief verwurzelte Werthaltungen ein, dass es unter den Vorzeichen des weltanschaulichen Pluralismus höchst schwierig ist,
zu konsensfähigen Beschlüssen zu gelangen. Stellungnahmen, die aus der
Sicht einer der Parteien besonders
überzeugend und nahe liegend erscheinen, stoßen oft allgemein auf wenig Akzeptanz. Das heißt: Je zwingender ein
Urteil für die Verfechter oder Kritiker
einer Option ausfällt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es mit allgemeiner Zustimmung rechnen kann. Die
Wertmaßstäbe und Tatsachenbehauptungen, die in diese Urteile einfließen,
sind nämlich derart spezifisch, dass sie
in einer wertpluralen Gesellschaft immer nur von einzelnen Fraktionen des
Gemeinwesens akzeptiert werden. Man
D O K U M E N T A T I O N
kann sagen: Je partikularer eine Überzeugung, desto schwieriger ist es für ihre Anhänger hinzunehmen, dass sie den
Lauf der Dinge nicht entscheidend beeinflussen können.
Die Frage nach dem angemessenen
Umgang mit Zeugung, Geburt, Krankheit, Sterben und Tod provoziert quasireligiöse Vorstellungen von Gut und Böse,
die sich nicht einfach wegrationalisieren
und in die private Sphäre der Bürger abdrängen lassen. Das liberale Credo, dass
politische Entscheidungen wertneutral
ausfallen müssen, wird damit auf eine
harte Probe gestellt.Permissive Regelungen, das heißt Gesetze, die möglichst wenig verbieten, sind zwar den liberalen
Grundwerten westlicher Gesellschaften
insofern eher angemessen, als sie den
Bürgern weitgehend die Wahl lassen, ob
sie von gewissen Möglichkeiten Gebrauch machen wollen oder nicht. Doch
unparteiisch sind solche Regelungen deshalb keineswegs. Denn auch sie basieren
auf ganz bestimmten Wertüberzeugungen: Dass Ärzte mit gespendeten Keimzellen im Labor ein Kind zeugen und diese vielleicht sogar nach besonderen medizinischen Standards auswählen oder
dass ein ganzes Geschwader von Chirurgen an einen „hirntoten“ Patienten mit
einem Wunschzettel herantritt, ihn aufschneidet und ihm Zellmaterial und Organe entnimmt – all das kann nur dann
zulässig erscheinen, wenn man menschliches Leben in einer ganz bestimmten
Weise definiert und damit das totale Verfügen über frühe und späte Lebensstadien als moralisch akzeptabel deklariert.
Wunsch, Menschen zu heilen,
entfaltet ungeheure Kräfte
Die Politik steht deshalb vor einem Dilemma, und was ihr abverlangt wird,
mutet nicht selten an wie die Quadratur
des Kreises: Sie ist gut beraten, möglichst wenig restriktiv zu verfahren, um
nicht die Wahlfreiheit der Bürger zu
verletzen. Zugleich aber darf sie nicht
den Verdacht aufkommen lassen, dass
sie mit solcher Liberalität einzelne
Weltanschauungen privilegiert oder
den Wünschen einzelner Interessengruppen – den Forschern, der Wirtschaft, den Patienten – nachgibt. Entscheidungsträger müssen den häufig be-
rechtigten oder doch gut nachvollziehbaren Vorbehalten gegenüber dem radikalen Wandel im Umgang mit Leben
und Sterben Gehör schenken, ohne ihnen doch in der Weise nachgeben zu
können, dass sie ganze therapeutische
Entwicklungsstränge durch staatliche
Order einfach kappen.
Es ist deshalb schwer vorstellbar, dass
das extrem restriktive deutsche Embryonenschutzgesetz Bestand haben
wird. Das Verbot der Embryonenforschung beschränkt nicht nur den Verhaltensspielraum von Wissenschaftlern,
sondern es erstickt auch eine Fülle medizinisch-therapeutischer Möglichkeiten. Mit dem Selbstverständnis liberaler
Gesellschaften, sich und ihren Bürgern
ein breites Spektrum von Entwicklungswegen offen zu halten, ist dies solange
unvereinbar, wie hiermit nicht eindeutig
die elementaren Interessen konkreter
Personen verletzt werden. Dass aber
frühe menschliche Embryonen in gleicher Weise unbedingten Schutz ihrer Integrität verdienen wie voll entwickelte
Personen, wird wohl kaum eine Mehrheit der Bevölkerung bejahen.
Erweist sich das Embryonenschutzgesetz als zu restriktiv, so muss das deutsche Transplantations medizingesetz
gerade aus liberaler Sicht als zu permissiv gelten. Dem Postulat, dass die persönlichen Wertentscheidungen jedes
Einzelnen zu respektieren sind, hätte
man Rechnung tragen können, ohne
damit der Organspende und Organtransplantation ein Ende zu bereiten. Weil es eben nach wie vor strittig
ist, ob „hirntote“ Personen „richtig“ tot
sind oder nicht, kann nur jeder selbst
entscheiden, ob ihm seine Organe in
diesem Zustand, in den er womöglich
einmal gerät, entnommen werden dürfen. Hier handelt es sich um eine solch
gravierende Entscheidung, dass sie nicht
– wie nach deutschem Recht erlaubt – an
Angehörige delegiert werden darf, die
hiermit im Augenblick des Abschiednehmens vom todkranken Patienten
häufig auch psychisch völlig überfordert sind. Das Argument, dass mit einer
„engen“ Regelung das ohnehin unzureichende „Organaufkommen“ abermals stark zurückgehen würde, zeigt die
ungeheure Versuchung, der man nicht
erliegen darf: dass nämlich im Namen
des zu erzielenden therapeutischen
Nutzens die Persönlichkeitssphäre des
Einzelnen verletzt wird. Die Medizinverbrechen des zurückliegenden Jahrhunderts können uns – anders, als häufig behauptet wird – nicht darüber belehren, welche neuen medizinischen
Verfahren verwerflich und welche wünschenswert sind. Die Geschichte zeigt
jedoch, was für eine ungeheuer expansive und destruktive Kraft der – echte
oder vorgebliche – Wunsch entfalten
kann, Menschen zu heilen. Dieser Dynamik fallen dann allzu schnell jene
zum Opfer, die als unheilbar gelten.
Man sollte sich hieran erinnern, damit
der „therapeutische Imperativ“ nicht
als ein „kategorischer Imperativ“ missverstanden wird und inhumanen Interventionen Tür und Tor öffnet.
)
Heft 13, 30. März 2001
PID
„Glasklare
Regelung“
BÄK-Präsident fordert Rechtssicherheit.
P
rof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), fordert eine
„glasklare gesetzliche Regelung zur
PID“. Wenn die Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland zugelassen werden sollte, dann nur, wie
es der Diskussionsentwurf der BÄK
vom Februar 2000 vorsehe, wenn
Rechtssicherheit und ein hohes
Schutzniveau über strenge und restriktiv zu fassende Zulassungskriterien erreicht werden könnten.
Bundesjustizministerin
Herta
Däubler-Gmelin wies in einem
Schreiben an einen Gynäkologen
auf die Strafbarkeit von „PID-Tourismus“ hin: Ein Arzt, der eine Frau
zur PID an den ausländischen Kollegen vermittele oder die Patientin
im Rahmen der hormonellen Stimulation betreue, unterstütze eine
strafbare Handlung. Er könne sich
als Gehilfe strafbar machen. Das
gelte auch, wenn die PID in dem
Land, in dem sie vorgenommen
werde, nicht strafbar sei.
73
D O K U M E N T A T I O N
Heft 12, 23. März 2001
Präimplantationsdiagnostik
Ganz am Anfang
Das Bundesgesundheitsministerium möchte vor
einer gesetzlichen Regelung die Frage der
Präimplantationsdiagnostik auf breiter Basis diskutieren.
E
ine Entscheidung, ob die Präimplantationsdiagnostik (PID) in
Deutschland zugelassen werden
soll, wird in nächster Zeit nicht fallen.
Dies verdeutlichte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium (BMG), Gudrun Schaich-Walch (SPD), bei der Diskussionsveranstaltung „Berliner Dialog Biomedizin“ der Friedrich-EbertStiftung am 13. März. „Wir stehen
ganz am Anfang der Diskussion und
müssen keine Eile haben“, sagte sie.
„Im wissenschaftlichen Bereich werden wir nichts verpassen.“ Dass die
neue Führung des Bundesgesundheitsministeriums das Positionspapier
des ursprünglichen Ministeriums unter Andrea Fischer nicht als Diskussionsgrundlage verwende, läge nicht an
einer großzügigeren Haltung gegenüber biomedizinischen Fragen. Man
wolle allerdings in der Debatte nicht
vorgeben, dass die PID verboten werden solle.
Auch wenn Zeitpunkt und Ergebnis
offen sind – äußern wird sich der
Gesetzgeber zur PID gewiss. Um eine
Entscheidung zu fällen, sei rechtliche
Klarheit erforderlich, so Schaich-Walch.
Zurzeit ist das Gegenteil der Fall: Die
Rechtsauffassungen, ob das Embryonenschutzgesetz die PID zulässt oder
verbietet, gehen auseinander. Das
BMG will daher ein Gesetz erarbeiten,
das einen Konsens im Bundestag und in
der Bevölkerung findet. Die Frage der
Zulässigkeit der PID soll klar geregelt
und nicht nur Auslegungssache sein. Eine Regelung durch die Richtlinien der
Bundesärztekammer und das Berufsrecht lehnt Schaich-Walch ab.
Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich
Hoppe, plädiert für eine gesetzliche
Klarstellung. Die Verantwortung dürfe
74
nicht allein auf die Ärzte übertragen
werden. „Wenn der Gesetzgeber die
PID will, brauchen wir zunächst
Rechtsklarheit; danach sind wir gern
bereit, eine berufsrechtliche Regelung
zu finden“, betonte er in Berlin.
Erst eine gesetzliche, dann
eine berufsrechtliche Regelung
Für eine solche Reihenfolge sprach sich
während der Podiumsdiskussion auch
Dr. Carola Reimann (SPD), Biotechnologin und Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, aus. Die Kommission
hätte zwar am Vortag mehrheitlich die
PID als unvereinbar mit dem Embryonenschutzgesetz beurteilt; bei diesem
Thema seien jedoch keine Mehrheiten,
sondern ein Konsens erforderlich. Dazu
müsse die Schutzwürdigkeit der Embryonen diskutiert werden. Die Kern-
Einmal Gott spielen
Reproduktives Klonen ist für
Experten „reine Scharlatanerie“.
Nicht die therapeutischen Möglichkeiten, sondern
die Idee, den Menschen zu optimieren, stünde anscheinend bislang im Mittelpunkt der Bemühungen
um das Klonen, warnte der Kulturstaatsminister
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin bei den „Berliner Wissenschaftsgesprächen“, die am 12. März von der
Berliner Zeitung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) veranstaltet wurden. Das therapeutische Klonen könne den Einstieg in das Projekt
des „optimierten Menschen“ bedeuten. Solange
diese Gefahr bestehe, wende auch er sich gegen diese Bemühungen. Sobald das Risiko aber ausgeschlossen sei, habe er keine grundsätzlichen Einwände gegen das therapeutische Klonen. Zugleich
räumte der Minister auf der Veranstaltung ein, sich
möglicherweise im Januar missverständlich ausgedrückt zu haben. Damals hatte er im „Tagesspiegel“
frage laute: Ist ein Embryo in vitro
schutzwürdiger als in vivo? Die Spirale
als legale Verhütungsmethode, die die
Nidation des Embryos in vivo verhindert, und die Möglichkeit der straffreien
Abtreibung nach § 218 StGB würden
von den Frauen nicht leichtfertig angewandt. Schon dass die In-vitro-Fertilisation mit erheblichen Nebenwirkungen
verbunden sei, würde die Anwendung
der PID nach Ansicht Reimanns begrenzen. Voraussetzung sei allerdings,
die PID auf bestimmte Erkrankungen
einzuengen und eine ausführliche psychosoziale Beratung anzubieten. Eine
„Schwangerschaft auf Probe“ durch die
Möglichkeiten der Pränataldiagnostik
bezeichnete Reimann als „frauenverachtend“.
Sowohl die PID als auch die Pränataldiagnostik hält Dr. med. Alfred Sonnenfeld, Theologe und Medizinethiker
der Charité Berlin, für unvertretbar.
Man müsse sich der Herausforderung
stellen, den Embryo schon als vollständigen Menschen zu sehen. Auch Hoppe
stellte klar, dass es sich in jedem Fall um
menschliches Leben handele und die
PID eine Selektionsmethode sei. Eine
unterschiedliche Schutzwürdigkeit der
Embryonen in vivo und in vitro sieht er
jedoch nicht. Ferner scheint es ihm nicht
sinnvoll zu sein, Grenzen der PID anhand einer Diagnosenliste zu ziehen.
Zweckmäßiger sei eine individuelle
ärztliche Beratung. Dr. med. Eva A. Richter
Embryonen im frühen Stadium die Menschenwürde
abgesprochen. Menschenwürde sei jedoch nicht mit
Schutzwürdigkeit gleichzusetzen, betonte der Philosoph jetzt in Berlin. Die Schutzwürdigkeit des Embryos bestünde von Anbeginn an und nähme im Reifungsprozess graduell zu.
Das Vorhaben der italienischen Forschergruppe
um Severino Antinori, einen Menschen zu klonen,
bezeichnete Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der DFG, als „reine Scharlatanerie“. Das Klonen eines vollständigen Organismus sei inakzeptabel. Bereits der Weg dahin sei unvertretbar, weil
Tierversuche gezeigt hätten, dass viele Embryonen
sterben und Jungtiere missgebildet oder lebensunfähig zur Welt kämen. Auch der Benefit des therapeutischen Klonens läge noch in weiter Ferne. Eine
Alternative sieht der DFG-Präsident hingegen in
der Forschung an adulten Stammzellen. Eine Änderung des deutschen Embryonenschutzgesetzes, in
dem das therapeutische Klonen verboten wird,
lehnt Winnacker ab. Deutschland dürfe sich allerdings innerhalb der internationalen Wissenschaft
ER
nicht isolieren.
D O K U M E N T A T I O N
Heft 14, 6. April 2001
Streit um die Embryonen
Was tun, wenn man sich
nicht einigen kann?
Nach den Äußerungen des Präsidenten der Bundesärztekammer in der Frankfurter Allgemeinen stellt sich die Frage:
Welche Rolle kommt der Ärzteschaft zu?
Urban Wiesing
D
em Leser „anspruchsvoller“ Zeitungen wird seit einigen Monaten
ein erbitterter Kampf aufgefallen
sein. Gestritten wird um neuere Technologien wie die Präimplantationsdiagnostik oder die Forschung an embryonalen
Stammzellen, vor allem aber um die
grundlegende Frage, welcher Schutz
dem ungeborenen menschlichen Leben
zukommen soll. Anlässe zu dieser Debatte gab es mehrere: Die Bundesärztekammer hatte einen Entwurf einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik (PID) vorgestellt, in der sie diese innerhalb strenger Grenzen befürwortet.
Ein Mitglied der Bundesregierung,
Staatsminister Julian Nida-Rümelin, hatte sich gegen die gleiche Zuschreibung
der Menschenwürde an menschliche
Embryonen in den ersten 14 Tagen vor
der Implantation ausgesprochen. Seither
wechseln sich wöchentlich, zuweilen täglich die Stellungnahmen für und gegen
den Lebensschutz von Embryonen ab.
Die Argumente sind seit
langem bekannt
Die Standpunkte und die angeführten
Argumente zum Lebensrecht des ungeborenen menschlichen Lebens sind
nicht neu, sondern seit langem bekannt.
Alles, was in den letzten Monaten für
und wider den Lebensschutz von Embryonen zu lesen war, lässt sich schon
seit geraumer Zeit in der einschlägigen
moralphilosophischen Literatur finden.
Neu ist allenfalls die Aufgeregtheit angesichts der Tatsache, dass ein Mitglied
der Bundesregierung den Lebensschutz
von Embryonen relativiert hat. Dabei
hat Nida-Rümelin nur das öffentlich gesagt, was in der Moralphilosophie – der
Staatsminister ist hier ausgewiesener
Experte – zu den ausführlich diskutierten Positionen gehört.
Man wird sich nicht
einigen können
Bei der Debatte war eines schon vorab
klar: Man wird sich am Ende nicht einigen können. Man hätte gleich eingangs
vor der Illusion warnen sollen, es ließe
sich zum moralischen Status des ungeborenen menschlichen Lebens ein Konsens
finden. Die Positionen zwischen den Befürwortern eines uneingeschränkten
Schutzes der Embryonen ab Verschmelzung von Samen- und Eizelle und den
Befürwortern eines abgestuften, wachsenden Schutzes der Embryonen liegen
so weit auseinander, dass sie nicht zu
vermitteln sind. Selbst ein Rückgriff auf
das Grundgesetz und die darin verankerte Menschenwürde kann die Kontroverse nicht entschärfen. Zwar schützt
das Grundgesetz nach Ansicht der meisten Rechtsgelehrten menschliches Leben ab der Verschmelzung von Samenund Eizelle, doch auch hier erhebt sich
Widerspruch. Für Norbert Hoerster lässt
die Verfassung keine eindeutigen Rückschlüsse zu, und für Reinhard Merkel ist
das Embryonenschutzgesetz gar verfassungswidrig. Es bestätigt sich, was im
Grunde seit langem bekannt ist: Man
wird sich nicht einig, und daran dürfte
sich auch in Zukunft nichts ändern. Für
mehrere Positionen zum Schutz des un-
geborenen Lebens lassen sich plausible
Argumente anführen.Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass wir uns in einer
wertepluralen Gesellschaft befinden,
hier ist er. Was folgt aus dieser ernüchternden Diagnose? Die Debatte um den
moralischen Status des ungeborenen
menschlichen Lebens führt uns mit
Deutlichkeit vor Augen, dass in dieser
Frage eine politische Entscheidung gefällt werden muss, da kein moralischer
Konsens erwartet werden darf. Der Staat
in Form seiner demokratisch legitimierten Institutionen muss sich Fragen jenseits der verschiedenen Überzeugungen
stellen. Erstens: Auf welchen Prämissen
basieren die jeweiligen Positionen zum
Lebensschutz des ungeborenen Lebens,
und inwieweit sind diese Vorannahmen –
zum Beispiel religiöser Art – für alle verbindlich? Zweitens: Nicht die Frage, welche Vorgehensweise ist moralisch die
einzig richtige, stellt sich, sondern: Welche Handlungen soll der Staat erlauben?
Im Grunde hat sich der Gesetzgeber so
bereits beim § 218 verhalten. Dieses Gesetz ist einzig ein politischer Kompromiss, der dem moralischen Dissens in unserer Gesellschaft nicht beikommen
konnte.
Auch die Konsequenzen aus der notorischen Uneinigkeit beim Embryonenschutz sind lange bekannt. Schon
vor über zehn Jahren beendete Anton
Leist seine Untersuchung zum moralischen Status des ungeborenen Lebens
mit der Feststellung, dass sie in die Frage der Toleranz münden würde. Was
soll erlaubt werden, ohne die Zumutbarkeit der Vertreter anderer Ansichten zu überfordern? Wenn gute Argumente für einen gestuften Lebensschutz von Embryonen angeführt werden können und die Gegenargumente
zumeist auf bedingt verallgemeinerungsfähigen Vorannahmen beruhen,
dann sollte man den Schutz der Embryonen in der frühesten Phase
zumindest gegen andere hochrangige
Güter zur Abwägung stellen. Dass diese Überlegungen nicht ganz folgewidrig sind, sei mit Verweis auf die Realität untermauert: Die Tötung von
Embryonen geschieht beispielsweise
durch die Spirale millionenfach, ohne
dass sie sonderlich kontrovers wäre.
Entweder die Spirale müsste verboten
werden, oder die Überlegungen der
75
D O K U M E N T A T I O N
Bundesärztekammer zur PID sind
nicht ganz abwegig. Zudem schließen
liberale rechtliche Regelungen nicht
aus, dass für zahlreiche Bürger aufgrund von moralischen, hoch respektablen Überzeugungen eine PID oder
ein Schwangerschaftsabbruch nicht infrage kommen.
In die Diskussion haben sich Ärzte
und Vertreter der verfassten Ärzteschaft eingeschaltet – mit deutlicher Resonanz. Insbesondere ein Artikel des
Präsidenten der Bundesärztekammer,
Jörg-Dietrich Hoppe, in der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung hat zahlreiche
Reaktionen provoziert. Nicht zuletzt
von ihm selbst, wurde doch sein Artikel
ohne Rücksprache gekürzt, entstellend
überschrieben und redaktionell vernichtend kommentiert: Seine Ausführungen seien „in weiten Teilen ein
Dokument der Hilflosigkeit“.
Das bitterböse Urteil des redaktionellen Kommentars richtete sich unter
anderem gegen Hoppes Äußerung, die
aufgeworfenen Fragen könnten nur von
der „Gesamtgesellschaft“ beantwortet
werden. Dem hielt wenig später Stephan Sahm entgegen, es zähle „zu den
vornehmsten ärztlichen Pflichten [. . .],
zu den ethischen Herausforderungen
medizinischer Praxis einen Standpunkt
zu finden“ .
Unweigerlich drängt sich die Frage
auf, welche Rolle der Ärzteschaft bei
der Auseinandersetzung zukommt.
Zweierlei sollte man sich vergegenwärtigen. Erstens: Wen betreffen die Entscheidungen? Und zweitens: Gibt es eine Gruppe, die über einen privilegierten
Zugang zu einer besseren und in höherem Maße verbindlichen Moral verfügt?
Die erste Frage lässt sich leicht beantworten: Die Auswirkungen neuer
Technologien in der Medizin betreffen
alle potenziellen Kranken, also im Prinzip alle Bürger. Die Frage, wie eine
Gesellschaft mit dem ungeborenen
menschlichen Leben umgehen soll, betrifft gleichermaßen alle Bürger. Hier
steht kein professionsinternes, sondern
ein „gesamtgesellschaftliches“ Problem
zur Debatte.
Bei der Frage nach einem privilegierten Zugang zu einer Moral wird man auf
Grundannahmen unseres Gemeinwesens verweisen müssen. Zu diesen
gehört, dass ein jeder Bürger in Sachen
76
Moral zunächst einmal selbst Experte
ist. Als sittliche Subjekte sind wir in hohem Maße auf uns selbst verwiesen, und
darin sind sich alle Bürger gleich. Es ist
mit dem Selbstverständnis einer demokratischen und offenen Gesellschaft daher kaum zu vereinbaren, dass einer Berufsgruppe exklusive moralische Fähigkeiten zugestanden werden, und Gleiches gilt für exklusive moralische Befugnisse. Wer es anders sieht, müsste es begründen – und das dürfte kaum gelingen.
Kurzum: Die Frage, wie eine Gesellschaft mit dem ungeborenen Leben umgehen soll, lässt sich nicht von einer Profession lösen. Erstens geht sie alle an,
und zweitens verfügt ein Berufsstand
über keinerlei besondere Fähigkeiten
und Befugnisse in moralischen Fragen.
Die Ärzteschaft – Spiegel einer
wertepluralen Gesellschaft
Demokratische Gesellschaften halten
die Zuständigkeit von Professionen gezielt begrenzt: Für die moralischen Probleme in ihrem Arbeitsbereich und vor
allem für die Grundhaltungen des ärztlichen Ethos wird der Profession zwar
ein Formulierungsrecht, beim ärztlichen Ethos gar ein Vorschlagsrecht eingeräumt. Die Berufsordnung – in
Selbstverwaltung erstellt – muss jedoch
stets von einem Minister gezeichnet
werden. Anderes wäre in einem demokratischen Rechtsstaat auch schwerlich
zu vertreten. Ärzte können die moralischen Normen ihres Handelns formulieren, argumentativ untermauern und
für sie werben. Ihre Gültigkeit festlegen
können sie als Profession jedoch nicht.
Zuständig sind die demokratisch legitimierten Institutionen der Gesellschaft.
Dieser Aufteilung von Zuständigkeit
wird stets der hohe Sachverstand der
Professionen entgegengehalten. Nur sie
verfügten über die Kenntnisse, die angemessene und sachgerechte Urteile erlauben. Und in der Tat ist der öffentliche Diskurs vom Sachverstand der Experten abhängig – allerdings nur in
technischen Fragen. Nichts anderes ist
mit dem Selbstverständnis einer Demokratie zu vereinbaren, als dass die Diskussion um die Medizin im öffentlichen
Raum stattfindet, dass die Vertreter der
Standesorganisationen ein Diskussi-
onspartner unter vielen sind, dass von
ihnen zwar technischer Sachverstand
verlangt werden kann, ihnen aber kein
privilegierter Zugang auf eine überlegene oder bindende Moral zusteht.
Ein Vergleich drängt sich auf: Man
stelle sich das Befremden vor, wenn die
militärische Führung der Bundeswehr
feststellen würde, es gehöre zu den vornehmsten Pflichten des Militärs, in Sachen Kriegsführung einen Standpunkt
zu finden und entsprechend zu entscheiden. Wenn demokratische Gesellschaften beständig darauf beharren,
dass Soldaten „Bürger in Uniform“
sind und ihnen keinerlei Sonderstellung
zukommt, dann ist doch nicht einzusehen, was so schlecht dran ist, wenn sich
die Ärzte als „Bürger im weißen Kittel“
verstehen.
Insofern war es nur zu angemessen,
wenn die Bundesärztekammer zunächst einen Entwurf zur Präimplantationsdiagnostik zur Diskussion gestellt
hat. Den Kritikern dieser Vorgehensweise sei gesagt, dass alles andere ungleich
mehr Proteste hervorgerufen hätte.
Jörg-Dietrich Hoppe hat nicht nur die
„Gesamtgesellschaft“ als Forum des Diskurses angeführt, sondern realistischerweise hinzugefügt, dass es um ethische
Grundfragen gehe, „über die gesamtgesellschaftlich keine Einigkeit erzielt werden kann“. Ist es vor diesem Hintergrund
nicht völlig abwegig, von den Ärzten zu
verlangen – wie im redaktionellen Kommentar der Frankfurter Allgemeinen –,
was der Gesellschaft nicht mehr gelingt?
Die Ärzteschaft spiegelt auch nur die
Gesellschaft wider, und es wäre ganz illusorisch anzunehmen, dass sich alle Ärzte
in der Frage des Schwangerschaftsabbruchs oder der PID einig wären. (Noch
nicht einmal innerhalb der Vorstandes
der Bundesärztekammer, wie der Kommentar von Frank Ulrich Montgomery,
gleichfalls in der Frankfurter Allgemeinen, verdeutlicht!) Die Ärzteschaft einer
wertepluralen Gesellschaft ist keine vollständig homogene Gruppe, bei der es zu
schwierigen und komplexen Themen nur
eine Meinung gibt.
Dem Präsidenten der Bundesärztekammer wurde überdies der Verweis
auf eine Äußerung von Hermann-Josef
Hepp vorgeworfen, in dieser Situation
könne es „ein schuldfreies Arztsein“
nicht mehr geben. Man mag über den
D O K U M E N T A T I O N
Heft 14, 6. April 2001
Begriff „schuldfrei“ streiten, vermutlich
wäre „konfliktfrei“ treffender. Gleichwohl, in der Sache steht jedoch völlig
außer Zweifel, dass die Herausforderungen der modernen Medizin – auch
die PID – eben nicht einfach zu lösen
sind, sondern die Unsicherheit, die Abwägung und der Kompromiss zur Regelung dieser Verfahren gehören. Viele
Aspekte sind zu berücksichtigen, und
bei einer Entscheidung müssen bestimmte Aspekte zurücktreten – so oder
so mit Folgen für die Beteiligten. Zu loben ist, wer sich dazu bekennt, und
nicht, wer das verleugnet.
Hilflosigkeit oder Eingeständnis
der Schwierigkeiten?
Wenn der redaktionelle Kommentar
der Frankfurter Allgemeinen die Ausführungen Hoppes als „hilflos“ bezeichnet, so mag man dem in gewissem
Maße zustimmen. Aber eignet sich diese Eigenschaft eines Diskussionsbeitrags als Vorwurf? Wer ist denn in dieser Situation nicht hilflos? Die, die vorgeben, es nicht zu sein, berufen sich zumeist auf Prämissen, die schwerlich zu
verallgemeinern sind, oder sie scheuen
die Komplexität der Sachverhalte. Sie
erklären ihren eigenen Standpunkt
zum Maßstab für alle anderen und
glauben, die Tiefe ihrer persönlichen
Überzeugtheit gebiete zwangsläufige
Allgemeinverbindlichkeit. Sie können
sich beispielsweise auf religiöse Überzeugung zurückziehen, aber in einem
Rechtsstaat mit Religionsfreiheit sind
damit die Schwierigkeiten einer allgemeinen Regelung nicht behoben. Ein
Eingeständnis der Schwierigkeiten,
will man in einer wertepluralen Gesellschaft hochkomplizierte Methoden der
Medizin regeln, ist kein Ausdruck der
Hilflosigkeit, sondern ein Ausdruck
der Redlichkeit und ein erster Schritt.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 896–898 [Heft 14]
Literatur beim Verfasser
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Urban Wiesing
Lehrstuhl für Ethik in der Medizin
Universität Tübingen
Keplerstraße 15
72074 Tübingen
Embryonenforschung in Europa
Gesundheit ist nicht
das höchste Gut
Die unterschiedlichen Auffassungen von Menschenwürde
haben ihre Ursache in verschiedenen geistigen Traditionen.
Ulrich Eibach
D
er Begriff Menschenwürde spielt in
vielen Verfassungen von Staaten
und internationalen Übereinkommen eine zentrale Rolle. Es gibt jedoch
selbst in Europa recht unterschiedliche
Auffassungen über das, was unter diesem
„Prädikat“ zu verstehen ist. Im angelsächsischen Bereich bezeichnet man
„frühe Embryonen“ als „Präimplantationsprodukte“ und Leben, das endgültig
ohne Bewusstsein ist, als „human vegetable“. Man unterscheidet also zwischen
biologisch menschlichem und personalem Leben. Entsprechend bleibt in dem
Übereinkommen des Europarats die
Frage nach dem Beginn und dem Ende
des Lebens offen, wohingegen die deutsche Gesetzgebung das Ende des personalen Lebens im Transplantationsgesetz
mit dem Hirntod und seinen Beginn im
Embryonenschutzgesetz mit der Bildung
der Zygote gegeben sieht. Frühen Embryonen kann danach eine Teilhabe an
der Menschenwürde nicht abgesprochen
werden. Diese unterschiedlichen Auffassungen haben ihren Grund in verschiedenen geistigen Traditionen.
Religiös-transzendentes
Verständnis
Die nach dem Grundgesetz unantastbare
Würde des Menschen (Art. 1) konkretisiert sich nach Art. 2 im Recht auf Freiheit, Leben und körperliche Unversehrtheit, unabhängig vom Grad der Behinderung (Art. 3 Abs. 3.). Dieses Verständnis
von Menschenwürde ist maßgeblich geprägt durch die jüdisch-christliche Vorstellung von der „Gottebenbildlichkeit“
des Menschen. Sie gründet in der beson-
deren Beziehung Gottes zum Geschöpf
Mensch. Der Mensch konstituiert sich
weder in seinem Leben noch in seiner
Würde selbst. Er „verdankt“ sein Leben,
sein Personsein und seine Würde anderen, letztlich nicht den Eltern, sondern
Gott. Demnach sind Personsein und
Menschenwürde keine empirischen Qualitäten, sondern „transzendente“ Größen, die – von Gott her – dem ganzen Leben vom Beginn bis zum Tod zugesprochen sind. Kein menschliches Leben
muss erst selbst den Erweis erbringen,
dass es der Prädikate Person und Menschenwürde würdig ist. Deshalb muss
ihm die Menschenwürde auch nicht erst
von Menschen zuerkannt werden, vielmehr ist sie von allen Menschen zugleich
mit dem Gegebensein von Leben anzuerkennen, unabhängig vom Grad
seiner seelisch-geistigen Fähigkeiten. In
dieser Begründung der Menschenwürde
in „Transzendenz“, in Gott, ist der Grund
zu suchen, dass alles Leben einer totalen
ge- und verbrauchenden Verfügung von
Menschen entzogen sein soll.
Menschenwürde ist demnach keine
empirische Größe, die im Mikroskop
oder sonst wie sinnlich fassbar wäre.Fragt
man nach dem „anatomischen Substrat“,
dem die Menschenwürde nach dieser
Sicht zukommt, so ist es die ganze Leiblichkeit, der Lebensträger (= Organismus). Wann organismisches Leben beginnt,kann nur auf der Grundlage der Erkenntnisse der Biologie ermittelt werden.
Für die biologische Definition von individuellem Leben bei höheren Lebewesen mit geschlechtlicher Fortpflanzung
sind folgende Kriterien entscheidend: (1)
Es muss eine genetische Individualität
vorliegen. Dieses Kriterium ist mit der
77
D O K U M E N T A T I O N
Bildung der Zygote erfüllt. (2) Es muss
ein zu einer Ganzheit integriertes, also
organismisches Lebensgeschehen feststellbar sein, das in Interaktion mit seiner
Umwelt (beispielsweise Eileiter, Gebärmutter) zu einer eigenständigen Lebensdynamik fähig ist (unter anderem Stoffwechsel,Wachstum). Es wird oft behauptet, frühe Embryonen erfüllten dieses
Kriterium nicht, sie seien ein bloßer
„Zellhaufen“.Aber die „Totipotenz“ der
Zellen im frühesten Embryonalstadium
widerspricht nicht der Erkenntnis,dass es
sich von der Bildung der Zygote an um
eine sich selbst organisierende und differenzierende funktionelle „Ganzheit“
handelt. Dass nur aus einem Teil dieser
Zellen der Embryo, aus anderen der Trophoblast entsteht, widerspricht dem auch
nicht, weil dieses Differenzierungsgeschehen nicht determiniert ist, man also
nicht vorwegsagen kann, welche der totipotenten Zellen zu was werden.
Schutzrechte des Embryos
Wird die Menschenwürde dem ganzen
Lebensträger zugesprochen, so können
frühen Embryonen zumindest nicht die
Teilhabe an der Menschenwürde und
Schutzrechte ganz abgesprochen werden. Das grundlegende Recht ist dabei
das Recht auf Leben. Es ist umstritten,
inwieweit dieses christlich geprägte Verständnis von Menschenwürde ohne die
religiösen Voraussetzungen zu begründen ist. Jedoch ist auch in der deutsches
Rechtsverständnis maßgeblich prägenden Philosophie Immanuel Kants festgehalten, dass das Prädikat Person dem
Menschen als „Natur- und Gattungswesen“ zuzuordnen ist. Zwar ist Kants Verständnis von Menschenwürde stark an
der Freiheit orientiert, doch ist diese
nach ihm ein Postulat der praktischen
Vernunft, also eine „transzendente“ und
keine empirische Größe.
Eine grundsätzlich abweichende Sicht
wird dann vertreten, wenn Personsein
und Menschenwürde als empirisch feststellbare seelisch geistige Qualitäten
des Lebens (zum Beispiel Selbstbewusstsein, bewusste Interessen) verstanden werden, wie es in der angelsächsischen positivistisch-empiristischen Philosophie der Fall ist, die die internationale Diskussion über Bioethik
78
prägt. Fragt man nach dem anatomischen Substrat, dem diese empirischen
Qualitäten zuzuordnen sind, so ist es
nicht mehr der ganze Lebensträger, sondern es sind nur bestimmte Bereiche des Großhirns. Dies besagt einerseits, dass dem Leben frühestens ab dem
Zeitpunkt eine Teilhabe an der Menschenwürde zugesprochen werden kann,
ab dem die entsprechenden Strukturen
des Gehirns ausgebildet sind, und andererseits, dass deren Fehlen beziehungsweise Verlust infolge Krankheit gleichzusetzen ist mit dem Fehlen beziehungsweise Verlust des Personseins, das damit
nur biologisch-menschliches Leben ist.
Der Gedanke einer unverlierbaren
und unverrechenbaren Menschenwürde
allen menschlichen Lebens ist diesem
Denkansatz fremd. Die Teilhabe an der
Menschenwürde wird je nach Entwicklungsgrad des Lebens abgestuft gedacht.
Da nicht mehr das Leben in sich, sondern nur die seelisch- geistigen Qualitäten zu schützen sind, kann Leben, sofern
es noch nicht zum Besitz dieser Qualitäten herangereift ist (Embryonen, Feten)
oder sie nie besessen (behindert Geborene) oder sie durch Krankheit verloren
hat, gegen andere Güter und Interessen
verrechnet werden.
Mit abnehmender „Wertigkeit“ ist das
Leben immer weniger zu schützen, darf
es zunehmend als Mittel zum Zweck
(zum Beispiel therapeutischer oder auch
rein wissenschaftlicher Art) ge- und verbraucht werden. Nur auf der Basis eines
empiristischen Menschenbilds kann man
von frühen Embryonen als einem „Zellhaufen“ reden, da an ihm in der Tat im
Mikroskop keine empirische Menschenwürde zu beobachten ist.
Der Streit um die Forschung an Embryonen in Europa ist nicht zu verstehen ohne die aufgezeigten unterschiedlichen geistigen Traditionen. Es geht
demnach um grundsätzliche Fragen des
Menschenbilds und der Interpretation
des Grundgesetzes.
Entscheidungen, die für den Bereich
der „fremdnützigen“ Forschung mit Embryonen gefällt werden, haben eine weit
über diesen Fachbereich hinausgehende
Bedeutung. Begründet man sie mit dem
empiristischen Menschenbild, so werden
damit zugleich negative Lebenswerturteile über menschliches Leben gerechtfertigt, und „minderwertiges“, angeblich
bloß biologisch menschliches Leben wird
in einer Güterabwägung verrechenbar
gegen Interessen anderer. Dieses Vorgehen wird sich nicht auf früheste Stadien
des Lebens begrenzen lassen, es wird –
wenn die zu seiner Rechtfertigung angeführten therapeutischen und sonstigen
Interessen stark genug sind – auch fortgeschrittene Lebensstadien, selbst geborenes Leben umfassen. Eine mit derartigen Argumenten gerechtfertigte therapeutische Forschung kann zur Aushöhlung des für den Schutz des Lebens fundamentalen Verständnisses von Menschenwürde führen. Es könnte sich erneut bewahrheiten, was der bedeutende Arzt Viktor von Weizsäcker anlässlich der „Nürnberger Ärzteprozesse“
schrieb, dass ein „transzendenzloses“,
rein empirisches Verständnis des Menschenlebens zwangsläufig zur Vorstellung vom „lebensunwerten“ Leben führt
und dass der ungeheure Kampf für die
Gesundheit einerseits und der experimentelle und vernichtende Umgang mit
„unheilbarem“ Leben andererseits nur
die zwei Seiten ein und derselben Medaille seien, der Glorifizierung von Gesundheit und diesseitigem Leben.Wo der
wissenschaftliche und therapeutische
Fortschritt die vor allem für den Schutz
der schwächsten Glieder der Gesellschaft grundlegenden Rechte,wie das angedeutete Verständnis von Menschenwürde, infrage stellt, muss die Gesellschaft bereit sein, auf mögliche therapeutische Fortschritte zu verzichten, und dies
auch durch rechtliche Verbote einfordern. Die Gesundheit ist nicht das höchste und erst recht nicht das einzige zu
schützende Gut.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 899–900 [Heft 14]
Literatur
1. Bayertz K: (Ed.) (1996) Sanctity of Life and Human
Dignity, (Kluwer) Dordrecht (NL).
2. Eibach U: (2000) Menschenwürde an den Grenzen
des Lebens, (Neukirchener Verlagshaus) NeukirchenVluyn.
3. Rager G (Hrsg.) (1998): Beginn, Personalität und
Würde des Menschen, (Alber) Freiburg, 2. Aufl.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach
Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Bonn
und Pfarrer an den Universitätskliniken Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25, Haus 30, 53105 Bonn
E-Mail: [email protected]
D O K U M E N T A T I O N
Heft 27, 6. Juli 2001
DISKUSSION
zu dem Beitrag
Embryonenforschung
in Europa
Gesundheit ist nicht
das höchste Gut
von
Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach
in Heft 14/2001
Keine stichhaltigen
Argumente
Der Verfasser argumentiert gegen die
Embryonenforschung nach bewährtem
Muster. Er begründet die Menschenwürde mit der Gottebenbildlichkeit des
Menschen und behauptet, dass ohne religiöse Voraussetzungen das christlich
geprägte Verständnis dieser Menschenwürde schwierig zu begründen sei, um
dann nahezu übergangslos die „empiristische“ Position zu kritisieren, die nicht
mehr den ganzen Menschen zum Subjekt der ethischen Betrachtung mache,
sondern nur noch Teile des Großhirns.
Ohne weiteres sieht er in dieser philosophischen Position einen schlüpfrigen
Abhang, der über die Diskussion des
„minderwertigen“ zum „lebensunwürdigen“ Leben führe.
Leider enthält der ganze Artikel
kaum einen Gedanken, den man als
stichhaltiges Argument bezeichnen
könnte. Denn wenn man das Verbot,
frühe Embryonen zu „verbrauchen“, mit
der Notwendigkeit der Befolgung eines
göttlichen Willens begründet, so sind an
diese Regelung mehrere Voraussetzungen geknüpft: Es müsste zum Beispiel ein
Gott existieren, wovon viele Menschen
nicht überzeugt sind, und dieser Gott
müsste die Tötung von Embryonen verboten haben. Dass darüber hinaus noch
zu fragen wäre, inwiefern wir Menschen
diese Gebote zu befolgen hätten, soll
hier nicht weiter diskutiert werden.
Aber selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt wären, müsste noch die
Frage beantwortet werden, wieso dieser
göttliche Wille für Embryonen gültig
wäre, nicht aber zum Beispiel für passive Sterbehilfe, Notwehr, Tötungen im
Verteidigungskrieg oder sogar die Todesstrafe, die von der katholischen Kirche bekanntlich gebilligt wird.
Darüber hinaus ist bei konsequenter
Befolgung des Menschenwürdeprinzips, wie es Eibach vertritt, völlig unklar, wieso nicht massivster Widerstand
gegen millionenfache Tötungen von
unschuldigen Embryonen im frühen
Stadium (durch Gebrauch von Intrauterinpessaren) vonseiten der offiziellen Kirchenvertreter erfolgt. Immerhin
handelt es sich bei der Nichtbeachtung
des Tötungsverbotes der Bibel um eine
Todsünde, die nach zumindest katholischer Lehre den ewigen Tod in der Hölle bedeutet, wenn „sie nicht durch Reue
und göttliche Vergebung wieder gutgemacht wird“ (Katechismus der katholischen Kirche 1993, 1860). Bei konsequenter Sichtweise wäre dann sogar der
Einsatz des verstorbenen Apostelnachfolgers Dyba, der außer verbaler Kritik
an der Abtreibung noch die Kirchenglocken zu unpassenden Zeiten betätigte, als zu gemäßigt zu qualifizieren. Hier
bleibt also für Professor Dr. theol. U.
Eibach noch einiges zu tun.
Die von ihm konstruierte Verbindung „empiristische Philosophie“ und
„lebensunwertes Leben“ dagegen bedarf eigentlich kaum eines Kommentars. Wer keine besseren Argumente
hat, greift zum nächst verfügbaren: dem
Dammbruchargument. Es ist deshalb
bei Menschen, die gewohnt sind, wenig
Zeit mit Nachdenken zu verbringen, so
erfolgreich, weil es prinzipiell unwiderlegbar ist : Es ist nämlich keine ethische
Entscheidung vorstellbar, die nicht zumindest theoretisch den Gefahren des
Dammbruchs ausgesetzt wäre.
Dr. med. Martin Klein,
Hermann Hesse Weg 2, 97276 Margetshöchheim
Zustimmung
Ich kann den Ausführungen von Herrn
Eibach nur vollstens zustimmen. Das
starke Forschungsinteresse und das methodisch Interessante und Machbare
dürfen unsere Gesellschaft nicht dazu
verleiten, in ihren ethischen Grundsätzen unscharf zu werden. Je laxer wir mit
der Definition des Lebens umgehen, desto stärker machen wir uns selbst zum
„Schöpfer“ von Leben und Tod. Dies wäre ein fataler Irrtum. Auch kann es uns
zum Bumerang im Alter werden, wenn
uns das Recht auf Leben einmal verneint
wird, zum Beispiel weil unsere „seelischgeistigen“ Qualitäten nachlassen.
Dr. med. Mathias Brinschwitz,
Georg-Voigt-Straße 21, 35039 Marburg
Widersprüche
Ohne die grundsätzlichen Feststellungen Eibachs zur Unantastbarkeit der
Menschenwürde infrage stellen zu wollen, sehe ich doch in zwei Punkten seiner Ausführungen Widersprüche:
Eibach äußert, Voraussetzung für
„individuelles Leben“ sei, dass „ein zu
einer Ganzheit integriertes, also organismisches Lebensgeschehen feststellbar sein (muss), das in Interaktion mit
seiner Umwelt (beispielsweise Eileiter,
Gebärmutter) zu einer eigenständigen
Lebensdynamik fähig ist (Stoffwechsel,
Wachstum)“.
Nun liegt es aber auf der Hand, dass
das nach der Befruchtung entstehende
Zellkonglomerat ohne Nidation nicht
lebensfähig ist. Wird die Nidation durch
natürliche oder künstliche Umstände
verhindert, geht der Zellverband zugrunde.
Eibach wendet sich gegen den
Standpunkt der Abhängigkeit einer
Teilhabe an der Menschenwürde von
der Entwicklung bestimmter Bereiche
des Großhirns.
Es besteht aber spätestens seit der
Verabschiedung des Transplantationsgesetzes vom 5. November 1997 ein allgemeiner Konsens, dass mit dem Hirntod der Individualtod des Menschen
eingetreten ist und danach Teile des
menschlichen Organismus für medizinische Zwecke verwendet werden dürfen.
Wenn man also der Linie Eibachs
konsequent folgen wollte, verstieße sowohl der Gebrauch der Spirale zur
Empfängnisverhütung als auch die Organentnahme zu Transplantationszwecken beim hirntoten Organismus
gegen die Menschenwürde.
Meines Erachtens muss ein ethisches
Prinzip unabhängig von seinen Wurzeln
in sich schlüssig sein, um den Anspruch
79
D O K U M E N T A T I O N
allgemeiner Verbindlichkeit erheben
und als Vorgabe für den Gesetzgeber
dienen zu können.
Prof. Dr. med. habil. H. W. Opderbecke,
Kesslerplatz 10, 90489 Nürnberg
Präventivmedizinische
Aufgabe
In seinem Beitrag fordert Eibach, dass
Gesundheit beziehungsweise ihre Wiederherstellung nicht durch Verletzung
der Menschenwürde erkauft werden
dürfe. Damit wird auf ein immer auffälliger werdendes Grundproblem in der
Medizin hingewiesen, dass nämlich Gesundheit und Menschenwürde, anstatt
sich zu ergänzen, in ein gegensätzliches,
beinahe sich ausschließendes Verhältnis zueinander geraten könnten.
Während die medizinischen, die Menschenwürde verletzenden Übergriffe
im Nationalsozialismus sowohl ethisch
als auch rechtlich klar bewertet werden
konnten, ist die Frage nach der Verletzung der Menschenwürde heute offensichtlich nicht eindeutig zu beantworten, wenn es um das Forschen an Embryonen, aber auch um menschliches
Klonen oder um Babys nach Maß usw.
geht. Ein solches Auseinanderdriften
von Gesundheit und Menschenwürde
bedeutet aber, die Gesellschaft einer
Zerreißprobe auszusetzen. Abgesehen
von dem verfassungsrechtlichen Gebot
zur Menschenwürde (Art. 1. Abs. 1 des
Grundgesetzes) wäre die Gesundheit
nur noch ein zweifelhaftes Gut, wenn
sie zu dem Verständnis von Menschenwürde in einem Widerspruch stünde.
Der Medizin sollte es vielmehr darum
gehen, die gemeinsame Schnittfläche
von Gesundheit und Menschenwürde
zu fassen und diese für das medizinische
Handeln und Forschen zu erschließen.
Die wirklich strittige Frage ist aber,
wie Eibach hervorhebt, welche Auffassung von Menschenwürde denn nun bei
den anstehenden Entscheidungen in
der medizinischen Forschung und Therapie gelten soll: die religiös-transzendentale oder die positivistisch-empirische. Es mag aus medizinisch-naturwissenschaftlicher Sicht schwer fallen, anstelle von empirisch begründbaren
theologische Argumente zu übernehmen. Nach Spaemann ist es aber die re-
80
ligiös-metaphysische Dimension der
Würde, die dem menschlichen Leben
die herausgehobene Wertigkeit verleiht. „Es ist ein auch heute noch nicht
ganz ausgestorbener Irrtum, man könne die religiöse Betrachtung der Wirklichkeit fallenlassen, ohne dass einem
etliches andere mit abhanden kommt,
auf das man weniger leicht verzichten
möchte“, schreibt er in seinem „Über
den Begriff der Menschenwürde“ betitelten Aufsatz (Spaemann, 1987).
Ganz unabhängig von den ethischphilosophischen oder theologischen
Aussagen zur Frage, ob Embryonen
Menschenwürde zusteht, müssen auf jeden Fall die hier relevanten medizinischepidemiologischen Zusammenhänge,
wenn es doch um Gesundheit geht, beachtet werden. Wie zahlreiche sozialmedizinisch-epidemiologische Untersuchungen ausweisen, steht das Schutzziel
Gesundheit mit anderen Wertebereichen in einem engen Bedeutungsund Funktionszusammenhang. Natürlich
sind es Menschenwürde – im Gegensatz
zum Menschenhass –, aber auch Selbstwertgefühl, Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit, die soziale und biologische
Lebenszusammenhänge durchdringen
und Gesundheit des einzelnen und der
Allgemeinheit fördern (Antonovsky,
1997). Diese Qualitäten, nur weil sie naturwissenschaftlich unzugänglich sind
oder weil auch Gelehrte über ihre Bedeutung streiten mögen, nun dem Menschen dort vorzuenthalten oder auszureden, wo er sie nicht gerade expressis verbis beansprucht und erkämpft, führt vor
allem zur Schwächung gesundheitsfördernder Systemzusammenhänge.
Durch Zuweisung von Menschenwürde und von Achtung vor Mensch und
Natur (dazu zählen Embryonen) ist uns
– Art.1. Abs.1 GG außer Acht lassend –
eine Möglichkeit und Chance gegeben,
eine bestimmte soziale Wirklichkeit zu
erzeugen und dadurch Wohlbefinden
und gesundheitsfördernde Lebensbedingungen zu schaffen. Diese Möglichkeit zu nutzen, ist eine präventivmedizinische Aufgabe, sie ungenutzt zu lassen,
bedeutet ein Weniger an Gesundheit.
Literatur beim Verfasser
Prof. Dr. med. Hartmut Dunkelberg,
Abteilung Allgemeine Hygiene und Umweltmedizin
der Universität Göttingen,
Windausweg 2, 37073 Göttingen
PID
„Ein Verfahren zur
Selektion“
Bei der Präimplantationsdiagnostik
(PID) handelt es sich nach Auffassung
der Organisation „Ärzte für das Leben“ (ÄfdL) ausschließlich um ein Selektionsverfahren. Die Organisation
lehnt deshalb in einer Stellungnahme
den „Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer ab. Sie befürchtet,
dass durch die Einführung der PID gesellschaftliche Vorurteile gegen Behinderte verstärkt werden und dass sich die
Tendenz verhärtet, „im behinderten
Mitmenschen allein den ,Belastungsfaktor‘ zu sehen, statt ihn als prinzipiell
Gleichberechtigten zu achten“. Die
Äfdl befürchtet, dass das Lebensrecht
behinderter Menschen infrage gestellt
werden könnte. Die Verfahren der Invitro-Fertilisation seien deshalb auf
Fälle der Sterilitätsbehandlung zu beschränken. Ein ursprünglich ärztliches
Behandlungsverfahren dürfe nicht zu
Selektionszwecken missbraucht und zu
eugenischen Handlungsspielräumen erweitert werden. Wenn erblich schwer
belastete Paare einen dringenden Kinderwunsch äußerten, empfiehlt die Organisation die Adoption als eine humane Alternative.
Ein Recht auf ein gesundes Kind gibt
es nach Auffassung der Ärzte für das
Leben nicht. Jeder ungeborene und geborene Mensch habe ein persönliches
Recht auf Leben. Zwar fordere auch
der Diskussionsentwurf strenge Bestimmungen, doch diese könnten
schnell überholt werden, befürchten die
Ärzte für das Leben. Sie lehnen auch
die verbrauchende Embryonenforschung ab. Die Verfahren der künstlichen Befruchtung müssten vor einer
solchen Möglichkeit rechtlich über
das Embryonenschutzgesetz abgesichert bleiben. Die ÄfdL fordert, den
Gesetzestext so zu formulieren, dass
Missdeutungen nicht mehr möglich
sind.
Der gesamte Text der Stellungnahme
kann abgerufen werden unter www.
Kli
aerzte-fuer-das-leben.de
D O K U M E N T A T I O N
Heft 15, 13. April 2001
N
ach der Äußerung der EnqueteKommission des Deutschen Bundestags scheint festzustehen, dass
ohne eine Gesetzesänderung Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland
nicht möglich sein wird. Damit ist der
Weg frei für eine tief greifende Debatte,
die Zeit der Taktiererei ist vorbei.
In der nun anstehenden Debatte werden auch die Motive der Akteure von Interesse sein. Gerade bei Menschen, die
in ethischen Debatten eher unerfahren
sind – was niemandem vorzuwerfen ist –,
bestimmen oftmals das Ziel, der
Wunsch, das Wollen auch die Argumente. Doch ethische Grundprinzipien bestimmen das Gewicht der Argumente,
nicht umgekehrt.
In der Diskussion mit Gesundheitspolitikerinnen – vor allem der SPD – ist mir
ein Argument immer wieder vorgehalten worden, mit dem man sich intensiv
auseinander setzen muss: PID sei eine
Form des Selbstbestimmungsrechts der
Frau. („Mein Bauch gehört mir.“) Hinter der PID-Debatte stehe die Fortsetzung des Befreiungskampfes der Frau in
unserer Gesellschaft.
Verkürzt gesagt, Politikerinnen, die
noch geprägt sind von der Abtreibungsdebatte der 70er- und 80er-Jahre, vermuten
einen Rückschritt hinter die Positionen,
die sie mühsam erkämpft haben. Wieder
einmal sehen wir, wie viele Zusammenhänge es zwischen der §-218-Debatte und
der PID gibt. Aus der Sicht der reinen
Ethik war und ist der § 218 ein Sündenfall.
Und doch: Mit diesem Bruch müssen wir
alle leben, denn die Neuregelung des § 218
hat zugleich Millionen Frauen aus Abhängigkeit, Zweifel und Not befreit. Das muss
gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert
werden.
Bei der PID hingegen geht es nicht um
Millionen Frauen, sondern höchstens um
50 bis 100 Paare. Ihnen soll auch nicht das
Recht auf Schwangerschaftsabbruch genommen werden – alle Methoden der pränatalen Diagnostik und die daraus abzuleitenden Indikationen zum straffreien
Schwangerschaftsabbruch stehen ihnen
nach wie vor offen.
Und schließlich, Regine Kollek; die
Hamburger Medizinethikerin wird nicht
müde, darauf hinzuweisen, dass gerade
die Anwendung der PID Frauen noch
mehr belasten kann als der Verzicht.
Schließlich muss eine IVF mit all ihren
PID
Motivsuche
technischen und hormonellen Manipulationen, ihren Imponderabilien und Risiken an Frauen vorgenommen werden, die
in der Lage sind, ihre Kinder auf normalem Wege zu konzipieren. Insofern hat also der Verzicht auf PID nichts mit einer
Einschränkung der Rechte von Frauen zu
tun, schon gar nichts mit einem Zurückdrehen der aus dem § 218 abgeleiteten
Frauenrechte.
Unser
Bundeskanzler,
Gerhard
Schröder, hat sich nun auch in letzter
Zeit intensiv um das Thema gekümmert.
Was treibt ihn auf dieses ethisch schwierige Feld? Hier gibt es nur Vermutungen,
die sich aus seinen sonstigen Aktivitäten ableiten lassen. Schröder ist ein
Politiker, der immer dann aktiv wird,
wenn
> große Populationen betroffen sind,
> das Thema weite Bevölkerungsbereiche anspricht,
> wissenschaftliche Möglichkeiten
und Freiheitsräume eingeschränkt werden oder
> wirtschaftliche Interessen tangiert
sind.
Nimmt man die Ankündigungen
ernst, dass die PID auf wenige schwerwiegende Indikationen beschränkt bleiben soll, dann werden weder große Populationen betroffen sein, noch wird die
PID, ausgeführt an 50 bis 100 Paaren
jährlich, ein wirtschaftlich nennenswertes Feld werden. Diese Argumente
scheiden also aus.
Auch ist die Bevölkerung, das belegen
alle Umfragen, mehrheitlich gegen alle
Manipulationen am Embryo, auch gegen
PID. Durch die Erklärung zur „Chefsache“ ist hier also auch kein „politischer
Blumentopf“ zu gewinnen.
Wissenschaftlich ist die PID ein seit
rund zwanzig Jahren bekanntes Verfahren. In der Biologie, an Tieren schon viel
verwendet, selbst am Menschen (im Ausland) längst erprobt. Wissenschaftlich also auch nichts Neues!
Bleibt die Frage nach übergeordneten
wirtschaftlichen Motiven. Wir wissen,
dass der Kanzler auch eine intensive De-
batte um die Verwendung von embryonalen Stammzellen und „therapeutisches Klonen“ angestoßen hat. Der
Kanzler selber scheint diesen Methoden
offener gegenüberzustehen als weite
Teile der Bevölkerung. Er hat großes Interesse an biotechnologischen Verfahren
und will diese befördern. Ihn treiben dabei vorrangig wirtschaftspolitische Motive.
Er ist sich der Tatsache bewusst, dass
die Verwendung embryonaler Stammzellen heute noch vom Embryonenschutzgesetz verboten ist. Für eine Änderung dieser Bestimmung bestehen zurzeit weder
Mehrheiten im Parlament noch in der Bevölkerung.
Würde man aber die PID – am unauffälligsten, und deshalb von politischen
Befürwortern der PID am liebsten gesehen, durch untergesetzliche Regelung
über eine Richtlinie der Bundesärztekammer – zulassen, würde ein offener
logischer Bruch entstehen, dass Embryonenmanipulationen und Verbrauch
von Embryonen zum Nutzen einzelner
Paare zwar zulässig, Forschung zur Heilung ganzer Volkskrankheiten (so zumindest die euphorischen Heilsversprechungen mancher Wissenschaftler) aber verboten bliebe. In die Debatte um die ethischen Probleme an Anfang und Ende
des Lebens wäre eine weitere Irrationalität eingeführt, die uns weg von der reinen Ethik hin zu einer pragmatischen
Moral führt.
Im Klartext: Ich befürchte, dass das
Engagement des Kanzlers vor allem ein
dialektischer Trick ist, da ihm längst bewusst geworden ist, dass mit der Zulassung der PID auch die Vorbehalte gegen embryonale Stammzellforschung und
therapeutisches Klonen fallen werden.
Damit aber wäre die Tür geöffnet für ein
wissenschaftliches und wirtschaftliches
„Eldorado“ – dann gäbe es kein Halten
mehr.
Dr. med. Frank Ulrich Montgomery
Der Verfasser ist Präsident der Ärztekammer Hamburg
und 1. Vorsitzender des Marburger Bundes.
81
D O K U M E N T A T I O N
Heft 20, 18. Mai 2001
Präimplantationsdiagnostik
„Eine SiegerBesiegten-Stimmung darf
nicht aufkommen“
Interview mit Professor Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,
dem Präsidenten der Bundesärztekammer und des
Deutschen Ärztetages, über PID, PND, Embryonenschutz
und die Haltung der Ärzteschaft
DÄ: Seit knapp eineinhalb Jahren läuft
der von der Ärzteschaft angestoßene gesellschaftliche Diskurs über die Präimplantationsdiagnostik, ausgehend von
dem Diskussionsentwurf einer Richtlinie
des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer. Hat die öffentliche Diskussion Sie beziehungsweise die Bundesärztekammer in der Entscheidungsfindung vorangebracht?
Hoppe: Wir haben diesen Diskurs
ja nicht primär angestoßen, sondern vielmehr eine mehr im Verborgenen stattfindende Diskussion öffentlich gemacht.
Damals, nach dem Regierungswechsel,
hatte die neue Bundesregierung gesagt,
sie wolle das Thema gesetzlich regeln.
Und wir wollten, dass niemand sagen
kann, er habe nicht gewusst, um was es
geht, wenn die Entscheidungen des Gesetzgebers gefällt werden. Dieses Ziel haben wir erreicht. Die Probleme um die
Präimplantationsdiagnostik, aber auch die
weitergehenden Komplexe wie Stammzellzüchtung, Embryonenforschung, Embryonenverbrauch sind in der Öffentlichkeit mittlerweile sehr bekannt.
DÄ: Wie aber steht es um den Entscheidungsprozess innerhalb der Ärzteschaft?
Hoppe: Auch bei uns selbst ist die Diskussion weitergegangen. Wir sind uns
aber klar darüber, dass man über etliche
Konfliktfelder nicht nach Mehrheitsbildung innerhalb der Ärzteschaft abstimmen kann. Wir können Rat erteilen, können die Alternativen benennen, die sich
ergeben, und können so die Gesellschaft
vorbereiten, um eine Mehrheitsbildung
im politischen Raum zu beschleunigen
oder überhaupt erst möglich zu machen.
DÄ: Haben diese langen Diskussionen
und das Abwarten nicht dazu geführt,
dass das Thema PID schon fast verlassen
worden ist und inzwischen über die von
Ihnen erwähnten weitergehenden Möglichkeiten laut nachgedacht wird, siehe die
jüngste Stellungnahme der DFG zugunsten der embryonalen Stammzellforschung?
Hoppe: Die Stammzellforschung ist
nicht neu und auch nicht mehr aufzuhalten. Es handelt sich um eine weltweit
stattfindende Entwicklung, die man dadurch, dass Deutschland sich aus dieser
Diskussion heraushalten würde, nicht
verhindert. In Hinblick auf die Zielsetzung der Forschung mit embryonalen
Stammzellen sehe ich auch keinen direkten Zusammenhang mit der PID. Eine
gemeinsame Zielsetzung erkenne ich
vielmehr bei Präimplantationsdiagnostik,
Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin. Eine losgelöste Diskussion um
Präimplantationsdiagnostik mit der Zielrichtung, allein diese zu verbieten, die
PND aber nicht, halte ich für einen logischen Bruch. Bei uns geht es auch um die
Frage, ob Präimplantationsdiagnostik
denjenigen Paaren angeboten werden
soll, die sonst eine „Schwangerschaft auf
Probe“ eingehen würden.
DÄ: Meine Frage zielte in eine andere
Richtung. Um sie zu präzisieren: Ist PID
nur ein Einfallstor für weitergehende Forschung, die zurzeit noch verboten ist?
Hoppe: Nein. Ich denke, dass die PID
auch bei denjenigen, die sie entwickelt
haben und die sie heute in anderen Ländern anwenden, nur darauf zielt, den Paaren, die eine Erblast mit sich tragen, zu einem gesunden Kind zu verhelfen. Wenn
man diese Diagnostik nicht zulässt, bedeutet das, dass man diese Paare implizit
PID = Präimplantationsdiagnostik
PND = Pränataldiagnostik
IVF = In-vitro-Fertilisation
DFG = Deutsche Forschungsgemeinschaft
Frau Däubler-Gmelin = Bundesjustizministerin
Frau Fischer = frühere Bundesgesundheitsministerin
auf Pränataldiagnostik im Sinne der
Schwangerschaft auf Probe verweist.
Darin sehe ich das Problem. Wenn man
diesen Zusammenhang verneint und sagt,
mit PID solle der Weg zur Stammzellforschung und weiteren genetischen Forschung geebnet werden, und gäbe es
dafür Beweise, dann würde ich sagen:
Nehmen wir in Gottes Namen die Pränataldiagnostik mit Spätabtreibung in Kauf
und lassen PID nicht zu. Aber ich sehe
den Zusammenhang so nicht.
DÄ: Sind Sie demnach guter Hoffnung,
dass man die PID mit ganz engen Indikationen und unter strengen Kriterien einführen kann, ohne dass das zu Weiterungen führt?
Hoppe: Ja, da bin ich sicher – wenn man
PID unter Kontrolle hält. Eine solche
Kontrolle muss gewährleistet sein, andernfalls sehe ich die Gefahr des Missbrauchs bis hin zur Menschenzüchtung.
DÄ: PID enthält als Grundgedanken
die Auswahl nach lebenswertem und lebensunwertem Leben. Dieser Grundgedanke könnte, wenn er bei der PID gesellschaftlich akzeptiert wird, auch auf andere
Lebenserscheinungen übertragen werden.
Oder ist es ein purer Zufall, dass parallel
mit der PID-Diskussion auch eine Diskussion über die Beendigung des Lebens im
Alter geführt wird, nicht nur in Holland,
sondern auch bei uns?
Hoppe: Die Euthanasiediskussion ist
wesentlich älter als die Diskussion über
PID. Sie läuft mit wechselnden Höhen
und Tiefen schon seit Mitte der 70er-Jahre. Im Moment erleben wir ein besonderes Interesse vor allem infolge
der Diskussion in Holland. Zweifelhafte
Umfragen heizen die Stimmung zusätzlich an. Doch wenn die deutschen Bürgerinnen und Bürger konkret gefragt würden und genau wüssten, was hier gemeint
ist, dann würde in Deutschland mit Sicherheit Euthanasie in dieser Form, wie
sie in Holland geübt wird, also Einschläferung von Menschen, von denen man
meint, dass sie kein lebenswertes Leben
mehr führen, abgelehnt werden. Ich glaube, die Diskussionen um PID und Sterbehilfe werden eben doch unabhängig voneinander geführt. Die PID sehe ich genauso wie die PND primär nicht als selektive
Methode, sondern als eine Methode, erbbelasteten Eltern zu einem gesunden
Kind zu verhelfen. Man kann das ablehnen und empfehlen, Paare, die eine schwere erbliche Belastung mit sich tragen, sollten auf Kinder verzichten. Mir wäre am
liebsten, wenn das so wäre. Aber diese
Auffassung ist längst nicht mehr gesellschaftsfähig, seit die IVF zugelassen ist
und Pränataldiagnostik durchgeführt
wird mit dem Ziel, intrauterin eine Erbschädigung bei Kindern festzustellen und
83
D O K U M E N T A T I O N
diese Kinder dann abzutreiben. Nachdem
dazu offensichtlich ein gesellschaftlicher
Konsens besteht, ist PID nur eine Alternative zur PND. Diese ganze Diskussion
wäre im Übrigen überflüssig, wenn wir in
unserer Gesellschaft Behinderung ohne
Wenn und Aber akzeptieren würden. Damit hätten wir eine ganz andere Bewusstseinslage, dann müssten aber sowohl PID
als auch PND mit dieser Zielsetzung in
Deutschland verboten werden.
DÄ: Wenn man aus ethischen Erwägungen PND ablehnt, müsste man konsequenterweise auch gegen PID sein?
Hoppe: Ja, und umgekehrt.
DÄ: Sie verweisen immer wieder auf
diesen Zusammenhang von PND und
PID und argumentieren: Wenn wir PND
zulassen, dann müssen wir auch PID zulassen. Ist das nicht eine selbst gebaute Falle? Denn niemand wird PND verbieten,
nachdem sie einmal eingeführt ist; konsequenterweise müsste dann auch, wenn
man Ihrer Logik folgt, PID zugelassen
werden.
Hoppe: Ich sehe das nicht als Falle,
ich sehe das als eine logische Konsequenz. Wenn man allein PID verbietet,
hat man nicht die Welt in Ordnung gebracht. Ich will nicht alleine PID nicht,
ich will auch PND nicht. Denn wenn
man nur PID nicht will, dann verstärkt
man PND, denn PND ist dann die Methode der Wahl, oder PID-Auslandstourismus wäre dann die Alternative. Und
das kann doch nicht richtig sein.
DÄ: Müssten Sie dann nicht sowohl gegen PID als auch gegen PND zu Felde ziehen?
Hoppe: Das tue ich ja. Ich verweise bei
allen Gelegenheiten auf den direkten Zusammenhang zur PID und PND. Das darf
man nicht getrennt voneinander betrachten.
DÄ: Rübergekommen ist: PND und
PID sind eng verwandt, und wenn wir
PND haben, müssen wir PID zulassen.
Deshalb die Bemerkung von der selbst gebauten Falle.
Hoppe: Nein, ich argumentiere so, weil
ich nicht nur PND, sondern den ganzen
Paragraphen 218 neu diskutieren will. Ich
halte auch die Argumentation von Frau
Däubler-Gmelin für völlig richtig, die
sagt, wir kommen gar nicht umhin, in diesem Zusammenhang den 218 erneut zu
diskutieren. Frau Fischer wollte das ja
nicht. Frau Fischer wollte ich dazu bringen, PND neu zu überdenken, denn man
kann nicht schlüssig der Öffentlichkeit
klar machen, dass man gegen PID ist, und
PND unberührt lassen. Wenn man es
nicht mehr schafft, PND zurückzudrängen, wird sich auch PID etablieren. Das
würde ich sehr schweren Herzens ertragen wie damals, als PND zugelassen wur-
84
de und wie die Entwicklung des 218 überhaupt. Wer allerdings dagegen sagt: Wir
verbieten PID, und dann ist unser Gewissen entlastet, macht es sich zu einfach.
Und dieser Switch, PID sei nur das Einfallstor für Stammzellforschung, ist
künstlich, ein Stimmungsargument, aber
für mich nicht überzeugend.
DÄ: Aber es passt ins Bild, in dem PID
nur ein Teil ist; dazu gehört auch verbrauchende Embryonenforschung. Die DFG
hat diese gerade befürwortet. Wenn sich die
Politik dem anschließt, dann muss es zu einer Änderung des Embryonenschutzgesetzes kommen.Wenn das geändert wird, dann
ist vieles frei.
Hoppe: Auch für PID müsste das Embryonenschutzgesetz geändert werden.
DÄ: Der Auffassung war der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer aber nicht.
Hoppe: Ja, damals. Ich bin seit geraumer Zeit der Meinung, dass man das Embryonenschutzgesetz auf jeden Fall ändern müsste, wenn PID zugelassen werden soll, weil damit rechtliche Klarheit
geschaffen wird.
DÄ: Nehmen wir einmal an, das Embryonenschutzgesetz würde geändert, vielleicht im Sinne von PID, vielleicht aber
auch zugunsten verbrauchender Embryonenforschung. Glauben Sie, dass es dann
zu einer Stellungnahme der Ärzteschaft
kommen wird, oder bleibt die Ärzteschaft
dabei, wie Sie eben sagten, Alternativen
und deren Folgen aufzuzeigen und die Diskussion zu moderieren?
Hoppe: Ich glaube, dass wir als Ärzte
immer wieder klarstellen müssen, dass es
nicht so sein darf, dass Menschen selbst
im frühesten Stadium ihrer Entwicklung,
also von der Verschmelzung der Gameten an, für andere Menschen verfügbar
gemacht werden dürfen. Es darf nie sein,
dass Menschen für den Heilungsprozess
anderer ausgenutzt werden. Deswegen
müssen wir die Forschung mit adulten
Stammzellen fördern oder die ja auch in
der Diskussion befindliche Variante einer
Umlenkung der Entwicklung des noch
nicht befruchteten und noch nicht verschmolzenen Eies in Richtung der Produktion von Stammzellen. Es gibt Wissenschaftler, die sagen, es sei möglich, im
Vorkernstadium, ohne Erzeugung eines
Embryos im Sinne unserer Definition,
bereits Stammzellen zu produzieren, die
funktionstüchtig sind. Das wäre dann keine verbrauchende Embryonenforschung.
Wenn die Technik gelingen sollte, bliebe
zwar unser Verständnis vom menschlichen Leben unverändert, wie wir das bei
adulten Stammzellen erreichen wollen,
nämlich ohne die Produktion von
menschlichem Leben verursacht zu haben, das nur als Organbank dient.
DÄ: Demnach wäre es vorschnell, wenn
der Gesetzgeber durch Änderung des Embryonenschutzgesetzes die Gewinnung von
embryonalen Stammzellen fördern würde.
Er würde dann solche alternativen Forschungen behindern, indem er jetzt den einfacheren Weg eröffnet.
Hoppe: Man sollte alles unternehmen,
um die beiden alternativen Wege zu fördern und alles andere gesetzgeberisch erst
einmal nicht zuzulassen, damit man den
Druck nicht herausnimmt, in die beiden
anderen Richtungen weiterzukommen.
DÄ: Zwei eher praktische Fragen: Was
wird aus dem Richtlinienentwurf des Wissenschaftlichen Beirates, kommt er als
Richtlinie, oder bleibt er als Diskussionsentwurf liegen?
Hoppe: Wenn die PID zugelassen wird,
also das Embryonenschutzgesetz so geändert wird, dass diese Methode erlaubt wird, dann sind wir bereit, bei der
späteren Operationalisierung eine entsprechend adaptierte Richtlinie auszuarbeiten, ähnlich wie bei der Pränataldiagnostik. Wenn PID in Deutschland eindeutig verboten bleibt, dann wird der
Entwurf als Diskussionsgrundlage zurückgezogen, das Thema hat sich damit
erübrigt.
DÄ: Beim kommenden Deutschen
Ärztetag werden die Themen PID und
Embryonenforschung sicher zur Sprache
kommen. Nehmen wir an, der Ärztetag
wollte dazu Beschlüsse fassen. Sollte er
oder sollte er es bleiben lassen?
Hoppe: Ich glaube, wir müssen auf dem
Ärztetag erst einmal die Zusammenhänge
klarstellen und dort, wo sich aus ärztlicher
Sicht eine klare Meinung und auch eine
klare Hilfe für die Entscheidungsfindung
in der Öffentlichkeit formulieren lässt,
sollte der Ärztetag sich äußern. Eine Abstimmung über ethische Themen auf dem
Ärztetag, und das werden die Delegierten-Kolleginnen und -Kollegen auf dem
Ärztetag sicher selbst wissen, darf niemals
dazu führen, dass es eine Sieger-Besiegten-Stimmung gibt.
DÄ: Eine abschließende Frage: In
Schröders Nationalem Ethikrat ist die
Ärzteschaft als gesellschaftliche Gruppe
nicht vertreten. Stört Sie das?
Hoppe: Nein, das stört mich nicht. Ich
sehe den Ethikrat auch nicht so sehr als
aus gesellschaftlichen Gruppen zusammengesetzt, sondern mehr aus Professionen, und die Ärzteschaft ist insofern auch
fachkundig vertreten. Wenn die Ärzteschaft dort quasi als Körperschaft vertreten wäre, wären derjenige oder diejenige,
die dort tätig sein würden, ja an Gremienentscheidungen gebunden und damit in einer Konfliktsituation, die man
dem oder der Betreffenden nicht wünDÄ-Fragen: Norbert Jachertz
schen kann.
D O K U M E N T A T I O N
Heft 21, 25. Mai 2001
Gestaffeltes Schutzkonzept
D
ie
Präimplantationsdiagnostik
(PID) zählt zu den umstrittensten
Bereichen der modernen Gentechnologie. Welche Vorgaben für die
normative Einhegung der PID möglich
oder sogar geboten sind, beantwortet
sich vor allem nach den Bestimmungen
des Verfassungsrechts.Als kollidierende
Rechte stehen sich Berechtigungen der
Eltern einerseits und des in vitro erzeugten Embryos andererseits gegenüber.
Mitunter zeichnet sich die aktuelle
Debatte durch erstaunliche Argumentationskünste der Protagonisten beziehungsweise durch den Rückgriff auf
recht abwegige verfassungsrechtliche
Konstruktionen aus. So gewährt zwar
das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus
Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG –
ebenso wie der Schutz der Ehe nach
Art. 6 Abs. 1 GG – den Eltern das
Recht, über die eigene Fortpflanzung
zu bestimmen. Diese Berechtigung erfasst aber lediglich die Entscheidung
über das „Ob“ der Fortpflanzung. Ein
vermeintliches Recht der Eltern, nur
gesunde Kinder zu haben, wird hingegen nicht begründet. Ebenso wenig
räumt das allgemeine Persönlichkeitsrecht den Eltern einen Anspruch auf
Kenntnis der genetischen Information
des Embryos ein. Da der Embryo ein eigenständiges Rechtssubjekt darstellt,
endet hier das elterliche Selbstbestimmungsrecht.
Einschlägig sind lediglich die fundamentalen Verbürgungen der Menschenwürde sowie des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. So
berührt ein Verbot der PID das der
Mutter über Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Recht auf körperliche Unversehrtheit, wenn die Frau nach der
Implantation aufgrund der in Ermangelung einer Präimplantationsdiagnostik
nicht vorab diagnostizierten Behinderung des Kindes physische oder, aufgrund des Wissens um die Behinderung,
psychische Nachteile erleidet. Umgekehrt führt die gesetzliche Gestattung
der PID zu einer Aktivierung staatlicher Schutzpflichten. Eine Schutzpflicht kommt dem Staat nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere beim Schutz
des ungeborenen Lebens vor den Eingriffen Dritter zu. Ebenso gilt es, die
Würde des Embryos zu schützen, wobei
aber kein lückenloser, sondern lediglich
ein effektiver Schutz erforderlich ist.
Eine gesetzliche Regelung der PID
muss die genannten Rechtsgüter zu einem gerechten Ausgleich bringen. Welchen Mindestanforderungen ein solcher
Ausgleich grundsätzlich zu genügen hat,
wurde vom Bundesverfassungsgericht
vor allem im Hinblick auf die Abtreibungsproblematik ausführlich dargelegt.
Diese flexible Konzeption muss zur Vermeidung anderenfalls drohender Verwerfungen in der Systematik des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes analog
auf den Bereich der PID übertragen werden. Eine gesetzliche Regelung hat sich
an den folgenden Eckpunkten zu orientieren:
Die Selektion eines Embryos aufgrund PID ist infolge der staatlichen
Schutzpflicht gesetzlich zu verbieten.
Die ebenfalls zu berücksichtigende
Grundrechtsposition der Frau führt dazu, dass es in Ausnahmesituationen
zulässig ist, Ausnahmetatbestände von
einem solchen grundsätzlichen Verbot
vorzusehen. Ein solcher Fall besteht jedenfalls dann, wenn eine ernste Gefahr
für das Leben der Frau oder das Risiko
einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihrer Gesundheit zu befürchten
ist. Gleiches gilt für den Fall einer drohenden besonders schwerwiegenden
Behinderung des Kindes. Nur ein derartiges gestaffeltes Schutzkonzept vermag die erforderliche Abwägung der
betroffenen Rechtspositionen zu geDr. jur. Tade M. Spranger
währleisten.
Heft 22, 1. Juni 2001
104. Deutscher Ärztetag
Gespanntes Abwarten
D
ie CDU steckt in dem gleichen
Dilemma wie alle großen Organisationen, die ein weites Meinungsspektrum in sich vereinen und sich nunmehr zu Gendiagnostik und Embryonenforschung äußern müssen.
Da gibt es einerseits die Befürworter einer liberalen Handhabung,
die unser Land nicht vom tatsächlichen
oder vermeintlichen Fortschritt abkoppeln wollen, und da gibt es andererseits
jene, die auf tradierten Grundwerten
bestehen und befürchten, mit Präimplantationsdiagnostik werde der Weg
zur Menschenselektion beschritten und
mit Embryonenforschung werde bewusst die Tötung von Menschenleben
in Kauf genommen.
Die CDU-Spitze, die am 28. Mai
stundenlang beraten hat, hat schließlich den bewährten taktischen (Aus-)
Weg eingeschlagen: Man bekräftigt
das Bekenntnis zu den Grundwerten,
man erklärt das Leben von Anfang an
für schutzwürdig, man lehnt ganz eindeutig ab, was alle ablehnen, nämlich
Klonen und Embryonenforschung aus
schnöder Gewinnsucht, und hält sich
bei den wirklich umstrittenen Fragen
die Türen offen. PID lehnt die CDU
„nicht grundsätzlich“ ab, wohl aber deren eugenische Ausnutzung. Sie weiß
indes nicht so recht, wie das zu bewerkstelligen ist, und spricht sich für eine
weitere offene Diskussion aus. Sie
wartet zunächst mal ab.
Das Verhalten der CDU gleicht auffallend dem der Ärzteschaft. Auch die
steckt nämlich in jenem Dilemma, auch
sie muss gegensätzliche Meinungen
miteinander vereinbar machen – doch
die Kundigen ahnen, dass das letztlich
nicht geht. Am Ende könnten mit verschämter Freude jene stehen, denen der
„Durchbruch“ gelungen ist, und auf der
anderen Seite jene mit tapferer Miene,
die „alles versucht“ haben.
Bis auf weiteres setzt die Ärzteschaft
auf gesellschaftliche Diskussion und
wartet gleichfalls ab. Sie lehnt, abzulesen an Beschlussfassungen des jüngsten
Deutschen Ärztetages, Embryonenforschung, wie sie jüngst die Deutsche Forschungsgemeinschaft befürwortet hat,
85
D O K U M E N T A T I O N
Heft 22, 1. Juni 2001
ab. Allerdings – den Beschluss gilt es
aufmerksam zu lesen: Die Ablehnung
gilt „derzeit“. Die Haltung zur PID ist
weiterhin offen. Auch hier empfiehlt
sich, genau hinzusehen:Anträge, die auf
eine eindeutige Absage an PID zielten,
wurden vom Deutschen Ärztetag mit
deutlicher Mehrheit abgelehnt.
Am Ende des auch vom Ärztetag gewünschten „gesellschaftlichen“ Klärungsprozesses dürfte die „gesellschaftliche“ Entscheidung stehen, und die
Ärzteschaft wäre der eigenen Entscheidung enthoben. Sie hat freilich zuvor
die nötigen Informationen bereitgestellt, die Alternativen aufgezeigt, wie
es der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, in
einem Interview, das in Heft 20 erschienen ist, formuliert hat. Alsdann würde
die Ärzteschaft, so Hoppe, falls der Gesetzgeber den Embryonenschutz abschwächen sollte, nötigenfalls Richtlinien für die innerärztlich sachgemäße
Durchführung beschließen.
Bis dahin wird es noch eine Weile
dauern, der gesellschaftliche Diskurs
dauert an. Wem nützt die ablaufende
Zeit? Vordergründig beiden Richtungen. Die Gesellschaft ist in den letzten
Monaten tatsächlich, auch im Sinne derer, die zur Vorsicht raten, problembewusst geworden. Das ist gut so. Jeder
soll wissen, dass Grundfragen des Lebens zur Diskussion stehen. Die ablaufende Zeit nützt nicht zuletzt aber auch
den Befürwortern der liberalen Handhabung. Sie führen derzeit immer neue
medizinische und naturwissenschaftliche Bataillone und philosophische und
juristische Hilfstruppen ins Feld.
Bis zur Entscheidung des Gesetzgebers – der wird um eine solche nicht
herumkommen – herrscht gespanntes
Norbert Jachertz
Abwarten.
86
Gesundheits- und Sozialpolitik
Freiheit und Verantwortung
in der modernen Medizin
Auszug aus der Rede zur Eröffnung des 104. Deutschen
Ärztetages: Die Aussagen zur ärztlichen Ethik
Jörg-Dietrich Hoppe
Freiheit und Verantwortung in der modernen Medizin – das heißt für uns vor allen Dingen Freiheit in
Verantwortung. Diese ethische Selbstverpflichtung
eben ist der entscheidende Unterschied zur Beliebigkeit. Bei keinem anderen Thema offenbart sich
diese Differenz so gravierend wie bei der Diskussion
um die Sterbehilfe.
Die Entscheidung des niederländischen Parlaments, das Tötungsverbot in bestimmten Fällen aufzuheben und ärztlich gestützte Euthanasie zuzulassen, rührt an den Grundfesten einer humanen Gesellschaft. Es ist zu befürchten, dass nunmehr auch
in anderen europäischen Ländern diejenigen Auftrieb bekommen werden, die einer Legalisierung der
Euthanasie das Wort reden.
Für uns aber ist eine gezielte Lebensverkürzung
durch Maßnahmen, die den Tod herbeiführen oder
das Sterben beschleunigen sollen, nach wie vor mit
den Prinzipien des Arztberufes unvereinbar. Das hat
auch der Weltärztebund wiederholt festgestellt, zuletzt am vergangenen 5. Mai mit nur einer Gegenstimme, und die kam aus den Niederlanden.
Denn ethische Werte sind keine Modeerscheinungen der Postmoderne, ethische Werte sind Prinzipien des Humanismus, ihrem Wesen nach unverbrüchlich, vielleicht sogar naturgegeben. Wie
schnell allerdings solche Werte durch Ignoranz,
Ideologie oder schlicht durch eine Gebrauchsethik
ersetzt werden können, zeigt schon ein kurzer Blick
zurück in die Vergangenheit.
Das Euthanasie-Programm der Nazis, die Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens,
nahm seinen Anfang in der Diskreditierung des Verbots aktiver Sterbehilfe. Erst als Tötung auf Verlangen gesellschaftlich akzeptiert erschien und das unbedingte Lebensrecht des Menschen an sich schon
nichts mehr galt, begannen die Nazis mit der Massentötung behinderter Menschen. Der Bevölkerung
wurde dann eingeredet, man täte den „armseligen
Kreaturen“ – wie es damals hieß – nur einen Gefallen und gewähre ihnen deshalb den „Gnadentod“.
Ohne die Gleichgültigkeit beziehungsweise
schweigende Zustimmung in der Bevölkerung hätten
diese Mordtaten an psychisch Kranken, geistig und
körperlich Behinderten so nicht geschehen können.
Warum dieser kleine Exkurs in unsere Geschichte? Ich glaube, dass ethische Werte verteidigt werden müssen, wenn sie bewahrt werden sollen, dass
man für die Werte des Humanismus kämpfen muss
und dass Ignoranz und Gleichgültigkeit gegenüber
den Schwächeren der Anfang vom Ende sind.
Auch dürfen wir uns nicht gefälligen Argumentationen des Zeitgeistes hingeben und uns allzu sehr
von Meinungsumfragen beeindrucken lassen. Zumal wenn sie lapidar formuliert sind wie etwa „Sollte die aktive Sterbehilfe erlaubt werden?“. Wer
denkt da nicht sofort an das Selbstbestimmungsrecht des mündigen Menschen?
Wie aber würde wohl das Ergebnis einer solchen
Umfrage aussehen, wenn die Frage lautete: „Sollte
ihr Arzt Patienten im finalen Stadium töten dürfen?“
Wir müssen uns mit aller Macht dagegen wenden, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, das
Sterbehilfe zum Mittel der Wahl bei schwerstkranken und lebensmüden Menschen erklärt. Schon eine
Relativierung würde unweigerlich auf eine schiefe
Ebene führen. Denn dadurch würde auch der Druck
auf diejenigen Patienten, welche sich den Tod nicht
wünschen, sondern bis zum letzten Atemzug zu hoffen wagen, unerträglich steigen.
Jan Roß hat Recht, wenn er sagt: „Wer meint,
dass getötet werden darf, wer getötet werden will,
wird leicht zu dem Schluss kommen, dass nur der
nicht getötet werden darf, der nicht getötet werden
will.“ Zitatende
Es ist deshalb nicht nur Verpflichtung der Ärzte,
sondern aller Menschen in diesem Land, die Unverfügbarkeit menschlichen Lebens anzuerkennen und
zu bewahren. Deshalb plädieren wir mit Nachdruck
für einen Ausbau der Hospize und der palliativmedizinischen Versorgung und wenden uns mit aller
Macht gegen jeden Versuch, Ärzte zu staatlich legitimierten Euthanatikern zu machen!
N
Wie am Ende des menschlichen Lebens, so müssen
wir uns auch an dessen Beginn immer wieder dar-
D O K U M E N T A T I O N
auf besinnen, was originäre Aufgabe des Arztes ist.
Darüber haben wir gerade bei der Präimplantationsdiagnostik in der Ärzteschaft eine intensive
Diskussion geführt. Und ich bin dem Chefredakteur
des Deutschen Ärzteblattes, Herrn Jachertz, außerordentlich dankbar, dass er in einer umfangreichen
Dokumentation die verschiedenen Meinungsbeiträge für uns zusammengefasst hat.
Unser grundlegendes Problem in der Bewertung
neuester Medizintechniken liegt in ihrem offensichtlichen Wertewiderspruch. Einerseits versprechen sie
bisher unheilbare Krankheiten zu heilen oder zu verhindern,zum anderen aber drohen wir in die Selektion
oder Verwertung menschlichen Lebens zu geraten.
Auch der Gesetzgeber kann längst nicht mehr
Schritt halten mit medizinischem Fortschritt. So regelt das Embryonenschutzgesetz von 1990 zwar
den Umgang mit befruchteten Eizellen und Embryonen bis zur Nidation. Inwieweit aber die Präimplantationsdiagnostik – oder auch PID – mit diesem Gesetz vereinbar ist, ist nach wie vor umstritten.
Mit dem „Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie
zur Präimplantationsdiagnostik“ vom Februar vergangenen Jahres, in dem die Zulassungskriterien
äußerst restriktiv gefasst sind, haben wir den öffentlichen Diskurs zu diesem Thema gefordert, ja regelrecht provoziert. Wir wollten Problembewusstsein schärfen, und es sollte niemand mehr sagen
können, er habe nicht gewusst, um was es geht.
Dafür sind wir auch gescholten worden.
Aber es bleibt dabei, was auch Bundespräsident
Johannes Rau in seiner jüngsten, bemerkenswerten
Berliner Rede angemerkt hat:
„Nachdenken kann man nur, wenn zwischen
Entdeckung und Anwendung Zeit bleibt, wenn wir
die möglichen Folgen bedenken können, bevor sie
eingetreten sind.“ Zitatende
Ich darf noch einmal daran erinnern: Durch die
rasante Entwicklung im Bereich der Fortpflanzungsmedizin ist es in den vergangenen Jahren möglich
geworden, einen Embryo außerhalb des Mutterleibes zu erzeugen und bereits in den ersten Tagen
nach der Befruchtung auf bestimmte genetische Belastungen oder Chromosomenstörungen zu untersuchen. Nach einer solchen Präimplantationsdiagnostik kann entschieden werden, ob eine Einnistung erfolgen oder ob der Embryo dem Absterben
anheim gegeben werden soll.
PID ermöglicht es erblich schwer belasteten Paaren mit Kinderwunsch, auf eine so genannte
„Schwangerschaft auf Probe“, also auf Postnidationsdiagnostik beziehungsweise Pränataldiagnostik mit der möglichen Konsequenz eines Schwangerschaftsabbruchs, zu verzichten. In elf Ländern
der Europäischen Union ist die PID erlaubt, in drei
Ländern ausdrücklich verboten, in Deutschland bisher umstritten – und das zu Recht.
Denn allein schon aufgrund von Gesetzgebung
und Rechtsprechung ist der Mensch bei uns in seiner Entwicklung vom befruchteten Ei bis zum Greis
unterschiedlich geschützt:
1. Der Keim, also das in Teilung befindliche befruchtete Ei im Reagenzglas, ist de jure und zugleich
de facto geschützt.
2. Der Embryo im Mutterleib ist zwar de jure geschützt, de facto aber nicht:
a) vor der Nidation durch die Spirale oder die
Pille danach als Mittel der Einnistungsverhütung –
das heißt ohne konkrete Konfliktsituation Frau/Kind
b) nach der Nidation wegen der Möglichkeit des
Schwangerschaftsabbruchs wegen eines Konfliktes
Frau/Kind bis zur 12. Schwangerschaftswoche
c) während der gesamten Schwangerschaftsdauer bei so genannter medizinischer Indikation
(nach Pränataldiagnostik) bis zum Geburtsbeginn
3. Sonderfall: Ein Kind, das den Schwangerschaftsabbruch überlebt hat, ist de jure und de facto
geschützt – trotz des Konfliktes Frau/Kind.
Schlussfolgerung: Eine völlig inkonsistente
Rechtslage, die auch der Verfassung nicht entsprechen kann.
Eine unerträgliche Situation für unsere Gynäkologen und Perinatalärzte!
Darüber hinaus sind weitere wichtige Fragen ungeklärt:
> Wie lässt sich gewährleisten, dass der Embryo
nur auf die genetischen Belastungen oder Chromosomenstörungen der Eltern untersucht wird?
> Ist es sicher auszuschließen, dass die Entnahme einer Zelle zur Diagnostik wirklich keine Schädigung des „Rest“-Embryos zur Folge hat?
> Darf ein künstlich gezeugter Embryo im Reagenzglas nicht untersucht werden, während ein Embryo im Mutterleib jederzeit untersucht werden darf?
> Und schließlich: Lässt sich die Möglichkeit eines Spätschwangerschaftsabbruchs nach Pränataldiagnostik mit einem Verbot der PID widerspruchsfrei vereinbaren?
Wie wird denn schon jetzt im Rahmen einer IvFBehandlung mit Embryonen verfahren, die als schadhaft gelten oder infiziert sind? Man lässt sie sterben.
Ich persönlich sehe die Präimplantationsdiagnostik von ihrer Intention her genauso wie die Pränataldiagnostik primär nicht als selektive Methode,
sondern als eine Möglichkeit, erbbelasteten Eltern
zu einem gesunden Kind zu verhelfen. Man kann
das ablehnen und Paaren mit einer schweren erblichen Belastung empfehlen, auf Kinder zu verzichten. Das wäre uneingeschränkt auch meine Präferenz. Und ich stimme dem Bundespräsidenten uneingeschränkt zu in seiner Feststellung:
„Wenn es die Möglichkeit gibt, Kinder künstlich
zu erzeugen oder die genetischen Anlagen eines
Embryos zu testen – entsteht dann nicht leicht eine
Haltung, dass jede und jeder, der eigene Kinder bekommen will, auch das Recht dazu habe – und zwar
sogar ein Recht auf gesunde Kinder? Wo bisher unerfüllbare Wünsche erfüllbar werden oder erfüllbar
erscheinen, da entsteht daraus schnell ein Anschein
von Recht. Wir wissen aber doch, dass es ein solches Recht nicht gibt.“ Zitatende
Aber, meine Damen und Herren, ist diese Auffassung noch mehrheitsfähig, seit die In-vitro-Fertilisation zugelassen ist und Pränataldiagnostik durchgeführt wird mit dem Ziel, intrauterin mögliche Erbschädigungen bei Kindern festzustellen und diese
Kinder dann abzutreiben?
Deshalb sage ich: Durch ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik allein ist die Welt nicht in
Ordnung zu bringen. Die Problematik ist komplexer
und sollte nicht simplifiziert diskutiert werden.
Ich mahne aber zugleich, dass wir dann die PID
unter strikter Kontrolle halten müssen, damit nicht
Antworten gesucht werden auf Fragen, die wir nicht
stellen wollen. Dann nämlich wäre PID tatsächlich
der erste Schritt in Richtung Selektion.
Bedingt durch die derzeit ungeklärte Rechtslage
in Deutschland, sehen sich Ärzte häufig dazu gedrängt, Rat suchende Paare mit erblichen Belastungen in einer Konfliktsituation auf eine Behandlung
im Ausland hinzuweisen und sich dadurch möglicherweise strafbar zu machen. Dies ist für die Ärzteschaft eine untragbare Situation.
Deshalb appellieren wir dringend an den Gesetzgeber, eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen
und für den Fall einer Zulassung der PID weitere Kriterien einer restriktiven Handhabung mitzugestalten.
Diese ganze Diskussion wäre im Übrigen überflüssig, wenn wir in unserer Gesellschaft Behinderte
ohne Wenn und Aber akzeptieren würden.
Umso wichtiger ist es, dass wir Ärzte immer wieder klarstellen, dass Menschen selbst im frühesten
Stadium ihrer Entwicklung, also von der Verschmelzung der Gameten an, nicht für andere Menschen
verfügbar gemacht werden dürfen. Es darf niemals
so sein, dass Menschen für den Heilungsprozess anderer ausgenutzt werden. Verbrauchende Embryonenforschung lehnen wir deshalb strikt ab.
Eine ethisch vertretbare Alternative ist die Forschung mit adulten Stammzellen oder Stammzellen
aus Nabelschnurblut.Diese müssen wir fördern,so wie
es auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer
vorletzten Stellungnahme noch empfohlen hat. )
87
D O K U M E N T A T I O N
Heft 22, 1. Juni 2001
TOP I: Ethik
Die Unverfügbarkeit
menschlichen Lebens
Die Delegierten des Ärztetages legten sich (vorerst) fest:
nein zur embryonalen Stammzellforschung, nein zur
aktiven Euthanasie. Bei der Präimplantationsdiagnostik
konnten sie sich auf keine eindeutige Position einigen.
Der Gesetzgeber soll zunächst die Rechtslage klären.
D
ie Würde des Menschen ist unantastbar. Das wird wohl von niemandem bestritten. Doch ab wann
besitzt ein Embryo eine menschliche
Würde? Darf an menschlichen Embryonen geforscht werden, oder dürfen
gar embryonale Stammzellen zu Forschungszwecken hergestellt werden?
Nein – ist die Antwort des 104. Deutschen Ärztetages. Er erteilt der Herstellung, dem Import und der Verwendung
von embryonalen Stammzellen eine
klare Absage. Einschränkend wurde allerdings das Wort „derzeit“ eingefügt.
Der Ärztetag wandte sich damit gegen
die Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die den
Import embryonaler Stammzellen und
langfristig auch deren Gewinnung in
Deutschland zulassen will (dazu DÄ,
Heft 19/2001).
Dieser Vorstoß der DFG ziele auf
eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes ab, um die Forschung mit
embryonalen Stammzellen auch in
Deutschland zu ermöglichen. Der Ärztetag stimmt in dieser Frage mit Bundespräsident Johannes Rau überein, der
sich in seiner Berliner Rede „Wird alles
gut? – Für einen Fortschritt nach
menschlichem Maß“ am 18. Mai ebenfalls für eine Beibehaltung des Embryonenschutzgesetzes ausgesprochen hatte:
„Auch hochrangige Ziele wissenschaftlicher Forschung dürfen nicht darüber
bestimmen, ab wann menschliches Leben geschützt werden soll.“
Um die vielen noch offenen Fragen
der zellulären Entwicklungsbiologie
zu klären, seien weitere intensive
Forschungsanstrengungen notwendig,
heißt es in dem Beschluss. „Die Wissen-
88
schaftler müssen die Öffentlichkeit
sachlich und fundiert über die Grundlagen der Forschung mit embryonalen
und adulten Stammzellen informieren“, forderte der Ärztetag. Auch die
Quellen für menschliche Stammzellen
müsse man genau benennen (überzählige Embryonen, fetales Gewebe, adulte
Stammzellen). Dabei dürften sich Ärzte
und Patienten keine übertriebenen
Hoffnungen auf eine baldige therapeutische Anwendung dieser Techniken
machen. Die Öffentlichkeit müsse „ergebnisoffen“ in den Dialog über die
ethischen und rechtlichen Probleme
eingebunden werden, um Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Forschung
mit embryonalen Stammzellen zu erkennen.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, sagte, er erwarte, dass der Beschluss
eine politische Entscheidung zur embryonalen Stammzellforschung zumindest hinauszögere. Eine ethisch vertretbare Alternative sei die Forschung mit
adulten Stammzellen oder Stammzellen aus Nabelschnurblut. Diese müsse
gefördert werden, so wie es die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer
vorletzten Stellungnahme noch empfohlen habe.
Der Beschluss des Ärztetages wurde
mehrheitlich gefasst. Zum Thema Embryonenforschung gab es zuvor jedoch
erheblichen Diskussionsbedarf. Eine
ganze Reihe von Delegierten wollte einer Empfehlung des Vorsitzenden des
Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. KarlFriedrich Sewing, folgen, der dafür plädierte, zunächst das Votum des Beirates,
der sich in einem eigenen Ausschuss mit
dem Problem beschäftige, abzuwarten.
Zahlreiche Delegierte betonten dagegen, dass man die Debatte nur befördern könne, wenn man sich daran beteilige, statt abzuwarten.
Die Delegierten fordern
rechtliche Klarheit
Schwieriger als bei der embryonalen
Stammzellforschung fiel dem Ärztetag
eine Einschätzung der Präimplantationsdiagnostik (PID). Auf eine klare
Pro- oder Kontraposition wollte sich
die Mehrheit der Delegierten nicht festlegen. Ein Grund dafür ist die bisher
noch ungeklärte Rechtslage. Die Delegierten des Ärztetages appellierten deshalb an den Gesetzgeber, rechtliche
Klarheit über die Zulässigkeit der PID
herzustellen. Es müsse geklärt werden,
inwieweit genetische Untersuchungen
von Embryonen vor einer möglichen
Übertragung in die Gebärmutter mit
der geltenden Rechtslage zu vereinbaren seien.
Ärzte sähen sich häufig dazu gedrängt, Rat suchende Paare in einer
Konfliktsituation auf eine Behandlung
im Ausland hinzuweisen und sich dadurch möglicherweise strafbar zu machen. „Dies ist für die Ärzteschaft eine
untragbare Situation“, heißt es in dem
Beschluss. Für den Fall einer Zulassung
müsse der Gesetzgeber weitere Kriterien für eine maximale Eingrenzbarkeit
dieser Methode mitgestalten. Außerdem sollten zahlreiche noch offene Fragen geklärt werden, zum Beispiel wie es
zu gewährleisten sei, dass der Embryo
nur auf die genetischen Belastungen
oder Chromosomenstörungen der Eltern untersucht wird und ob sich die
Möglichkeit eines Spätschwangerschaftsabbruchs nach Pränataldiagnostik mit
einem Verbot der PID widerspruchsfrei
vereinbaren lässt.
Ein Antrag von Prof. Dr. med. Winfried Kahlke, Ärztekammer Hamburg,
sprach sich dafür aus, „PID nicht in die
medizinische Praxis aufzunehmen und
das Embryonenschutzgesetz in seiner
gegenwärtigen Fassung zu belassen“.
Nach Auffassung Kahlkes bedeutet die
Etablierung dieser Methode, dass die
Entscheidung, welche Kinder ausgetra-
D O K U M E N T A T I O N
gen werden sollen, bereits vor der
Schwangerschaft getroffen werde, um
die Geburt von kranken und behinderten Kindern zu verhindern. Damit stelle
PID den Einzug einer genetischen Selektion in die medizinische Praxis dar.
Das Argument, dass ein möglicher
Schwangerschaftsabbruch durch die
Vorauswahl des zu implantierenden
Embryos vermieden werden könnte,
hält Kahlke nicht für überzeugend. Der
Schwangerschaftsabbruch erfolge, um
eine als unerträglich beziehungsweise
als unzumutbar empfundene Belastung
der Schwangeren abzuwehren, die anders nicht abzuwenden sei. Das Verwerfen eines ungewollten Embryos im
Rahmen der PID beabsichtige, den Anspruch auf ein bestimmtes Kind zu erfüllen: „Eine Notlage, die durch kein
anderes Mittel abzuwenden wäre, liegt
hier nicht vor.“ Kahlke wies auch auf
die Gefühlslage der Betroffenen hin.
Die in der Selbsthilfevereinigung Mukoviszidose vertretenen Eltern und Patienten hätten schwere Bedenken gegen eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik.
Dass Behinderte dieser Methode
äußerst kritisch gegenüberstehen, ist
nachvollziehbar. Eine Äußerung von
Dr. med. Norbert Metke, Landesärztekammer Baden-Württemberg, dürfte
sie in ihrer Sorge bestärken. Metke bezeichnete die PID als „Pflicht der Ärzte“. Ärztliches Handeln sei immer ein
Eingriff in die Natur. „Wenn wir künstliches Leben schaffen, haben wir auch
die Pflicht, gesundes Leben zu schaffen.“ Metke, der als Orthopäde selbst
behinderte Kinder behandelt, ging sogar noch weiter und sagte: „Ich sehe
keinen Eigenwert in behindertem Leben.“ Die Bemerkung löste Pfiffe und
Buh-Rufe aus. Wenig später nahm Metke den „schlimmen Satz“ zwar wieder
zurück, sagte aber, dass er im Leid von
Behinderten nichts Positives erkennen
könne.
Mehrere Delegierte kritisierten Metke scharf. So meinte Dr. med. Helmut
Peters, Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, dass Kinder mit Trisomie 21
häufig zufriedener als „ambitionierte
Wissenschaftler“ seien. Peters zitierte
unter großem Beifall Erich Kästners
Gedicht „Der synthetische Mensch“.
Den darin beschriebenen Katalog-
Menschen, „mit Bärten oder mit Busen,
mit allen Zubehörteilen, je nach Geschlecht“, wollten die Delegierten offenbar nicht. „Behindertes Leben hat
denselben Eigenwert wie das von jedem
Delegierten hier im Raum“, sagte Rudolf Henke, Vorstandsmitglied der
Bundesärztekammer.
Bundespräsident Johannes Rau hatte in seiner Berliner Rede die PID als
eine Praxis bezeichnet, „die das Tor
weit öffnet für biologische Selektion,
für eine Zeugung auf Probe“. Ein
Recht auf gesunde Kinder gebe es
nicht. Noch so verständliche Wünsche
und Sehnsüchte seien keine Rechte.
Diese Auffassung wurde auch von Delegierten des Ärztetages geteilt, unter
anderem von Dr. med. Astrid Bühren,
Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer. In einem von ihr eingebrachten Antrag fragte sie, ob es gerechtfertigt sei, dass eine grundsätzlich fertile
Frau als Patientin dem In-vitro-Fertilisationsprogramm mit seinen potenziellen medizinischen Risiken zugeführt
werde. Bühren forderte eine „Abwägung, ob es gerechtfertigt ist, einem
grundsätzlich fertilen Paar, das Kinder
in intimer Zweisamkeit ohne technische Eingriffe und Laboratmosphäre
zeugen könnte, die invasive Eizellentnahme, die masturbatorische Samenzellspende, eine reduzierte Konzeptionschance, das Risiko emotionaler Krisensituationen und psychosomatische
Auswirkungen mit Einfluss auf die
Paarbeziehung anzuraten“. Dr. med.
Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer, sagte ebenfalls, dass die Präimplantationsdiagnostik keine „schöne, saubere Methode“ sei.
Es gab jedoch auch Befürworter der
Zulassung dieser Methode; Bührens Antrag wurde ebenso wie der von Kahlke
abgelehnt. Wenn jährlich mehr als
200 000 Embryonen weggeworfen würden, warum solle man dann nicht an ihnen forschen, fragte Dr. med. Ulrich
Lang, Landesärztekammer Hessen.
Wiederholt wurde eingewendet, dass
PID im Ausland erlaubt sei und dass
diese Möglichkeit von Paaren dann
auch genützt würde.
Hoppe äußerte Verständnis für die
Befürchtungen der Gegner der Präimplantationsdiagnostik. Er erläuterte aber
auch, warum seiner Auffassung nach die
Welt durch ein Verbot der PID nicht in
Ordnung zu bringen sei (dazu auch
das Interview mit Hoppe in DÄ,
Heft 20/2001). Er betrachte die Präimplantationsdiagnostik und die Pränataldiagnostik nicht primär als selektive Methode, sondern als eine Möglichkeit, erbbelasteten Eltern zu einem gesunden Kind zu verhelfen.
„Man kann das ablehnen, und Paaren
mit einer schweren erblichen Belastung empfehlen, auf Kinder zu verzichten. Das wäre uneingeschränkt
auch meine Präferenz.“ Es sei jedoch
fraglich, ob eine solche Auffassung
noch mehrheitsfähig sei, seit die Invitro-Fertilisation zugelassen sei und
Pränataldiagnostik vorgenommen werde, mit dem Ziel, intrauterin mögliche
Erbschädigungen bei Kindern festzustellen und diese Kinder dann abzutreiben. Wenn PID zugelassen würde, dürfte sie allerdings nur mit Restriktionen
erlaubt werden, „damit nicht Antworten gesucht werden auf Fragen, die wir
nicht stellen wollen. Dann nämlich wäre
PID der erste Schritt in Richtung Selektion.“
Bei der Einstellung zur aktiven Euthanasie waren sich die Delegierten einig. Die niederländische Regelung wird
von ihnen einmütig abgelehnt. „Aktive
Sterbehilfe ist das vorsätzliche Töten
von Menschen. Das steht in krassem
Widerspruch zum ärztlichem Auftrag,
das Leben zu schützen. Der ärztliche
Beruf würde so ein anderer, der Arzt
würde zum Vollstrecker werden“, heißt
es in einem Beschluss. Jeder Patient
müsse sich zu jeder Zeit sicher sein, dass
Ärzte konsequent für das Leben eintreten und weder aus wirtschaftlichen
noch aus politischen Gründen das Leben zur Disposition stellen. Diese Sicherheit könne nur dann garantiert
werden, wenn Ärzte das Töten von Patienten kategorisch ablehnen. Es gebe
schon Wissenschaftler, die von „Sterbekosten“ sprechen, wenn sie die Behandlung und Hilfe in der Zeit vor dem Tod
meinen. „Wenn Schwerstkranke schnell
und kostengünstig sterben wollen,
kommt eine makabre Kostenlogik in
Gang“, warnt der Ärztetag.
Inhalt des ärztlichen Auftrages sei,
Leiden zu lindern und Angst zu nehmen, um damit ein würdevolles Lebens-
89
D O K U M E N T A T I O N
ende zu ermöglichen. Als Alternative
zur aktiven Sterbehilfe müssten daher
die Voraussetzungen für eine weitere
Verbreitung und Anwendung der Palliativmedizin verbessert werden. Die
Ärztetagsdelegierten betonten, dass
das Sterben Teil des Lebens sei und
auch die letzte Phase des Lebens menschenwürdig gelebt werden könne. Deshalb müssten die für Krankenhauspla-
nung zuständigen Länder bei der Kapazitätenermittlung für die stationäre
Versorgung die Notwendigkeit palliativmedizinischer Maßnahmen einbeziehen. Über die Verbesserung der palliativmedizinischen Versorgung im Krankenhaus hinaus sei auch die weitere
Förderung und finanzielle Sicherstellung ambulanter und stationärer Hospizarbeit erforderlich. Gisela Klinkhammer
Heft 22, 1. Juni 2001
Entschließungen zum Tagesordnungspunkt I
Gesundheits-, Sozialund ärztliche Berufspolitik
Konflikte bei ärztlichen
Entscheidungen – am Beispiel
der Präimplantationsdiagnostik
Durch die rasante Entwicklung im Bereich der
Fortpflanzungsmedizin in den vergangenen Jahren ist es möglich geworden, einen Embryo außerhalb des Mutterleibs zu zeugen und bereits in den
ersten Tagen nach der Befruchtung auf bestimmte
genetische Belastungen oder Chromosomenstörungen zu untersuchen. Das Ergebnis dieser
Präimplantationsdiagnostik (PID) ermöglicht den
Eltern die Entscheidung, ob der Embryo implantiert werden soll.
Das Embryonenschutzgesetz (ESchG) von 1990
regelt den Umgang mit Gameten, befruchteten Eizellen und Embryonen im Zeitraum bis zur Einnistung des Embryos in den Uterus. Vom Beginn des
menschlichen Lebens an soll der Lebensschutz gewährleistet werden. Als Beginn wird nach § 8 Abs.
1 ESchG der Abschluss der Befruchtung der Eizelle, d. h. also die Kernverschmelzung in der befruchteten Eizelle mit der Entstehung eines neuen,
individuellen Genoms angesehen.
Juristisch ungeklärt ist bisher, inwieweit die PID
mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar ist.
1. Mit der Veröffentlichung des „Diskussionsentwurfs zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ im Februar 2000 hat die Ärzteschaft
die öffentliche Diskussion angestoßen und das
Problembewusstsein geschärft.
Die Ärzteschaft hat keine Entscheidung getroffen, sondern für den Fall einer Zulassung die
engstmögliche Zulässigkeit der ärztlichen Durchführung für PID beschrieben und einen möglichen
Verfahrensweg aufgezeigt.
2. Es ist Aufgabe der Ärzteschaft, in dem gesellschaftlichen Diskurs auf ethische Probleme
90
hinzuweisen, vor denen Ärzte mit ihren Patientinnen und Patienten stehen:
Die in der Reproduktionsmedizin tätigen Ärzte
stehen in der Situation, einerseits mit PID in Verbindung mit einer IvF über Methoden zu verfügen,
die Paaren mit monogenetischen Erkrankungen zu
einem nicht betroffenen Kind verhelfen könnten,
andererseits mit der gesellschaftlich anerkannten
Anwendung von Pränataler Diagnostik (PND) der
Frau eine „Schwangerschaft auf Probe“ und gegebenenfalls eine Abtreibung, den Verzicht auf Kinder, eine heterologe Befruchtung mit Spendersamen oder eine Adoption zuzumuten.
In diesem Zusammenhang ist es unerlässlich,
die offenen Fragen zu klären:
> Wie wird im Rahmen einer IvF-Behandlung
mit Embryonen verfahren, die sichtlich erkennbare
Zellveränderungen haben?
> Wie lässt sich gewährleisten, dass der Embryo nur auf die genetischen Belastungen oder
Chromosomenstörungen der Eltern untersucht
wird?
> Ist auszuschließen, dass die Entnahme einer
Zelle zur Diagnostik keine Schädigung des „Rest“Embryos zur Folge hat?
> Darf ein künstlich gezeugter Embryo im Reagenzglas nicht untersucht werden, während ein
Embryo ím Mutterleib jederzeit untersucht werden darf?
> Lässt sich die Möglichkeit eines Spätschwangerschaftsabbruchs nach Pränataldiagnostik mit einem Verbot der PID widerspruchsfrei
vereinbaren?
3. Die Ärzteschaft appelliert dringend an den
Gesetzgeber, eine Klärung der Rechtslage herbeizuführen und für den Fall einer Zulassung der PID
weitere Kriterien für eine maximale Eingrenzbarkeit mitzugestalten.
Im europäischen Ausland ist die Diskussion um
PID bereits Anfang der 90er-Jahre geführt worden
mit dem Ergebnis, dass die PID in vielen Ländern
„in Ausnahmefällen und mit strengen Indikationen“ zugelassen wurde. Mittlerweile sind weltweit 500 Kinder nach PID geboren. Um eine Ausweitung der Anwendung zu verhindern, wäre beispielsweise eine Beschränkung auf wenige Kompetenzzentren denkbar.
Bedingt durch die derzeit ungeklärte Rechtslage in Deutschland, sehen sich Ärzte häufig dazu
gedrängt, Rat suchende Paare in dieser Konfliktsituation auf eine Behandlung im Ausland hinzuweisen und sich dadurch möglicherweise strafbar
zu machen. Dies ist für die Ärzteschaft eine untragbare Situation.
4. Die Frage der Zulässigkeit der PID bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung.
Dabei bilden die normativen Maßstäbe der Verfassung den Rahmen des ethischen Diskurses.
Hierzu gehören die Würde des Menschen, die
Wahrung grundlegender Ansprüche und Rechte,
aber auch die Widerspruchsfreiheit der Normen
und die Verhältnismäßigkeit.
Mehrheitsentscheidungen im Vorstand der
Bundesärztekammer oder auf dem Deutschen
Ärztetag sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht zielführend, zumal ethische Konflikte nicht durch Abstimmung gelöst werden können.
5. Der Gesetzgeber allein ist legitimiert, darüber zu entscheiden, welche rechtlichen Grundlagen den Umgang mit diesen Konflikten bestimmen sollen.
)
Forschung mit humanen
embryonalen Stammzellen
Die Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Forschung mit menschlichen
Stammzellen vom Mai 2001 zielen auf eine Änderung des § 1 Embryonenschutzgesetz (EschG), um
eine Herstellung und Verwendung humaner embryonaler Stammzellen auch in Deutschland zu ermöglichen.
Der Deutsche Ärztetag stellt fest, dass derzeit
einer solchen Forderung einer Öffnung des ESchG
nicht gefolgt werden kann.
Die Öffentlichkeit muss ergebnisoffen in den
Dialog über die mit der Forschung an humanen
embryonalen Stammzellen verbundenen ethischen
und rechtlichen Probleme eingebunden werden,
um Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen zu erkennen. Auch der Import embryonaler
Stammzellen ist ethisch nicht akzeptabel.
Der Deutsche Ärztetag stellt fest, dass die Forschung an embryonalen sowie an gewebespezifischen (adulten) Stammzellen in den letzten Jahren
D O K U M E N T A T I O N
zu Fortschritten sowohl im Bereich der naturwissenschaftlichen als auch der medizinischen Erkenntnis geführt hat. Um die vielen offenen Fragen der zellulären Entwicklungsbiologie zu klären,
sind aus wissenschaftlicher Sicht weitere intensive
Forschungsanstrengungen notwendig. In diesem
Zusammenhang sind die Wissenschaftler aufgefordert, die Öffentlichkeit sachlich und fundiert
über die Grundlagen der Forschung mit embryonalen und adulten Stammzellen und eine mögliche Ausweitung auf humane embryonale Stammzellen zu informieren und die verschiedenen Quellen für menschliche Stammzellen (überzählige
Embryonen, fetales Gewebe, adulte Stammzellen)
zu benennen.
Der Deutsche Ärztetag fordert die Wissenschaftler auf, bei der Darstellung der zu erwartenden Forschungsergebnisse größtmögliche Sachlichkeit zu üben, da die Möglichkeiten einer Realisierung von therapeutischen Anwendungen wahrscheinlich noch in weiter Zukunft liegen. Patienten
als auch Ärzten darf keine übertriebene Hoffnung
auf eine baldige Anwendung gemacht werden.
Auch der Gesetzgeber wird seine zu treffende
Entscheidung, ob eine Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen in Deutschland
erlaubt werden soll, erst nach intensiver Beratung
fällen. Insbesondere sollte der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ sowie dem Nationalen Ethikrat die Möglichkeit
gegeben werden, die Gesellschaft und die politischen Entscheidungsträger über die ethischen
Fragen zu beraten, um eine sachgerechte Urteilsbildung vorzubereiten.
)
Heft 30, 27. Juli 2001
DISKUSSION
zu unserer
Berichterstattung vom
104. Deutschen
Ärztetag
in Heft 22/2001
Auf die Gefahr hinweisen
Die offiziellen Organe der Ärzteschaft
tragen leider nur wenig dazu bei, das im
Moment in der Gesellschaft brodelnde
Bemühen zu unterstützen, angesichts
zukunftsweisender Entscheidungsnotwendigkeiten zwischen einem ökono-
mischen Diskurs und einem Diskurs einer Ethik des Heilens zu differenzieren.
Ich möchte dies an einem Beispiel illustrieren: Aufgabe der Ärzteschaft wäre
es, auf die Gefahr hinzuweisen, die in
den Vorstellungen steckt, mit der über
die PID als Möglichkeit zur Vermeidung „erbkranken Nachwuchses“ diskutiert wird.
Eine PID ist nur dann möglich, wenn
eine IVF geplant ist. Sich genetisch belastet fühlende Paare müssten auf die
noch normalen Fortpflanzungsrituale
mit allen deren Freuden und inspirierenden Risiken verzichten, wenn sie eine PID durchführen lassen wollten. Ist
diese Entfremdung im Denken erst einmal etabliert, entsteht – wie man es von
der PND weiß – eine Nachfrage, die das
Angebot rechtfertigt. Die Nachfrage
fragt jedoch nicht mehr nach Ethik, sondern nur noch nach dem Preis. Dies
dient zwar der Belegung gynäkologischer Abteilungen, lässt aber den Arzt
in seiner individuellen Gewissensentscheidung verworren allein.
Dr. med. Gudrun Wollmann,
Am Mühlrain 24 e, 69151 Neckargemünd
In „Fliegermanier“ fordern
Liebe Vertretung unserer Interessen,
schöne Papiere haben Sie da wieder aufgesetzt. Politisch korrekt formuliert, viele Forderungen, kein Druck. Gleichzeitig
stehen die von Ihnen Vertretenen im niedergelassenen Bereich vor Pfennigsbetrags-Bezahlungen. Im stationären Bereich wird bei bekannten unmöglichen
Arbeitsbedingungen sanft über neue
Urteile zur Arbeitszeit diskutiert. In der
Summe klingt durch: Wo zu wenig Geld
ist, können wir nicht zu vehement fordern. Brav sind wir, die die Leistungen
der Patientenversorgung erbringen.Verkaufen wir den Patienten doch lieber, jeder für sich, ein paar gewisse Extras oder
betrügen bei der Abrechnung, weil es anders nicht geht. Wir haben in den letzten
zehn Jahren auf Gehaltserhöhung verzichtet, in Kliniken mehr Stunden gearbeitet, um auch der Dokumentation gerecht zu werden. Aber an gemeinsamer
Stärke haben wir nicht gearbeitet. Wo
Krankenkassen hintenrum nicht erstattungsfähige Leistungen an Patienten bezahlen, um sie als Kunden zu halten, wa-
chen wir immer noch nicht auf. Geld genug ist da, ob von den Kassen oder den
Patienten. Wir müssen es nur in Fliegermanier einfordern. Wo das dann herkommt, sollen Kassen und Politiker bestimmen, die haben den Patienten ja
auch lange genug beigebracht – wählt
uns, dann gibt es fast alles.
Dr. med. U. Siepmann-Winkler,
Nerotal 59, 65193 Wiesbaden
Die Zeit, grundlegend Neues
zu formulieren, verrinnt
Der Deutsche Ärztetag stützt das bestehende System und will es, wie Politik,
Krankenkassen, Ärztekammern und
KVen auch, durch ständige Reformen
und noch mehr Bürokratie retten, obwohl der endgültige Zusammenbruch
angesichts der ständigen Zunahme
chronisch kranker und immer älterer
Patienten, in Verbindung mit dem rasanten Fortschritt, absehbar ist. Daher
störte mich das Fehlen von Nachdenklichkeit über ganz neue Wege oder Visionen. Angesichts der berufspolitisch,
leider immer noch, weitgehend passiven Ärzteschaft, der es anscheinend gefällt, Spielball von Politik und Kassen zu
sein, kein Wunder. Sollte das Gesundheitswesen nicht endlich an unsere sonstige gesellschaftliche Wirklichkeit angepasst werden, hin zu mehr Eigenverantwortung, zu Effizienz durch Wettbewerb und Marktwirtschaft?
Die Patienten sind längst nicht mehr
der Mittelpunkt. Es fehlt dringend am
„case management“. Das heutige System ruft zu viel Unzufriedenheit hervor, daher der Zulauf zu alternativer
Medizin. Fazit: Während ärztliche Gremien fröhlich über Reformen, neue
Bürokratisierung, DRGs oder PID debattieren, verrinnt die Zeit, grundlegend Neues zu formulieren.
Dr. med. Udo Saueressig,
Gründelsweg 7, 69436 Schönbrunn
PID ist medizinisch sinnvoll
Die Präimplantationsdiagnostik (PID)
ist medizinisch sinnvoll. Dass die Delegierten des Deutschen Ärztetages sich
einer klaren Stellungnahme zu diesem
Thema mit dem Verweis auf die „unge-
91
D O K U M E N T A T I O N
klärte Rechtslage“ enthielten, ist beschämend. Es geht hierbei nicht um die
„Rechtslage“, sondern um die Auseinandersetzung mit der Tatsache, dass die
PID, trotz medizinischer Rechtfertigung,
das ethische Fundament unserer
Menschlichkeit durch die Teilung in „lebenswert“ und „lebensunwert“ infrage
stellt. Dieses Paradoxon kann nur durch
die gleichzeitige radikale Bejahung eines
jeden menschlichen Lebens und Unterstützung kranker und behinderter Menschen gelöst werden – nur auf diesem gesellschaftlichen Fundament ist eine PID
paradoxerweise ethisch vertretbar.
Dr. med. Hans Jörgen Grabe,
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Rostocker Chaussee 70, 18437 Stralsund
Wohltuende Offenheit
Wohltuend, mit welcher Offenheit gerade auf diesem Ärztetag brisante Themen
wie etwa die Ethik-Diskussion angegangen wurden, ebenso auch die ausgewogene Zivilcourage des Präsidenten Hoppe,
mit seiner nicht nur medizinischen, sondern ärztlichen Einstellung etwa zur PID.
Aber merkwürdig fand ich doch, dass offensichtlich nicht bewusst – oder schamvoll nicht angesprochen – wird, dass das
Thema PID unbeschadet der ethisch
nicht vertretbaren Akzeptanz auch unter
ökonomischen und damit gesundheitspolitischem Aspekt gesehen werden
muss. Droht hier nicht auch ein Eigentor
der Ärzteschaft, wenn Forderungen aus
der gynäkologischen und biomedizinischen Ecke in den gesetzlichen Leistungskatalog aufgenommen werden sollen, der mit den vorhandenen Finanzmitteln schon jetzt nicht mehr ausreichend
bedient werden kann. Zu Recht besteht
der Anspruch auf leistungsgerechte Honorierung der Ärzteschaft – im Hintergrund ein Jammern der Gynäkologen
über das Budgetkorsett –, und dann soll
sich der Luxus geleistet werden, die finanzträchtige PID einzuführen mit der
inhumanen Konsequenz, genetisch minderwertigen Nachwuchs zu verhindern.
Ist ärztlich statt Wunscherfüllung nicht
ein Behandlungsauftrag bei unerfülltem
Kinderwunsch mittels Psychotherapie
gegeben, womit die Menschenwürde für
die Frau und den Embryo gewahrt bleiben und unser abendländisches Welt-
92
und Menschenbild nicht infrage gestellt
wird. Denn das Embryonalstadium ist
kein „Niemandsland der Menschwerdung“! Erschütternd, wenn Mediziner
vor dem Gremium eines Ärztetages wagen, zu äußern, sie würden im behinderten Leben keinen Eigenwert sehen. Das
hat nichts mehr mit demokratischer Redefreiheit zu tun und disqualifiziert darüber hinaus einen Mandatsträger. Ich
kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in der PID- und Stammzellenauseinandersetzung weniger um
Menschlichkeit im ethischen Sinne als
um Ideologie – Forschernarzissmus, Materialismus? – geht. Herrn Montgomerys
Befürchtungen, über die Stammzellforschung die Hintertüre zur PID öffnen zu
können, bewölken bedrohlich den politischen Himmel. Darum mein besonderer
Dank allen Kolleginnen und Kollegen,
die – wie unser Bundespräsident – für unser humanitär geprägtes Arzttum eintreten, nicht zuletzt an dieser Stelle aber
auch dem Chefredakteur, Norbert Jachertz, der nicht nur im DÄ ausreichend
Raum zur Diskussion zu diesem schicksalsträchtigen Thema gibt, sondern darüber hinaus ehrlich seine eigene Sichtweise (Heft 3/2001) einbringt, was ihn nur
ehren kann, auch wenn es leider Kollegen gibt, die ihm in dieser Position das
Recht dazu absprechen wollen.
Dr. med. Günter Link,
Auf der Halde 13, 87439 Kempten
Zum Beitrag „Die Unverfügbarkeit menschlichen
Lebens“ von Gisela Klinkhammer und der dort
zitierten Äußerung von Dr. med. Norbert Metke
(Landesärztekammer Baden-Württemberg): „Ich
sehe keinen Eigenwert in behindertem Leben.“:
Empörend
Als Hebamme und ganz besonders als
Mutter von drei Kindern – wovon das
jüngste chronisch krank und deshalb
schwerbehindert ist – möchte ich Ihnen
gegenüber meine Empörung äußern.
Mein 14-jähriger Sohn erfährt nach und
nach alle Stadien einer fortschreitenden
Behinderung und benötigt mittlerweile
eine kontinuierliche Schmerztherapie.
Er ist trotzdem ausgesprochen lebensfroh, sehr sozial und findet immer wieder neue Lebensinhalte.
Ich habe ihn einmal ganz direkt gefragt, ob er froh ist, geboren worden und
am Leben zu sein. Er antwortete sofort:
„Natürlich!“ – und – etwas vorwurfsvoll
(?): „Was denkst du denn?“ Haben Sie
das Recht, anderen Menschen ihr Lebensrecht abzusprechen? Haben Sie das
Recht zu bestimmen, wie viel und welches „Leid“ lebenswert ist und welches
nicht? In meinen Augen sind Menschen
wie Sie behindert – in ihrer Sichtweise
und Toleranz anderen gegenüber und in
ihrem Größenwahn, „lebenswert“ beurteilen zu können. Haben Sie als Arzt
wirklich schon einmal ein persönliches
Gespräch mit Ihren behinderten Patienten geführt? Das habe ich nämlich bei
vielen Ärzten in Bezug auf meinen Sohn
vermisst. Er wurde untersucht, geröntgt,
operiert und medikamentös behandelt,
aber kaum ein Arzt fragte ihn: „Wie geht
es dir mit deinem Leben?“
Gudrun Grabe-Rump, Pilzweg 4, 51069 Köln
Zum Beitrag: „Beim Geld wird’s ernst“ von
Norbert Jachertz:
Stimmgewichtung ändern
Es ist schade, dass über die noch zu
führende Satzungsänderungsdiskussion
so oberflächlich berichtet wurde. Denn
demokratisches Denken und Handeln
lebt nun einmal vor allem von und mit
Entscheidungen von Mehrheiten. Dieses hohe demokratische Prinzip wird
nach jetziger Regelung im Hinblick auf
die deutsche Ärzteschaft im Vorstand
der BÄK nicht verwirklicht. Denn ohne
eine Stimmgewichtung im Vorstand der
Bundesärztekammer können sich Entscheidungen ergeben, dass mit einer
Mehrheit von neun Präsidenten der
Landesärztekammern gerade einmal 25
Prozent der deutschen Ärzte vertreten
werden (Quelle: Finanzbericht 99/00).
Dies bedeutet im Extremfall, dass lediglich 13 Prozent der Gesamtärzteschaft
hinter einem Mehrheitsbeschluss des
Vorstandes der BÄK stehen müssen. Da
der Deutsche Ärztetag nur einmal im
Jahr tagen kann, werden sinnvollerweise
im Laufe des Jahres viele wichtige Fragen, teilweise sogar Schlüsselfragen der
Berufspolitik, im Vorstand beantwortet.
Dazu ist es notwendig, dass der Vorstand der BÄK glaubhaft darstellen
kann, dass hinter seiner Mehrheit auch
die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft
D O K U M E N T A T I O N
Heft 24, 15. Juni 2001
versammelt ist. Nur so kann er kraftvoll
und effizient auch wichtige Fragen beantworten, und gesellschafts- und berufspolitische Meinungen folgerichtig nach
außen vertreten. Natürlich sind in diesem Zusammenhang auch Vorstandsentscheidungen mit erheblicher Tragweite zu finanziellen Fragestellungen
von Wichtigkeit. Hierzu stellt der Berichterstatter fest: „Über die Finanzgebaren wird seit Jahren argwöhnisch gewacht.“ Ich denke, die damit befassten
Delegierten und Mitglieder des Finanzausschusses nehmen lediglich ihre
Aufgabe sehr ernst, die sich aus der
Treuhänderschaft über die Beiträge der
Pflichtmitglieder ergibt. Sorgfältiges
Überwachen der jährlichen Steigerungsrate im Haushalt, Überprüfen der
eingegangenen Verpflichtungen auf ihre
Notwendigkeit im Interesse der Ärzteschaft und genaue Kontrolle von Verträgen zur Sicherung von investierten Millionenbeträgen sollten absolute Selbstverständlichkeit sein. Dass hier bayerische Bedenken öfter in der Vergangenheit nicht ausreichend ernst genommen
wurden, sei nur am Rande erwähnt.
Fazit: Grundsätzlich sei festgestellt,
dass Inhalte einer Satzung weiterzuentwickeln und anzupassen sind, wenn
man sich auch zukünftig an einer
sinnvollen Satzung orientieren will.
Als Beispiel für notwendige Anpassungen mögen aus dem Bereich der
Finanzen der § 9 Abs. 7 Satz 3 gesehen
werden.
Mehrheitsvoten des BÄK-Vorstandes müssen weiterhin in der Öffentlichkeit als hoch respektierte Meinungsäußerungen der deutschen Ärzteschaft
zu werten sein. Dies ist ohne Stimmgewichtung nicht möglich. Insbesondere
auch bei Entscheidungen mit großen finanziellen Folgelasten ist die Stimme
des Präsidenten einer Ärztekammer,
der 60 000 Ärzte vertritt, anders zu
sehen als die eines Präsidenten, der
knapp 4 000 Ärzte vertritt.
In einem Satz allerdings kann von
unserer Seite dem Berichterstatter,
Herrn Jachertz, voll zugestimmt werden: „Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass Bayern das Thema erneut aufs Tapet bringt.“
Dr. med. Joachim Calles, Bayerischer Delegierter und
Mitglied der Finanzkommission der Bundesärztekammer, Mozartstraße 29, 96332 Pressig-Rothenkirchen
Gentechnikdebatte im Bundestag
Wo ist die Grenze?
Politiker aller Fraktionen sprachen im Deutschen Bundestag
über den Wert und die Würde vorgeburtlichen Lebens.
E
s sei vielleicht eine der wichtigsten
Debatten gewesen, die je im Deutschen Bundestag geführt wurden,
sagte Hubert Hüppe (CDU). Und dabei
ging es nicht um konkrete Gesetzesvorhaben. Aber es ging um den Wert und
die Würde des (vorgeburtlichen) Lebens. Abgeordnete aller Bundestagsfraktionen legten am 31. Mai – ausgehend von der Präimplantationsdiagnostik (PID) und der embryonalen
Stammzellforschung – ihr jeweils persönliches Menschenbild und ihre
Wertehaltung dar. Um Politik ging es
dabei eher sekundär. Am Ende des
Meinungsbildungsprozesses steht möglicherweise eine Novellierung des Embryonenschutzgesetzes. Dies ist allerdings in dieser Legislaturperiode eher
unwahrscheinlich.
Die Vorsitzende der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Margot von Renesse
(SPD), setzte gleich zu Anfang Akzente. Sie warnte davor, das „Gewissen zu
vergewaltigen“. Die „Guten“ dürften
nicht von den „Bösen“ getrennt werden. Der Begriff der Menschenwürde
lasse sich nicht benutzen wie eine binomische Formel in der Mathematik.
Menschenwürde sei nicht ein Gerinnungsprodukt von Ideologie, und sie
eigne sich schon gar nicht als Knüppel,
mit dem man auf den Kopf eines anderen einschlage. Renesse forderte dazu
auf, erst nach einer breiten Diskussion
in Fragen, die das Menschenbild betreffen, zu Entscheidungen zu kommen.
Nahezu alle Redner schlossen sich
dieser Forderung an. Die Diskussion
wurde sachlich und nachdenklich geführt, es gab einige bemerkenswerte
Wortbeiträge. Dabei wurde deutlich,
dass die Fronten quer durch alle Parteien verlaufen. Die Regierung wollte jedoch Einigkeit demonstrieren. Das dürfte der Grund dafür sein, dass die mit
dem Themenkomplex befassten Ministerinnen in der Debatte schwiegen.Weder Bundesgesundheitsministerin Ulla
Schmidt und Bundesbildungsministerin
Edelgard Bulmahn, eher Befürworterinnen einer Gentechnik-Öffnung, äußerten sich, noch Bundesjustizministerin
Herta Däubler-Gmelin, die der Präimplantationsdiagnostik und Embryonenforschung kritisch gegenübersteht.
Lediglich Bundeskanzler Gerhard
Schröder ergriff das Wort, und zwar in
seiner Funktion als Abgeordneter. Er
plädierte für eine „Ethik des Heilens
und des Helfens“, die ebenso Respekt
wie die „Achtung der Schöpfung“ verdiene. „Ich sehe nicht, dass sich beides
gleichzeitig ausschließt“, sagte der Abgeordnete Schröder. Er sprach sich für
eine „begrenzte Forschung“ an überzähligen befruchteten Eizellen aus, die
bei der In-vitro-Fertilisation in Deutschland anfallen.
Auch die Präimplantationsdiagnostik
befürwortet er. Unter Anspielung auf
die kritische Rede von Bundespräsident
Johannes Rau am 18. Mai in Berlin fragte er: „Ist der Rubikon wirklich überschritten, wenn ein Verfahren, das im
Mutterleib angewendet werden darf, auf
Embryonen, die durch künstliche Befruchtung entstanden sind, übertragen
werden soll?“ Die PID sei ein „rein diagnostisches und kein therapeutisches
Verfahren“. Nach seiner Ansicht sei die
Methode „in genau den Grenzen“ zu
verantworten, wie die medizinische Indikation beim Schwangerschaftsabbruch zugelassen sei. Ohne sie direkt anzusprechen, wandte sich Schröder gegen die Justizministerin, die die Anwendung der neuen Verfahren als grundgesetzwidrig bezeichnet hatte. „Ich stimme
Herrn Schmidt-Jortzig ausdrücklich zu,
wenn er darauf hinweist, dass der Rückgriff auf das Verfassungsgericht zurzeit
wenig hilft“, sagte Schröder.
93
D O K U M E N T A T I O N
Ganz anderer Auffassung war der
SPD-Abgeordnete Wolfgang Wodarg,
der seine Haltung anschaulich erläuterte. Wodarg, selbst Arzt, berichtete
über ein Gespräch unter Kollegen. Ein
Bonner Gynäkologe hatte einer Mutter freigestellt, ihr Kind mit Lippenkiefergaumenspalte abzutreiben. „Er
hat gesagt, das Kind wäre der Mutter
nicht zuzumuten gewesen, sie hätte
das nicht ausgehalten.“ Neben ihm habe einer der besten deutschen Pädiater gesessen, dem man angesehen habe, dass er als Kind an einer solchen
Lippenkiefergaumenspalte operiert
worden war. „Da wurde für mich sehr
deutlich, in welchem Maße dieses Thema auch mit Menschenwürde zu tun
hat.“
Ein entschiedener Gegner der PID
ist auch Hüppe, der stellvertretende
Vorsitzende der Enquete-Kommission. Zur Unterstützung seiner Argumentation führte er eine Erhebung an,
wonach bei Paaren, die PID in Anspruch nahmen, trotz teilweise mehrfacher Versuche nur jede siebte Frau ein
Kind ausgetragen habe. „Das ist ein
Menschenverbrauch, den ich nicht akzeptieren kann.“ Auch das Argument,
dass Präimplantationsdiagnostik Abtreibungen vermeide, sei falsch: „Die
Statistik belegt, dass vier Prozent der
Föten nach Pränataldiagnostik abgetrieben und fünf Prozent durch so genannte Mehrlingsreduktionen getötet
wurden. Wer diesen Menschenverbrauch leugnet, der macht sich nicht
nur am menschlichen Leben schuldig,
sondern auch an den Eltern, die den
Versprechungen der PID-Befürworter
glauben.“
Diese Auffassung findet in der Union
Befürworter, aber keineswegs ungeteilte Zustimmung. So lehnte die CDUParteivorsitzende Angela Merkel ein
„radikales Nein“ zur PID ab. Es falle ihr
in bestimmten Fällen schwer, Eltern,
die bereits ein behindertes Kind haben,
dieses Verfahren zu verwehren. Merkel
wies jedoch darauf hin, dass es weder
das Recht auf ein gesundes Kind noch
auf ein Kind überhaupt gebe. Es gebe
lediglich die Hoffnung auf ein gesundes
Kind. Die CDU-Vorsitzende forderte
ein Moratorium: Solange es keine politische Entscheidung gebe, müsse PID
und Embryonenforschung verboten
94
bleiben. Auch ein Import von pluripotenten Stammzellen sei mit dem Geist
des Embryonenschutzgesetzes nicht
vereinbar. Merkel kündigte inzwischen
an, die Union wolle dazu einen Gesetzentwurf einbringen. Auslöser ist der
Vorstoß des nordrhein-westfälischen
Ministerpräsidenten Wolfgang Clement
(SPD). Clement befürwortet den Import embryonaler Stammzellen aus
Haifa und hat Fördergelder des Landes
Nordrhein-Westfalen zugesichert (dazu
das Interview mit dem Bonner Forscher
Oliver Brüstle in diesem Heft).
Der Fraktionsvorsitzende der CDU,
Friedrich Merz, ging deutlich auf Distanz zu seiner Parteivorsitzenden.
Merz warnte davor, den Zeitpunkt der
Menschwerdung nach hinten zu verschieben. Damit sei dann nicht nur am
Beginn, sondern auch am Ende des
menschlichen Lebens der absolute
Schutz des Grundgesetzes relativiert.
Er befürchtet, dass mit der Einführung
von PID der Selektion „Tür und Tor
geöffnet“ werde. „Im Reagenzglas
werden genauso wie die schweren genetischen Defekte auch positive genetische Dispositionen feststellbar sein.
Wo ist die Grenze? Wer trifft die Entscheidung?“ fragte Merz. Der CDUFraktionsvorsitzende wandte sich wie
die meisten Redner seiner Partei gegen
die Stammzellforschung mit Embryonen. Aber auch in dieser Frage geht ein
Riss durch die Union. So verbindet
Peter Hintze mit der embryonalen
Stammzellforschung die „Hoffnung,
schwere Krankheiten heilen zu können“.
Die Grünen äußerten sich vorwiegend ablehnend gegenüber Embryonenforschung und PID. Die frühere
Bundesgesundheitsministerin Andrea
Fischer befürchtet, „dass sich bei der
Präimplantationsdiagnostik eine Begrenzung nicht einhalten lässt, dass die
Nachfrage nach diesem Verfahren steigen wird, sodass es immer selbstverständlicher sein wird, von künftigen Eltern zu verlangen, dass sie kein krankes
Kind bekommen oder dass sie sich vielleicht sogar, wenn sie es doch wollen,
dafür rechtfertigen.“ Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Rezzo Schlauch, betonte jedoch,
dass seine Partei die Hoffnung der
Kranken und die Sorgen der Eltern
ernst nehme. „Wir wollen Gentechnik
deswegen dort zulassen, wo sie den
Menschen tatsächlich hilft und sie nicht
gefährdet.“
Auch die PDS ist bei der Beurteilung
der Gentechnik gespalten. Darauf wies
der Fraktionsvorsitzende der PDS, Roland Claus, hin. Tradierte Wertvorstellungen reichten für diese Debatte jedenfalls nicht aus. Die PDS-Abgeordnete Angela Marquardt warnte vor „einer Entwicklung, die letztlich dazu
führt, dass der Mensch nicht mehr die
Gesellschaft verbessert und lebenswerter macht, sondern dass sich die Menschen an bestehende Umstände anzupassen haben“.
Keine alleinige
Verantwortung der Ärzte
Eindeutig legte sich nur die FDP fest.
Sie sprach sich geschlossen für die neuen Möglichkeiten der Gentechnik aus.
Der frühere Justizminister Edzard
Schmidt-Jortzig sagte zwar, dass die
Menschenwürde gegen nichts abwägbar sei, der Schutz des Menschenlebens
lasse aber sehr wohl Einschränkungen
zugunsten anderer Rechtsgüter zu.
FDP-Fraktionschef Wolfgang Gerhardt
warb für eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik in engen Grenzen. Es
müsse moralisch und ethisch ausgelotet
werden, ob menschliches Leid durch die
Möglichkeiten der Gentechnik beseitigt werden könnte.
Klare Entscheidungen forderte der
Präsident der Bundesärztekammer,
Jörg-Dietrich Hoppe, anlässlich der Debatte: „Wir brauchen widerspruchsfreie
rechtliche Regelungen, die von der Gesellschaft akzeptiert und durch unsere
ethischen Werte begründet werden.
Deshalb kommt für die Ärzteschaft
auch bei der Präimplantationsdiagnostik keine Regelung infrage, die den
Ärzten die alleinige Verantwortung zuschiebt und ihr Handeln als rechtswidrig
Gisela Klinkhammer
erscheinen lässt.“
D O K U M E N T A T I O N
Heft 24, 15. Juni 2001
Embryonale Stammzellforschung
Die Mechanismen entschlüsseln
und auf adulte Zellen anwenden
Interview mit dem Bonner Neuropathologen Prof. Dr. med. Oliver Brüstle
Herr Brüstle, weshalb drängen Sie derzeit so darauf, dass
wissenschaftspolitische Entscheidungen
in Richtung embryonaler Stammzellforschung getroffen werden?
Brüstle: Seit eineinhalb Jahren wird
bereits intensiv über dieses Thema diskutiert. Inzwischen arbeiten international
zahlreiche Teams an der Umsetzung der
Stammzell-Technologie, aus embryonalen Stammzellen des Menschen Spenderzellen für die Transplantationsmedizin
herzustellen. Wir haben in der Vergangenheit Erfolge im Bereich des Nervensystems am Tiermodell erzielen können.
Jetzt sind wir stark daran interessiert, diese Befunde auf menschliche Zellen umzusetzen.Wenn die Diskussion weiterhin
hinausgezögert wird, sehe ich die Gefahr,
dass wir uns langfristig abkoppeln.
DÄ: Sie waren gemeinsam mit dem
NRW-Ministerpräsidenten
Wolfgang
Clement in einem Labor in Haifa, Israel.
Warum ist dieses für Sie so interessant?
Brüstle: In Haifa ist eine der Gruppen, der es gelungen ist, humane embryonale Stammzellen herzustellen.
Und wir sind im Moment auf der Suche
nach Partnern, mit denen sich unsere
Vorstellungen verwirklichen lassen.
DÄ: Sie haben derzeit einen Partner in
den USA.Wollen Sie den auswechseln?
Brüstle: Wir halten weiterhin Kontakt zu dem Campus an der Universität
Madison,Wisconsin. In Israel handelt es
sich lediglich um Sondierungsgespräche. Wir sind daran interessiert, einen Partner zu finden, mit dem sich eine
langfristige, faire Partnerschaft verwirklichen lässt, ohne in eine zu starke
Abhängigkeit zu geraten. Hier bieten
sich in Israel möglicherweise andere
Perspektiven als in den USA.
DÄ: Wo liegt der Unterschied?
Brüstle: Der Austausch von Zellen ist
an strenge Auflagen gebunden. Quasi al-
DÄ:
le Ergebnisse, die mit diesen Zellen erzielt werden, fallen an den Partner in
den USA. Auch das Forschungsprojekt
selbst, das man bearbeiten will, muss
von dem Partner genehmigt werden.
Diese ausgeprägte Abhängigkeit spielt
die eine Rolle, zudem sind aber die Zelllinien in Haifa sehr erfolgversprechend
– sofern man das nach dem ersten Besuch beurteilen kann. Es geht aber um
mehr als um einen Austausch von Zelllinien. Es ist ein sehr intensiver personeller Austausch mit Israel möglich. Auch
dazu wurden bereits erste Gespräche
geführt. Momentan sind jedoch noch
keinerlei Vereinbarungen getroffen
worden. Keinesfalls sollen aber Dinge
durchgeführt werden, die den rechtlichen Rahmen in Deutschland umgehen
würden. Es geht nicht um die Herstellung neuer ES-Zelllinien, es geht nicht
um Embryonenforschung, sondern um
die Nutzung pluripotenter Zelllinien.
DÄ: Welche Projekte planen Sie mit
Haifa?
Brüstle: In der Vergangenheit ist es
uns gelungen, Spenderzellen für das
Nervensystem aus embryonalen Stammzellen der Maus herzustellen und am
Tiermodell einzusetzen. Dort wollen
wir anknüpfen und prüfen, ob es möglich ist, aus humanen embryonalen
Stammzellen in gleicher Weise Vorläuferzellen des Nervensystems in der
Zellkultur herzustellen. Im nächsten
Schritt müssten diese Zellen am Tiermodell erprobt werden. Erst dann kann
abgewogen werden, inwieweit diese
Technik verbreitert werden soll, und ob
diese Zellen für zukünftige Behandlungsstrategien infrage kommen.
DÄ: Wie lange wird das dauern?
Brüstle: Insgesamt rechne ich mit
mindestens fünf bis zehn Jahren, bis
überhaupt abgeschätzt werden kann, in
welcher Art und Weise und in welchem
Umfang embryonale Stammzellen klinisch relevant sind. Das schließt auch
den Vergleich mit adulten Stammzellen
ein. Dann erst würden klinische Studien
folgen.
DÄ: Über die klinische Relevanz der
Stammzellforschung wird viel spekuliert. Wo liegen die realen Chancen?
Brüstle: Die große Perspektive ist,
Spenderzellen für Zellersatz – nicht für
Organersatz – in nahezu unbegrenzter
Menge herzustellen. Es bietet sich die
Möglichkeit, eines der Kernprobleme
der Transplantationsmedizin langfristig
zu lösen, nämlich den Mangel an Spendergewebe. Die zweite Perspektive ist,
Probleme der Abstoßungsreaktion zu
umgehen, indem Zellen mit identischer
Erbinformation hergestellt werden.
Dies ist im Bereich der adulten Stammzellen durch Gewinnung der Zellen direkt vom Patienten, im Bereich der embryonalen Stammzellen durch Kernreprogrammierungsstrategien möglich.
DÄ: Kernreprogrammierung – wäre
das nicht therapeutisches Klonen?
Brüstle: Es läuft im weitesten Sinne
darauf hinaus. Doch ich glaube nicht,
dass dieses Konzept jemals therapeutisch eingesetzt wird. Und zwar aus zwei
Gründen: Erstens wären Eizellspenden
in großer Zahl nötig, zweitens würden
auf diese Weise Blastozysten erzeugt,
also Embryonen. Beides ist aus ethischer Sicht hochproblematisch und sollte nach meiner Ansicht nicht durchgeführt werden. Auch eine naturwissenschaftliche Argumentation spricht dagegen: Bis heute sind die Prozesse der
Kernreprogrammierung völlig unverstanden. Fehlentwicklungen können
nicht ausgeschlossen werden. Zellen,
die auf diese Weise hergestellt werden,
bergen unter Umständen Schäden, die
wir im Zellkulturstadium gar nicht erkennen können.
95
D O K U M E N T A T I O N
DÄ: Sollte man auf dem Gebiet der
Kernreprogrammierung forschen?
Brüstle: Meine Vorstellung geht dahin, die unbekannten Mechanismen
durch Kernreprogrammierungs-Studien an tierischen Zellen zu entschlüsseln, um sie dann langfristig auf adulte
humane Zellen anzuwenden. Es besteht
die Idee, adulte Zellen direkt in ein pluripotentes Stadium umzuprogrammieren, das dem einer embryonalen
Stammzelle entspricht. Die Erzeugung
der Blastozyste würde so umgangen.
Wir hätten dann eine Fusion von adulter und embryonaler Stammzelltechnologie, die es uns erlauben würde, die
Vorteile pluripotenter Stammzellen zu
nutzen und gleichzeitig die ethisch kritischen Bereiche zu umgehen.
DÄ: Reichen für die Kernreprogrammierungs-Studien Zellen tierischen Ursprungs aus?
Brüstle: Zunächst schon. Es wäre aus
meiner Sicht unverantwortlich, Untersuchungen auf humane Zellen auszuweiten, bevor nicht alles erdenklich
Mögliche am Tierexperiment gemacht
worden ist. Natürlich müssen die Ergebnisse schließlich am Menschen validiert werden. Beim therapeutischen
Klonen besteht allerdings die Hoffnung, dass dies ohne Erzeugung von
Embryonen möglich sein wird.
DÄ: In den USA haben Sie eine Methode entwickelt, mit der man durch
Zellkultur aus embryonalen Stammzellen Nervenzellen herstellen kann. Wie
funktioniert diese?
Brüstle: Embryonale Stammzellen
können prinzipiell in alle Gewebetypen
ausreifen. Das Schüsselproblem ist, diese Entwicklung in die gewünschte Richtung zu steuern und die Zellpopulation
so aufzureinigen, dass keine unreifen
embryonalen Zellen mehr vorhanden
sind. Denn diese könnten nach der
Transplantation Teratome erzeugen.
DÄ: Wie steuern Sie die Ausreifung?
Brüstle: Die Zellen werden zunächst
unter der Anwesenheit von Wachstumsfaktoren auf embryonalen Fibroblasten
beliebig vermehrt. Dann werden die
Zellen zu Embryoidkörperchen zusammengelagert. Dies sind Zellaggregate,
in denen spontan die Ausreifung in verschiedene Gewebetypen stattfindet.
Nach einigen Tagen werden die Embryoidkörperchen in Zellkulturlösun-
96
gen überführt, die so zusammengesetzt
sind, dass bevorzugt Zellen des Nervensystems überleben. Diese werden dann
durch Wachstumsfaktoren gezielt vermehrt.
DÄ: Werden Zellen, die nicht gewünscht sind, während des Verfahrens
vernichtet?
Brüstle: Um zur Zelltyp-Spezifizierung zu kommen, gibt es zwei Strategien: Zum einen werden Faktoren eingebracht, die eine bestimmte Zellpopulation bevorzugen und andere während
des Kulturverfahrens ausmerzen. Bei
der anderen Strategie werden Marker
in embryonale Stammzellen eingefügt,
die nur von bestimmten Zelltypen exprimiert werden, beispielsweise ein Antibiotikaresistenz-Gen oder ein grün
fluoreszierendes Protein, das ausschließlich in den entstandenen Nervenzellen exprimiert wird. Durch Gabe
eines Antibiotikums oder durch ein
Sortierverfahren ist es möglich, diese
Zelltypen anzureichern.
DÄ: Wäre nach der Transplantation
dieser gewonnenen Zellen nicht auch
noch eine Eigendifferenzierung oder gar
eine Tumorbildung denkbar?
Brüstle: Dies ist ein ernst zu nehmendes Problem. Deshalb müssen vor einer
klinischen Anwendung Langzeituntersuchungen stehen, die gewährleisten,
dass diese Zellen über Jahre hinweg stabil in ihrem Zelltyp verankert bleiben.
Eine Tumorbildung ist bei den von uns
hergestellten hochaufgereinigten Gliazellen im Tierversuch bisher in keinem
Fall vorgekommen.
DÄ: In Großbritannien ist man bereits in die klinische Anwendung gegangen und hat Parkinson-Patienten fetale
dopaminproduzierende Zellen transplantiert, von denen sich dann wohl auch
einige zu Knochen- und Knorpelzellen
entwickelt haben . . .
Brüstle: Das sind Experimente, die
nicht sauber durchgeführt wurden. Dabei handelt es sich um einen Ansatz, der
nicht auf Stammzellen aufbaut, sondern
auf der Isolation von Zellen aus dem fetalen Nervensystem. Wird das Verfahren – die Entnahme von Zellen aus der
Hirnregion, aus der sich später die
dopaminergen Neurone entwickeln –
nicht sachgemäß durchgeführt, besteht
die Gefahr, dass andere Gewebeteile
mit transplantiert werden und sich spä-
ter entwickeln. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die embryonale Stammzelltechnik. Dort müssen wiederum die
undifferenzierten Zellen aussortiert
werden, da diese nach Transplantation
in alle möglichen Zellen ausreifen
könnten.
DÄ: Wie hoch ist die Gefahr der Abstoßung nach der Transplantation?
Brüstle: Die Abstoßung ist ein Kernproblem der Transplantationsmedizin
überhaupt. Um sie zu verhindern, wäre
es bei den embryonalen Stammzellen
denkbar, Banden von Zellen aufzubauen, in denen verschiedene Gewebetypen vorhanden sind, und dann für den
jeweiligen Patienten einen gematchten
Donor zu finden. Weiterhin ist es möglich, die Oberflächenstruktur dieser
Zellen genetisch so zu verändern, dass
Abstoßungsreaktionen zumindest gehemmt werden. Es ist über die Kernreprogrammierung langfristig möglich,
pluripotente Zellen mit dem Erbgut
desselben Patienten herzustellen.
DÄ: Das wäre auch mit adulten
Stammzellen möglich. Warum forscht
man dann nicht zunächst an diesen?
Brüstle: In der momentanen Diskussion werden die adulten Stammzellen
oft als den embryonalen Stammzellen
ebenbürtig dargestellt. Aus naturwissenschaftlicher Sicht kann man in meinen Augen jedoch nicht auf die Forschung an embryonalen Stammzellen
verzichten. Diese haben wichtige Vorteile: eine uneingeschränkte Vermehrbarkeit über lange Zeiträume und die
Möglichkeit der gezielten Ausreifung in
der Zellkultur.
DÄ: Doch neuen Publikationen zufolge sollen auch adulte Stammzellen in andere Gewebe einwandern und dort nicht
nur Ursprungsgewebe bilden können . . .
Brüstle: Es ist aber noch nicht möglich, diesen Transdifferenzierungsprozess gezielt in der Zellkultur zu steuern.
Es gibt wohl einzelne Fälle, bei denen
aus adulten Stammzellen verwandte
Gewebszellen gezüchtet wurden. Es
scheinen jedoch gravierende Unterschiede zu den embryonalen Stammzellen zu bestehen, da es sich bei diesen um
eine Programmierung von einer unreifen in eine reife Zelle handelt. Bei den
adulten Stammzellen handelt es sich um
eine Umprogrammierung von einer
spezifischen Zelle in eine andere gewe-
D O K U M E N T A T I O N
bespezifische Zelle. Diesen Prozess
kann man heute noch nicht gezielt in einer Zellkultur ablaufen lassen.Auch die
Vermehrbarkeit ist eingeschränkt. Seit
vielen Jahren wird bereits versucht,
Knochenmarks-Stammzellen
außerhalb des Körpers zu vermehren. Die Erfolge sind jedoch sehr ernüchternd.
Diese Kernprobleme müssen gelöst
werden, bevor die adulten Stammzellen
Äquvalenz erreichen können.
DÄ: Mit den embryonalen Stammzellen taucht aber die ethische Problematik
auf.Verletzt man in Ihren Augen ethische
Normen mit der embryonalen Stammzellforschung?
Brüstle: Mit der Gewinnung dieser
Zellen ist sicher eine ethische Problematik verbunden. Darüber denken wir
sehr ernsthaft nach. Einerseits ist auch
bei bereits existierenden Zelllinien
letztlich ein Embryo verbraucht worden. Auf der anderen Seite steht die
ärztliche Verpflichtung, nach neuen Behandlungsstrategien zu suchen. Im Nervensystem ist die Situation besonders
prekär, da dort so gut wie keine Regeneration stattfindet.
DÄ: Könnte man dann nicht alles
und jedes mit der ärztlichen Behandlungspflicht und dem Wunsch zu Heilen
begründen, auch therapeutisches Klonen
oder Keimbahninterventionen?
Brüstle: Da müssen ganz klare Grenzen gezogen werden. Für mich wäre ein
Einsatz nur unter klar definierten Bedingungen zu akzeptieren.
DÄ: Welche wären das?
Brüstle: Weder für Forschungs- noch
für therapeutische Zwecke dürfen Embryonen gezielt hergestellt werden. Eingriffe in die Keimbahn und reproduktives Klonen müssen verboten bleiben.
Auf der anderen Seite halte ich es
durchaus für erwägenswert, so genannte
überzählige Embryonen, für die keinerlei andere Verwendung vorgesehen ist,
mit Zustimmung der Eltern in begrenzter Zahl und unter strenger Kontrolle
für die Gewinnung von Zelllinien einzusetzen. Dabei handelt es sich nicht um
eine verbrauchende Embryonenforschung im großen Maßstab.Wenige Zelllinien würden genügen, um alle Zentren
in Europa mit Zellen auszustatten.
DÄ: Der Import von pluripotenten
Zellen nach Deutschland würde also
genügen?
Brüstle: Im ersten Schritt ist der Import die einzige Lösung, die überhaupt
praktikabel ist, auch aufgrund der
rechtlichen Situation. Zunächst geht es
darum, die prinzipielle Übertragbarkeit
der Befunde von Mauszellen auf
menschliche Zellen zu überprüfen.
Dafür kann man auf bestehende Zelllinien zurückgreifen. Wenn sich zeigt,
dass diese Zellen halten, was die Mauszellen versprechen, kann darüber nachgedacht werden, ob es in begrenzter
Zahl, unter strengen Auflagen und nur
an ausgewählten Zentren möglich sein
soll, solche Zelllinien auch in Deutschland herzustellen. Es scheint mir – wenn
wir uns für die Technologie entscheiden
– zudem wenig konsequent, jetzt kritische Bereiche ins Ausland zu verlagern
oder sie gar moralisch zu verurteilen,
um dann in fünf bis zehn Jahren den
Nutzen zu reimportieren. Wenn wir uns
gegen die Forschung an embryonalen
Stammzellen entscheiden, sollte das
auch konsequent sein. Auch die DFG
spricht sich in ihrer Stellungnahme
dafür aus, eine begrenzte Herstellung
eigener Zellinien zu überdenken, wenn
der Import nicht ausreiche.
DÄ: In Deutschland gibt es nach dem
Embryonenschutzgesetz keine oder nur
ganz wenige überzählige Embryonen.
Könnten diese überhaupt ausreichen?
Brüstle: Nach den Ergebnissen in
Haifa zu urteilen, könnte eine geringe
Zahl von Embryonen genügen, um dauerhaft vermehrungsfähige Zelllinien zu
erzeugen.Allerdings hat meine Arbeitsgruppe keinen Anteil bei der Herstellung von embryonalen Stammzellen,
sondern wir arbeiten ausschließlich mit
bereits existierenden Zelllinien.
DÄ: Würde mit der Herstellung von
Stammzellen in Deutschland der „Embryonenindustrie“ das Tor geöffnet?
Brüstle: Gerade dies muss verhindert
werden. Wenn wir den Bereich für eine
therapeutische Nutzung öffnen, halte
ich es für unabdingbar, dass die Grenzen klar gezogen werden. Es dürfte nur
auf Embryonen zurückgegriffen werden, die aus anderen Gründen überzählig sind.
DÄ: Glauben Sie , dass die DFG am
4. Juli Ihr Projekt und damit den Import
der embryonalen Stammzellen billigt?
Brüstle: Ja, ich bin optimistisch. Meine Befürchtung aber ist, dass das Projekt zwar nicht abgelehnt wird, aber sich
ein erneuter zeitlicher Aufschub anbahnt. Der Antrag liegt jetzt bereits elf
Monate bei der DFG. Die Entwicklung
auf diesem Gebiet schreitet aber so rasant voran, dass es jetzt schon fraglich
ist, ob wir überhaupt den Vorsprung,
den wir auf tierexperimentellem Niveau hatten, noch halten können. Wenn
wir die Diskussion weiter hinziehen,
wird sie sich selbst totlaufen. Dann haben die Dinge, die wir machen wollten,
andere Instituten im Ausland durchgeführt.
DÄ: Würden Sie bei einem „Nein“ der
DFG auf Ihre Forschung verzichten?
Brüstle: Wenn es tatsächlich die demokratische Entscheidung gäbe, dass
wir in Deutschland diese Technologie
nicht wollen, dann muss sich der einzelne Wissenschaftler dieser Entscheidung
auch anschließen. Aus persönlichen
Gründen ins Ausland zu gehen, ist jedem selbst überlassen. Ich bin da im
Moment noch unentschieden.
DÄ-Fragen: Dr. med. Eva A. Richter, Norbert Jachertz
Heft 25, 22. Juni 2001
Bioethik-Diskussion
Gespaltene Fraktionen
Bei keiner anderen Frage gehen die Ansichten innerhalb der Parteien so auseinander wie bei der Bioethik. Präimplantationsdiagnostik (PID) ja oder nein? Embryonale Stammzellforschung? Besonders die beiden Volksparteien SPD und
CDU/CSU können sich auf keinen gemeinsamen Nenner einigen.
Diametral unterschiedliche Positionen gibt es in der SPD-Fraktion. Für
Bundeskanzler Gerhard Schröder verwirklicht sich die Würde des Menschen in
erster Linie im Zugang zur Erwerbsarbeit, wie er als Antwort auf die Berliner
Rede von Bundespräsident Johannes
Rau (auch SPD) sagte. Dieser hatte
97
D O K U M E N T A T I O N
am 18. Mai betont, dass
Tabelle
es „Dinge gibt, die wir
Was soll man in der Biomedizin zulassen?
um keines tatsächlichen
– Antworten der Parteien (Stand 6. Juni 2001)
oder
vermeintlichen
PID
Embryonale
Vorteiles willen tun dürStammzellforschung
fen“. Sowohl PID als
SPD
unentschlossen,
unentschlossen,
auch Embryonenforkonträre Ansichten
konträre Ansichten
schung lehnt Rau ab.
CDU/CSU
CDU: unentschlossen CDU: nein
Auch für JustizministeCSU: nein
CSU: nein
rin Herta DäublerGmelin (SPD) ist beiFDP
ja
ja
des nicht mit der VerfasB90/Die Grünen nein
nein
sung vereinbar. Anders
PDS
unentschlossen,
unentschlossen,
verhalten sich die beieher
nein
eher nein
den SPD-Ministerinnen
Ulla Schmidt (Bundesgesundheitsministerin) und Edelgard CSU-Fraktion ebenfalls keinen innerBulmahn (Bundesforschungsministerin). parteilichen Konsens. Einig waren sich
Sie wollen die PID in engen Grenzen er- die Abgeordneten lediglich, dass sie die
lauben und halten die embryonale verbrauchende Embryonenforschung
Stammzellforschung für diskutabel. Un- nicht zulassen wollen. Die CSU lehnt
terstützt werden sie von der Vorsitzen- zudem die PID ab. Darauf kann (und
den der Enquete-Kommission des Deut- will) sich die CDU aber nicht festlegen.
schen Bundestages „Recht und Ethik der Im Vorfeld der Sitzung des CDUmodernen Medizin“, Margot von Renes- Bundesvorstandes, die gleichfalls am
se. Sie meint, es liege in der Natur der 28. Mai stattfand, hatte der stellvertreWissenschaft, auch Tabus zu brechen.
tende Parteivorsitzende der CDU, JürEine ausführliche bioethische Dis- gen Rüttgers, den Entwurf eines
kussion am 28. Mai brachte der CDU/ Grundsatzpapiers vorgelegt, in dem er
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die PID als „Diagnosemöglichkeit“ bezeichnete. Die Parteivorsitzende Angela Merkel schloss sich dieser Meinung
an. Auch sie neige dazu, die PID unter
bestimmten Restriktionen zuzulassen.
Dies stieß auf innerparteiliche Kritik, so
dass schließlich Rüttgers PID-Passagen
im Positionspapier geändert wurden.
Kein Ja, kein Nein, die Haltung der
CDU bleibt offen. „Wir wollen die Diskussion weiter führen“, erklärte Merkel.
Bereits vor Wochen hat sich die FDP
mit ihrem Positionspapier eindeutig für
PID und embryonale Stammzellforschung ausgesprochen. Sie betont die
medizinischen und wirtschaftlichen
Chancen der Biomedizin. Mitte Mai hat
sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf eine gemeinsame Position verständigt. In ihrem Eckpunktepapier zur
Gentechnikpolitik lehnt sie PID und
Embryonenforschung ab und fordert
zudem eine Präzisierung des Embryonenschutzgesetzes, um den Umgang mit
„überzähligen“ Embryonen zu regeln.
Noch nicht positioniert hat sich die
PDS, doch sie scheint in dieser Frage die
Ansicht der CSU und der Grünen zu
Dr. med. Eva A. Richter
teilen.
Heft 25, 22. Juni 2001
Stammzellen
Was Forscher wollen,
was sie dürfen
Die Biomedizin weckt die Hoffnung auf neue Therapieformen.
Vor allem aber löst sie ethisch begründete Vorbehalte aus.
R
einhard Merkel ließ es wie Zauberei
aussehen: Entnähme man einem
frühen menschlichen Embryo eine
totipotente Zelle mit einer Pipette, so erklärte der Hamburger Rechtsphilosoph,
und setze sie anschließend wieder an
ihren Platz zurück, dann unterscheide
sich dieser Zustand in nichts von der Ausgangssituation. Nach dem Gesetz habe
man aber das Vergehen einer „missbräuchlichen Verwendung eines menschlichen Embryonen“ begangen. Auch sei
der Straftatbestand des „Klonens“ er-
98
füllt. Und durch die Rückführung der
Zelle habe man von zwei Embryonen einen spurlos verschwinden lassen. Mit der
Absurdität dieses Exempels brachte
Merkel seine Kritik am Embryonenschutzgesetz (ESchG) zum Ausdruck.
Blastomerenzelle = Embryo
„Stammzellen und therapeutisches Klonen – Biomedizin ohne Grenzen?“ hieß
die Tagung in Düsseldorf, mit der
das Wissenschaftszentrum NordrheinWestfalen eine aktuelle gesellschaftliche Diskussion aufgriff. Die Tübinger
Bioethikerin Eve-Marie Engels, Mitglied im Nationalen Ethikrat, und der
Rechtswissenschaftler Rüdiger Wolfrum, Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), stellten in
ihren Beiträgen juristische und ethische
Probleme der Embryonenforschung
heraus. Engels erläuterte, jede menschliche totipotente Zelle trage die Anlage,
zu einem vollständigen Menschen heranzureifen, sei also bereits ein Embryo.
Dies treffe auch für eine Blastomerenzelle zu. Aus dem Keimling entnommen, könne sie unter geeigneten Bedingungen zu einem menschlichen Individuum heranwachsen. Totipotente
menschliche Zellen dürfen in Deutschland kraft des ESchG ausschließlich
zu ihrem eigenen Nutzen, etwa in der
In-vitro-Fertilisation (IVF), verwendet
werden.
Die Entnahme von pluripotenten
Stammzellen aus dem weiteren Ent-
D O K U M E N T A T I O N
wicklungsstadium der Blastozyste sei
ebenso untersagt wie eine Embryonenherstellung zu diesem Zweck, sagte Engels. Zwar habe eine pluripotente Zelle
den Status eingebüßt, ein vollständiger
Embryo zu sein, ihre Gewinnung, so
Engels weiter, sei jedoch nicht ohne
Zerstörung oder Schädigung des Embryos möglich. Ebenfalls verboten sei
die Benutzung bereits existierender, so
genannter überzähliger Embryonen aus
der IVF zur Entnahme von Stammzellen. Der Import von im Ausland hergestellten, pluripotenten embryonalen
Stammzellen (ES-Zellen) sei ethisch
bedenklich, jedoch gesetzgeberisch
nicht verboten. Nun würden Entwicklungen in der Biomedizin, etwa das
therapeutische Klonen, die Frage aufwerfen, ob das ESchG geändert werden
solle.
Wolfrum erklärte, er halte eine Änderung des Gesetzes vorerst nicht für
erforderlich. Die DFG lehne therapeutisches ebenso wie reproduktives Klonen nach wie vor ab. Vorrangig solle
weiterhin die ethisch unbedenklichere
Forschung an adulten Stammzellen
(AS-Zellen) gefördert werden. Falls
sich die Notwendigkeit einer Forschung an ES-Zellen bestätigen sollte
und die bisherigen Möglichkeiten dafür nicht ausreichen, schlage die DFG
eine „zeitlich befristete“ Lockerung des
ESchG vor.
In der Frage des Lebensschutzes des
Embryos sieht Wolfrum eine Ähnlichkeit zur Abtreibungsfrage, auch
wenn bei der Stammzellforschung dem
Lebensrecht des Embryos kein direktes, den vitalen mütterlichen Bedürfnissen gleichwertiges Äquivalent
entgegengestellt werden könne. „Der
Preis einer eingeschränkten Eröffnung
dieser Forschung unter wissenschaftlicher und ethischer Kontrolle kann gemessen an dem Schutz, den der Embryo
im deutschen Recht de facto genießt,
gering gehalten werden“, heißt es in
seinem Thesenpapier. In der Diskussion
wurde eingewendet, dass auch eine geringfügige Einschränkung des Lebensschutzes zwangsläufig seine Vernichtung zur Folge habe. Merkel ging so
weit, „ein echtes subjektives Grundrecht des Embryos auf Lebens- und
Würdeschutz“ generell in Abrede zu
stellen.
Visionen
Einen ähnlichen Standpunkt vertrat
der britische Genomforscher Austin
Smith. Nach seiner Ansicht ist der Fetus
bis zur Geburt noch kein Mensch,
sondern lediglich als „Teil des menschlichen Lebenszyklus“ zu betrachten. Der
Embryo müsse jedoch allein schon wegen seines gewaltigen Potenzials
besonders geachtet und geschätzt werden.ES-Zellen,möglicherweise der „biomedizinische Rohstoff des 21. Jahrhunderts“, seien aus der inneren Zellmasse
von Blastozysten leicht zu gewinnen.
ES-Zellen seien fähig, sich in identische Zellen zu teilen und schier grenzenlos zu vermehren. Zugleich zeigten sie
eine ausgeprägte Plastizität. Smith hofft,
aus ihnen transplantierbare Ersatzgewebe zu züchten. Nach Stimulation mit
Wachstumsfaktoren könnten sie in den
Händen von Transplantationsmedizinern zu ausgezeichneten Werkzeugen
werden. Bei zahlreichen bislang unheilbaren Krankheiten wie Herzinfarkt, Parkinsonismus, multipler Sklerose, Typ-1Diabetes oder Mukoviszidose seien
künftig neue, sehr effektive Behandlungsmöglichkeiten denkbar. Schon bald
könnten ES-Zellen in der pharmazeutischen Forschung eingesetzt werden.
Smith führte aus, dass adulte Stammzellen sich weniger gut zur Weiterentwicklung der Gentherapie eigneten.
Unter In-vitro-Bedingungen seien sie
nicht so problemlos zu vermehren wie
ES-Zellen. Ob die angestrebten Differenzierungsprozesse bei ES-Zellen tatsächlich gut steuerbar und eine etwaige
Onkogenität beherrschbar seien, müsse
vordringlich erforscht werden. Restriktionen auf nationaler Ebene dürften die
internationale Zusammenarbeit nicht
behindern, so Smith.
Auftragsforschung
Der Bonner Neuropathologe Oliver
Brüstle kritisierte die bisherigen Forschungsbedingungen in Deutschland.
In einem früheren Projekt hatte Brüstle
tierische ES-Zellen zu Vorläuferzellen
gezüchtet und in die Gehirne von Mäusen mit einer Markscheidenerkrankung
transplantiert. Dort war der Zellersatz
zu Myelin-bildenden Stützzellen ge-
reift. Um weitere Forschungen auch mit
menschlichen ES-Zellen durchzuführen, sei er aufgrund der Gesetzeslage in
Deutschland jedoch auf Importe aus
dem Ausland angewiesen, sagte Brüstle.
Zelllinien, aber auch Verfahren und
selbst die Forschungsergebnisse, müssten dem ausländischen Partner zurückgegeben werden. „Krass gesagt, das ist
Auftragsforschung für das Ausland“,
beschrieb er die Situation. Auch um
nicht in den Ruf einer – so Brüstle –
„Doppelmoral“ zu geraten, möchte er
die rechtlichen Grundlagen für die
Stammzellforschung in Deutschland neu
geregelt wissen.
Brüstle stellte dar, warum sich ESZellen für die Forschung besser eigneten als AS-Zellen. Einzelne Gene könnten aus dem Kernmaterial gezielt eliminiert und ein Zellersatz zu Transplantationszwecken einfacher hergestellt werden. AS-Zellen seien wenig proliferativ,
ihre Anreicherung in der Zellkultur bislang selten gelungen und die gezielte Umzüchtung (Transdifferenzierung)
noch wenig überzeugend.
Als ein wichtiger Vorteil der AS-Zellen müsse jedoch deren immunologische Kompatibilität gesehen werden, da
ihr Spender zugleich Empfänger sei.
Ebenso dürfe nicht verkannt werden,
dass die Forschung mit ES-Zellen gewisse Risiken berge. Diese beträfen ihre
Zelltyp-Spezifizierung und den Reinheitsgrad der verwendeten Kulturen,
was vielleicht zu Teratomen (Missbildungen) führen könnte.
Einen Konflikt zwischen den Forschungen an ES-Zellen und AS-Zellen
gibt es nach Brüstles Einschätzung
nicht. Die meisten Stammzellforscher
seien an beiden Richtungen interessiert, um sie miteinander zu vergleichen. Gewarnt werden müsse allerdings
vor allzu optimistischen Erwartungen.
Vor dem Einsatz beim Menschen seien
viele abgestufte Vorversuche notwendig, und früheste Therapieerfolge erst in
fünf bis zehn Jahren zu erwarten.
Auswirkungen auf die
Gesellschaft
Ein entschiedenes Plädoyer für eine
Beschränkung der Forschung auf ASZellen unternahm der amerikanische
99
D O K U M E N T A T I O N
Heft 28–29, 16. Juli 2001
Wissenschaftsautor Jeremy Rifkin. Er
wies auf Entwicklungen hin, zu denen
die neuen Biowissenschaften in den angelsächsischen Ländern bereits geführt
hätten. Dort seien Patente nicht nur
auf Laborverfahren und Gensequenzen, sondern auch auf Stammzelllinien
und Hybridlebewesen vergeben worden. Viele Biotechnologieunternehmen
versuchten, sich mit den Entwicklungen
in der Biomedizin „eine goldene Nase“
zu verdienen. Diese kommerziellen Interessen würden im Ringen um eine
ethische und rechtliche Basis für die
Embryonenforschung leider allzu oft
übersehen.
Rifkin behauptete, die Gesellschaft
setze sich ohne Not der Gefahr einer
neuen, kommerziell orientierten Form
der Eugenik aus. Viele Gefahren („slippery slopes“) drohten allein schon
durch die immanente Dynamik der biomedizinischen Technologie. Jeder
Schritt fordere und rechtfertige den
nächsten. Aber diese Entwicklungen
seien später nicht mehr rückgängig zu
machen.
Zu wenig beachtet werde weiterhin,
dass der Verlust genetisch bedingter rezessiver Eigenschaften sich in der Evolution des Menschen nachteilig auswirken könnte. Noch schwerer wiege, dass
der Versuch einer Perfektionierung des
Menschen durch Genmanipulation und
Klonierung unweigerlich zu einem Verlust an Empathie, zu Geringerschätzung von Abweichung und Behinderung führe.
Nach Rifkins Worten würden gesellschaftliche Auseinandersetzungen heute weniger durch Positionen wie „rechts“
oder „links“ als durch den Widerspruch zwischen „utilitaristischen und
intrinsischen“ Werten geprägt. Solange
es für die Biowissenschaftler aussichtsreiche und ethisch unbedenklichere Alternativen wie die Forschung an ASZellen gebe, sei nicht einzusehen, Embryonen als Rohstofflieferanten für
zukünftige Therapieformen zu instrumentalisieren.
Ärzte seien gut beraten, sich auf den
hippokratischen Eid mit seinem „primum
nihil nocere“ (vor allem nicht schaden)
zurück zu besinnen. Dr. med. Peter Bartmann
100
Embryonale Stammzellen
Entscheidung über
Import vertagt
SPD und Grüne haben im Bundestag die Forderung
der Union nach einem Moratorium zur Einfuhr
von Stammzellen zurückgewiesen. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft verhält sich bisher abwartend.
B
undeskanzler Gerhard Schröder
befürwortet die Forschung an embryonalen Stammzellen. Einen Import lehnt er allerdings ab. Er ist sich
wohl bewusst, dass eine offene Auseinandersetzung dem Image der Koalition
großen Schaden zufügen würde. Deshalb sprach sich die SPD gemeinsam
mit den Grünen für einen Kompromiss
aus: Zunächst wurde ein Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion abgelehnt. Darin heißt es: „Der Deutsche
Bundestag fordert die Bundesregierung
auf, bis zu einer endgültigen Entscheidung des Deutschen Bundestages sicherzustellen, dass kein Import von embryonalen Stammzellen nach Deutschland stattfindet, deren Gewinnung die
Tötung von Embryonen voraussetzt.
Der Deutsche Bundestag appelliert an
die Wissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland, bis zu einer entsprechenden Entscheidung des Deutschen
Bundestages vom Import von und der
Forschung an embryonalen Stammzellen abzusehen.“
Dagegen stimmte das Parlament mit
der Mehrheit der Koalitionsfraktionen
für einen Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen und SPD, wonach sich der Bundestag voraussichtlich im Herbst mit der
Frage der Forschung an importierten
embryonalen Stammzellen unter Berücksichtigung von Stellungnahmen der
Enquete-Kommission des Bundestages
„Recht und Ethik der modernen Medizin“, des Nationalen Ethikrats und der
Deutschen Forschungsgemeinschaft befassen soll. Auch in diesem Antrag wird
an alle Forscher appelliert, der Entscheidung nicht durch Schaffung von vollendeten Tatsachen vorzugreifen.
Sprecher der Koalitionsfraktionen
wiesen darauf hin, dass die Forscher
nicht zu einem Moratorium gezwungen
werden könnten. Ein Importverbot sei
außerdem nur bei einer entsprechenden
Änderung des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) möglich. SPD und Grüne
hatten sich jedoch darauf verständigt,
das ESchG in dieser Legislaturperiode
nicht mehr zu novellieren.
Ein „Moratorium in recht abgeschwächter Form“, so die stellvertretende Unions-Fraktionsvorsitzende Maria
Böhmer, stellt allerdings auch der Antrag der Regierungskoalition dar. Doch
auch in ihrer Fraktion gibt es keine Einigkeit. Während Böhmer forderte, die
Forschung an adulten Stammzellen stärker zu fördern und eine verbrauchende
Embryonenforschung abzulehnen, wollte
der frühere Bundesgesundheitsminister
Horst Seehofer (CSU) eine Forschung
an Stammzellen aus überzähligen Embryonen nicht ausschließen.
Die SPD-Abgeordnete und Vorsitzende der Enquete-Kommission, Margot von Renesse, wies auf Versäumnisse
des Parlaments hin, das die „derzeitige
Hängepartie mit verschuldet“ und das
Embryonenschutzgesetz nicht fortgeschrieben habe. Sie frage sich, „ob wir als
Gesetzgeber nicht einiges verschlafen
haben“. Die FDP sprach sich in einem eigenen Antrag für den Import von embryonalen Stammzellen aus. „Der Import embryonaler Stammzellen ist zum
Zweck der Forschung zulässig, denn er
ist laut Embryonenschutzgesetz nicht
verboten“, sagte die FDP-Abgeordnete
Ulrike Flach. Ein Importstopp sei aus
forschungspolitischer Sicht nicht vertretbar: „Wer heute ein Moratorium verab-
D O K U M E N T A T I O N
schiedet, lähmt einen ganzen Forschungszweig“, so Flach. Der Antrag der
FDP wurde allerdings mit den Stimmen
aller anderen Fraktionen abgelehnt.
Auch der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Prof. Dr. med.
Jörg-Dietrich Hoppe, appellierte anlässlich der Bundestagsdebatte an die
Wissenschaftler, ihren vorläufigen Verzicht auf die Forschung an embryonalen
Stammzellen öffentlich zu erklären.
„Die Zentren, die bereits solche Stammzellen importiert haben, sollten sich
freiwillig einem Moratorium unterwerfen, bis der Bundestag eine eindeutige
Entscheidung getroffen hat,“ forderte
Hoppe. In einem Interview mit der
Rheinischen Post verwies Hoppe darauf, dass er den Import embryonaler
Stammzellen unter den jetzigen Umständen nicht für vertretbar hält.
Ergebnisse von Forschungen an der
Universität Essen könnten außerdem
zu ganz neuen Überlegungen führen.
Der Entwicklungsbiologe Prof. Dr.
med. Dr. rer. nat. Hans-Werner Denker
hält nämlich die Annahme, dass sich aus
embryonalen Stammzellen keine Embryonen entwickeln können, für nicht
ausreichend belegt. Dazu Hoppe:
„Wenn Denker Recht hat, handelte es
sich bei diesen Zellen um totipotente,
also um Embryonen. Sie dürften natürlich für Forschung oder Experimente
nicht zur Verfügung stehen. Wir gehen
davon aus, dass Stammzellen nur noch
pluripotent sind.“ Um die vielen Fragen
der zellulären Entwicklungsbiologie zu
klären, seien weitere intensive Forschungsanstrengungen notwendig.
Die DFG wartet ab
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG) hat ihre Entscheidung, ob die
Forschung an humanen embryonalen
Stammzellen gefördert werden soll,
nochmals vertagt. Eigentlich stand die
Behandlung des vor etwa einem Jahr
gestellten Antrags der beiden Bonner
Neuropathologen Priv.-Doz. Dr. med.
Oliver Brüstle und Prof. Dr. med. Otmar Wiestler auf der Tagesordnung des
DFG-Hauptausschusses am 3. Juli. Auf
Vorschlag des Präsidiums wurde die Debatte darüber aber abgesetzt. Über die
Vergabe von Fördermitteln für die hu-
mane embryonale Stammzellforschung
soll nun bei der Sitzung am 7. Dezember
entschieden werden – „spätestens“.
Damit wird die DFG der Bitte des
Nationalen Ethikrates gerecht, Zeit für
die eigene Diskussion zu gewinnen. Sie
wolle die von ihr gewünschte und selbst
angestoßene Diskussion nicht durch eine konkrete Förderentscheidung beeinflussen, heißt es in der Stellungnahme.
Lieber wolle man im Dezember auf der
Basis der dann geltenden Rechtslage
ein Votum abgeben. Prof. Dr. ErnstLudwig Winnacker, Präsident der DFG,
will abwarten. „Eile ist auch jetzt nicht
geboten“, betonte er in Berlin. Ein Aufschub des Votums brächte keinen wesentlichen Schaden für die deutsche
Wissenschaft. Der Nationale Ethikrat
will sich in seiner nächsten Sitzung am
27. September mit dem Thema befassen. Dies gab der Vorsitzende, Dr.
Spiros Simitis, am 9. Juli in Berlin bekannt. Der Rat wolle aber im Herbst
keinem Entscheidungsgremium die
Kompetenz abnehmen, sondern nur Argumente aufbereiten und der Regierung und dem Deutschen Bundestag
zur Verfügung stellen, betonte Simitis.
Die Forscher hingegen drängen. Die
Entwicklung auf dem Gebiet der embryonalen Stammzellforschung schreite
so schnell voran, dass man leicht den Anschluss verpassen könnte, warnte Brüstle
(DÄ, Heft 24/2001). Einen Aufschub der
DFG-Entscheidung hatte er bereits vor
einem Monat befürchtet. Er betonte jedoch, dass er an einer offenen Diskussion und an einer transparenten Forschung interessiert sei. Deshalb habe er
vor Beginn weiterer Forschungsaktivitäten einen Antrag bei der DFG gestellt.
Bisher hat Brüstle nur an embryonalen
Stammzellen der Maus geforscht.
„Es war gut, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht vorzeitig Fakten geschaffen und den Förderantrag von
Professor Brüstle zur Forschung an importierten Stammzellen bis zum Jahresende zurückgestellt hat“, lobte am 4. Juli
Bundeskanzler Gerhard Schröder bei
der DFG-Jahresversammlung 2001 in
Berlin. „Gerade in dieser Frage, die wie
kaum eine andere das Selbstverständnis
der Menschen berührt,brauchen wir eine
offene und gewissenhafte Debatte sowie
mehr Information und Aufklärung.“
Deshalb habe er auch den Nationalen
Ethikrat berufen. Allerdings solle dieser
nicht stellvertretend für Politik und Gesellschaft abschließend und verbindlich
entscheiden, die Diskussion könne auch
nach seinem Votum kontrovers weitergeführt werden.
Schröder bekräftigte, dass die Qualität der Forschung ganz wesentlich für
die wirtschaftliche Entwicklung eines
Landes sei. Ethische Fragen dürften
nicht nach wirtschaftlichem Nutzen entschieden werden. Doch es sei klar, dass
neue wissenschaftliche Erkenntnisse es
erforderlich machen könnten, weltanschauliche Grundsätze neu zu bewerten. Das Embryonenschutzgesetz will
Schröder derzeit jedoch nicht ändern.
„Auf seiner Basis ist der Import embryonaler Stammzellen erlaubt“, erklärte er. „Das schafft hinreichende Sicherheit für unsere Forscher.“
Embryonale Stammzellen
bereits importiert
Was nicht verboten ist, ist erlaubt – diesen Grundsatz nutzen einige Wissenschaftler. Sie haben humane embryonale Stammzellen bereits nach Deutschland importieren lassen, ohne dies bei
der DFG zu beantragen oder gar von
ihr genehmigen zu lassen. Dies wurde
wenige Tage vor der geplanten Entscheidung bekannt.
So bestätigten die Universitätskliniken in Lübeck, München und Köln, dass
sie embryonale Stammzellen bei der
Firma WiCell, USA, bestellt und von ihr
erhalten haben. Die Wissenschaftler
versicherten aber gleichzeitig, vor einer
politischen Regelung in Deutschland
nicht an diesen Zellen zu forschen.
Auch die Kieler Universität plante, in
den nächsten Wochen embryonale
Stammzellen von der australischen Firmas ES Cell International zu importieren. Außer den genannten Universitäten ist derzeit nicht bekannt, dass andere Einrichtungen in Deutschland bereits embryonale Stammzelllinien erworben haben. Denkbar wäre dies jedoch.
Weitere Import-Anträge lägen der
DFG jedoch nicht vor, bestätigte Winnacker. Gleichzeitig betonte er jedoch,
dass es jedermann frei gestellt sei, embryonale Stammzellen zu importieren,
101
D O K U M E N T A T I O N
da es sich dabei nicht um Embryonen
handele. Das Embryonenschutzgesetz
würde in diesem Fall nicht greifen; die
Forscher müssten demzufolge nicht einmal eine Gesetzeslücke nutzen. Für die
Kontrolle des Import von embryonalen
Stammzellen fühlt er sich nicht verantwortlich: „Wir sind keine Forschungspolizei.“ Der DFG-Präsident schlug
deshalb vor, die Arbeit an embryonalen
Stammzellen von einer unabhängigen
Kommission überwachen zu lassen,
ähnlich der Zentralen Kommission für
biologische Sicherheit. Diese solle die
Rahmenbedingungen für den Import
und die Arbeit an den Zellen festlegen
und von einem Genehmigungsverfahren abhängig machen. Die DFG kümmere sich um die Anträge und die Einhaltung von wissenschaftlichen, ethischen und rechtlichen Grundlagen dieser Anträge. „Als Verteiler staatlicher
Mittel zielt unser Einsatz darauf ab, die
Stammzellforschung nicht in den privaten Sektor abzudrängen, sondern in der
gebotenen Transparenz stattfinden zu
lassen“, betonte der DFG-Präsident.
Gisela Klinkhammer/Dr. med. Eva A. Richter
Heft 33, 17. August 2001
Embryonenschutz
Keine Entscheidung ohne
qualifizierte Beratung
Bei Schwangerschaftskonflikten nach pränataler Diagnostik
und auch im Falle der Zulassung von Präimplantationsdiagnostik sind eine angemessene Aufklärung sowie eine
Pflichtberatung erforderlich.
D
ie Eigenverantwortung von Patientinnen und Patienten ist in der
Medizinethik ein maßgebendes
Leitbild geworden. Voraussetzung dafür sind Aufklärung und Beratung, die
in der Reproduktions- und Pränatalmedizin unter dem Aspekt des Embryonenschutzes einen besonders hohen
Stellenwert besitzen. So wird in der gegenwärtig geführten Diskussion über
eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland immer
wieder auf das Erfordernis einer
Pflichtberatung verwiesen. Die Auseinandersetzung mit deren Inhalt droht dabei aber ebenso zu kurz zu kommen wie
der Blick auf Defizite in vergleichbaren
Konfliktsituationen.
Hohe Anforderungen an die
Qualität der Aufklärung
Eine angemessene Aufklärung ist notwendige Voraussetzung der rechtlich
wirksamen Einwilligung von Patienten
102
in eine diagnostische oder therapeutische ärztliche Intervention. Die Anforderungen an die Qualität der Aufklärung sind umso höher,
– je folgenschwerer die Intervention
sein kann (im Sinne von Risiken sowie
psychischen Belastungen für die Patientin oder den Patienten selbst, aber
auch für vorgeburtliches menschliches
Leben),
– je größer der Entscheidungsspielraum ist (aufgrund der Möglichkeit, medizinisch, aber auch ethisch gleichrangige oder zumindest erwägenswerte alternative Optionen in Anspruch zu nehmen), und
– je komplexer und ferner vom jeweiligen intuitiven Vorverständnis der Ablauf und die möglichen Folgen der Intervention sind.
Diesen Kriterien gemäß sind die Anforderungen an die Beratung in der Reproduktions- und Pränatalmedizin besonders hoch. Deshalb muss ärztliche
Beratung in ihrem Umfang, im Spektrum der vermittelten Inhalte und in der
Qualifikation der Berater höchsten
Maßstäben genügen. Sie bedarf spezifischer berufsrechtlicher Verankerung
und einer entsprechend qualifizierenden
Unterweisung. Ziel dieser Regelungen
und ihrer praktischen Umsetzung muss
es sein, bei den Ratsuchenden einen als
Grundlage autonomer Entscheidungen
hinreichenden Kenntnisstand über die
medizinischen Fakten, die möglichen sozialen Folgen sowie über die ethischen
und rechtlichen Probleme zu vermitteln.
Von zentraler Bedeutung ist dafür
die Verpflichtung sowohl der auf diesem Gebiet tätigen medizinischen Einrichtungen, geeignete Beratungsangebote sicherzustellen, als auch der Ratsuchenden, diese Angebote tatsächlich
wahrzunehmen. Eine solche Pflichtberatung ist so auszugestalten, dass sie die
Entscheidungsfreiheit der Frau und der
Familie nicht einschränkt. Daher ist eine möglichst umfassende und zugleich
ergebnisoffene Beratung erforderlich.
Bei reproduktionsmedizinischen Fragen kommt einer solchen Beratung besonderes Gewicht zu, weil Entscheidungen für oder gegen diese Verfahren stets
Dritte mitbetreffen, nämlich das ungeborene Leben und Angehörige.
Diagnostik im reproduktionsmedizinischen Kontext geht über die übliche
medizinische Diagnostik hinaus. Das bedeutet, dass nicht nur vor einer Diagnostik individuell beraten werden muss,
sondern dass auch die Ergebnisse der
Der Beitrag wurde von der Arbeitsgruppe „Reproduktionsmedizin und
Embryonenschutz“ der Akademie für
Ethik in der Medizin verfasst: Dr. theol.
Markus Babo, M.A., Katholisches Pfarramt
Gommiswald/Schweiz; Ass. jur. Urs Peter
Böcher, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Mainz; Priv.-Doz. Dr.
med. Wolfram Henn, Institut für Humangenetik, Universität des Saarlandes; Prof. Dr. phil.
Dipl.-Biol. Uwe Körner, Universitätsklinikum
Charité, Humboldt-Universität zu Berlin; Prof.
Dr. theol. Hartmut Kreß, Abt. Sozialethik,
Evang.-Theol. Fakultät, Universität Bonn; Prof.
Dr. sc. agr. Hans-Wilhelm Michelmann, Frauenklinik, Universität Göttingen; Dr. med. M.A.
phil. Fuat S. Oduncu, Medizinische Klinik, Klinikum der Universität München – Innenstadt, Dr.
phil. Alfred Simon, Akademie für Ethik in der
Medizin e.V.; Prof. Dr. jur. Christiane Wendehorst, Abt. für Arzt- und Arzneimittelrecht, Juristisches Seminar, Universität Göttingen; Dipl.Biol. Christa Wewetzer, Zentrum für Gesundheitsethik, Evangelische Akademie Loccum
D O K U M E N T A T I O N
Diagnostik anschließend in interpretierenden Beratungsgesprächen erörtert
werden müssen [1].
Derzeit ist noch nicht entschieden, ob
in Deutschland die PID zugelassen wird.
1. Für den Fall einer Zulassung nennt
der Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer (BÄK) [2] Mindeststandards
für die Beratung im Zusammenhang mit
der PID, die keinesfalls unterschritten
werden dürfen. Gefordert ist in diesem
Diskussionspapier die Beteiligung von
Humangenetikern und Gynäkologen
am Beratungsprozess. Darüber hinaus
muss auch psychosoziale und ethische
Beratungskompetenz eingebracht werden. Zur Forderung des Entwurfs, in der
Beratung als zur PID alternative Handlungsoptionen zum Beispiel „Adoption
oder Verzicht auf eigene Kinder“ und
„im Falle einer Schwangerschaft die
Möglichkeit zur pränatalen Diagnostik“
darzustellen, müssen als weitere Alternativen ergänzt werden: „Realisierung
des Kinderwunsches im Bewusstsein des
individuellen Risikos von Kindern des
Paares für die in Rede stehende Krankheit“ sowie „Möglichkeit der heterologen Fertilisation (Insemination beziehungsweise – falls künftig zugelassen –
Eizellspende)“. Zudem müssen ethische,
psychosoziale und rechtliche Aspekte
der PID und der verfügbaren Alternativen thematisiert werden. Zu den ethischen Aspekten gehört der Sachverhalt,
dass durch die Präimplantationsdiagnostik der embryonale Lebensschutz relativiert wird.
Schutz
von vorgeburtlichem Leben
Die grundsätzlich zu fordernde Trias
Beratung – Diagnostik – Beratung kann
im biologisch vorgegebenen engen zeitlichen Rahmen einer PID an praktische
Grenzen stoßen. Umso umfassender
müssen in der Beratung vor der PID die
aus der künstlichen Befruchtung und
der Diagnostik resultierenden Handlungsoptionen erörtert werden.
2. Für den Fall, dass die PID in
Deutschland nicht zugelassen wird,
muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass für an Präimplantationsdiagnostik interessierte Paare Angebote
im Ausland verfügbar sein werden. Da-
bei ist zu befürchten, dass an PID anbietenden, zum Teil privatwirtschaftlichen
Einrichtungen im Ausland die als erforderlich anzusehende Beratungsqualität
nicht immer gewährleistet sein wird.
Insbesondere ethische Probleme und
alternative Handlungsoptionen zur
PID werden oft nicht aufgezeigt.
Deshalb muss auch für diesen Fall
qualifizierten Beratungseinrichtungen
die Möglichkeit eingeräumt werden,
Paare mit dem Wunsch nach PID zu betreuen und ergebnisoffen zu beraten.
Das setzt voraus, dass auch bei einem
Verbot von PID Ärzte, die über PID im
Ausland informieren und die Paare beraten, nicht von Strafe bedroht sein dürfen. Umgekehrt darf sich ein Arzt aber
auch nicht dadurch strafbar oder haftbar machen, dass er dies unterlässt.
Im Zuge der Reform des § 218 StGB
ist die embryopathische Indikation für
den Schwangerschaftsabbruch abgeschafft worden. Die früher von der embryopathischen Indikation umfassten
Problemstellungen sind seither faktisch
in die medizinische Indikation aufgenommen worden. Dadurch sind für den
Fall der pränatalen Diagnose einer
Schädigung des ungeborenen Kindes
keine spezifischen Beratungsverfahren
gesetzlich vorgeschrieben. Die bestehenden Richtlinien zur pränatalen Diagnostik [3] sind offensichtlich nicht ausreichend, da in der Praxis nur wenige
Schwangere nach pathologischem Befund einer Pränataldiagnostik genetisch
beraten werden.
Weil von den Befürwortern der PID
die Pflichtberatung als eine Voraussetzung für deren Zulassung angesehen
wird, würde sich ohne eine gleichartige
Beratung nach Pränataldiagnostik ein
Wertungswiderspruch ergeben. Es wäre
nicht nachvollziehbar, warum die Beratung als Instrument auch des Schutzes
ungeborenen Lebens im Rahmen einer
vorhandenen Schwangerschaft einen
niedrigeren Stellenwert haben sollte als
präkonzeptionell. Zumal die Pränataldiagnostik, die zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt als die PID stattfindet,
Feten betrifft, welche mit Blick auf Gehirnbildung und Schmerzempfindung
bereits weit entwickelt sind. Das moralische Anliegen des Schutzes von individuellem vorgeburtlichem Leben ist bei
der Pränataldiagnostik insofern noch
deutlicher als bei der PID berührt.Auch
gegenüber der in § 218 a Abs. 1 StGB
festgelegten „Fristenregelung mit Beratungspflicht“ ist das Fehlen einer korrespondierenden Pflichtberatung in einem Schwangerschaftskonflikt bei pränatal diagnostizierter zu erwartender
Behinderung des ungeborenen Kindes
als eine ethisch inakzeptable Benachteiligung behinderten Lebens anzusehen.
Weiterhin zeigen sich im Zusammenhang mit pränatalen Screeningtests, wie
dem „Triple-Screening“, empfindliche
Defizite in der Schwangerenberatung.
Diese Tests zielen auf eine Risikoerkennung für genetisch bedingte Schädigungen des ungeborenen Kindes, speziell
Chromosomenanomalien. Da sie bei bestimmter Risikoanzeige eine invasive
Pränataldiagnostik mit der Option des
Schwangerschaftsabbruchs nach sich
ziehen, stehen sie beim Beratungsbedarf
nicht der allgemeinen Schwangerschaftsüberwachung, sondern der genetischen
Pränataldiagnostik nahe. Folglich sind
für diese Screeningtests analoge Aufklärungsstandards unabdingbar wie für
die Pränataldiagnostik selbst. Insbesondere ist erforderlich, dass – entgegen verbreiteter Praxis – jede Schwangere vor
einem Screeningtest wie vor einer Pränataldiagnostik spezifisch über dessen
medizinische und ethische Implikationen aufgeklärt werden muss und ihre
Einwilligung schriftlich erklärt.
In der politischen Realität ist auf allen Seiten große Zurückhaltung zu verspüren, den mühsam erarbeiteten Konsens zum § 218 StGB durch erneute Reformbemühungen aufs Spiel zu setzen.
Dennoch machen die bestehenden Defizite in der Beratung im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik und
deren Inkonsistenz mit Prinzipien des
Embryonenschutzes eine Diskussion
notwendig, wie auch hier eine für Ärzte
und Schwangere verpflichtende Beratung angemessener Qualität sichergestellt werden kann.
Beratung in zugelassenen
Einrichtungen
Eine Möglichkeit, dies ohne die keinesfalls anzustrebende Wiedereinführung
einer embryopathischen Indikation
zum Schwangerschaftsabbruch zu errei-
103
D O K U M E N T A T I O N
Heft 33, 17. August 2001
chen, wäre eine bescheinigungspflichtige problembezogene Schwangerenkonfliktberatung auch vor Schwangerschaftsabbrüchen aus medizinischer Indikation. Ohne eine solche Beratung
sollte der Schwangerschaftsabbruch nur
dann nicht rechtswidrig sein, wenn mit
dem Aufschub durch die Beratung eine
vitale Bedrohung für die Schwangere
verbunden wäre.
Die Pflichtberatung zu medizinischen Schwangerschaftskonflikten sollte hierfür zugelassenen Einrichtungen
vorbehalten bleiben, die angemessene
Kompetenzen auf medizinischem, aber
auch psychosozialem und ethischem
Gebiet vorweisen können.
Literatur
1. Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische
Fragen der Gesellschaft für Humangenetik e.V.
(1996): Positionspapier. Med. Genetik 8: 125–131.
2. Bundesärztekammer: Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik. Dt Ärztebl
2000; 97: A 525–528 [Heft 9].
3. Bundesärztekammer: Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen. Dt Ärztebl 1998; 95: A 3236–3242 [Heft 50].
Anschrift für die Verfasser:
Priv.-Doz. Dr. med. Wolfram Henn
Institut für Humangenetik, Universitätskliniken
Bau 68, 66421 Homburg/Saar
E-Mail: [email protected]
Stammzellforschung
„Ethik des Heilens“
G
eorge W. Bush hat es sich nicht leicht
gemacht mit seiner Einstellung zu
menschlichen Embryonen. In einer
Fernseherklärung schilderte er letzte
Woche ausführlich seinen Meinungsbildungsprozess. „Ist ein Embryo im
frühen Stadium bereits menschliches
Leben?“, fragte sich der amerikanische
Präsident. Nach vielen Gesprächen mit
Naturwissenschaftlern, Ärzten und
Theologen kam er zu der Ansicht: „Jeder Embryo ist einzigartig wie eine
Schneeflocke und besitzt das einzigartige genetische Potenzial zu einem individuellen menschlichen Wesen.“ Auch
auf die Frage, ob man Embryonen nicht
für „höhere Zwecke“ benutzen dürfe,
wenn sie doch in jedem Fall zerstört
würden, habe er verschiedene Antworten erhalten. Bush verweist auf die moralischen Gefahren bei der Forschung
an embryonalen Stammzellen. In diesem Zusammenhang sprach er sich entschieden gegen das Klonen von Menschen aus. Ohne moralisches Dilemma
könne nur an Plazentazellen und an
adulten Stammzellen geforscht werden,
was deshalb auch mit Bundesmitteln
unterstützt werden soll.
Wegen seiner zahlreichen Bedenken
spricht sich Bush gegen eine Forschungsförderung mit gezüchteten Linien aus. Die Forschung an Experimenten mit bestehenden Linien embryonaler Stammzellen soll dagegen gefördert
werden, „da die Entscheidung über Leben und Tod hier bereits vollzogen ist“.
Nach Auskunft führender Wissenschaftler böten diese 60 Linien sehr
gute Aussichten auf einen Durchbruch
im Bereich der Entwicklung neuer
Heilverfahren. Wie Bundeskanzler
Gerhard Schröder ist er also Verfechter
einer „Ethik des Helfens und Heilens.“
Gemessen am Beschluss des diesjährigen Ärztetages in Ludwigshafen
hätte Bushs (fauler) Kompromiss keinen Bestand. Dort hatten die Delegierten der Herstellung, dem Import und
der Verwendung embryonaler Stammzellen (derzeit) eine eindeutige Absage
Gisela Klinkhammer
erteilt.
Heft 37, 14. September 2001
Humanismusstreit
Vom Überschreiten des Rubikon
In der derzeitigen Debatte über medizinethische Fragen wird nicht nur über das
Pro und Kontra von Präimplantationsdiagnostik und embryonaler Stammzellforschung,
sondern auch über den Wert und die Würde menschlichen Lebens diskutiert.
V
or etwa einem Jahr ging Prof. Dr.
phil. Dr. h. c. mult. Wolfgang Frühwald mit einem jungen amerikanischen Juristen durch Berlin. Dieser habe ihm einen Kummer anvertraut, über
den er offenkundig schon länger nachgedacht hatte. Er komme nicht über den
Gedanken hinweg, sagte er, dass seine
Generation die letzte sein werde, die
auf natürlichem Weg gezeugt worden
war. Über diese Episode berichtet
Frühwald, Präsident der Alexander von
104
Humboldt-Stiftung und früherer Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), in der jüngsten Ausgabe
von „Wirtschaft & Wissenschaft“, der
Zeitschrift des Stifterverbandes für die
deutsche Wissenschaft. Er selbst hielt
die Angst des jungen Mannes zunächst
für „ein Produkt ausgedehnter ScienceFiction-Lektüre“. Inzwischen scheint
sie ihm jedoch alles andere als abwegig.
In mehreren Beiträgen äußerte er seine
Befürchtungen, die offenbar von einer
Ansprache des Präsidenten der MaxPlanck-Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaften, Prof. Dr. rer. nat. Hubert Markl, ausgelöst worden waren.
Markl hatte sich bei der Hauptversammlung seiner Gesellschaft am 22. Juni gegen den Bundespräsidenten und die
Auffassungen der beiden großen christlichen Kirchen gewandt und dezidiert deren Weltanschauung widersprochen. Johannes Rau hatte sich in seiner Berliner
Rede am 18. Mai für eine Beibehaltung
D O K U M E N T A T I O N
des Embryonenschutzgesetzes ausgesprochen. „Auch hochrangige Ziele wissenschaftlicher Forschung dürfen nicht
darüber bestimmen, ab wann menschliches Leben geschützt werden soll“, sagte
Rau. Für Markl dagegen ist eine „befruchtete Eizelle noch lange kein
Mensch, jedenfalls nicht als eine naturwissenschaftlich begründete Tatsache; allenfalls dann, wenn wir dem Begriff
,Mensch‘ – und zwar durchaus willkürlich
– eine ganz andere Bedeutung zuweisen“. Jeder lebende Mensch gehöre zwar
biologisch zur Art Homo sapiens. „Aber
Menschlichkeit, Menschenwürde, ja
recht eigentlich Menschsein ist mehr als
dies Faktum, es ist eine kulturell-sozial
begründete Attribution, die sich in der
Begriffsbegründung zwar sehr wohl biologischer Fakten bedienen kann, ja muss,
die sich aber in ihnen nicht erschöpft.“
Zwar müsse der „Umgang mit Menschenembryonen anderen Normen unterworfen werden als der mit Mäuseembryonen“, doch der „Akt der Zuschreibung des vollgültigen Menschseins wird
durchaus verschieden begründet“. Das
sei auch der deutschen Rechtsprechung
und Lebenspraxis alles andere als
fremd, sonst wäre nach Auffassung
Markls die weitgehende rechtsfriedliche
Regelung von Abtreibungen und die allgemein akzeptierte Verwendung von
einnistungshemmenden Mitteln zur Geburtenkontrolle gar nicht möglich.
Der Beschluss des britischen Gesetzgebers, Forschung an und mit menschlichen Embryonen und mit Zellkulturen
aus solchen Embryonen bis hin zum therapeutischen Klonen in den ersten beiden Lebenswochen unter sorgfältig zu
begründenden und kontrollierten Bedingungen freizugeben, bedeutet für
Markl keine Verabschiedung Großbritanniens aus der abendländischen
Wertegemeinschaft. Dass „willkürliche
Entscheidungen – wie jene der Dreimonatsgrenze in der Abtreibung – unvermeidlich sind, sollte bei genauerem Überlegen gerade als Ausdruck
menschlicher Gewissensfreiheit und
moralischer Verantwortlichkeit gesehen
werden“. In diesem Zusammenhang bekennt sich Markl zur „Freiheit eines
Nichtchristenmenschen“. Wenn es um
bioethische Entscheidungen gehe, die
vor allem Beginn und Ende des Lebens
beträfen, müsse der Gewissens- und
Handlungsfreiheit des einzelnen Menschen in einer freien Gesellschaft ein
hoher Rang eingeräumt werden. „Damit ist nicht nur die Freiheit von Eltern,
insbesondere von Müttern gemeint,
sich, wenn Präimplantations- oder Pränataldiagnostik schwere Entwicklungsstörungen einer Leibesfrucht erwarten
lässt, nach ärztlicher Beratung für oder
gegen deren Austragen zu entscheiden.“
Markl fühlt sich von „sozialethischen
Argumenten“ der Art geschreckt, es
könnte die Stimmung in der Bevölkerung für oder gegen Behinderte beeinflussen, wenn es Müttern frei überlassen werde, solche schweren Entscheidungen zu treffen. Dabei werde nämlich verkannt, dass die meisten Behinderungen nicht angeboren seien. Selbst
von den angeborenen Fällen könnten
auch künftig viele keineswegs viel
früher erkannt werden. „An Behinderten wird es der Gesellschaft also bestimmt nicht mangeln.“
Am Ende des Lebens treffe er ebenfalls seine Entscheidung als „freier
selbst entscheidungsberechtigter Staatsbürger“. Ausdrücklich begrüßt Markl
deshalb die niederländische Euthanasiegesetzgebung. Das holländische Parlament habe „den hohen Wert der Freiheit des Menschen, über sich selbst zu
entscheiden, trotz aller Anfeindungen,
mutig anerkannt“.
Innere Zerreißprobe
Der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft stimmte auch den Empfehlungen
der DFG zur Forschung an embryonalen Stammzellen vom 3. Mai „aus voller
Überzeugung zu“. In Anspielung auf die
Rede Raus, der vor einem Überschreiten des Rubikon gewarnt hatte, sagte
Markl: „Der Rubikon ist kein Fluss, jenseits dessen das Böse lauert; denn das
Böse ist, wenn schon, dann längst immer
mitten in uns. Der Rubikon ist vielmehr
ein Fluss, dem der Mensch ständig selber ein neues Flussbett bahnen muss,
weil er das Vertraute vom Unentschlossenen trennt, und den wir deshalb nur
wohlbedacht und mit Verantwortung für
unser Handeln überschreiten sollten.“
Frühwald fühlte sich durch die Ausführungen Markls zu einer Erwiderung
herausgefordert. Nach seiner Auffas-
sung, die er in einem Interview mit der
Zeitschrift „Forschung & Lehre“ darlegte, geht es bei der Diskussion über
die Forschung an embryonalen Stammzellen „schon längst um viel mehr“. Es
gehe nämlich um die Auseinandersetzung zwischen einem „christlichen, zumindest kantianischen Menschenbild
auf der einen Seite und einem szientistischen, sozialdarwinistischen Menschenbild auf der anderen Seite“. Der ausgebrochene „Kulturkampf“ (oder „Humanismusstreit“, wie die Auseinandersetzung inzwischen bezeichnet wird)
werde so rasch nicht enden.
Frühwald schlägt sich in diesem
Streit unmissverständlich auf die Seite
des „keineswegs forschungsfeindlichen
Bundespräsidenten“. Dabei betont er,
dass er die DFG mit ihrer Entscheidung
nicht kritisiert, weil die Forschungsgemeinschaft vor einer inneren Zerreißprobe stehe. In Ländern, in denen
zum Beispiel der Embryo in den ersten
14 Tagen seiner Entwicklung keine
menschliche Würde zugesprochen
bekäme, sei auch „nicht die pure Barbarei ausgebrochen“. Im Unterschied
zum therapeutischen Nihilismus des 19.
Jahrhunderts, in dem das Experiment
um des Experimentes willen gepflegt
wurde, sei heute die medizinische
Grundlagenforschung, auch und gerade
im Bereich der Stammzellenforschung,
auf therapeutische Ziele ausgerichtet.
Allerdings sei die experimentelle
Wissenschaft heute dabei, durch jeweils
neu geschaffene Fakten die Grenzen
immer weiter in ihrem Sinne hinauszuschieben und damit den Verdacht zu
erwecken, die Forschungsfreiheit als
einen absoluten Wert auch der Menschenwürde überzuordnen.
Wiederholt werde als Argument für
die Forschung an embryonalen Stammzellen die Internationalität der Forschung ins Feld geführt. Doch dies ist
nach Auffassung Frühwalds ein ausschließlich wirtschaftliches Argument:
„Es geht um den Vorsprung im Wettbewerb, um Verwertungsinteressen.“
Doch bei Fragen um Menschenwürde
und Lebensdefinitionen könnten wirtschaftliche Interessen nicht die primär
bestimmenden Interessen sein.
Die Behauptung, weil die Gesellschaft die In-vitro-Fertilisation billige
und damit „überzählige“ Embryonen
105
D O K U M E N T A T I O N
Heft 39, 28. September 2001
in Kauf nehme, dürfe jetzt auch an ihnen geforscht werden, bezeichnet
Frühwald als „baren Utilitarismus“.
An ihnen zu forschen bedeute, sie zu
einem ihnen fremden Zweck zu instrumentalisieren. Das aber sei ein Verstoß gegen die menschliche Würde.
Dr. theol. Wolfgang Huber, evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg
und Mitglied des Nationalen Ethikrats,
teilt die Befürchtungen Frühwalds. „Wir
stehen unausweichlich vor der Frage, an
welchen Grundsätzen wir uns orientieren wollen“, schrieb er Anfang August
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Auffassung dazu ist: „Der
Grundsatz der unantastbaren Menschenwürde verpflichtet dazu, menschliches Leben insgesamt nicht zu instrumentalisieren; den Menschen auch in
den frühesten Entwicklungsstufen des
vorgeburtlichen Lebens niemals nur als
Mittel zu fremden Zwecken einzusetzen.“ Der Hinweis darauf, dass ein Embryo im Mutterleib vor der Nidation
relativ schutzlos sei, sei keine Rechtfertigung dafür, dass der Forscher mit dem
Embryo in der Petrischale machen dürfe, was ihm gefällt.
Der Präimplantationsdiagnostik könne aus ethischen Gründen nicht zugestimmt werden, „weil sie gegen die Tendenz zu einer aktiven Vorselektion
menschlichen Lebens nicht abzugrenzen ist“. Im Gegensatz zu Markl ist Huber der Ansicht, dass durch dieses
Verfahren behindertem Leben nur ein
geminderter Lebensschutz zuerkannt
werde. In der Frage der Forschung mit
embryonalen Stammzellen bezieht der
Theologe ebenfalls eine eindeutige Position: „Es kann nicht nur um eine Abwägung der Menschenwürde gegen andere Güter gehen.“ Wer heute der embryonalen Stammzellforschung zustimme, werde sich morgen dem therapeutischen Klonen nicht verweigern können.
Und wer therapeutisches Klonen betreibe, habe den Weg zum reproduktiven Klonen bereits beschritten. Denen,
die einen nächsten Schritt befürchten,
werde beruhigend gesagt, einen solchen
Schritt habe niemand im Sinn. „Wird
auch nicht im Nachhinein gesagt werden, ,leider‘ habe man zu einem früheren Zeitpunkt den ,Rubikon‘ überschritten, nun sei kein Halten mehr?“
Gisela Klinkhammer
fragt Huber.
106
Embryonale Stammzellforschung
Unterschiedliche
Wertvorstellungen
Mit der internationalen Regelung der Forschung
an embryonalen Stammzellen beschäftigte
sich unter anderem ein Symposium in Hannover.
M
öglichkeiten und Grenzen der
Stammzellforschung – das war
das Thema eines Hearings, das
von der Stiftung Niedersachsen in
Zusammenarbeit mit dem niedersächsischen Landtag am 31. August und
1. September veranstaltet wurde. Auf die
Grenzen verwiesen und ethische Bedenken vorgebracht wurden vor allem bei
der embryonalen Stammzellforschung.
Zahlreiche Experten stellten aber dennoch deren Möglichkeiten heraus. Für
unverzichtbar hält sie auch Privatdozent
Dr. med. Oliver Brüstle (dazu DÄ, Heft
24/2001). „Die Forschung an adulten
wie auch an embryonalen Stammzellen
ergänzt sich, es sind Felder, die sich befruchten und die zu Synergien führen“,
so Brüstle.
Brüstle und sein Institutsleiter Prof.
Dr. med. Otmar Wiestler hatten bei
der Deutschen Forschungsgemeinschaft
(DFG) einen Projektantrag gestellt, um
an embryonalen Stammzellen forschen
zu können, die sie aus dem Ausland importieren wollen. Die DFG hat ihre
Entscheidung vorerst vertagt. Nach
dem deutschen Embryonenschutzgesetz ist die Herstellung von Linien aus
embryonalen Stammzellen verboten.
Der Import ist jedoch wegen einer Gesetzeslücke erlaubt. Doch ob wirklich
an importierten Zellen geforscht werden soll, ist umstritten.
Auf europäischer Ebene gibt es in
dieser Frage „unterschiedliche Wertvorstellungen“, sagte Dr. Octavi Quintana Trias vom spanischen Gesundheitsministerium. Die Menschenrechtskonvention zu Biomedizin des Europarates
verbiete die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken. In der Konvention werde je-
doch nicht bestimmt, was ein Embryo
sei, schränkte Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz, Mannheim, ein. Die Grundrechtscharta der Europäischen Union verbiete lediglich das reproduktive, nicht jedoch das therapeutische Klonen. Und
eine EU-Richtlinie, die therapeutisches
und reproduktives Klonen verbietet,
gebe es bisher nicht, so Quintana Trias.
Wenn ein Land restriktiver sei als andere, forderte er in Anspielung auf die
Regelung in Deutschland, solle die Europäische Union nicht dem Standard
dieses restriktiven Landes folgen. Die
Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken lehnt er allerdings ab.
„Für Embryonenforschung sollte man
nur Embryonen nehmen, die sowieso
zerstört werden.“ In Europa gibt es
nach seinen Angaben 250 000 bis
300 000 so genannte überzählige Embryonen. In Spanien gebe es etwa
37 000 „überzählige“ Embryonen, von
denen rund 4 000 für Stammzelllinien verwendungsfähig seien.
Bisher verfolgt Spanien ebenso wie
Österreich ein Schutzkonzept, „dessen
einschränkende Bestimmungen lediglich auf Befruchtungsverfahren ausgerichtet sind, sodass das darin enthaltene
Klonierungsverbot den Zellkerntransfer von der Technik her nicht erfasst“,
erläuterte Taupitz. In einigen Ländern
umfasse das Klonierungsverbot von
vornherein nur die Schaffung eines
„vollständigen Menschen“. Das sei beispielsweise in Israel der Fall, wo erst die
Geburt des Menschen als der entscheidende Einschnitt im Hinblick auf den
vollen Menschenwürdeschutz angesehen werde. In Australien, Dänemark,
Großbritannien, Finnland und Schweden sei eine fremdnützige Forschung
D O K U M E N T A T I O N
Heft 40, 5. Oktober 2001
von Embryonen auf die ersten 14 Tage
der Entwicklung beschränkt. Andere
Länder, wie Norwegen, Frankreich und
die Schweiz, folgten dem deutschen
Konzept, das die Erzeugung eines Embryos vom Beginn der Entwicklung an
verbiete. Während beispielsweise in
Frankreich „liberalisierende Gesetzentwürfe auf dem Tisch liegen“, würden
zum Beispiel in Kanada, Italien und in
den USA Verschärfungen angestrebt.
Der US-amerikanische Präsident
George W. Bush hatte sich am 9. August
dafür ausgesprochen, Forschung an vorhandenen Stammzelllinien mit Bundesmitteln zu unterstützen. Die Schaffung
neuer Zelllinien oder gar das Klonen
sollte
jedoch
nicht
öffentlich
gefördert werden. Diese Entscheidung
wurde von Prof. Dr. Erich H. Loewy,
University of California, Davis, scharf
kritisiert: „Die Bushsche Lösung ist gar
keine Lösung. Sie treibt die Forschung
in die Arme der Industrie.“ Und eine
Kommerzialisierung von Stammzellen
sei zutiefst unethisch.
Grundsätzlich sprach sich Loewy für
eine „evolutionäre Entwicklungsethik“
aus und befürwortete die Forschung an
embryonalen menschlichen Stammzellen. Seiner Ansicht nach haben sie keine
volle Schutzwürdigkeit: „Am Leben zu
sein, bedeutet etwas anderes, als Leben
Gisela Klinkhammer
zu haben.“
Deutsche Bischofskonferenz
Kein „Zellhaufen“
D
ie Attentate von New York und Washington haben wohl nur kurzfristig
das Thema Medizinethik in den Hintergrund treten lassen“, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, zu Beginn der diesjährigen Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda. Es werde nicht mehr
lange dauern, bis Nachrichten über
neue Experimente eintreffen würden.
Die Bischofskonferenz hielt es deshalb für erforderlich, sich intensiv mit
den Themen Stammzellforschung, Beginn des menschlichen Lebens und
Schutzwürdigkeit von Embryonen zu
beschäftigen. Doch ist ihre Meinung
überhaupt gefragt? Viel entscheidender
scheint da beispielsweise die Empfehlung des Nationalen Ethikrats, der sich
zurzeit damit beschäftigt, ob embryonale Stammzelllinien importiert werden
und an ihnen geforscht werden darf.
Doch das Gremium, bei dem Repräsentanten der katholischen Kirche mit Wissenschaftlern, die einem Embryo in
frühem Stadium keine volle Schutzwürdigkeit zubilligen, an einem Tisch sitzen, kann sich nicht einigen und stellte
zunächst lediglich fest: „Es gibt mehrere Meinungen zu diesem Thema.“ Dass
es auch keine spezielle katholische Meinung gibt, räumte Kardinal Lehmann
ein. Dennoch können und wollen die
Bischöfe richtungweisend sein. „Die
Kirche sieht sich als Anwältin des Lebens und als Anwältin des Menschen.
Wir haben in dieser öffentlichen Diskussion nur die ,Macht‘ unserer guten
Argumente“, sagte der Vorsitzende der
Bischofskonferenz.
Und so heißt es in einem „orientierenden Text“ der katholischen Bischöfe: Embryologische Forschungen über
die Vereinigung von Ei- und Samenzellen stützen die These, dass der Embryo
kein „Zellhaufen“, sondern von Anfang
an Mensch ist und sich als solcher entwickelt. Versuche, eine abgestufte
Schutzwürdigkeit zu begründen, seien
ebenso zurückzuweisen wie Vorschläge,
das Lebensrecht erst mit der Geburt beginnen zu lassen.
Eine Außenseitermeinung ist diese
Auffassung sicher nicht. Schließlich
deckt sie sich auch mit dem (bisher
noch) geltenden EmbryonenschutzgeGisela Klinkhammer
setz.
Heft 41, 12. Oktober 2001
Reproduktionsmedizin
Fachgesellschaften für klare Regelungen
Involvierte Ärzte fordern unter anderem die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik,
die Lockerung der restriktiven Embryokultur und die Schaffung einer
zentralen Registrierungs- und Beratungsstelle für die assistierte Reproduktion.
F
ür eine neue, umfassende rechtliche
Regelung der Fortpflanzungsmedizin
haben sich in Bonn Vertreter verschiedener involvierter Fachgesellschaften ausgesprochen. Das erforderliche
Fortpflanzungsmedizingesetz sollte eine
Liberalisierung in maßvollen Grenzen
erlauben und speziell auch die weiten
Bereiche regeln, in denen das Embryonenschutzgesetz Rechtsunsicherheit bie-
tet, heißt es in einem Positionspapier, das
von der Deutschen Gesellschaft für
Gynäkologische Endokrinologie, der
Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie
und Geburtshilfe, der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und
dem Bundesverband Reproduktionsmedizinischer Zentren erarbeitet wurde.
Ein zentraler Punkt hierbei sei die
Präimplantationsdiagnostik, die nicht
explizit verboten, aber auch nicht zulässig sei. Prof. Ricardo Felberbaum (Lübeck) und Dr. Michael Thaele (Saarbrücken) verdeutlichten das Dilemma
von Ärzten und betroffenen Patienten:
Wenn nach humangenetischer Beratung klar ist, dass ein hohes Risiko für
ein Kind mit schweren, nicht therapierbaren Erbkrankheiten besteht, kann
das Paar entweder das Risiko einer
107
D O K U M E N T A T I O N
Schwangerschaft eingehen und im
Zweifelsfall nach der Pränataldiagnostik eine Interruptio vornehmen lassen
– oder ins Ausland reisen zur assistierten Fortpflanzung und nur gesunde
Embryonen transferieren lassen.
Eindeutigen Regelungsbedarf sehen
die Fortpflanzungsmediziner darüber
hinaus bei der – für Ärzte und Patienten
– rechtlich nicht ausreichend geklärten
heterologen Insemination. Hier müssten unbedingt die Spender zentral registriert werden, um „Vielfachspender“
auszuschließen. Darüber hinaus sind
nach Auffassung der Experten auch eindeutige rechtliche Bestimmungen für
die Tiefkühllagerung von Ovar- und
Hodengewebe notwendig – ein Vorgehen, das zunehmend von jungen Krebspatientinnen und -patienten nachgefragt wird, die sich einer Therapie mit
möglicherweise irreversibler Schädigung der Gonaden unterziehen müssen.
Ein wesentliches Anliegen der unterzeichnenden Fachgesellschaften ist darüber hinaus die Schaffung einer zentralen, interdisziplinär besetzten Stelle zur
Registrierung, Beratung und Prüfung
aller Zentren, die Maßnahmen der assistierten Reproduktion vornehmen.
Zentrale Stelle als Bundesamt
Wie Prof. Franz Geisthövel (Freiburg)
betonte, könnte diese zentrale Stelle als
Bundesamt eingerichtet werden oder
bei der Bundesärztekammer oder einer
anderen unabhängigen Institution angesiedelt sein. Es sollte sich um eine unabhängige Einrichtung nach dem Vorbild der Human Fertilization and Embryology Authority in England handeln, die durch Transparenz auch die
Vertrauensbildung in der Gesellschaft
stärkt. Unter der Leitung eines Nicht(Fortpflanzungs-)Mediziners, so die Vorstellungen, könnten Anfragen oder Klagen von Patienten beantwortet, aber
auch neue wissenschaftliche Konzepte
beurteilt und Studien initiiert werden.
Darüber hinaus müsste die Institution
Kontrollen der Zentren – und auch
Sanktionen – veranlassen können.
Aus medizinisch-wissenschaftlicher
Sicht notwendig ist nach Ansicht der Experten eine Lockerung der restriktiven
Maßgaben zur Embryokultur: Im Aus-
108
land können Reproduktionsmediziner
deutlich höhere Erfolge bei IVF und
ICSI erzielen, weil sie mehr Embryonen
heranwachsen lassen bis zum Blastozystenstadium (Tag fünf) und aus dem
„Pool“ nur die zwei für den aktuell anstehenden Transfer verwenden, die aus
morphologischen Kriterien das höchste
Implantationspotenzial besitzen. Die
Schwangerschaftsraten sind bei diesem
Vorgehen etwa doppelt so hoch wie
hierzulande. Bei der längeren Kultivierung tritt allerdings eine natürliche Auslese auf: Nur etwa die Hälfte der Embryonen entwickelt sich aufgrund von
Chromosomenanomalien oder anderer
Defekte bis zum erwünschten Stadium.
Da hierzulande nur drei Embryonen
heranwachsen dürfen, sind den Reproduktionsmedizinern „die Hände gebunden“ – es bliebe oft nichts zum Auswählen übrig. Wenn diese „Dreier-Regel“ abgeschafft wird, müsste gleichzeitig die Möglichkeit eingeräumt werden,
auch Embryonen für einen späteren
Transfer tiefzufrieren, erläuterte Prof.
Wolfgang Würfel (München). Werden
diese dann nicht benötigt, sollte das
Paar sie als Alternative zur Vernichtung
bei einem ernst genommenen Embryonenschutz dann auch zur Adoption freigeben können. Auch in diesem Punkt
besteht heute Rechtsunsicherheit, da
das ESchG zwar die Eizellspende verbietet – was in der heutigen Situation
neu zu überdenken sei –, nicht jedoch
die Embryonenspende.
Eindeutig traten die Reproduktionsmediziner Befürchtungen entgegen, wonach sich in den Tiefkühltruhen schon
heute über 5 000 Embryonen befinden
sollen. Felberbaum nannte Daten aus
den IVF-Zentren: Von 1988 bis 2000
sind 406 Embryonen von 170 Paaren
tiefgefroren worden, wobei inzwischen
mehr als drei Viertel der Paare (141) bereits 335 Embryonen wieder transferiert
wurden. Auf Eis liegen demnach derzeit
71 Embryonen von 29 Paaren. Bisher
können Embryonen nur in Ausnahmefällen eingefroren werden – etwa wegen
einer Erkrankung oder eines Unfalls
der Frau zum Zeitpunkt des geplanten
Dr. Renate Leinmüller
Transfers.
Heft 43, 26. Oktober 2001
Präimplantationsdiagnostik
Anfang ohne Ende
Ob sich die PID auf einige Indikationen
begrenzen lässt, bleibt umstritten.
D
ass sich die Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht auf wenige
Paare beschränken lässt, befürchten PID-Gegner. Dass diesen Paaren
endlich die Möglichkeit gegeben werden müsse, ein gesundes Kind zu bekommen, meinen hingegen die Befürworter.
Die Debatte um die PID erhält neue
Aktualität, denn die FDP-Fraktion
stellte dieser Tage einen Gesetzentwurf
zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik vor. Darin fordert sie, das Embryonenschutzgesetz zu ändern und die
PID „nach eingehender Beratung und
positivem Votum einer Ethikkommission“ zu gestatten – wenn die Eltern eine
Veranlagung für eine schwerwiegende
Erbkrankheit in sich tragen.
Doch in diesem Punkt sehen die PIDGegner die größten Probleme. „Die PID
wird sich nicht begrenzen lassen. Das war
auch bei der Pränataldiagnostik bereits
nicht möglich“, betonte Marion Brüssel,
Landesvorsitzende des Berliner Hebammenverbandes, bei der Anhörung des
Bundestagsausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 17. Oktober in Berlin, die parallel zur Vorstellung
des FDP-Gesetzentwurfs stattfand.Sachverständige – hauptsächlich Frauen – diskutierten dabei „Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik“ weniger aus ethischer oder medizinischer, sondern aus
frauenspezifischer Sicht.
Es sei nicht möglich, einem Paar die
PID zu gestatten und einem anderen zu
D O K U M E N T A T I O N
Heft 47, 23. November 2001
verweigern, betonte Dr. med. Astrid
Bühren, Präsidentin des Deutschen
Ärztinnenbundes. Letztlich werde jede
Form von „Belastung“ für die Familie
als ausreichender Grund für die PID
akzeptiert werden müssen. „Indikationslisten werden bald erweitert und
dann ganz abgeschafft werden. Die PID
wird zu einem weit verbreiteten Phänomen werden, das sich auf die gesamte
Gesellschaft auswirkt“, befürchtet
Bühren. „Ihre Anwendung wird zu einer Pflicht der Betroffenen gegenüber
der Allgemeinheit werden.“
Frauen wollen
Sicherheit
Dr. med. Barbara Dennis vom Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin,
Psychotherapie und Gesellschaft e.V.
beobachtet als Gynäkologin einen
„Perfektionsanspruch“ bei den Schwangeren. Sie würden lieber mehr Untersuchungen als weniger in Anspruch nehmen. Der eigenen Wahrnehmung der
Schwangerschaft würden sie dabei fast
nicht mehr trauen, berichtete sie. Diese
sei verstärkt durch die Angst vor einem
behinderten Kind geprägt, bekräftigte
auch Claudia Heinkel vom Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche.
„Frauen erleben den Einsatz der Technik zwar ambivalent, aber erst nach
mehreren Untersuchungen mit normalem Befund können sie die Schwangerschaft ruhig fortsetzen.“ Für sie steht
fest: „Gibt es erst die PID, wird sie auch
angewendet.“
Ein Verbot hält die FDP-Fraktion
für verfassungsrechtlich bedenklich.
Es stehe im Widerspruch zum Recht
der Frau, die Schwangerschaft nach
Pränataldiagnostik und bei Vorliegen
einer medizinischen Indikation abzubrechen. Um eine rechtliche Grundlage
für die betroffenen Paare und Ärzte zu
schaffen, müsse das Embryonenschutzgesetz geändert werden, fordern
die Liberalen. Bisher ist umstritten, ob
dieses die PID zulässt. Ihr Papier
schickte die FDP an Bundestagsabgeordnete anderer Fraktionen, die als
Befürworter der PID bekannt sind.
Bald will sie einen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf in den BundesER
tag einbringen.
Stammzellen-Import
Signal auf Stopp
E
ine so deutliche Entscheidung war
nicht zu erwarten gewesen. 17 der 24
anwesenden Mitglieder der EnqueteKommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages sprachen sich gegen einen Import von menschlichen embryonalen
Stammzellen zu Forschungszwecken
aus. Auf ein Mehrheits- und Minderheitsvotum verzichtete die Kommission. Da es sich um eine Gewissensfrage
handele, wolle sie den Bundestagsabgeordneten nicht raten, wie sie sich bei
der wegen Terminschwierigkeiten auf
Januar verschobenen Debatte entscheiden sollen, sagte die Vorsitzende
der Kommission, Margot von Renesse
(SPD).
Ein Stopp-Signal ist der abwägende
Bericht der Enquete-Kommission jedoch allemal. Die 17 Import-Gegner
meinen, dass der Bundestag und die
Bundesregierung alle Möglichkeiten
ausschöpfen sollten, um die Einfuhr
von embryonalen Stammzell-Linien zu
verhindern. Lediglich sieben Kommissionsmitglieder bezweifeln, dass ein
vollständiges Import-Verbot verfassungs- und europarechtlich begründet
werden kann. Sie plädieren dafür, den
Import unter engen Voraussetzungen,
beispielsweise unter Kontrolle einer
staatlichen Behörde, zu tolerieren. Einig ist sich die Kommission, dass das
derzeitige
Embryonenschutzgesetz
beibehalten werden muss.
Ihre Entscheidung wollen einige
Mitglieder der Enquete-Kommission
auch als Aufforderung an die Deutsche
Forschungsgemeinschaft (DFG) verstanden wissen, den Abstimmungstermin über den Antrag von Prof. Dr. med.
Oliver Brüstle nochmals zu verschieben und die Debatte des Bundestages
abzuwarten. Noch stehe der 7. Dezember als Termin, an dem sich der DFGHauptausschuss entscheiden wolle, erklärte eine Sprecherin der DFG. Eine
nochmalige Verschiebung sei zwar
denkbar, aber ungewiss.
Definitiv noch Ende November will
der vom Bundeskanzler eingesetzte Nationale Ethikrat seine Entscheidung vorlegen. Dessen Mitglieder gelten mehrheitlich als Befürworter des StammzellImports. Doch auch der Rat will die Entscheidung der Enquete-Kommission
Dr. med. Eva A. Richter
berücksichtigen.
Heft 48, 30. November 2001
Stammzellen-Import
Druck von allen Seiten
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft wird ihre Entscheidung
vermutlich nochmals vertagen. Doch die Forscher drängen.
R
eine Verzögerungstaktik“ nennt
Prof. Dr. med. Oliver Brüstle das
nochmalige Verschieben der Entscheidungen über den Import von embryonalen Stammzellen. Mit seiner Einschätzung mag der Bonner Neuropathologe und Stammzellforscher
Recht behalten. Denn trotz aller
ethisch-moralischen Einwände scheint
die (gesellschaftlich gebilligte) Forschung an menschlichen embryonalen
Stammzellen in Deutschland nur noch
eine Frage der Zeit zu sein.
Brüstle ist optimistisch und dennoch
frustriert. Bereits vor eineinhalb Jahren
hatte er bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beantragt, menschliche embryonale Stammzellen zu importieren. „Während unsere Diskussion
über den Import festzufahren scheint,
wird im Ausland emsig an embryonalen
Stammzellen geforscht“, kritisierte er
109
D O K U M E N T A T I O N
bei einer Diskussionsveranstaltung der
Berliner Medizinischen Gesellschaft am
21. November. In den USA sei inzwischen eine internationale StammzellBank eingerichtet worden, die den Austausch der Zelllinien koordiniere. Auch
die Europäische Union stelle mittlerweile Fördergelder zur Verfügung.
Brüstle drängt auf die Entscheidung
der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Er müsse endlich wissen, woran er wäre.
Auf Bitte der Politik hatte die DFG diese
bereits zweimal verschoben, zuletzt auf
den 7. Dezember. Jetzt ist ein weiterer
Aufschub im Gespräch, nämlich auf die
nächste Sitzung des Hauptausschusses
am 31. Januar. Ein Brief des DFG-Präsidenten Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker ging in diesen Tagen an die Mitglieder des Hauptausschusses, in dem er
empfiehlt, einer nochmaligen Vertagung
zuzustimmen. Doch so lange will Brüstle
nicht mehr warten. „Meiner Meinung
nach muss die DFG noch in diesem Jahr
klar Stellung beziehen“, sagte Brüstle
gegenüber der Frankfurter Rundschau.
„Das könnte so aussehen, dass sie meinem Antrag zustimmt, aber das Anlaufen
der Forschungsförderung verschiebt bis
nach der Bundestagsdebatte.“
Eine Alternative wäre die Stammzellforschung im privaten Sektor, deutet Brüstle an. Dies führe jedoch zu weniger Kontrolle und Transparenz. Dass
das tatsächlich so ist, zeigt das jüngste
Beispiel aus den USA: Ein amerikanisches Biotechnik-Unternehmen hat jetzt
erstmals menschliche Embryonen geklont. Präsident George W. Bush hatte
im Sommer zwar die Forschung an existierenden Zelllinien befürwortet, sich
aber gegen das Klonen ausgesprochen.
Eine entsprechende Gesetzesvorlage
wird derzeit vom US-Senat erarbeitet.
Die DFG und ihr Präsident stehen
unter Druck – und das gleich von mehreren Seiten. Die Forschungsgemeinschaft
werde vorgeführt, die wissenschaftliche
Selbstverwaltung geschwächt, meinen
Brüstle und weitere Forscher. Andererseits kann Winnacker schwerlich die
Bitte von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sowie mehreren Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die
Entscheidung zu vertagen, ignorieren.
„Wir haben den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen“, sagte er der Wochenzeitung „Die Zeit“. Der Politik
110
stellt Winnacker ein Ultimatum. Die
DFG benötige eine feste Zusage, dass
sich der Bundestag tatsächlich während
der Sitzungswoche Ende Januar entscheide, betonte der DFG-Präsident.
„Wenn sich anbahnt, dass keine Debatte
stattfindet, aus welchen Gründen auch
immer, dann ist das für uns ein ganz klares Signal, zu handeln.“ Winnacker lässt
keinen Zweifel, wie die DFG-Entscheidung ausfallen wird: „Der Import ist
rechtlich nicht verboten.“
Rückendeckung erhält die DFG von
Bundesforschungsministerin Edelgard
Bulmahn. Sie will den Import embryonaler Stammzellen unter strengen Auflagen erlauben. So sollen nur Zelllinien
aus „überzähligen“ Embryonen verwendet werden, deren Herkunft eindeutig belegbar ist und deren Spender
ihr Einverständnis gegeben haben.
Die DFG hat sich bereits im Mai für
die Forschung an embryonalen Stammzellen ausgesprochen. Sie befürwortet
grundsätzlich sowohl den Import als
auch – wenn es nötig sein sollte – die
Herstellung von embryonalen Stammzelllinien. Vorerst wolle man sich auf
die Forschung an importierten Zellen
beschränken, erklärt sie. Doch die zweite Option könnte in naher Zukunft zur
Debatte stehen. Untersuchungen haben nämlich inzwischen ergeben, dass
von den weltweit 72 verfügbaren Zelllinien nur 20 den Kriterien an eine
pluripotente Stammzelllinie genügen.
Zudem ist nicht zu erwarten, dass die
Forscher langfristig wissenschaftlich
und kommerziell von anderen Staaten
abhängig sein wollen.
Auch das Votum des Nationalen
Ethikrates steht noch aus. Er wollte sich
ursprünglich am 21. November äußern.
Doch die Meinungen der 25 Mitglieder
zu dieser Frage seien konträr, sagte eine Sprecherin. Die Entscheidung sei
deshalb auf den 29. November vertagt worden. Vermutlich wird der Rat
mehrheitlich für den Import von
menschlichen embryonalen Stammzellen votieren. Insider gehen sogar
von einer Zweidrittelmehrheit innerhalb des von Bundeskanzler Gerhard
Schröder eingesetzten Gremiums aus.
Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages hatte sich mehrheitlich gegen den Stammzellen-Import ausgesprochen. Dr. med. Eva A. Richter
Heft 49, 7. Dezember 2001
Stammzellforschung
Perfektes
Timing
W
enn der Deutsche Bundestag am
30. Januar des nächsten Jahres darüber entscheidet, ob der Import embryonaler Stammzellen verboten oder
zugelassen sein soll, dann werden ihm
die diversen Expertenaussagen kaum
aus der Verlegenheit helfen. Er, der Gesetzgeber, ist am Zuge.
Der Nationale Ethikrat hat sich für
einen Import ausgesprochen, die Enquete-Kommission „Recht und Ethik
der modernen Medizin“ des Bundestages hat zwei Modelle gegeneinander gestellt. Modell A läuft auf ein Verbot des
Imports hinaus, Modell B auf eine Tolerierung.
Der Nationale Ethikrat, jenes von
Bundeskanzler Schröder eingerichtete
Gremium, hatte mit knapper Mehrheit
am 29. November den Import befürwortet, unter allerlei Auflagen und mit einer
Befristung bis Ende 2003. Das öffentliche Echo war widersprüchlich, widersprüchlich auch quer durch die Parteien.
Der Präsident der Bundesärztekammer
sprach sich dafür aus, zunächst andere
Forschungsrichtungen
einzuschlagen
und nur, wenn diese zu keinen befriedigenden Ergebnissen führten, die Forschung an importierten embryonalen
Stammzellen in Erwägung zu ziehen.
Wenige Tage bevor der Nationale Ethikrat sein Votum abgab, am
23. November, hatte die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer gleichfalls votiert. Sie kam ebenfalls zu der Empfehlung, den Import unter Kautelen zuzulassen (Wortlaut in
diesem Heft). Man darf davon ausgehen, dass die Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission Schröders Ethikrat inhaltlich vorlag und die angestrebte
Rolle spielte. Die Kommission hatte zuletzt mit Hochdruck an ihrer Stellung-
D O K U M E N T A T I O N
nahme gearbeitet und das perfekte Timing schließlich erreicht.
Die Zentrale Ethikkommission ist
angesiedelt bei der Bundesärztekammer, in ihrer Arbeit jedoch von dieser
unabhängig. Ihre Stellungnahme kann
nicht als Bundesärztekammervotum
zugunsten des Embryonenimports gewertet werden; sie steht auch nicht im
Einklang mit der Meinungsbildung des
Deutschen Ärztetages.
In der Gedankenführung stimmen
die Empfehlungen des Nationalen Ethikrates und der Zentralen Kommission
auffallend überein. Sie gleichen auch
der Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 3. Mai dieses
Jahres. Das mag Wissenschaftler-Konsens sein, dürfte aber auch an personellen Querverbindungen zwischen den
drei Institutionen liegen.
Bevor der Bundestag entscheidet,
sollte er sich damit beschäftigen, wie die
Voten zustande kamen. Er sollte auch
prüfen, aus welchen Quellen die derzeit
gängigen Aussagen zur Rechtslage stammen, die da die Meinung wiedergeben,
ein Verbot des Imports sei verfassungswidrig und der Import mit dem Embryo-
nenschutzgesetz durchaus vereinbar.
Wenn die Bundestagsabgeordneten
demnächst entscheiden, dann muss ihnen ganz klar sein, dass sie bei einer
Entscheidung zugunsten des Importes
eine Tür öffnen, die nicht mehr zu
schließen sein wird. Zunächst wird es
nur um den Import existierender
Stammzelllinien gehen. Zurzeit geht die
veröffentlichte Meinung noch dahin,
die bereits vorhandenen Zelllinien
reichten für die Forschung aus. Es gibt
freilich Hinweise, dass Zahl und Qualität der Stammzellen bei anziehender
Forschung nicht ausreichen werden. Also wird man, wenn das Tor geöffnet ist,
auch hier weitersehen, indem neue Linien eröffnet werden – und weshalb
dann nicht in Deutschland?
Zurzeit sprechen sich alle Voten dezidiert für die Gewinnung embryonaler
Stammzellen aus so genannten übrig gebliebenen Embryonen aus. Aber lässt
sich nicht die Zahl der „übrig gebliebenen“ mit einem gewissen Belieben variieren, und wo liegt dann die Grenze zur
direkten Gewinnung von Embryonen
zu Forschungszwecken? Die vorliegenden Stellungnahmen weisen dies ener-
gisch zurück. Würde sich eine solch ablehnende Haltung auf Dauer und bei anhaltendem Druck aus der Wissenschaft
wirklich halten lassen? Die Argumentationslinie ist schon vorgezeichnet: Wenn
an Embryonen geforscht werden darf,
weshalb dann nicht generell?
Die offene Frage bleibt, ob das, was
wissenschaftlich möglich ist und anderenorts erlaubt ist, hierzulande auf die
Dauer verhindert werden kann. Globalisierung beherrscht die Wissenschaft, die
Globalisierung der Ethik folgt ihr auf dem
Fuße.Wer sich dem weltweiten Druck widersetzt, braucht starke Nerven und
feste Überzeugungen. Haben wir die?
Gerade dieser Tage hat der höchst
angesehene US-amerikanische Philosoph Richard Rorty seine Wunschvorstellung in einem Interview (mit dem
„Tagesspiegel“) offenbart: „Persönlich
wünsche ich mir, dass man dekretiert,
dass das menschliche Leben beginnt,
wenn ein Embryo drei Monate alt ist.
Bis dahin könnten Ärzte experimentieren.“ Pragmatiker Rorty wurde am 2.
Dezember in Berlin der nach dem Mystiker benannte Meister-Eckhart-Preis
Norbert Jachertz
verliehen.
Heft 49, 7. Dezember 2001
Stammzellforschung (I)
Abschied von der Menschenwürde?
Der Grundkonsens der liberalen Gesellschaft ist durch die Forschung
an embryonalen Stammzellen gefährdet.
Santiago Ewig
D
ie geplante Forschung an humanen
embryonalen Stammzellen stellt einen fundamentalen Bruch mit den
bisher geltenden Wertvorstellungen dar.
Die Konsequenzen sind erheblich. Der
Abschied vom Begriff der Menschenwürde als Ausdruck der Selbstzwecklichkeit des Menschen bedeutet, dass die
Menschenwürde in den Grenzbereichen
des Lebens entsprechend den Interessen
anderer zur Disposition steht. Im Kern
bedeutet er die Aufgabe der liberalen
Idee der Aufklärung, die in der Achtung
und Bewahrung der Selbstzwecklichkeit
des Menschen die Grundlage der Frei-
heit zur Selbstbestimmung und zum moralischen Handeln sieht.
Konzepte des „abgestuften
Lebensschutzes“
Kaum ein Befürworter der Forschung
an humanen embryonalen Stammzellen
wird dieser Bewertung zustimmen. Wie
argumentieren sie also, und was liegt
ihren Argumentationsmustern zugrunde? Das soll beispielhaft an der Argumentation von Wiestler und Brüstle aufgezeigt werden (1, 2).
Am Ausgangspunkt steht die Forschungsperspektive des Zellersatzes durch
Stammzellen. Embryonale Stammzellen
weisen durch ihre Pluripotenz und nahezu unbegrenzte Vermehrbarkeit entscheidende Vorteile gegenüber adulten
Stammzellen auf. Daher erscheint die
Forschung an humanen embryonalen
Stammzellen zumindest aktuell unverzichtbar. Wiestler und Brüstle neigen
Konzepten des „abgestuften Lebensschutzes“ zu, die dem Embryo zwar
Würde und Schutzwürdigkeit einräumen, jedoch die Zubilligung der uneingeschränkten Menschenwürde von be-
111
D O K U M E N T A T I O N
stimmten Entwicklungsschritten abhängig machen. Die Tötung von Embryonen
kann somit in einer Güterabwägung gerechtfertigt werden, wenn diese vor Ablauf einer bestimmten Entwicklung und
aufgrund hochrangiger Forschungsziele
geschieht. Als hochrangiges Forschungsziel wird nicht weniger als die Aussicht
auf Heilung ausgegeben. Das Aufkommen einer „Ethik des Heilens“ drückt
das Bestreben aus, den Imperativ der
Heilungspflicht angesichts einer gegebenen Heilungsperspektive als handlungsleitend zu rechtfertigen.
Wiestler und Brüstle führen eine
Reihe von Begrenzungen ins Feld, die
diese Güterabwägung gegen die Gefahren der unbegrenzten Embryonenforschung und ihrer Kommerzialisierung
absichern sollen. Zu diesen gehören die
Beschränkung auf den Import bereits
existierender Zelllinien, die aus dem Tode geweihten, „überzähligen“ Embryonen gewonnen wurden; die klare Definition des Forschungsziels und die Komplementarität der Forschung an embryonalen und adulten Stammzellen,
die nach einer Zwischenphase sogar die
Aufhebung der Notwendigkeit der Forschung an embryonalen Stammzellen in
Aussicht stellt. Begrenzung soll auch
durch strenge wissenschaftliche Begutachtung, bioethische Begleitung und öffentliche Transparenz sichergestellt
werden. In ihrer Sicht stellt auch auf politischer Ebene die staatliche Anerkennung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen eine Begrenzung dar, weil nur auf diese Weise eine
Kommerzialisierung durch private Unternehmen verhindert werden könne.
Schließlich betonen Wiestler und
Brüstle, dass sie Tabus berücksichtigen:
das Verbot der Embryonenherstellung
zu Forschungszwecken, Eingriffe in die
Keimbahn und das reproduktive Klonen. Die ethische Argumentation von
Wiestler und Brüstle ist jedoch nicht
handlungsanleitend, sondern sekundär
legitimatorischer Natur.
– Die Heilungsperspektive, die für
die Güterabwägung ausschlaggebend
ist, erscheint nicht allgemein anerkennungsfähig begründbar. Zum heutigen
Zeitpunkt ist sie Utopie. Die von Wiestler und Brüstle vorgestellten Remyelinisierungsexperimente an Ratten mit der
Pelizaeus-Merzbacherschen
Erkran-
112
kung reichen über ihre immanente Evidenz kaum hinaus.
— Die Begrenzungen der Forschung
an humanen embryonalen Stammzellen
verlaufen exakt am Rande dessen, was
den beiden Forschern aktuell an Forschung notwendig erscheint. Die Perspektive ist ganz auf die eigenen Projekte beschränkt. Die Grenze, bis zu der
Embryonen verbraucht werden dürfen,
bleibt ohne eigene Begründung. Der
Stammzellimport deckt den nötigen Bedarf; daher braucht aktuell mehr nicht
gefordert zu werden. Doch die Begrenzungen stellen keine ethisch verbindlichen Grenzen, sondern letztlich unverbindliche Absichtserklärungen zweier
Forscher dar. Im Detail bleiben diese
Begrenzungen nicht einmal innerhalb
der eigenen Forschergruppe konsistent.
Während Wiestler eine Herstellung eigener embryonaler Stammzellreihen
nicht beabsichtigt, hält Brüstle diese in
Zukunft für unabweisbar. Auch hinsichtlich der Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken bleiben Unklarheiten. Brüstle schließt eine solche
kategorisch aus. In seiner Haltung dem
therapeutischen Klonen gegenüber
bleibt er jedoch eigentümlich vage. In
letzter Instanz muss und wird er sie befürworten:Wie anders sollte die Kernreprogrammierung entschlüsselt werden?
˜ Über künftige Entwicklungen, die
sowohl in der Konsequenz des eigenen
Handelns als auch in der biotechnologischen Forschungslogik liegen, wird nicht
reflektiert. Die Implikationen des eigenen Handelns für das Wertbewusstsein
und die Wertgeltung werden ignoriert. In
einer solchen weiten Perspektive verlieren Begrenzungsargumente ihr Gewicht. Es wird vielmehr deutlich, dass
Begrenzungen je nach Entwicklung der
Forschungsimperative nahezu beliebig
erweitert werden können. Ist die Forschung an embryonalen Stammzellen
angelaufen, können gegen eine verbrauchende Embryonenforschung in großem
Ausmaß systematisch-ethische Argumente nicht mehr plausibel gemacht
werden. Eine verbrauchende Embryonenforschung in großem Umfang stellt
dann keinen „Missbrauch“ dar, sondern
eine logische Konsequenz. Diese Begründungsmuster wiederholen sich bei
der Präimplantationsdiagnostik (PID).
In dieser sekundär legitimatorischen Ar-
gumentationsweise kommt ein weit verbreiteter unaufgeklärter Szientismus zum
Ausdruck, der aus sich heraus keine Kriterien für einen „Fortschritt nach
menschlichem Maß“ (3) hervorbringen
kann, weil er den „Fortschritt“ an immanente Forschungsperspektiven beziehungsweise -interessen der Wissenschaft
oder der Forscher bindet. Jede Bioethik
ist in dieser Perspektive eine Vermittlungsinstanz, die nachträglich die Gründe
dafür liefern muss, warum Wertvorstellungen an den Fortschritt der Wissenschaft angepasst werden müssen. Auch
die Politik entscheidet dann nicht autonom,sondern kanalisiert lediglich die Folgen der Entwicklung der Wissenschaft in
eine strukturell akzeptable Form.
In der Diskussion um die Forschung
an humanen embryonalen Stammzellen
geht es nicht allein um diese selbst, sondern um die Auseinandersetzung mit einem Szientismus und Bioutopismus, der
nicht neu ist, sondern sich jetzt lediglich
im Zuge der bevorstehenden Entgrenzungen der Verfügungsmacht durch die
neuen Biotechnologien in modernem
Gewande zeigt. Eine Kritik dieser Positionen, gar eine politisch wirksame Mobilisierung gegen diese, muss die verschiedenen Dimensionen erkennen, die
durch die neuen Biotechnologien
berührt werden und die daher in diese
Kritik Eingang finden müssen.
Heilung bleibt ein
bedingtes Ziel
Die neuen Biotechnologien umfassen:
Die Neubesinnung auf den Begriff der
Menschenwürde: Konstitutiv für den Begriff der Menschenwürde ist, dass diese
nicht von Menschen nach bestimmten
Kriterien anderen Menschen verliehen
wird, sondern unabhängig aller Kriterien
für alle gilt, die der Gattung Mensch angehören.Nur indem die Menschenwürde
der Verfügbarkeit durch andere Menschen entzogen wird, gilt sie uneingeschränkt. Das bedeutet, dass kein Zweck
die Menschenwürde zugunsten anderer
Werte relativieren kann.
Die Bewertung des moralischen Status des Embryos: Ethische Urteile sind
stets gemischte Urteile. Sie beruhen auf
der ethischen Grundeinstellung, die einen Sachverhalt zu beurteilen hat. Das
D O K U M E N T A T I O N
Urteil über den moralischen Status des
Embryos muss somit dem plausibelsten
biologischen Sachverhalt über den Beginn des Lebens angepasst werden. Hier
gilt: „Menschliches Leben, dem Würde
und Schutzwürdigkeit zusteht, ist dann
gegeben, wenn eine menschliche Zelle
mit ihrem individuellen Chromosomensatz das Potenzial einer kontinuierlichen Entwicklung in sich vereint.“ (4).
Entscheidend ist, dass durch die Verschmelzung von menschlicher Ei- und
Samenzelle eine neue genetische Identität entstanden ist, die die Zugehörigkeit dieses Lebens zur menschlichen
Gattung festlegt. Somit kommt auch
dem Embryo in vollem Umfang Menschenwürde zu. Jede andere Position bedeutet im Kern eine Zerstörung des Begriffs der Menschenwürde (5, 6).
Die Reflexion auf Forschungsziele
der medizinischen Wissenschaft: Soll
der Szientismus überwunden werden,
muss über die Inhalte des Fortschritts
reflektiert werden. Folgende Grundthese könnte eine Ausgangsbasis sein: Ziel
der medizinischen Wissenschaft ist nicht
die Abschaffung des Todes, sondern die
Auslöschung der Schrecken, die mit der
menschlichen Endlichkeit gegeben sein
können. Heilung bleibt somit ein bedingtes Ziel. Heilung muss vielmehr mit
Palliation zusammen realisiert werden,
und zwar aus zwei Gründen: Heilung
führt nicht zu weniger Krankheit, sondern verschiebt diese in höhere Altersstufen. Die einseitige Betonung der Heilung führt zwangsläufig zu aggressiven
Konsequenzen für diejenigen, die nicht
geheilt werden können. Hier eröffnen
sich die bedrückenden Perspektiven der
Eugenik und des Sozialdarwinismus, die
man nur ermessen kann, wenn man sie
nicht simplizistisch mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt und durch seine
Überhöhung zum absolut Bösen für erledigt hält. Es gibt keine ärztliche Pflicht
zur Heilung um jeden Preis, wohl aber
zum Beistand in jeder Situation.
Die Bedeutung der Menschenwürde
für den Grundkonsens der liberalen Gesellschaft: Der Grundkonsens der liberalen Gesellschaft ist auf der Geltung der
Menschenwürde gegründet. Er ist nicht
positiv bestimmt, sondern dient vielmehr
als Platzhalter für seine möglichen positiven Begründungen. Gerade in dieser negativen Bestimmung der Unverfügbar-
keit verleiht er einer liberalen pluralistischen Gesellschaft ihre Fundamente. Das
bedeutet nicht, dass die religiösen und
philosophischen Begründungen dieser
Menschenwürde deshalb irrelevant sind.
Ganz im Gegenteil wächst dieser von
ihren Begründungen die eigentliche Lebenskraft zu. Dies trifft sicher in besonderem Ausmaß für den christlichen Glauben an die Gottebenbildlichkeit des Menschen sowie Kreuz und Auferstehung zu.
Einstieg in die verbrauchende
Embryonenforschung
Wenn die Menschenwürde aber nun
teilbar wird, verliert sie ihre einigende
Kraft. Der Ausschluss bestimmter Personen aufgrund bestimmter Kriterien
führt zu einer Spaltung der Gesellschaft
in diejenigen, die diese Kriterien erfüllen, und die anderen, die dies nicht können. Es kommt darauf an zu erkennen,
dass der Grundkonsens der liberalen
Gesellschaft durch die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen –
wie auch durch das therapeutische Klonen und die PID – gefährdet ist.
Aktuell zeichnet sich im ethischen Konflikt um die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen die Tendenz ab,
diesen durch Begrenzungen des Verbrauchs an Embryonen zu neutralisieren.
In den USA entschied Präsident Bush, die
staatliche Förderung der Forschung an humanen embryonalen Stammzellen auf bestimmte,schon vorhandene Stammzelllinien zu beschränken. In Deutschland hat
sich der Nationale Ethikrat mehrheitlich
hin zu einer Empfehlung zum Import vorhandener humaner embryonaler Stammzelllinien orientiert. Die Argumentation
geht in beiden Fällen dahin,dass es ethisch
schwer zu vertreten wäre, dieses einmal
schon vorhandene Forschungspotenzial zu
verwerfen. Dabei ist nicht selten die Neigung unverkennbar, den Zusammenhang
von humaner embryonaler Stammzellforschung und Embryonenverbrauch zu verschleiern. Die Befürworter dieser Lösung
erhoffen sich, den Konflikt zwischen den
Anliegen der „Lebensschützer“ einerseits
und der Zeitnot der Forschung andererseits im Sinne eines pragmatischen Moratoriums zu entschärfen: Forschung ja, aber
nur an vorhandenen Stammzelllinien.
Diese Argumentation ist nur noch politisch bestimmt. Sie zeigt, wie sehr die angebliche Naturwüchsigkeit des biotechnologischen Fortschritts durch politische
Entscheidungen gefördert wird.Aus ethischer Sicht muss jedoch darauf bestanden
werden, dass die Forschung an importierten humanen embryonalen Stammzellen
eine Teilhabe an der Verantwortung für
die Tötung der entsprechenden Embryonen zwingend beinhaltet.
Diskussion an der Bonner Universität
Nicht nur auf bundespolitischer Ebene ist die
embryonale Stammzellforschung umstritten.
Die Absicht des Bonner Neuropathologen, Prof.
Dr. med. Oliver Brüste, an importierten embryonalen Stammzelllinien zu arbeiten, stößt auch
an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn auf Kritik. Zur Gewinnung derartiger Stammzellen sei eine Vernichtung menschlicher Embryonen notwendig, die durch künstliche Befruchtung erzeugt und dann nicht mehr
in die Gebärmutter der Frau übertragen worden
seien, heißt es in einer von mehr als 20 Fakultätsmitgliedern unterzeichneten Stellungnahme (abrufbar unter www.aerzteblatt.de).
Damit würden diese zu einem Zweck missbraucht, der ihrer ursprünglichen Bestimmung, zur Geburt eines Kindes zu verhelfen,
eindeutig widerspreche: „Die Forschung mit
embryonalen Stammzellen, die aus dem Ausland importiert wurden, schließt eine ethische
und – sinngemäß – auch eine rechtliche Billigung dieses verbrauchenden Umgangs mit Embryonen ein“. In der von Priv.-Doz. Dr. med.
Santiago Ewig, Priv.-Doz. Dr. med. Axel Glasmacher und Prof. Dr. theol. Ulrich Eibach verfassten Stellungnahme wird dies als mit der Menschenwürde unvereinbar angesehen. „Das sich
aus der Würde des Menschen ergebende Recht
auf Leben darf auch zu ,hochrangigen‘ therapeutischen Zwecken für andere nicht infrage
gestellt werden.“
Andere Bonner Wissenschaftler unterstützen
das Vorhaben von Brüstle. Der zeigt sich optimistisch, die „Forschung allerspätestens zu Beginn
des neuen Jahres auch in Deutschland aufnehmen zu können“. Zuvor müsse neben der lokalen Ethikkommission der Universität Bonn die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) die
einzelnen Projektschritte begutachten und genehmigen. Zusätzlich werde der Bonner Leiter
des Instituts für Wissenschaft und Ethik, Prof. Dr.
phil. Ludger Honnefelder, die Forschungen begleiten. Brüstle forderte die DFG auf, noch in diesem Jahr klar zum Import menschlicher Stammzellen Stellung zu beziehen. Dazu regte er einen
Zweistufenplan an (DÄ, Heft 48/2001).
Kli
113
D O K U M E N T A T I O N
Die sich abzeichnenden Entscheidungen in Deutschland bedeuten den Einstieg in die verbrauchende Embryonenforschung einschließlich des therapeutischen Klonens. Der geistige Widerstand
gegen die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen entspringt nicht
einer „fundamentalistischen“, gar ausschließlich konfessionell begründeten
Gegenposition. Vielmehr sind die Gegner dieser Forschung Verteidiger der
Menschenwürde, die die Grundlage des
liberalen Rechtsstaats bildet. Möglicherweise ist der Einstieg in die verbrau-
chende Embryonenforschung auch in
Deutschland nicht mehr abzuwenden.
Entgegen den Suggestionen ihrer Protagonisten handelt es sich dabei jedoch
nicht um einen naturwüchsigen und unabänderlichen „Fortschritt“, sondern um
reversible politische Entscheidungen,
auch wenn im Falle des Embryonenverbrauchs die Opfer nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Auch nach
der Empfehlung des Nationalen Ethikrats und der noch offenen Entscheidung der Politik: Der politische Konflikt
um die Menschenwürde hat erst begon-
nen. Er muss in der Substanz eine Auseinandersetzung über die Grundlagen
unseres Gemeinwesens und um die Inhalte und Ziele des „Fortschritts“ sein.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3268–3270 [Heft 49]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift des Verfassers:
Priv.-Doz. Dr. med. Santiago Ewig
Oberarzt der Medizinischen Universitäts-Poliklinik
der Universität Bonn
Wilhelmstraße 35, 53111 Bonn
Heft 49, 7. Dezember 2001
Dokumentation
Stellungnahme der Zentralen
Ethikkommission
zur Stammzellforschung
D
ie Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer hat die Aufgabe, Stellungnahmen
zu ethischen Fragen abzugeben, die durch den Fortschritt und die technologische Entwicklung in der
Medizin und ihren Grenzgebieten aufgeworfen werden und die eine argumentative Antwort erfordern.
Die Kommission hat als unabhängiges Gremium
1995 ihre Arbeit aufgenommen und ist multidisziplinär zusammengesetzt. Sie besteht aus 16 Mitgliedern; neben 5 Ärzten der verschiedenen Fachdisziplinen gehören ihr Naturwissenschaftler, Juristen, Philosophen, Theologen und Soziologen an.
Embryonenforschung und Stammzellforschung
werden zurzeit öffentlich und wissenschaftlich
kontrovers diskutiert. Die Zentrale Ethikkommission sieht es als ihre Aufgabe an, zu den damit verbundenen Fragen Stellung zu nehmen, und legt
nachfolgend in Thesenform die Ergebnisse ihrer Beratungen vor. Hinsichtlich der Begründung verweist
sie auf eine ausführliche Stellungnahme, die in
Kürze vorgelegt werden wird. Hier wird sich die
Zentrale Ethikkommission auch zur Frage des
somatischen Zellkerntransfers (so genanntes therapeutisches Klonen) differenziert äußern.
1. Die Forschung an Stammzellen steht ungeachtet viel versprechender Ergebnisse in weiten Bereichen noch am Anfang.Viele wichtige Fragen zur Biologie und zum Potenzial embryonaler, fetaler und
adulter Stammzellen sowie der Stammzellen aus
Nabelschnurblut sind bisher nicht beantwortet. Dies
betrifft insbesondere auch eine Abschätzung der
klinischen Möglichkeiten, die durch den Einsatz der
verschiedenen Stammzelltypen verwirklicht werden könnten.
2. Die Zentrale Ethikkommission weist darauf
hin, dass die entsprechende Forschung bisher weithin reine Grundlagenforschung darstellt. Die bisherige Charakterisierung von Stammzellen reicht für
den klinischen Einsatz noch keineswegs aus. Auch
wenn überraschende Durchbrüche niemals auszuschließen sind, warnt die Zentrale Ethikkommission
114
eindringlich vor übertriebenen und voreiligen Heilungsversprechen beziehungsweise -erwartungen.
Lediglich die Forschung mit speziellen hämatopoetischen Stammzellen hat bisher zu einer klinischen Anwendung in der Onkologie geführt.
3. Die Zentrale Ethikkommission verweist auf
die gesellschaftliche Bedeutung der Grundlagenforschung und der patientenbezogenen Forschung.Aus
gutem Grund ist die Wissenschaftsfreiheit von der
Verfassung individuell und institutionell garantiert.
4. Die Zentrale Ethikkommission verweist darauf, dass das Bemühen um Fortschritte bei der
Heilung und Linderung von Krankheiten auch im
Hinblick auf zukünftige Generationen ein hohes
ethisches und soziales Gut darstellt. Auch aus
verfassungsrechtlicher Sicht besteht eine entsprechende Schutzpflicht des Staates für Leben und
Gesundheit der Patienten.
5. Die Zentrale Ethikkommission verweist darauf, dass die Rechtsordnung auch dem ungeborenen menschlichen Leben in seinen frühesten Formen Schutz der Menschenwürde und des Lebens
zuspricht. Daraus resultiert aber offenbar keine
absolute, jedweder Abwägung entzogene Schutzpflicht. Dies zeigt die Güter- und Interessenabwägung beim Schwangerschaftsabbruch und beim
Gebrauch von Nidationshemmern.1
6. Die Zentrale Ethikkommission ist sich bewusst, dass die Gewinnung und Nutzung von
humanen embryonalen Stammzellen gravierendere ethische Probleme aufwerfen als die der adulten
und fetalen Stammzellen sowie der Stammzellen
aus Nabelschnurblut.
7. Ethische Güterabwägungen zwischen hochrangigen Schutzinteressen sind in der medizinischen Forschung und Praxis oft unausweichlich.
Die Zentrale Ethikkommission bejaht einstimmig
auch im Hinblick auf die Forschung mit humanen
embryonalen Stammzellen die prinzipielle Zulässigkeit einer Güterabwägung aus ethischer Sicht.
Im Blick auf Art und Umfang der Güterabwägung
und ihrer Konsequenzen gehen die Auffassungen in
der Zentralen Ethikkommission allerdings auseinander.
8. Aufgrund der vorstehenden Darlegungen und
unter Abwägung auch entgegenstehender Argumente ist die Zentrale Ethikkommission mehrheitlich (bei 1 Gegenstimme) der Ansicht, dass mensch-
liche Embryonen, die für Zwecke der assistierten
Reproduktion erzeugt wurden, aber nicht implantiert werden können, für Forschungszwecke verwendet werden dürfen, die nicht vergleichbar auf
andere Weise (zum Beispiel durch Forschung an
adulten Stammzellen oder an tierischen Zellen)
erreicht werden können. Öffentlich und privat finanzierte Forschungsvorhaben mit humanen embryonalen Stammzellen sollten hinsichtlich ihrer Zulässigkeit von einer unabhängigen, interdisziplinär zusammengesetzten Kommission beurteilt werden.
9. Die Zentrale Ethikkommission spricht sich unter den vorstehend genannten Voraussetzungen
mehrheitlich (bei 4 Gegenstimmen) dafür aus, den
Import von pluripotenten embryonalen Stammzellen nicht zu behindern.2
10. Die Zentrale Ethikkommission ist einstimmig der Ansicht, dass die gezielte Herstellung von
Embryonen zu Forschungszwecken auf dem Weg
der Befruchtung ethisch nicht vertretbar ist.
11. Die Zentrale Ethikkommission ist einstimmig der Ansicht, dass das reproduktive Klonen
von Menschen, gleichgültig auf welchem Weg es
erfolgt, nicht vertretbar ist.
12. Die Zentrale Ethikkommission empfiehlt einstimmig eine intensive begleitende Forschung der
ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen
der Stammzellforschung.
Köln, 23. November 2001
1 Aus moraltheologischer Sicht ist diese Regelung allerdings
zu hinterfragen.
2 Anmerkung Prof. Doerfler/Prof. Helmchen: Wir haben gegen
die Zulassung des Imports embryonaler Stammzellen bei
gleichzeitig durch das Embryonenschutzgesetz bestehendem
Verbot der Gewinnung dieser Zellen in Deutschland gestimmt.
Es wäre für uns mehr als fragwürdig und völlig inakzeptabel,
wenn man die in der Bundesrepublik von manchen gesellschaftlichen Gruppen aus ethischen Gründen abgelehnte Gewinnung embryonaler Stammzellen Wissenschaftlern in anderen Ländern überließe, sich die Vorteile der Forschungsergebnisse, die mit diesen Zellen vielleicht einmal gewonnen werden können, in Deutschland dann aber nutzbar machte. Diese
Mentalität des unverbindlichen „SOWOHL ALS AUCH“ ist unrealistisch und würde von unseren Kollegen in anderen Ländern mit Misstrauen betrachtet: Some Germans want to have
their cake and eat it too.
Die „Zentrale Ethikkommission“ ist zwar bei der Bundesärztekammer (BÄK) eingerichtet, in ihrer Arbeit aber von der
BÄK unabhängig. Die hier dokumentierte Stellungnahme
gibt somit nicht die BÄK-Auffassung wieder; deren Vorstand
DÄ
hat sich noch keine Meinung gebildet.
D O K U M E N T A T I O N
Heft 49, 7. Dezember 2001
Stammzellforschung (II)
Hartmut Kreß
Menschenrecht auf Gesundheit
Die Verwendung verwaister Embryonen ist ethisch denkbar.
D
ie Debatte um die Forschung an
embryonalen Stammzellen ist
durch die Empfehlungen der
Deutschen
Forschungsgemeinschaft
(DFG) vom 3. Mai in Bewegung geraten. Die DFG votierte für eine stärkere
Beteiligung an der Forschung mit
Stammzelllinien von Embryonen, die
bei künstlicher Befruchtung übrig geblieben sind. Demgegenüber hat zum
Beispiel die Bundesjustizministerin
„absolute Grenzen“ gefordert. Der
diesjährige (104.) Deutsche Ärztetag
hielt diese Forschung „derzeit“ nicht für
ratsam.
Es steht außer Frage: Der Umgang
mit Embryonen und die Beurteilung
des moralischen Status von Embryonen berühren das Menschenbild und
das Verständnis von Menschenwürde
zutiefst. Deshalb hat es seinen guten
Sinn, dass heutzutage zum Embryonenschutz auf einer Basis reflektiert
wird, die kulturgeschichtlich gesehen
äußerst restriktiv ist. Erst seit der Aufklärungsepoche, vor allem seit dem
Preußischen Allgemeinen Landrecht
von 1794, setzte sich die strikte Auffassung durch, das ungeborene Kind
schon von vornherein, von der Zeugung an, im vollen Sinn als schutzwürdigen Menschen zu erachten.
Die katholische Kirche hat sich sogar
erst 1869 endgültig von ihrer alten Lehre getrennt, das vorgeburtliche Leben
werde erst am 80. oder 90. Tag nach der
Empfängnis zu einem Menschen im eigentlichen Sinn. Diese Lehre gründete
auf der Idee einer stufenweisen Beseelung, die Aristoteles oder Thomas von
Aquin entwickelt hatten. Das volle
Menschsein des Fetus resultiere aus der
Einstiftung einer Geistseele, die, nach
zwei Vorstufen der Beseelung, schließlich mehrere Wochen nach der Empfängnis stattfinde. Deshalb war für
das mittelalterliche Kirchenrecht eine
frühe Abtreibung der Leibesfrucht, vor
der Einstiftung der Geistseele, viel we-
niger problematisch als eine spätere
Abtreibung.
Kein „absoluter“ Lebensschutz
Letztlich verhalfen dann die moderne,
naturwissenschaftlich fundierte Biologie und Embryologie der restriktiven
Sicht zum Durchbruch, dass der Embryo von vornherein ein eigenständiger schutzwürdiger Mensch ist. Biologisch betrachtet entwickelt sich der
Embryo aus seiner genetischen Anlage
heraus kontinuierlich zu einer vollständigen Person. Normativ-ethisch
ausgedrückt: Er besitzt von Anfang an
eine so genannte starke, nämlich eine
aktive, in ihm selbst als Subjekt verankerte Potenzialität zum Personsein.
Ethisch und menschenrechtlich gilt,
dass die Menschenwürde jedem
menschlichen Individuum gleicherweise und voraussetzungslos zukommt.
Deshalb sind auch dem Embryo bereits in seinen frühesten Lebensstadien
Schutzwürdigkeit und Lebensrecht zuzusprechen.
Inzwischen mehren sich jedoch Stimmen, die einen gradualisierten Embryonenschutz vertreten. Ihnen zufolge
nimmt die Schutzwürdigkeit des Embryos mit steigendem Reifegrad beziehungsweise mit fortschreitender Individualentwicklung zu. Solche Überlegungen wirken fast wie eine Aktualisierung
der alten philosophisch-theologischen
Idee der stufenweisen Beseelung des
Fetus. Ihnen ist entgegenzuhalten, dass
ethischer Begriffsbildung zufolge „Würde“ oder „Schutzwürdigkeit“ einer Abstufung, Steigerung oder Quantifizierung grundsätzlich entzogen sind. Schon
deswegen kann ein Gradualitätskonzept nicht überzeugen.
Umgekehrt lässt sich aber auch
nicht der Gedanke aufrechterhalten,
der Embryonenschutz gelte in „absoluter“ Form. Einen absoluten Standpunkt
zu vertreten, bedeutet, von konkreten
Umständen, Situationen und Handlungskonstellationen ganz abzusehen.
Aus einem solchen Rigorismus heraus
hat der Vatikan, der nunmehr die Geistbeseelung des Embryos sofort bei der
Empfängnis lehrt, jetzt den Rückzug
der deutschen katholischen Kirche aus
der gesetzlichen Schwangerschaftskonfliktberatung durchgesetzt. Die Deutsche Bischofskonferenz hat im März
die Präimplantationsdiagnostik kategorisch abgelehnt.
Das Postulat „absoluter Grenzen“
oder eines „absoluten“ Embryonenschutzes ist aber, ganz abgesehen von
Evidenz- und Akzeptanzproblemen in
einer pluralen Gesellschaft, auch ethiktheoretisch nicht plausibel. In begründeten Fällen hat die Ethik Ausnahmen
vom Lebensschutz stets zugestehen
müssen. Klassische Beispiele sind die
Notwehr, die Nothilfe oder der Verteidigungskrieg. Eine Relativierung von
Lebensschutz und Lebenserhaltung
liegt auch bei der passiven Sterbehilfe
vor. Dort ist die Einsicht leitend, dass
unerträglich gewordenes Leiden ein
Ende haben darf und ein Sterben in
Würde möglich sein sollte. Der Lebensschutz wird ferner relativiert, wenn in
Konfliktfällen der Schwangerschaftsabbruch toleriert wird oder wenn das
Embryonenschutzgesetz darauf verzichtet, überzählige beziehungsweise
verwaiste Embryonen am Leben zu erhalten (etwa durch Zulassung pränataler Adoption).
So unterschiedlich diese Beispiele
sind, belegen sie doch, dass in besonders begründeten Fällen sogar das
menschliche Leben selbst in eine Abwägung gestellt werden darf. Die Würde des Menschseins und das Prinzip,
dass der Lebensschutz fundamental ist
und im Zweifel stets vorrangig Geltung
besitzt, werden dadurch nicht beeinträchtigt. Den Lebensschutz jedoch
„absolut“ setzen zu wollen lässt sich
115
D O K U M E N T A T I O N
angesichts konkreter Konflikt- und
Entscheidungssituationen nicht durchhalten.
Besondere Abwägungsaspekte
für frühe embryonale Stadien
Für die frühen embryonalen Stadien,
um die es bei der Stammzellforschung
geht, hat die Ethik noch besondere Abwägungsaspekte zu beachten. So ist zu
fragen, ob – angesichts der fließenden
Übergänge zwischen Toti- und Pluripotenz und der Reprogrammierbarkeit
spezialisierter Zellen – die Totipotenz
noch ein plausibles, handhabbares Abgrenzungskriterium bildet. Zudem ist
der Embryo nach der Nidation noch
viel deutlicher als vorher ein sich selbst
entwickelndes Individuum. Indem sich
seine Körperachse ausbildet, nimmt er
als Individuum „Gestalt“ an; Zwillingsbildung ist nicht mehr möglich. Insofern
stellt sich die Frage, ob ganz frühe Embryonalstadien vor der Nidation exakt
genauso wie der Embryo nach der
Nidation geschützt werden müssen. Für
diese frühembryonale Phase sollte zwar
keine nach unten hin „abgestufte“
Schutzwürdigkeit behauptet werden.
Aber es lässt sich eine etwas größere
Ausnahmemöglichkeit vom grundsätzlich geltenden Lebensschutz und Lebenserhalt vertreten.
Deshalb werden für die Stammzellforschung die Verwendung verwaister,
ohnehin dem Tod ausgelieferter Embryonen und theoretisch sogar übergangsweise eine Reprogrammierung
von Zellkernen, bei der ein Abbruch
der Entwicklung nach wenigen Tagen
erfolgt, ethisch denkbar. Dass darauf
bezogene Abwägungen legitim sind,
begründet sich aus den herausgeho-
116
benen Zielen der Stammzellforschung,
nämlich der Therapie von Krankheiten,
bei denen konventionelle Behandlungsmethoden an Grenzen stoßen. In
bestimmten Fällen scheint der alleinige
Rückgriff auf adulte Stammzellen heutigem Ermessen zufolge unzureichend
zu bleiben.
Das Votum, das die DFG zugunsten
der Forschung an embryonalen Stammzellen abgab, legte vor allem auf die Forschungsfreiheit Wert. Diese bildet in der
Tat einen Kern neuzeitlicher Verfassungsprinzipien und ist auch in der EUGrundrechtscharta tragend. Für die Abwägung, die die Forschung an embryonalen Stammzellen betrifft, dürfte letztlich jedoch dem Menschenrecht auf Gesundheit eine noch höhere Aussagekraft
zukommen. Denn der Embryonenschutz einerseits und die Gesundheitsförderung andererseits stehen als vitale,
das Leben betreffende Güter in innerem Bezug zueinander. Das Menschenrecht auf Gesundheit, nämlich das
Recht des Einzelnen auf „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“, haben
Internationale Konventionen kodifiziert (Internationaler Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 oder die UN-Kinderrechtskonvention von 1989). Die EU-Grundrechtscharta fordert ein „hohes Gesundheitsschutzniveau“ für die „Durchführung aller Politiken und Maßnahmen“. Das Recht auf Gesundheit zählt
zu jenen Menschenrechten, die staatlicherseits nach Maßgabe der jeweiligen
technischen, ökonomischen und sozialkulturellen Bedingungen zu fördern
sind. Auch auf der Basis einer Ethik
der Zukunftsverantwortung, mithin im
Blick auf schwere Krankheitsbilder
künftig lebender Patienten, ist das Menschenrecht auf Gesundheit bedeutsam.
Normierende Kriterien und
permanente Überprüfung
Es ist argumentativ unvertraut und neuartig, den Schutz von Embryonen, also
ein Schutzrecht einerseits, und das
Recht auf Gesundheit als menschenrechtlichen Anspruch andererseits in einen Ausgleich zu bringen. Voraussetzung für eine – therapeutischen Zielen
dienende – embryonale Stammzellforschung müssten normierende Kriterien,
permanente Überprüfung und die Möglichkeit der Korrektur einmal betretener Forschungspfade sein. Die Gefahr,
dass durch diese Forschung die Ethik
des Embryonenschutzes oder gar die
kulturelle Geltung der Menschenwürde
generell ausgehöhlt würde, könnte so
abgewehrt werden.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 3272–3274 [Heft 49]
Literatur
1. Demel S:Abtreibung zwischen Straffreiheit und Exkommunikation. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer, 1995.
2. Knoepffler N: Menschliche Embryonen und medizinethische Konfliktfälle. In: Knoepffler N, Haniel A
(Hrsg.): Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle. Stuttgart, Leipzig: Hirzel, 2000; 55–66.
3. Kreß H: Menschenwürde vor der Geburt. Grundsatzfragen und gegenwärtige Entscheidungsprobleme
(Präimplantationsdiagnostik; Nutzung von Stammzellen). In: Kreß H/Kaatsch H-J (Hrsg.): Menschenwürde,
Medizin und Bioethik. Münster: LIT, 2000; 11–37.
4. Kreß H: Präimplantationsdiagnostik, der Status von
Embryonen und embryonale Stammzellen. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 2001; 46: 230–235.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. theol. Hartmut Kreß
Universität Bonn, Evangelisch-Theologische Fakultät
Abteilung Sozialethik
Am Hof 1, 53113 Bonn
E-Mail: [email protected]
D O K U M E N T A T I O N
Heft 1–2, 7. Januar 2002
Forschung und Ethik
Die Weichen sind gestellt
Embryonale Stammzellforschung und PID sind umstrittene
Themen, für die in diesem Jahr Entscheidungen anstehen.
N
och im Januar wird die Entscheidung in einer in Deutschland seit
Monaten heftig umstrittenen Frage erwartet: Embryonale Stammzellforschung – ja oder nein? Eine Antwort
darauf soll der Deutsche Bundestag
nach einer erneuten Debatte am 30. Januar geben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) will am 31. Januar
über die öffentliche Förderung des Projekts von Prof. Dr. med. Oliver Brüstle,
der embryonale Stammzelllinien importieren will, entscheiden.
Die Entscheidung ist bereits mehrfach verschoben worden, zuletzt am
7. Dezember 2001, um dem Bundestag
nochmals Gelegenheit zur Diskussion
zu geben. Die Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“, die sich im November mehrheitlich
gegen die Forschung an embryonalen
Stammzellen und gegen den Import von
Zelllinien wandte, macht es den Abgeordneten nicht leicht. Da es sich um eine
Gewissensfrage handele, gab sie keine
Empfehlung für die Abstimmung. Eine
Minderheit plädierte dafür, den Import
unter strengen Voraussetzungen zu tolerieren. Dies ist auch die Ansicht der
knappen Mehrheit des Nationalen Ethikrats. Das von Bundeskanzler Gerhard
Schröder im Frühjahr 2001 eingesetzte
Gremium befürwortete am 29. November den Import von embryonalen
Stammzellen unter strengen Auflagen
und mit einer Befristung auf drei Jahre.
Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn will die Forschung an
„überzähligen“ Embryonen ebenso erlauben wie die Zentrale Ethikkommission, die zwar bei der Bundesärztekammer (BÄK) angesiedelt, jedoch von ihr
unabhängig ist. Der Präsident der
BÄK, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich
Hoppe, mahnt indes zur Besonnenheit.
Man solle zunächst die Möglichkeiten
der Forschung an adulten Stammzellen
ausschöpfen, fordert er.
Ablehnend steht Bundesjustizministerin Däubler-Gmelin der Forschung
an embryonalen Stammzellen gegenüber. Sie ist der Ansicht, dass Embryonen als frühe Formen des menschlichen
Lebens nicht „vernutzt“ werden dürften. Forschungsfreiheit gehöre zwar zu
den Grundrechten, sagte sie Ende Dezember in Berlin, doch Anwendungsforschung am Menschen sei selbstverständlich nicht frei. „Egal, wie das Votum des Bundestages am 30. Januar ausfällt“, sagte Däubler-Gmelin, an den
DFG-Präsidenten Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker gewandt, „erwarte ich,
dass dies auf die DFG-Entscheidung
Einfluss hat!“ Deren Meinung steht jedoch bereits seit Mai vergangenen Jahres grundsätzlich fest: Man könne in
Deutschland nicht auf die Forschung an
embryonalen Stammzellen verzichten.
Auch die Max-Planck-Gesellschaft sieht
das so.
Die Präimplantationsdiagnostik (PID)
ist längst kein Tabuthema mehr. Die Zahl
ihrer Befürworter jedenfalls scheint zuzunehmen. Zurzeit ist diese Methode
vorgeburtlicher Diagnostik nach dem
Embryonenschutzgesetz verboten. Aber
auch das ist umstritten. Der Wissenschaftliche Beirat der BÄK, der mit
seinem „Diskussionsentwurf zu einer
Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik“ (DÄ, Heft 9/2000) die Debatte
über diese Methode ausgelöst hatte,
hält die PID für mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar. In einer jetzt
vorgelegten „Ergänzenden Stellungnahme“ hält er nach Überprüfung der Einwände an seiner Position fest, „wonach
die PID im Einzelfall bei Verdacht auf
die Entstehung einer schwerwiegenden
genetischen Erkrankung in engen
Grenzen und Einhaltung strikter Verfahrensregeln aus medizinischen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten
vertretbar ist“. Der Wissenschaftliche
Beirat drängt allerdings auf eine
Klärung der Zulässigkeit der PID durch
den Gesetzgeber. Die Bundesärztekammer hat dieser Stellungnahme noch nicht
zugestimmt, deren Vorstand will sich
am 17. Januar eine Meinung dazu bilden.
Die Mehrheit der Delegierten des
104. Deutschen Ärztetages in Ludwigshafen hatte ebenfalls an den Gesetzgeber appelliert, rechtliche Klarheit
über die Zulässigkeit der PID herzustellen. Für den Fall einer Zulassung müsse
der Gesetzgeber weitere Kriterien für
eine maximale Eingrenzbarkeit dieser
Methode mitgestalten, heißt es in einem
Beschluss. Auch in der Politik besteht
keine Einigkeit in der Frage, ob die PID
zugelassen werden sollte. Nur die Freien
Demokraten haben sich festgelegt: Sie
sprechen sich eindeutig für die PID aus
und haben einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, der in erster Lesung am 14. Dezember im Bundestag beraten wurde. Dieser Entwurf stieß auf
scharfe Kritik bei zahlreichen Abgeordneten unterschiedlicher Fraktionen.
„Die Zulassung der PID kann stigmatisierende und diskriminierende Tendenzen in der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungen und chronisch
Kranken verstärken“, sagte die Behindertenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, Helga Kühn-Mengel. Für
Maria Böhmer (CDU/CSU) bedeutet
PID,„dass menschliches Leben selektiert
und getötet wird“.
Dr. med. Eva A. Richter/Gisela Klinkhammer
117
D O K U M E N T A T I O N
Heft 1–2, 7. Januar 2002
Stammzellen
„Rohstoff“ für die
regenerative Medizin
Stammzellen gelten als Hoffnungsträger in der
regenerativen Medizin. Doch sowohl embryonale als auch
adulte Stammzellen weisen Vor- und Nachteile auf.
D
ie Stammzellforschung weckt derzeit Hoffnung auf eine nahezu unbegrenzte Anwendung von
Stammzellen in der regenerativen Medizin. Ergebnisse aus Tierversuchen mit
embryonalen und adulten Stammzellen
lassen vermuten, dass in einer nicht allzu
fernen Zukunft für die Transplantation
geeignete Spenderzellen in Zellkulturverfahren hergestellt werden können.
Einen starken Aufschwung nahm die
Stammzellforschung Ende 1998, als
Wissenschaftler Verfahren zur Kultur
humaner Stammzellen aus in vitro
befruchteten menschlichen Embryonen
entwickelten. Die Arbeitsgruppe um
James Thomson, University of Wisconsin, Madison (USA), isolierte aus einem sieben Tage alten Embryo Stammzellen und gewann daraus mehrere
Zelllinien. Diese Methode eröffnete
völlig neue Perspektiven für Gewebezucht und Organersatz. Das Wissenschaftsmagazin „Science“ deklarierte
1999 zum Jahr der Stammzellforschung
(„Breakthrough 1999“).
Ethische und rechtliche Fragen
Embryonale Stammzellen scheinen
grundsätzlich zur Züchtung von Gewebe oder Organen geeignet zu sein. Es ist
durchaus denkbar, dass künftig fehlerhafte Organfunktionen durch Transplantation von gezüchteten Stammzellen behoben und somit einige erbliche
und erworbene Erkrankungen geheilt
werden können. Allerdings wirft die
Gewinnung von Stammzellen aus „geopferten“ Embryonen viele ethische,
moralische und rechtliche Fragen auf.
Dies ist bei adulten Stammzellen weniger der Fall. Die aus dem erwachse-
118
Die Entwicklungspotenziale der embryonalen Stammzellen (ES-Zellen,
EG-Zellen) und der adulten Stammzellen unterscheiden sich deutlich. Generell nimmt das entwicklungsbiologische
Potenzial mit dem ontogenetischen Alter ab. Die ES-Zellen und EG-Zellen
eignen sich deshalb wahrscheinlich
besonders für Zellersatzstrategien bei
Geweben, die sich nur sehr eingeschränkt regenerieren (speziell für das
Nervensystem). So konnten aus ESZellen der Maus abgeleitete Zellen in
einem Rattenmodell bei einer Myelinmangel-Krankheit den Myelinmangel
wieder aufheben. Da die multiple
Sklerose ebenfalls eine MyelinmangelKrankheit ist, sind analoge Therapieansätze vorstellbar. Aus ES-Zellen der
Maus können auch Nervenzelltypen
hergestellt werden, die bei Morbus Parkinson defekt sind. Vorstellbar
ist ferner die Transplantation von ESZellen abgeleiteten Herzmuskelzellen
zur Behandlung von Herzinsuffizienz
und Herzinfarkt. Ein ebenso viel versprechender Weg ist die In-vitro-Differenzierung insulinbildender Zellen zur Behandlung des Diabetes mellitus.
nen Organismus gewonnenen Stammzellen scheinen ebenfalls ein annähernd
unbegrenztes Differenzierungspotenzial zu besitzen. Im Labor lassen sich aus
ihnen unter speziellen Bedingungen
Muskel-, Knorpel-, Leber- oder Nervenzellen züchten. Bisher war ihre Umwandlungsfähigkeit oder Plastizität unbekannt. Sie könnte aber genutzt werden, um spezifische Zellen oder Gewebsverbände für die Transplantation
herzustellen.
Stammzellen können auf verschiedenen Wegen gewonnen werden:
Adulte Stammzellen lassen sich aus
fetalen Geweben, Nabelschnurblut oder aus Grafik
Geweben eines Erwachsenen (zum Beispiel aus dem Knochenmark) isolieren.
Embryonale Stammzellen (ES) werden aus
bis zu sieben Tagen
alten Embryonen gewonnen. Mehrere Arbeitsgruppen haben inzwischen
Zelllinien
etabliert, wobei jede
eine fast unerschöpfliche Quelle für For- Korrelation zwischen Selbsterneuerungspotenzial und ontogenetischem Alter bei einem und demselben Phänotyp von Blutschungs- und Behand- stammzellen. Das Potenzial ist am höchsten bei Zellen aus fetaler
lungszwecke darstellen Leber, gefolgt von denen aus Nagelschnurblut, und am niedrigkönnte. Auch aus den sten aus erwachsenem Knochenmark.
Quelle: Anthony D. Ho et al.
Urkeimzellen während
der fetalen Entwicklung können „emIn jüngster Zeit hat sich herausgebryonale germ“-(EG-) Zellen abgelei- stellt, dass adulte Stammzellen nicht
tet werden. Menschliche EG-Zellen nur Zellen des entsprechenden Organs
besitzen ähnliche Potenziale wie ES- hervorbringen können, sondern auch
Zellen. Ob die aus menschlichen EG- Zellen anderer Gewebe oder Organe.
Zellen abgeleiteten Spenderzellen nach Aus dem Knochenmark wurden zum
Transplantation zur Geweberegenera- Beispiel nicht nur neue Blutzellen abtion eingesetzt werden können, ist zur- geleitet, sondern auch Zellen verschiezeit offen.
dener Körpergewebe, wie Knochen,
D O K U M E N T A T I O N
Knorpel, Sehnen, Muskeln, Leber. Sogar Nervenzellen bildeten sich. Neurale
Stammzellen, isoliert aus einer erwachsenen Maus, können nach Implantation
in frühe Embryonalstadien einer Empfängermaus in zahlreichen Geweben
und Organen identifiziert werden. Ein
breites Differenzierungsspektrum ließ
sich auch für Stammzellen aus dem
Skelettmuskel nachweisen. Eine Transplantation von Knochenmarkzellen behob bei Mäusen einen ansonsten wahrscheinlich tödlich verlaufenden Leberschaden. Im April 2001 hat eine amerikanische Arbeitsgruppe über die Regeneration von Cardiomyozyten nach
Herzinfarkt berichtet. Sie umspritzte
das infarzierte Gebiet mit Blutstammzellen aus einem Spendertier. Bei
Mäuseherzen mit künstlich erzeugtem
Infarkt erreichte eine weitere Arbeitsgruppe durch Transplantation von
Blutstammzellen eine Gefäßneubildung
und Regeneration der Cardiomyozyten.
Auch autologe Blutstammzellen werden zur Gefäßneubildung nach einer induzierten Ischämie des Skelettmuskels
verwendet. Allerdings gelangen den
Forschern die meisten Versuche bisher
nur im Tiermodell.
Klinische Relevanz fraglich
Im Gegensatz zu den adulten Stammzellen sind die embryonalen Stammzellen aus Zelllinien eine fast unerschöpfliche Quelle. Die Konzentration pluripotenter Stammzellen im erwachsenen
Organismus ist dagegen gering. Aber
nur diese reifen in Gewebe mit sehr
niedrigen Teilungsraten, wie Neuronen,
Cardiomyozyten oder Inselzellen, aus.
Bei den Tiermodellen wurden Transplantate aus angereicherten Zellen eines Spendertiers verwendet. Das Tier
musste geopfert werden. Ob adulte
Stammzellen klinische Relevanz erreichen, ist daher fragwürdig.
Die Verwendung von embryonalen
Stammzellen birgt jedoch ethische Probleme und auch einige Gefahren. Im
Tierversuch induzierte die Transplantation von unreifen embryonalen Zellen
Teratome oder Teratokarzinome. Der
Einsatz spezieller Kulturbedingungen
kann diese Gefahr allerdings zumindest
im Tierversuch beseitigen. Eine Trans-
plantation von aus ES-Zellen abgeleiteten Spenderzellen führt in einem erwachsenen Organismus möglicherweise zu Abstoßungsreaktionen. Daher
müssen die ES-Zellen zuerst auf einen
geordneten Differenzierungsweg gelenkt werden (Priming). Ob sich aus
menschlichen ES-Zellen Spenderzellen
gewinnen lassen, wird derzeit intensiv
untersucht. Nur durch Forschungsarbeiten an menschlichen ES-Zellen lassen sich solche Informationen ableiten.
Nabelschnurblut, das in der Regel
nach der Geburt entsorgt wird, enthält
eine begrenzte Anzahl von Blutstammzellen und pluripotenten Stammzellen.
Durch Transplantation dieser Zellen
lässt sich ein intaktes Blut- und Immunsystem wiederherstellen. Nabelschnurblut enthält jedoch keine ausreichende
Zahl von Stammzellen, um auch größere
Kinder und Erwachsene zu behandeln.
Deshalb versuchen Wissenschaftler seit
Jahren, unter kontrollierten Bedingungen Stammzellen zu kultivieren und zu
vermehren. Die pluripotenten Stammzellen brauchen aber offensichtlich spezielle Kulturbedingungen. Bisher ist ihre
Vermehrung aus Knochenmark des Erwachsenen oder aus Nabelschnurblut
noch nicht überzeugend gelungen.
Alternative: fetale Stammzellen
Durch In-vitro-Manipulationen können aus dem „Rohstoff“ Stammzelle
vermutlich eines Tages Knorpel-, Leber- oder Nervenzellen gezüchtet werden. Diese könnten sich zur Transplantation bei Patienten mit Gelenkserkrankungen, Leberversagen, Alzheimer-Demenz, Morbus Parkinson, Schlaganfall
oder Querschnittslähmungen eignen.
Wegen ihrer enormen Selbsterneuerungsfähigkeit und des entwicklungsbiologischen Potenzials können embryonale Stammzellen wahrscheinlich
für Zellersatzstrategien bei Geweben
eingesetzt werden, die nur ein sehr eingeschränktes Regenerationsvermögen
aufweisen. Adulte Stammzellen können
auch neue Differenzierungswege „erlernen“, sind jedoch schwer im Organismus zu finden. Hinzu kommt, dass
die Selbsterneuerungsfähigkeit solcher
Stammzellen relativ gering ist. Es ist daher fragwürdig, ob diese theoretisch interessante Alternative für den klinischen Einsatz bedeutsam sein wird.
Beim derzeitigen Stand ist es daher besser, sich alle Wege offen zu halten, anstatt sich auf eine feste Strategie der
Stammzellforschung zu beschränken.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Anthony D. Ho
Universität Heidelberg
Medizinische Klinik und Poliklinik V
Hospitalstraße 3, 69115 Heidelberg
Fetale Gewebe kommen prinzipiell auch
als Quelle pluripotenter Stammzellen infrage. Fetale Knochenmarks- und Leberzellen besitzen ein relativ hohes Proliferations- und Selbsterneuerungspotenzial. Ob das Plastizitätspotenzial mit den
Selbsterneuerungs- und Proliferationspotenzialen korreliert, wird intensiv untersucht. Eventuell stellen diese Stammzellen eine Alternative für die regenerative Medizin dar (Grafik).
Die fetalen Stammzellen können jedoch nur während eines sehr engen Entwicklungsfensters aus abortiertem Gewebe von Feten gewonnen werden. Da in
der Regel nur aus medizinischen Gründen ein Abort eingeleitet wird, wahrscheinlich aufgrund einer Fehlbildung
oder einer Embryopathie, ist solches Material möglicherweise mit zellulären
Schäden assoziiert und nur bedingt für
die Gewinnung therapeutisch einsetzbarer Spenderzellen geeignet.
119
D O K U M E N T A T I O N
Heft 3, 18. Januar 2002
Stammzellforschung
Erfolg versprechende
Therapieansätze
Die Entscheidung zur Stammzellforschung steht bevor. In der
gesellschaftlichen Diskussion ist derzeit die Forschung an
adulten Stammzellen in den Hintergrund getreten, obwohl
auch diese ein erhebliches Therapiepotenzial besitzen.
E
mbryonale Stammzellen sind gerade schwer in Mode“, sagte der Vorsitzende des Nationalen Ethikrates,
Prof. Dr. jur. Spiros Simitis, Anfang Januar in einem Interview mit dem „Spiegel“. Forschung dürfe sich jedoch nicht
nach irgendwelchen Modetrends richten. Auch ökonomische Faktoren dürften bei der Entscheidung keine Rolle
spielen. „Wenn die Länder und der
Bund massiv in die Forschung mit adulten Stammzellen investierten, würden
wir andere Ergebnisse haben“, erklärte
der Jurist. Das Dilemma der deutschen
Stammzelldebatte sei es, dass sie zu einem Zeitpunkt begonnen habe, an dem
die Vorentscheidungen bereits weitgehend getroffen waren, meint Simitis.Alternative Wege seien jetzt nur noch
schwer zu beschreiten.
Riss durch alle Parteien
Tatsächlich dreht sich die politische Diskussion nahezu ausschließlich um die
Forschung an embryonalen Stammzellen
(ES-Zellen) und kaum um die an adulten Stammzellen (AS-Zellen). In einem
fraktionsübergreifenden Gruppenantrag
fordern die Gegner der Forschung an ESZellen aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen,
PDS und CSU die Bundesregierung
nochmals auf, den Import von menschlichen Stammzelllinien zu verhindern. Zudem liegt ein Antrag von Importgegnern
in der CDU vor. Als Antwort auf diese
Anträge haben dagegen Befürworter des
Stammzelllinien-Imports, darunter Margot von Renesse (SPD), Vorsitzende der
Enquete-Kommission „Recht und Ethik
der modernen Medizin“, ebenfalls eine
120
Initiative verfasst. Darin plädieren sie für
den Import, aber unter noch strengeren
Vorschriften, als sie vom Nationalen
Ethikrat empfohlen werden.
Der Ethikrat befürwortet einen Import von ES-Zelllinien nur, wenn die verwendeten Embryonen unabhängig von
Forschungsvorhaben durch künstliche
Befruchtung erzeugt wurden und nicht
mehr transferiert werden. Das Paar, aus
dessen Keimzellen der Embryo erzeugt wurde, muss zustimmen. Die Forschungsvorhaben müssen eine medizinische Perspektive haben und interdisziplinär begutachtet werden. Die knappe
Mehrheit des Rates hatte am 29. November 2001 für den Import unter diesen
Auflagen und mit einer Befristung auf
drei Jahre plädiert. Kurz vor Weihnachten hat der Rat seine schriftliche Stellungnahme zum Import menschlicher ESZellen vorgelegt. Darin erläutert er seine
Argumente sowohl für als auch gegen die
Gewinnung von ES-Zellen. Ein großer
Teil des Memorandums beschäftigt sich
mit den Argumenten für oder gegen deren Import. Dabei gelangt der Nationale Ethikrat zu vier möglichen Schlussfolgerungen. Option A hält den Import
und die Gewinnung von embryonalen
Stammzellen aus überzähligen Embryonen für zulässig (auch im Inland). Nach
Option B dürfen die ES-Zellen zwar importiert, jedoch nicht erzeugt werden. 15
Mitglieder sprachen sich für diese Option aus, darunter neun Mitglieder, die zugleich Option A befürworteten. Option
C wendet sich vorläufig gegen den Import. Bis 2004 sollen noch offene Fragen
geklärt werden, insbesondere soll die
Forschung an adulten Stammzellen gezielt gefördert werden. Option D lehnt
den Import grundsätzlich als ethisch unzulässig ab. Die Gewinnung von embryonalen Stammzellen wird als Tötung
menschlichen Lebens angesehen. Zehn
Mitglieder sprachen sich für das Moratorium aus (Option C), darunter vier Mitglieder, die gleichzeitig für Option D
stimmten. Einig ist sich der Ethikrat darin, dass die Forschung an embryonalen
Stammzellen Fragen der Menschenwürde, des Lebensschutzes und der Wissenschaftsfreiheit aufwirft, die es gegeneinander abzuwägen gilt. Der Suche nach
neuen Therapiemöglichkeiten misst er
ein hohes Gewicht bei. Umstritten bleibt
jedoch, welche Wege der Forschung mit
humanen Stammzellen notwendig und
ethisch vertretbar sind.
Bundesjustizministerin Prof. Dr. jur.
Herta Däubler-Gmelin sähe es gern,
wenn stärker auf adulte Stammzellen gesetzt würde. Dies sagte sie im Dezember
bei einer Podiumsdiskussion der Wochenzeitung „Die Zeit“ in Berlin. Der
Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Prof. Dr. rer. nat.
Ernst-Ludwig Winnacker, und Prof. Dr.
med. Otmar D.Wiestler, Direktor des Institutes für Neuropathologie der Universität Bonn, verteidigten die Forschung an
ES-Zellen. Diese würden viele Vorteile
gegenüber den adulten Stammzellen bieten, beispielsweise die nahezu unbegrenzte Vermehrbarkeit. „Man darf die
Zweige der Stammzellforschung nicht
gegeneinander in die Waagschale legen“,
betonte Wiestler. Der Verzicht auf ESZellen sei kurzsichtig, die Forschung an
adulten Stammzellen allein führe nicht
zum Ziel. Winnacker berief sich auf die
Forschungsfreiheit: „Jetzt hat man schon
ein schlechtes Gewissen, wenn man nur
darüber redet.“ Grundlegende Forschungserfolge habe es immer nur in
Grenzbereichen gegeben. Die Justizministerin konterte: Forschungsfreiheit
gehöre zwar zu den Grundrechten, Anwendungsforschung am Menschen sei jedoch nicht frei. „Egal, wie die Bundestags-Entscheidung ausfällt, sie wird
großen Einfluss auf die DFG haben“, betonte Däubler-Gmelin.
Den möglichen Einsatz adulter neuronaler Stammzellen als Zellersatz untersucht unter anderem der Neurobiologe Dr. rer. nat. Ludwig Aigner in einem Forscherteam* der Universität Regensburg. Er berichtete darüber bei ei-
D O K U M E N T A T I O N
nem Symposium der Berliner Medizinischen Gesellschaft Ende November in
Berlin. Seine Arbeitsgruppe versucht,
ausgehend von Resektaten aus der
Epilepsiechirurgie, adulte neuronale
Stammzellen zu kultivieren, zu differenzieren und in den Organismus zu retransplantieren. Dazu sollen zunächst
geeignete Zellkulturmethoden zur Vermehrung und Reifung der adulten
Stammzellen entwickelt werden.
Der Forschungsansatz beruht auf der
Erkenntnis, dass Stammzellen nicht nur
während der embryonalen und fetalen
Entwicklung, sondern auch im adulten
Gehirn existieren und sich zu neuen
Nervenzellen entwickeln können (Neurogenese). Bis vor wenigen Jahren
glaubte man noch, dass sich die Gehirnzellen nach der Geburt nur noch reduzieren, nicht aber regenerieren und vermehren können. Inzwischen ist jedoch
die Neurogenese im adulten Gehirn
nachgewiesen, vor allem im Bulbus olfactorius, im Gyrus dentatus des Hippocampus und im Neocortex.
* Dr. rer. nat. Hans-Georg Kuhn, Dr. med. Norbert Weidner
und Dr. med. Jürgen Winkler
Auf dem Gebiet der adulten Stammzellforschung beschäftigen sich Ärzte
und Wissenschaftler mit zwei grundsätzlichen Bereichen: der Stimulation
der adulten Neurogenese in vivo und
der Regulation in vitro. Die „In-vivoStammzellforscher“ versuchen, die Neurogenese durch Wachstumsfaktoren,
Unterdrückung von Apoptose-Signalen
und äußere Reize „vor Ort“ zu stimulieren und auf diese Weise Reparaturvorgänge zu induzieren und Zellverluste direkt im Gehirn zu kompensieren
(DÄ, Heft 33/2001).
„In-vitro-Stammzellforscher“
wie
Aigner nutzen ebenfalls die Multipotenz
der adulten neuronalen Stammzellen.
Sie entnehmen diese jedoch und versuchen, deren Proliferation und Differenzierung durch Medienzusätze zu beeinflussen. Aigners Vision ist es, körpereigene Zellen zu vermehren und in vitro
zu neuen Nerven- beziehungsweise
Gliazellen (Astrozyten sowie Oligodendrozyten) reifen zu lassen und diese dem
Spender autolog zu transplantieren. Somit würde die Gefahr der Transplantatabstoßung gebannt, die bei der Trans-
Nachgefragt
DÄ: Herr Aigner, wird die Transplantation von adulten neuralen Stammzellen die Therapie der Zukunft bei neurologischen Erkrankungen sein?
Aigner: Neurale Stammzellen des
adulten Nervensystems werden sicherlich nicht das Allheilmittel sämtlicher
neurologischer Erkrankungen sein. Ihr
Einsatz wird sich primär auf neurodegenerative Erkrankungen, wie den
Morbus Parkinson oder entzündliche
Erkrankungen, wie die multiple Sklerose, beschränken. Die derzeitigen Therapien versuchen lediglich den Zellverlust
zu vermindern oder den Verlust von
Neurotransmitterstoffen zu kompensieren. Stammzelltherapien hingegen zielen auf einen zellulären Ersatz ab.
te Stammzellforschung profitiert auf jeden Fall von den
Kenntnissen, die an embryonalen Zellen gewonnen worden
sind, da die Regulationsmechanismen, die die Proliferation
und Differenzierung kontrollieren, vergleichbar sind.
DÄ: Welches sind die größten Hindernisse bis zum klinischen Einsatz von adulten
Stammzellen?
Aigner: Derzeit ist der EinDr. rer. nat. Ludwig Aigner, satz primär durch die noch unzureichenden ZellkulturbedinNachwuchsgruppenleiter
der Universität Regens- gungen limitiert. Im Gegensatz
burg, VW-Stiftung Foto: privat zu ES-Zellen vermehren sich
adulte Stammzellen nur unDÄ: Die adulten neuronalen Stammzellen biegenügend. Wir müssen noch Wege finden, die Zellten einige Vorteile: Sie sind ohne ethische Bedenken
proliferation zu steigern, um aus einer möglichst
verfügbar und werden nach autologer Transplantakleinen Biopsie in relativ kurzer Zeit möglichst vietion nicht vom Organismus abgestoßen. Ist es da
le neurale Stammzellen zu züchten.
überhaupt nötig, menschliche embryonale Stammzellen zur Züchtung von Zellersatz einzusetzen?
DÄ: In welchem Zeitraum könnten die TheraAigner: Bei dem derzeitigen Wissensstand solpiestrategien umgesetzt werden?
len und müssen beide Zelltypen gleichwertig und inAigner: Mit einer auf adulte neurale Stammtensiv zunächst im Tierexperiment auf ihr therapeuzellen basierenden Zellersatztherapie kann sichertisches Potenzial und auf ihr Risiko getestet werden.
lich nicht in den nächsten fünf Jahren gerechnet
Erst dann kann einer Zellpopulation der Vorzug für
werden. Ein Zeitraum von zehn Jahren ist eher readie klinische Anwendung gegeben werden. Die adullistisch.
plantation von embryonalen Stammzellen besteht. Neurale Stammzellen lassen
sich bereits aus verschiedenen Gehirnregionen von Nagern und Menschen
isolieren. „Durch geeignete Wachstumsfaktoren, wie den epidermalen
Wachstumsfaktor (EGF) und den basischen Fibroblasten-Wachstumsfaktor
(FGF-2) können die Zellen in Neurosphären (dreidimensionale Zellaggregate von neuralen Vorläuferzellen) angereichert und vermehrt werden“, erklärt
Aigner. Nach klonaler Expansion der
Zellen entzog der Neurobiologe den
Neurosphären die Wachstumsfaktoren
und gab andere Signalmoleküle hinzu
(Retinolsäure sowie neurotrophe Faktoren). Daraufhin beobachtete er die
Reifung der Stammzellen zu Nervenoder Gliazellen. Besonders erfolgversprechend sei der Einsatz der autologen
Transplantation bei der Therapie des
Morbus Parkinson, da dieser durch einen räumlich und funktionell relativ
eng umschriebenen Nervenzellverlust
charakterisiert ist. Bei Morbus Alzheimer hingegen sei eher eine endogene Stimulation der neuralen Stammzellen aussichtsreich. Bei Traumata, wie
der Querschnittslähmung, ist ebenfalls die Transplantation von neuralen
Stammzellen erfolgversprechend. Die
dadurch ersetzten Gliazellen könnten
ein neues Gerüst zur Wiedereinsprossung unterbrochener Nervenbahnen
bilden. „Bei der Transplantation gehen wir davon aus, dass die In-vivo-Umgebung des Transplantats zusätzlich einen determinierenden Einfluss auf die
Differenzierung ausübt“, erläuterte
Aigner. Seinem Kollegen Weidner gelang es bereits, aus dem erwachsenen
ZNS gewonnene neurale Stammzellen in verletztes Rückenmark zu transplantieren, die sich in Gliazellen umwandelten.
Am 30. Januar werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestages abschließend und allein nach ihrem Gewissen über die Zukunft der Stammzellforschung in Deutschland diskutieren.
Die Abstimmung gehört damit zu den
wenigen, bei denen es keinen Fraktionszwang gibt. Einen Tag später will die
DFG entscheiden, ob der Import von
embryonalen Stammzelllinien aus dem
Ausland mit öffentlichen Geldern gefördert werden soll. Dr. med. Eva A. Richter
121
D O K U M E N T A T I O N
Heft 4, 25. Januar 2002
Stammzellforschung
Durch- oder Dammbruch
N
ächste Woche, am 30. Januar, will der
Deutsche Bundestag darüber entscheiden, ob embryonale Stammzellen
nach Deutschland importiert werden
dürfen. Er will damit eine Frage klären,
die das deutsche Embryonenschutzgesetz offen gelassen hat – ob bewusst
oder unbewusst, darüber streiten die
Gelehrten. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft steht bereits am Drücker,
um grünes Licht für Forschungen an
embryonalen Stammzellen zu geben.
Im Vorfeld der Bundestagsentscheidung hat es gegensätzliche gutachterliche Stellungnahmen gegeben. Die
Enquete-Kommission des Bundestages
plädierte für ein Verbot des Imports,
ließ aber vorsorglich Alternativen erkennen. Der Nationale Ethikrat des
Bundeskanzlers sprach sich für den
Import aus, und die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekam-
mer kam fast zeitgleich zum gleichen
Ergebnis.
Eine Äußerung der Bundesärztekammer selbst steht aus, wenn man von
einer zurückhaltenden Entschließung
des Deutschen Ärztetages aus dem vergangenen Jahr einmal absieht. Der Vorstand der Bundesärztekammer hatte
sich noch am 17. Januar von Wissenschaftlern über den Stand der Erkenntnisse informieren lassen, eine eigene
Entscheidung jedoch hintangestellt.
In den Bundestagsfraktionen und innerhalb der Bundesregierung sind die
Auffassungen nach wie vor geteilt. Es
bleibt also spannend, mit welcher
Mehrheit der Bundestag abstimmen
wird. Die Hoffnung der Befürworter
der embryonalen Stammzellforschung
geht dahin, dass die Abgeordneten
durch die langwierige öffentliche Diskussion weich gekocht sind, wenn sie
nicht ohnehin der Freiheit der Forschung, dem Wissenschaftsstandort
Deutschland und den Hoffnungen auf
Heilung den Vorzug vor ethischen
Überzeugungen geben.
Eine positive Entscheidung des Bundestages würde von den einschlägigen
Forschern gewiss als Durchbruch gewertet. Die Gegner befürchten eher einen Dammbruch. Ob Durchbruch oder
Dammbruch, eine Zustimmung des
Bundestages zum Import embryonaler
Stammzellen wäre nur ein erster
Schritt. Denn es würde nicht beim Import bleiben, sondern in der Logik der
Entscheidung läge es, embryonale
Stammzellen auch in Deutschland zu
erzeugen und schließlich, Forschung
siegt, auch weitergehende Forschungen,
so sie nur mit genügenden Heilsversprechungen verbunden sind, in die Wege zu leiten.
Wenn der Bundestag das nicht will,
dann müsste er ein klares Wort sprechen und sich auf die Linie
des Embryonenschutzgesetzes begeNorbert Jachertz
ben.
Heft 4, 25. Januar 2002
Embryonenforschung und PID
„Ethik des Heilens“
versus „Ethik der Menschenwürde“
Eine kritische Betrachtung jenseits von Pro und Kontra
Heinz Schott
N
ur wenige haben in ihrem Beruf
unmittelbar mit menschlichen Embryonen zu tun. Ontogenetisch gesehen bedeuten diese jedoch für alle
gleichsam den dunklen Urgrund der individuellen Existenz, das „absolut Unbewusste“, wie der romantische Geburtshelfer, Naturforscher und Maler Carl
Gustav Carus (1789 bis 1869) formulierte (2). Wir alle sind in unserem Leben
selbst einmal Embryonen gewesen. Insofern handelt die Thematik auch von uns
selbst – und nicht nur von Zygoten, Zellhaufen, Blastozyten.
122
Die experimentelle Forschung in der
naturwissenschaftlich-biologischen Medizin folgt einer logischen Strategie. Im
ersten Schritt werden bestimmte diagnostische oder therapeutische Methoden
durch Tierversuche (Tiermodell) etabliert. Im zweiten Schritt folgt die Übertragung tierexperimentell gewonnener
Fähigkeiten und Erkenntnisse auf den
Menschen.Einem solchen Humanexperiment können im gesetzlich vorgegebenen
Rahmen gesunde Versuchspersonen oder
Kranke (Heilversuch) unterzogen werden. Bei positiven Forschungsergebnis-
sen ist dann die klinisch-praktische Medizin um eine neue Methode oder ein neues
Heilmittel bereichert,die in einem dritten
Schritt in die klinische Praxis eingeführt
werden.
Die Bonner Neurowissenschaftler Otmar Wiestler und Oliver Brüstle wollten
gerade den üblichen konsequenten
Schritt vom Tier- zum Humanexperiment machen: nämlich von der nachweisbaren Rekonstruktion defekter Rattenhirne mit Stammzellen aus Mäuseembryonen zur eventuellen möglichen Rekonstruktion defekter menschlicher Ge-
D O K U M E N T A T I O N
hirne mit Stammzellen aus menschlichen
Embryonen. Was für die Forscher einen
wissenschaftlich innovativen und therapeutisch viel versprechenden Schritt bedeutet, wird jedoch in der breiten Öffentlichkeit von vielen als Skandal empfunden, was zu schwerem Geschütz in den
Feuilletons, heftigen Debatten in den
Medien, programmatischen Manifesten
und Reden und vor allem zu einer Hochkonjunktur der professionellen Bioethik
geführt hat. Diese hat sich zu einer Art
„bioethics industry“ entwickelt. Nicht
nur staatliche Großforschungsprojekte,
sondern gerade auch die Privatunternehmen planen inzwischen von vornherein
einen prozentualen Anteil der Investitionen für eine „begleitende“ Ethik ein.
So ist der renommierte Moraltheologe
Ronald M. Green Leiter der Ethikkommission der US-amerikanischen Firma
Advanced Cell Technology (ACT), die
durch ihre jüngste Klonierung eines
menschlichen Embryos weltweit Aufsehen erregt hat. Green vertritt eine liberale Eugenik: „Was wollen die Leute mit
ihrem privaten Geld machen? Das soll
ihnen überlassen bleiben.“ Die Mitglieder seien, wie er sagt, von der Firma ACT
unabhängig und arbeiteten quasi „ehrenamtlich“. Jedes Mitglied des Ethikrates
habe aber von vornherein gewusst, was
die Firma vorgehabt habe, nämlich das
therapeutische Klonen. Insofern sei es
um eine ethische „Begleitung“ gegangen: „Ich habe niemanden in den Beirat
berufen, der die Nutzung von Embryonen oder die gesamte Forschungsrichtung grundsätzlich ablehnt. Das würde
keinen Sinn machen.“(8)
Patt-Situation
Die menschlichen Embryonen sind
nicht nur wegen der Stammzellforschung in den Mittelpunkt der gegenwärtigen Kontroverse gerückt, sondern
auch wegen der Präimplantationsdiagnostik (PID). In beiden Fällen geht es
letztlich um die Frage, ob menschliche
Embryonen unter bestimmten Voraussetzungen getötet werden dürfen: Im ersteren Fall werden zur Gewinnung von
Stammzellen Embryonen „verbraucht“,
im letzteren Fall defiziente Embryonen
nach genetischer Testung „verworfen“.
Die Debatte hat inzwischen eine typi-
sche Pro-und-Kontra-Struktur angenommen.
> Pro-Argumentation: Die Befürworter sagen, es gehe bei der Forschung mit
menschlichen embryonalen Stammzellen um hochrangige Ziele.Wer diese Forschung unterbinden wolle, mache sich
schuldig. Er verhindere ungeahnte
Chancen des medizinischen Fortschrittes und verstoße gegen den „therapeutischen Imperativ“ beziehungsweise die
„Ethik des Heilens“ (3). So haben für
den Rechtsphilosophen Reinhard Merkel die mit der Embryonenforschung
„verfolgten Ziele der Hilfe für schwerkranke Menschen . . . ein so erhebliches
Gewicht, dass sie die Verweigerung der
Solidarität gegenüber frühesten Embryonen . . . rechtfertigen können“ (13).
Demgegenüber tritt der Vorwurf, die
Freiheit der Wissenschaft werde durch
generelle Restriktionen der verbrauchenden Embryonenforschung verletzt,
zunehmend in den Hintergrund.
> Kontra-Argumentation: Die Gegner der Forschung an menschlichen Embryonen stützen sich auf eine „Ethik der
Menschenwürde“: Wer menschliche
Embryonen – direkt oder indirekt – tötet, verstoße gegen die Menschenwürde,
die dem menschlichen Embryo mit der
Verschmelzung von Ei- und Samenzelle
zukomme. Dies bedeute einen Dammbruch, das Überschreiten des Rubikon.
Der Begriff „Menschenwürde“ wird von
drei dogmatischen Säulen gestützt: der
Gottebenbildlichkeit im Sinne der Bibel
(Gen. 1, 27), Kants Rede vom PersonSein des Menschen als „Zweck an sich
selbst“ (12) sowie dem einleitenden Satz
des Grundgesetzes („Die Würde des
Menschen ist unantastbar.“).
„Ethik des Heilens“ versus „Ethik der
Menschwürde“: Im Schachspiel nennt
man eine solche Situation „Patt“. Zug
um Zug wird das Ja der einen Seite durch
das Nein der anderen gekontert, annulliert und vice versa.
Angst und Schuld: die Macht
von Metaphern
Woher kommt die starke Emotionalität
in dieser Kontroverse? Achten wir hier
zunächst auf ihre Metaphorik. Die Gegner der verbrauchenden Embryonenforschung und der PID orientieren sich an
der zentralen Metapher des Dammbruchs. Diese setzt Assoziationen zum
Terminus „Tabubruch“ frei und impliziert das Schreckensbild einer Überschwemmung mit der Gefahr des Ertrinkens. Ähnliches meint auch die Rede
vom Überschreiten des Rubikon, der
schiefen Ebene (slippery slope), einer
„Bahn ohne Halt“ (Johannes Rau).
Dementsprechend prognostiziert der
Bonner Zellbiologe Volker Herzog eine
„Kaskade zur Klonierung des Menschen“: von der Freigabe vorhandener
menschlicher embryonaler StammzellLinien, über die Verwendung überschüssiger Embryonen, Schaffung von Embryonen zu Forschungszwecken bis hin
zum therapeutischen und schließlich reproduktiven Klonen (10).
Die Vorstellung eines unaufhaltsamen Eroberungszugs (Stichwort: Rubikon) oder die eines automatischen Abrutschens in finstere Abgründe (Stichwort: schiefe Ebene) erzeugen Angst:
Angst vor einer entfesselten Menschenzüchtung mit dem Verlust traditioneller Ideale unseres kulturellen Selbstverständnisses, die im Begriff der Menschenwürde verankert sind. Abgesehen
davon, dass wohl auch manch ein Befürworter der verbrauchenden Embryonenforschung beziehungsweise der PID
insgeheim Angst oder Unbehagen angesichts der neuen Zugriffsmöglichkeiten
verspüren dürfte, kommt in der „Ethik
des Heilens“ noch eine andere Angst
zum Vorschein: nämlich schwer kranke
Menschen ohne mögliche Hilfe ihrem
Schicksal zu überlassen, „erbarmungslos“ oder „unbarmherzig“ an ihrer Not
vorbeizugehen.
Die Schuld des Menschen an seiner
Krankheit, die Krankheit als Folge der
Sünde ist auch in unserer gegenwärtigen
Medizin ein wirksamer, verborgener Topos, denken wir nur an alltägliche Bemerkungen über die krank machenden
Folgen des übermäßigen Fettverzehrs
oder des Zigarettenrauchens. Doch nirgends war und ist die Schuldfrage so brisant wie bei der Eugenik. Dies lässt sich
historisch an der Propagierung der
Zwangssterilisation illustrieren: Das
Missachten der erbbiologischen Naturgesetze, etwa durch die Weitergabe
krankhafter Erbanlagen an die Nachkommen, wurde in NS-Propagandafilmen vor Millionenpublikum wortwört-
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D O K U M E N T A T I O N
lich als Schuld der Eltern, als Sünde wider die Natur gebrandmarkt. Dies lässt
sich aber auch aktuell belegen: In Frankreich haben Gerichte entschieden, dass
Kinder mit pränatal absehbaren (mehr
oder weniger schweren) Behinderungen
ein Recht auf Nichtexistenz haben, ihr
Geborenwerden also unter Umständen
schuldhaft (durch fehlerhafte Pränataldiagnostik) zustande kommt.
Es gibt auch Metaphern der Angst,
die den politökonomischen Bereich betreffen: etwa die Metapher vom Verpassen des Zuges, vom Zuspätkommen, von
der Vertreibung von Wissenschaftlern
und Forschungskapital ins Ausland. Hier
meldet sich die Angst zu Wort, im neoliberalen Überlebenskampf zu kurz zu
kommen und der Konkurrenz zu unterliegen, vom Ausland abhängig zu werden, den Standort Deutschland zu ruinieren et cetera.
Im Schatten von Darwinismus
und Biologismus
Nach dem Philosophen Robert Spaemann setzt der Gedanke des Menschenrechts voraus, „dass jeder Mensch als
geborenes Mitglied der Menschheit
kraft eigenen Rechts den anderen gegenübertritt, und dies wiederum bedeutet, dass die biologische Zugehörigkeit
zur Spezies homo sapiens allein es sein
darf, die jene Minimalwürde begründet,
welche wir Menschenwürde nennen“
(16). Die „Instruktion“ des Vatikans
„Donum Vitae“ von 1987 formulierte
unmissverständlich: „Die in vitro erzeugten menschlichen Embryonen sind
als menschliche Geschöpfe und rechtsfähige Wesen zu betrachten: Ihre Würde und ihr Recht auf Leben sind vom
ersten Augenblick des Lebens an zu
achten.“ (4)
Die „Ethik des Heilens“, auf die sich
die biomedizinische Forschung beruft,
relativiert diesen Status menschlicher
Embryonen. Sie versucht,Vorstufen zur
Menschwerdung zu definieren, etwa einen „Prä-Embryo“ (17), dem noch keine unantastbare Menschenwürde zuzubilligen sei – zum Beispiel solange noch
keine Einnistung erfolgt oder solange
noch die Zwillingsbildung möglich sei.
Wolfgang Frühwald, Präsident der
Alexander von Humboldt-Stiftung, hat
124
angesichts der gegensätzlichen Standpunkte einen „Kulturkampf“ – „christlich, zumindest kantianisches Menschenbild“ einerseits versus „szientistisch-sozialdarwinistisches Menschenbild“ anderseits – diagnostiziert (6, 7).
Ohne Zweifel begegnen wir heute – im
Verbund mit dem wirtschaftlichen Neoliberalismus – einem wieder belebten
(sozial)darwinistischen Denken, das angesichts gentechnologischer Möglichkeiten die evolutionäre Leiter vom Affen
zum Menschen nach oben für ausziehbar
hält. Die Vision von der gentechnologischen Verbesserung des Menschen (enhancement) spukt in vielen Köpfen. So
erklärte der Nobelpreisträger James D.
Watson, „dass menschliches und anderes
Leben nicht von Gott geschaffen wurde,
sondern durch einen evolutionären Prozess entsteht, den Darwinschen Prinzipien der natürlichen Auslese folgt“ (18).
Atmen wir heute wirklich noch oder
wieder den Geist des darwinistischen
Zeitalters (der ja seinerzeit unter anderem auch Nationalismus und Imperialismus beflügelte)?
Natur und Geist: der
vergessene Kontext
Im gesamten Diskurs über den Status
menschlicher Embryonen fehlt eine
Auseinandersetzung mit dem Begriff der
Natur und dem des Geistes. So vermisse
ich als Medizinhistoriker vor allem die
klassischen Fragen der Naturphilosophie – beispielsweise: Was bedeutet irdisches Leben im Kosmos? Wie verhalten
sich organische und anorganische Natur
zueinander? Wie ist das Verhältnis von
Mensch und Welt (Mikrokosmos und
Makrokosmos) beschaffen? Wie begegnen sich tierische und geistige Natur im
Menschen?
Ist schon der Begriff der Natur für die
Biomedizin ein blinder Fleck, so gilt dies
umso mehr für den Begriff des Geistes.
Der Bonner Philosoph Wolfram Hogrebe hat dies polemisch auf die Formel gebracht: „Im Stile einer Renaissance des
19. Jahrhunderts propagiert man heute,
nur um dem Geist ausweichen zu können, Life Sciences, Lebenswissenschaften. Sie sollen die Geisteswissenschaften
unnötig machen. . . . Was braucht man
Geist, wenn man die Gene hat, mit de-
nen Geld zu machen ist? . . .Wenn wir jemanden fragen: ‚Wer bist du?‘, dann fragen wir nicht nach seinen Genen, sondern nach seiner geschichtlichen Identität, über die er zugleich immer auch
hinaus ist.“ (11) Der Begriff des Geistes
ist für den Diskurs der Biomedizin offensichtlich bedeutungslos.
Die Leitbegriffe der Ethikdebatte,
wie Menschenwürde, Lebensrecht, Heilen, Güterabwägung et cetera, können
keine konstruktive gesellschaftskritische
Kraft entfalten, da weder die historischen Quellen noch der globale Kontext
ins Auge gefasst werden. Ein Kant-Zitat
zur Würde der Person und der Verweis
auf Artikel 1 des Grundgesetzes oder die
Rede vom „therapeutischen Imperativ“
und dem „Kinderwunsch“ als Postulat
der Autonomie bedeuten noch keine kritische Analyse unserer geistigen Situation, unseres Aufenthaltsortes in der Natur- und Menschheitsgeschichte. Erst
wenn wir uns mit diesem Kontext der
modernen Biomedizin auseinander setzen, können wir in historischer Perspektive durch „Erinnern, Wiederholen und
Durcharbeiten“ (Freud) eine Gemeinschaft verändernde Orientierung für die
Zukunft gewinnen. Können, dürfen wir
uns schon jene Freiheit herausnehmen,
welche die liberale Eugenik gegenwärtig
bereits einfordert? Oder müsste sie nicht
erst durch disziplinierte Bildungsarbeit
an uns selbst errungen werden?
Sexualität – Eros – Liebe
1978 wurde das erste Kind nach In-vitroFertilisation in England geboren. Vor
dem „Retortenbaby“ Louise Brown
wurden alle Babys der Welt durch Invivo-Fertilisation gezeugt. Diese Zeugung geschieht bekanntlich im Spannungsfeld von Sexualität und Liebe – und
in schlimmen Fällen im Spannungsfeld
von Sexualität und Gewalt. Embryonen
werden heute – unabhängig von ihrer
ethisch-rechtlichen Bewertung – als isolierte biologische Monaden dargestellt
und imaginiert, abgelöst von ihren organischen Ursprungsorten im Körper der
Frau und des Mannes, abgelöst vom Zeugungsakt, der sich in einen Herstellungsakt verwandelt hat. Solche biotechnischen Eingriffe würden die „intuitive
Unterscheidung zwischen Gewachse-
D O K U M E N T A T I O N
nem und Gemachtem“ verwirren, beklagte kürzlich Jürgen Habermas (9).
Die Begriffe Sexualität, Eros, Liebe
haben im bioethischen Diskurs keine
nennenswerte Bedeutung, sieht man einmal von der Position der katholischen
Kirche ab, welche – gemäß der Enzyklika „Humanae vitae“ von Paul VI. – die
„biologische Integrität des Geschlechtsaktes“, gewissermaßen also die „Würde
des Sex“ (4), verteidigt. Dafür stoßen wir
auf den Begriff des Kinderwunsches, der
die Prozeduren der Reproduktionsmedizin unter dem Vorzeichen der Autonomie der Patienten beziehungsweise Klienten legitimiert. Doch inwiefern ist Sterilität überhaupt als Krankheit zu definieren? Und inwiefern ist der Kinderwunsch und seine reproduktionsmedizinische Realisierung tatsächlich als
Rechtsanspruch „autonomer“ Personen
auf ihre gesundheitliche Integrität zu begreifen?
Der Traum vom
Menschenmachen
Wahrscheinlich ist in unserer angeblich
säkularen, pluralen, liberalen Gesellschaft der Druck, Kinder zu bekommen,
keineswegs geringer als etwa in traditionellen Kulturen oder Entwicklungsländern mit Großfamilien beziehungsweise
unkontrolliertem Kinderreichtum. Dieser Druck tritt bei uns im Gegensatz zu
früheren Zeiten und anderen Kulturkreisen nur zeitverschoben auf: Relativ
junge Frauen sollen bis zum Erreichen
einer bestimmten Stufe ihrer Berufsund Lebenskarriere keine Kinder bekommen, dann aber umso gesicherter.
Der Druck, zunächst keine Kinder zu bekommen, verkehrt sich in den Druck, um
jeden Preis noch Kinder zu bekommen.
Was bedeutet da eigentlich der Kinderwunsch als Rechtsanspruch auf reproduktionsmedizinische Behandlung?
Hybris bezeichnete ursprünglich den
Hochmut, die Selbstüberhebung des
Menschen gegenüber den Göttern und
ist im Diskurs der „life sciences“ durchaus virulent. So meinte James D. Watson: In der Vergangenheit „konnten nur
die Götter die Zukunft vorhersagen
und unserem künftigen Schicksal eine
gute oder schlechte Wendung geben.
Heute liegt dies zum Teil in unseren ei-
genen Händen.“ (17) Namhafte Fachleute wie Peter Propping (15) oder die
Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard (14) sind gegenüber solchen Allmachtsfantasien skeptisch und
mahnen zur Bescheidenheit. Doch die
Hoffnung, einen Quantensprung der
wissenschaftlichen Medizin vollziehen
zu können, ist wohl für alle Beteiligten
ein starkes Motiv.
Ein kurzer Einblick in Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass es
offenbar einem uralten Menschheitstraum entspricht, die Rolle des Schöpfergottes zu übernehmen und selbst einen Menschen zu schaffen. In Mythen,
Sagen und in der Literatur begegnen uns
Golems, Homunculi und Roboter, von
der jüdischen Kabbala bis hin zu romantischen Schauerromanen. Merkwürdigerweise liegt auf den überlieferten Visionen, künstlich einen Menschen zu
schaffen, kein Segen. Zumeist werden
nämlich durch gotteslästerliche, teuflische Akte Zerrbilder des Menschen geschaffen, die angst- und ekelerregend
sind und der Menschheit sehr gefährlich
werden können, wie zum Beispiel Mary
Shellys Frankenstein-Roman zeigt. Verena Wetzstein, die diesen mythischen
Stoffen des Menschenmachens nachgegangen ist, kommt zum Schluss: „Diese
zumindest im Unterbewusstsein der Öffentlichkeit noch präsenten Mythen sind
in der heutigen öffentlichen Diskussion
über Stammzellenforschung mitzubedenken, will man die Hitze der Debatte
verstehen. . . . Die Klonierung von Menschen erscheint als die Verwirklichung
des Homunculus. Wer sollte da nicht an
die zügellosen Geschöpfe und die Bestrafung des blasphemischen Schöpfertums denken, die uns Mythen und Sagen
jahrtausendelang erzählt haben?“ (19)
Freiheit eines „Nichtchristenmenschen“
(Markl) gleichermaßen gilt? Zumindest
eine Hybris besteht darin, die Geschichte der Menschheit mit ihren Mythen und
Sagen, die Geschichte der Wissenschaft
mit ihren Aufbrüchen und Irrwegen, die
Geschichte der eigenen Person mit ihren
Träumen und Intuitionen zu ignorieren,
das heißt, ihnen keine wissenschaftliche
Bedeutung für das eigene WissenschaftTreiben zuzubilligen.
Diese Hybris besteht aus einer historischen Selbstvergessenheit: nämlich der
Idealisierung des Selbst-machen-Könnens, der Vorstellung einer eigenen Verfügungsgewalt über die Zukunft, gepaart
mit der Abwehr des Gedankens einer
unaufhebbaren Nicht-Autonomie des
Menschen, seiner Abhängigkeit, Hilflosigkeit und Verletzbarkeit auf dieser
selbst wiederum vergänglichen Erde, nur
einer von „unendlich vielen Erden“, wie
Giordano Bruno vor mehr als 400 Jahren
spekulierte (1).
Was jenseits von Pro und Kontra, jenseits von Kant- und Darwin-Zitaten, jenseits von tagespolitischen Aufgeregtheiten von allen gefordert wird, ist das Infragestellen von gewohnten Gewissheiten, das Heraushören leiser Zwischentöne aus dem menschheitsgeschichtlichen
und transkulturellen „Hintergrundrauschen“, die kritische und vor allem wissenschaftskritische Auseinandersetzung
mit den vorherrschenden Menschenund Weltbildern. Vor Hybris schützt nur
kritische Selbstreflexion, die – salopp gesprochen – „Dekonstruktion“ und Demut zusammenbringt.
Stark gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags zum
Schwerpunkt „Bioethik“ beim Dies Academicus des Studium
Universale der Universität Bonn am 5. Dezember 2001
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 172–175 [Heft 4]
Hybris versus Selbstreflexion
In unserem Selbstverständnis gehen wir
davon aus, in einer so genannten säkularen und pluralistischen Gesellschaft zu
leben, die zu religiöser Neutralität und
den universalen Menschenrechten verpflichtet ist. Inwiefern kann man dann
überhaupt noch im herkömmlichen Sinn
von Hybris sprechen, wenn die Vorstellung von Gott oder den Göttern unverbindliche Privatmeinung ist, wenn die
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser
und über das Internet (www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Dr. phil. Heinz Schott
Medizinhistorisches Institut der Universität Bonn
Sigmund-Freud-Straße 25
53105 Bonn
125
D O K U M E N T A T I O N
Heft 5, 1. Februar 2002
Stammzellforschung
Das Argument des Sokrates
oder: Die Frage nach dem therapeutischen Gebrauch menschlicher embryonaler Stammzellen
D
as Denken des modernen Menschen ist geprägt von den Abläufen
der Technik. In der Rationalität der
Technik ist das Verhältnis von Mittel und
Ziel für alle klar. Gut ist ein technisches
Mittel, wenn es effizient ist. Gut ist eine
Druckmaschine, wenn sie schnell und
kostengünstig Papier bedruckt, und besser ist ihr Nachfolgemodell, wenn es diese Effizienz zu erhöhen vermag. Kein
technisches Mittel hat einen Wert in sich,
sondern es definiert sich allein über seine funktionale Brauchbarkeit.
Die Allgegenwart technischer und
wirtschaftlicher Rationalität der Gegenwart stellt eine Herausforderung für
das philosophische Nachdenken über
menschliches Handeln dar, das Ethik
genannt wird. Auch menschliches Handeln kennt Ziele ebenso wie Mittel zum
Ziel. Die Frage drängt sich auf: Ist es
nicht auch in der Ethik so, dass mit der
Festlegung eines Zieles die Auswahl der
Mittel nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit darstellt? Wenn ein Ziel gut
ist – kann es dann überhaupt noch ein
anderes Kriterium für das Gutsein der
Mittel geben als die Effizienz?
Das umfassende Gut-Sein
Um die Bedeutung der Thematik zu begreifen, empfiehlt es sich, einen Blick auf
den berühmtesten Justizmord der Geschichte zu werfen, der im Jahr 399 v. Chr.
stattfand. Sein prominentes Opfer: der
griechische Philosoph Sokrates. Der tragische Urteilsspruch gegen ihn beruhte
auf vielerlei Gründen, zu denen das allgemeine Klima weltanschaulicher Unsicherheit und eine gewisse Unbeholfenheit der attischen Gesetze gehörten. Orientierungslos war Athen nach der Niederlage im Peloponnesischen Krieg vor
* Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld ist Lehrbeauftragter für Bioethik und Mitglied der Ethikkommission an der
Charité, Humboldt-Universität, zu Berlin.
126
Alfred Sonnenfeld*
Mittel zu solchem Zweck rechtfertigen
soll. Man würde heute sagen: Kriton arallem dadurch geworden, dass seine öf- gumentiert „teleologisch“ oder „verantfentliche Moral zu einer gesellschaftli- wortungsethisch“. Auf einen anderen
chen Konvention degeneriert war. Einen Standpunkt stellt sich Sokrates. Für ihn
sichtbaren Beleg dafür bot die überragen- zählt nur die Frage, ob die Handlung
de Stelle der Sophisten, die Rhetorik und selbst, die zur Debatte steht, also die
Manipulation an die Stelle objektiver Flucht, als solche gerecht ist. Für ihn gilt
Wahrheit gesetzt hatten. Durch sein kom- das unumstößliche Axiom: Man darf auf
promissloses,ja herausforderndes Verhal- keine Weise Unrecht tun. Kein übergeten gegen deren These von der bloßen ordneter guter Zweck kann zur LegitiKonventionalität der Moral galt Sokrates mation eines Verhaltens dienen, das in
als unerhörter Provokateur. Sokrates sich betrachtet schlecht und ungerecht
wagte es, die scheinbar gesellschaftlich ist. Denn, so gibt der Philosoph seinem
allgemein akzeptierte und gut legitimier- Freund Kriton zu bedenken: „Man soll
te Polis-Sittlichkeit der Athener freimütig nicht einfach dem Leben den größten
im Namen allgemeingültiger Wahrheiten Wert beimessen, sondern dem Rechtund Werte infrage zu stellen. Dies brachte Leben“1. Darum entscheidet sich Sokrates dafür, den Gesetihm den Tod ein.
zen nicht zu entflieFrüh hat man erKein übergeordneter
hen und lieber den
kannt, dass der Tod des
guter Zweck kann
zu erleiden, als
Sokrates mehr ist als
zur Legitimation eines Tod
ein Unrecht zu tun.
einer der vielen bedauVerhaltens dienen,
Sokrates ist zutiefst
erlichen Justizirrtümer
das
in sich betrachtet
davon überzeugt, dass
der Geschichte. Er ist
ein bis heute gültiges schlecht und ungerecht ist. es in einer Entscheidungssituation für den
Paradigma für eine
Grundentscheidung in der Beurteilung Handelnden allemal besser ist, „Unrecht
sittlichen Handelns.Platon hat dies in sei- zu leiden, als Unrecht zu tun“. Nicht ein
nem Dialog „Kriton“ zum Ausdruck zu Pragmatismus, der alles in Kauf nimmt,
bringen versucht. Dieser Dialog zwi- um seine Ziele und Interessen durchzuschen dem gleichnamigen Freund des So- setzen, ist das höchste Gut für den Menkrates und dem Meister spielt in dessen schen, sondern das umfassendere GutGefängniszelle, morgens vor Sonnenauf- Sein der Seele. Die moralische Integrität
gang, zwei Tage vor der Hinrichtung. Im einer menschlichen Handlung wird also
letzten möglichen Augenblick sucht Kri- durch das Erleiden eines Unrechts nicht
ton seinen Freund auf, um ihn zur Flucht beeinträchtigt, wohl aber durch jedes
ins Ausland zu überreden; alles Notwen- Unrechttun – auch wenn es scheinbar nur
dige dafür hat er schon in die Wege gelei- den Bereich der Mittel betrifft. Das Unrechttun ist nicht nur deshalb schlecht,
tet. Doch Sokrates lehnt ab.
In den unterschiedlichen Argumenta- wenn der Handelnde sich dadurch an eitionen des Kriton und des Sokrates an- ner anderen Person vergeht, sondern es
gesichts des Problems „Fliehen oder ist abzulehnen, weil der Handelnde sich
bleiben?“ begegnen uns zwei grundsätz- selbst, sofern er ein zur Sittlichkeit beliche, konträre Sichtweisen für die Beur- fähigtes Wesen ist, damit schädigt. Diese
teilung menschlichen Verhaltens. Kriton Sittlichkeit orientiert sich an Handlungsargumentiert ganz vom übergeordneten
(guten) Zweck her, der die Flucht als 1 Platon, Kriton, 47 d–48 b (Stuttgart 1998), S. 46.
D O K U M E N T A T I O N
normen, die absolut und allgemein gelten, ohne dass übergeordnete Zwecke
diese Geltung relativieren könnten. Darum gibt es konkrete Handlungsforderungen und -verbote, die sich jeglicher Abwägung entziehen.
Solche Verbotsnormen zeigen Grenzen menschlichen Handelns an, die nicht
überschritten werden dürfen. Ebenfalls
wie für Sokrates sind für Aristoteles2 absolute Handlungsverbote menschliche
Handlungen, die immer gelten. Weil sie
objektiv schlecht sind, das heißt: sie sind
unter allen Umständen sittlich verdorben, deshalb sollen sie immer und für jeden Fall unterlassen werden. Das gilt
auch dann, wenn solche Handlungen
durch hinzukommende, gut gemeinte
Absichten beeinflusst werden. Die moralische Identität der absoluten Handlungsverbote kann durch keine dazukommende Absicht oder Folgenabschätzung neu beschrieben oder neu definiert
werden. Sie bleibt resistent gegenüber
allen hinzukommenden, gut gemeinten
Überlegungen.
Tugend der Gerechtigkeit
Absolute Handlungsverbote beziehen
sich auf bestimmte Handlungsweisen,
die einen konkreten ethischen Kontext
ausdrücken, die, wenn sie dennoch begangen werden, einen schweren Verstoß
gegen eine oder mehrere Tugenden implizieren3. Ein absolutes Handlungsverbot wählen bedeutet, sich gegen eine bestimmte Tugend zu entscheiden. So wird
etwa durch die gezielte Tötung eines
Embryos zu Forschungszwecken die Tugend der Gerechtigkeit empfindlich getroffen. Mit der Entfernung der inneren
Zellmasse des Embryos im Blastozystenstadium wählt der Arzt den Tod eines Menschen. Dieser Handlungsvollzug
fällt immer unter die Intention des Tötens und prägt den Willen des Arztes. Er
ist in sich betrachtet ein Akt der Unge2 Aristoteles, Nikomachische
Ethik, II, 61107 a 9–18.
M: Die Perspektiven der Moral. Philosophische Grundlagen der Tugendethik (Berlin 2001),
S. 303–321.
4 Vgl.: Sonnenfeld A: Selbstverwirklichung oder Selbstvernichtung. Gewissen und ethisches Handeln im ärztlichen Beruf, in: Dtsch Arztebl, 1990; 87: A 1507–1515
[Heft 19].
5 Vgl.: Röm, 3,8, in abgewandelter Form: „Man darf nie
etwas Schlechtes tun, um ein Gut zu erwirken.“
3 Vgl.: Rhonheimer
rechtigkeit, weil er die Entscheidung für
den Tod eines unschuldigen Menschen
impliziert.
Die Tugend der Gerechtigkeit bedeutet ja vor allem, dass ich den anderen als
mir Ebenbürtigen anerkenne. Die goldene Regel aber verbietet mir, dass ich dem
Nächsten seine Existenz aberkenne:
„Was du nicht willst, das man dir tut, das
füg auch keinem anderen zu.“ Dieses Lebensrecht jeder Person ist die Grenze aller Güterabwägungen. Die Folgen einer
solchen Handlung führen an erster Stelle
zu einer Verformung im Willen des Handelnden selbst. Sollte sich diese Handlung wiederholen, bliebe eine dauernde
Verformung des Gewissens nicht aus4.
Um diese Gefahr zu vermeiden, sollte
eine bioethische Debatte stattfinden, die
nicht fragt, wie sich die Menschen faktisch verhalten, sondern wie sie sich verhalten sollen. Medizinische Ethik zielt
nicht darauf ab, ob eine Handlungsweise
für richtig gehalten wird, sondern ob sie
richtig ist, das heißt also, ob sie tatsächlich der menschlichen Würde dient. Das
Argument des Sokrates bleibt aktuell. In
der bioethischen Debatte geht es im Wesentlichen um dasselbe Problem wie damals: Es geht um die Frage nach der Absolutheit und Allgemeingültigkeit von
Handlungsnormen angesichts von übergeordneten Zielsetzungen, die diese
Normen scheinbar relativieren. Und
ganz konkret geht es um die Frage, ob
der Grundsatz, „dass man niemals die
Tötung eines Unschuldigen als Mittel zu
einem anderen Zweck anstreben oder
wählen darf“5, zu diesen unantastbaren
ethischen Grundsätzen zählt.
Das Ziel medizinischer Ethik zu formulieren scheint einfach zu sein: Es handelt sich, so lautet ein überzeugender
Vorschlag, um eine „Ethik des Heilens“.
Die Formel klingt überzeugend. Niemand wird bezweifeln, dass etwa im
Blick auf einen Parkinson-Kranken die
Heilung genau dieses Leidens für den
Arzt eine ethisch gute Tat ist. Nun aber
muss auch über die konkrete Umsetzung
des ethischen Leitsatzes nachgedacht
werden. Damit steht man vor dem entscheidenden Schritt in der aktuellen
Stammzelldiskussion.
Beim Umgang mit Embryonen hat
man es mit einer Handlung zu tun, die in
sich selbst beurteilt werden muss, weil sie
ein Objekt betrifft, das stets in sich, in sei-
nem Eigenwert, und niemals bloß als Mittel fremder Zwecke zu betrachten ist.
Denn mit der Vereinigung der beiden Vorkerne von Ei- und Samenzelle ist die genetische Identität des neu entstandenen
menschlichen Lebens fixiert. Damit ist seine Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies festgelegt. Seine Sonderstellung liegt
im einzigartigen Chromosomensatz begründet, der das inhärierende Potenzial einer kontinuierlichen Entwicklung in sich
vereint. Somit kommt dem Embryo in
vollem Umfang Menschenwürde zu. Jede
andere Position würde eine Instrumentalisierung der Menschenwürde bedeuten.
Die Würde des Menschen
Erst in der ganzheitlichen, Ziel und Mittel in ihrem untrennbaren Zusammenhang berücksichtigenden Betrachtung
wird medizinische Ethik ihrem Anspruch gerecht, „Ethik des Heilens“ zu
sein. Denn auch der Heilungswille darf
den Arzt nicht dazu veranlassen, die
ethische Betrachtung einer Handlung
am Maßstab einer aspekthaften, am Paradigma der Technik ausgerichteten
Zweckrationalität vorzunehmen. In der
Technik kann das Mittel zur reinen
Funktion erklärt werden, ohne dass man
den Gesamtprozess falsch einschätzt.
Menschliches Handeln dagegen ist
nur dann gut, wenn das gute Ziel auch
durch solche Mittel verwirklicht wird, die
in sich der Würde des Menschen, den
man behandelt, nicht widersprechen. Behandelt wird aber nicht nur der Patient,
sondern auch der ungeborene Mensch,
dessen Körpermaterial man benutzen
will. Therapeutisches Handeln ist wie jedes Handeln nur dann „gut“ im umfassenden Sinne, wenn darin der Mensch in
jedem Stadium seiner Existenz davor geschützt wird, zum bloßen Mittel erklärt
und damit als Person negiert zu werden.
Nur wenn der Arzt in diesem größeren
Sinne „gut“ handeln will, tut er etwas, das
ihn selbst erfüllen kann.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2002; 99: A 271–272 [Heft 5].
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld
Universitätsklinikum Charité
Ethik-Kommission des Virchow-Klinikums. Lehrgebäude
Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin
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D O K U M E N T A T I O N
Heft 6, 8. Februar 2002
Stammzellenimport
Unter Auflagen zugelassen
Nach dem Beschluss des Bundestages dürfen bestehende
embryonale Stammzelllinien importiert, jedoch keine
weiteren Embryonen zu Forschungszwecken getötet werden.
D
er Bundestag hat entschieden:
Der Import bereits existierender
embryonaler Stammzelllinien nach
Deutschland wird unter Auflagen erlaubt, die Tötung weiterer Embryonen
soll jedoch durch eine Stichtagsregelung
verhindert werden. Gegen 18.30 Uhr am
30. Januar verkündete Bundestagsvizepräsident Dr. h.c. Rudolf Seiters das Ergebnis. 340 von 618 Abgeordneten hatten sich nach einer viereinhalbstündigen
Debatte in einem zweiten Wahlgang für
den fraktionsübergreifenden Kompromissantrag von Dr. Maria Böhmer
(CDU), Margot von Renesse (SPD) und
Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) entschieden. „Der gewundene
Weg führt nicht selten zum Ausweg“,
hatte Renesse zuvor in der sehr sachlich
geführten Debatte gesagt.
Ein Ausweg aus dieser schwierigen
Gewissensfrage war der „Nein-aberAntrag“ wohl für alle diejenigen, die
sich nicht zwischen den Werten Lebensschutz und Forschungsfreiheit entscheiden mochten. Seine Argumentation setzt auf Konsens, weniger auf Klarheit. So bekräftigt er einerseits die
Zielsetzung des Embryonenschutzgesetzes: „Embryonen dürfen nur zum
Zweck der Fortpflanzung erzeugt werden. Eine Tötung von Embryonen zu
Forschungszwecken muss verboten
bleiben.“ Andererseits ist eine Zeile
später zu lesen, dass menschliche embryonale Stammzellen keine Embryonen seien, weil sie sich nicht zu einem
vollständigen menschlichen Organismus entwickeln könnten. „Ein unmittelbarer Grundrechtsschutz kann für sie
nicht in Anspruch genommen werden“,
heißt es in dem Antrag. Dieser sei kein
Kompromiss, sondern das Ergebnis einer Verständigung zwischen Befürwortern und Gegnern der Forschung an
embryonalen Stammzellen, erklärte
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Renesse den Abgeordneten, die an diesem Tag ohne Fraktionszwang entscheiden konnten.
Für den Mittelweg warb neben Dr.
Angela Merkel (CDU) auch Bundeskanzler Gerhard Schröder. Damit werde weder eine neue Rechtslage geschaffen, noch gehe Deutschland einen Sonderweg, sagte Schröder, der ausdrücklich nicht als Kanzler, sondern als SPDAbgeordneter sprach. Bei der Debatte
ergriff kein Minister das Wort; weder
Forschungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD), die seit Monaten für eine
Liberalisierung der Forschung plädiert,
noch Justizministerin Prof. Dr. Herta
Däubler-Gmelin, die aus verfassungsrechtlicher Sicht die Forschung an embryonalen Stammzellen ablehnt.
Die anderen beiden Anträge hatten
sich für eine eindeutige Ja- beziehungsweise Nein-Regelung ausgesprochen.
Beide klaren Positionen erhielten jedoch keine absolute Mehrheit. Der Antrag der Importgegner, den Dr.Wolfgang
Wodarg (SPD), Dr. Hermann Kues
(CDU) und Monika Knoche (Bündnis
90/Die Grünen) gestellt hatten, erhielt
im ersten Abstimmungsgang 262 Stimmen, im zweiten 265. Er sprach sich sowohl gegen eine Tötung von Embryonen zu Forschungszwecken aus als auch
gegen einen Import von Zelllinien.
„Wenn wir die Tötung von Embryonen
im Ausland billigen, wird sie auch später
im Inland gebilligt“, argumentierte Kues.
Klar sei schon jetzt, dass die Forscher
mehr als nur den Import wollten. Auch
Knoche forderte die Abgeordneten auf,
sich „ehrlich zwischen Ja oder Nein zu
entscheiden“. Mit der Erlaubnis des Imports würde erstmals eine Statusdefinition des Embryos vorgenommen.
Für den Antrag der Befürworter der
embryonalen Stammzellforschung, den
hauptsächlich die FDP unter Ulrike
Flach sowie Peter Hintze (CDU) und
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) stellten,
stimmten im ersten Wahlgang 106 Abgeordnete. Sie schlossen sich im zweiten
Abstimmungsgang dem Kompromissantrag an. Auch Flach hatte zuvor für
eine eindeutige Entscheidung geworben; der Kompromissantrag mogele
sich um diese herum. Ihr Antrag
plädierte sowohl für den Import als
auch für die Änderung des Embryonenschutzgesetzes und die Herstellung
von embryonalen Stammzelllinien in
Deutschland – falls dies erforderlich sei.
Darauf müssen die Forscher in
Deutschland nun verzichten. Dennoch
begrüßte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) den Beschluss des
Bundestages als „erkennbares Abwägen
zwischen den Belangen der Forschungsfreiheit und den ethischen Bedenken“.
Der DFG-Hauptausschuss genehmigte
am 31. Januar den Antrag des Bonner
Neurowissenschaftlers Prof. Dr. med.
Oliver Brüstle. Er will humane embryonale Stammzelllinien aus Israel nach
Deutschland importieren. Die DFGFördermittel in Höhe von 102 000 A erhält er für sein Projekt jedoch erst, wenn
das erforderliche Gesetz zur Regelung
des Imports in Kraft ist und die darin genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Brüstle sagte in Bonn, er hoffe, noch vor
der Sommerpause mit den Arbeiten beginnen zu können.
Dem Bundesforschungsministerium
zufolge wird bereits mit Hochdruck an
dem Gesetzentwurf gearbeitet. Er soll in
der zweiten Februarhälfte in das Parlament eingebracht und bis Juni verabschiedet werden.Das neue Gesetz soll die
Bedingungen für einen Import regeln. So
soll eine von einer Ethikkommission beratene Kontrollbehörde geschaffen werden, die wahrscheinlich im Bereich des
Bundesgesundheitsministeriums angesiedelt sein wird. Sie soll alle Kriterien
überwachen und sicherstellen, dass die
Embryonen nicht zu Forschungszwecken
erzeugt wurden, die Eltern zugestimmt,
jedoch keine finanzielle Entlohnung erhalten haben. Der vom Parlament angenommene Antrag sieht ferner vor, dass
nach einem bestimmten Datum hergestellte Stammzelllinien nicht nach
Deutschland importiert werden dürfen.
Dabei wird der 30. Januar 2002 als der
späteste Termin genannt. Die Antragstel-
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Nachgefragt
DÄ: Der Deutsche Bundestag hat entschieden, den Import von bestehenden humanen embryonalen Stammzelllinien zu erlauben, die Herstellung neuer Zelllinien in
Deutschland jedoch zu verhindern. Sind Sie mit diesem
Kompromiss zufrieden?
Winnacker: Wir können
mit diesem Kompromiss leben
und gehen davon aus, dass
unter den weltweit existierenden 72 Stammzelllinien
hinreichend viele sind, die
sich als für die Forschung geeignet erweisen. Ein Problem
auf längere Sicht könnte allerdings die Frage der Kosten für
die einzelnen Linien werden.
DÄ: Halten Sie die Herstellung von neuen humanen embryonalen Stammzelllinien für
erforderlich, um eine erfolgreiche Forschung auf diesem
Gebiet zu gewährleisten?
Winnacker: Der Deutsche Bundestag hat entschieden, dass Stammzellenimport
nur von bereits existierenden
Stammzelllinien möglich sein
soll – daran werden wir uns
halten.
DÄ: Vor wenigen Tagen
wurde bekannt, dass es der
Stammzellforscherin Catherine Verfaillie gelungen ist,
adulte multipotente Stamm-
Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker, Präsident der Deutschen
Forschungsgemeinschaft
Foto: dpa
zellen beim Menschen zu gewinnen, die ähnliche Eigenschaften wie embryonale
Stammzellen besitzen. Wäre
eine ethisch unbedenkliche
Forschung an diesen Zellen
nicht die bessere?
Winnacker: Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft hat
in den letzten Jahren insgesamt 43 Millionen Euro in die
Förderung der adulten Stammzellforschung investiert. Selbstverständlich geben wir dieser
Forschung den Vorrang – daraus haben wir nie ein Hehl gemacht. Schon in unserer Stellungnahme vom Mai 2001
haben wir ausgeführt, dass
wir davon ausgehen, dass nur
für eine gewisse Zeit vergleichende Forschung mit em-
bryonalen Stammzelllinien erforderlich ist, um dann längerfristig auf den Königsweg
der adulten Stammzellen zu
setzen.
DÄ: Bis zum Mai vergangenen Jahres hatten Sie ausschließlich für eine Forschung
an adulten Stammzellen plädiert. Wie kam es zu Ihrer
Meinungsänderung?
Winnacker: Es war kein
plötzlicher
Meinungsumschwung, auch wenn es vielleicht so gewirkt hat. Vielmehr hat sich die Wissenschaft auf diesem Gebiet so
rasant fortentwickelt, dass
wir dies nicht mehr übersehen konnten und auch nicht
mehr verantworten konnten,
deutsche Wissenschaftler
von der Teilnahme an diesem Förderungszweig auszuschließen.
DÄ: Haben Sie die Diskussion um die Stammzellforschung in den letzten Monaten als fair gegenüber der Forschung empfunden?
Winnacker: Die Diskussion war hart und zielte manchmal auch unter die Gürtellinie
– insgesamt aber bin ich froh
um diese bundesweite Debatte, da sie dazu beigetragen
hat, die Positionen zu klären
und letztlich auch zu dem Ergebnis vom 30. Januar geführt hat.
ler wollen dadurch verhindern, dass zum
Zwecke des Imports weitere Embryonen
getötet werden. Doch um diese Stichtagsregelung gibt es bereits Streit. Die Forschungsbefürworter in der FDP und der
Union fordern inzwischen, den Termin
nach hinten zu verschieben. Fischer und
Böhmer schlagen stattdessen den 9. August 2001 vor. Dieser Stichtag gilt in den
USA. Einen Tag vor der Entscheidung
hatte Fischer auf dem Kongress der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
in Berlin erklärt, dass der von ihr unterstützte Kompromissantrag nicht zur Ausweitung der Forschung an embryonalen
Stammzelllinien führe. Deren Verwendung sei eng begrenzt. „Wir werden das
Fenster nur einen Spalt öffnen, um es danach wieder zu schließen“,bekräftigte die
Grünen-Politikerin.
Enttäuscht haben die Kirchen auf
den Bundestagsbeschluss reagiert.
„Durch diese Entscheidung sind Lebensrecht und uneingeschränkter Lebensschutz des Menschen vom Zeitpunkt der Befruchtung an nicht mehr
gewährleistet“, kritisierten die Spitzen
der katholischen und evangelischen
Kirche in einer gemeinsamen Erklärung. Bereits im Vorfeld hatten die
Bischofskonferenz und die EKD Forschungsmethoden, die eine „Vernichtung embryonaler Menschen“ beinhalten, als inakzeptabel bezeichnet. Sie
plädieren für eine Forschung an adulten
Dr. med. Eva A. Richter
Stammzellen.
Heft 5, 1. Februar 2002
Präimplantationsdiagnostik
„Verfassungsrechtlich
unzulässig“
Experten und Mitglieder der Bundestagsausschüsse
diskutieren kontrovers.
M
it einem klaren Nein beantwortete jetzt ein prominenter Verfassungsrechtler die umstrittene
Frage, ob die Präimplantationsdiagnostik (PID) zugelassen werden sollte.
Prof. Dr. Ernst Benda, Präsident des
Bundesverfassungsgerichts von 1971
bis 1983 und ehemaliger CDU-Innenminister (1968 bis 1969), hält die PID
aus verfassungsrechtlicher Sicht für unzulässig. Sie bedeute, dass nach einer Invitro-Fertilisation alle Embryonen, die
Anlass zu Bedenken geben, im Wege einer negativen Auswahl verworfen und
vernichtet würden, erklärte er bei der
Anhörung des Rechts- und Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages zum Gesetzentwurf der FDPFraktion am 23. Januar in Berlin. Dieser
sieht vor, die PID rechtlich abzusichern,
wenn sich Paare aufgrund der Veranlagung zu einer schwerwiegenden Erbkrankheit nach gründlicher Beratung
durch ihren Arzt und einem positiven
Votum einer Ethikkommission zu einem solchen Schritt entscheiden.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,
hält den FDP-Antrag und die Zulassung
der PID ebenfalls für ethisch und rechtlich bedenklich.Diese Meinung habe sich
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mehrheitlich auch bei den Abgeordneten
und Sachverständigen abgezeichnet, sagte er im Anschluss an die Anhörung. „Es
müsste einen erheblichen Gesinnungswandel geben, wenn das Embryonenschutzgesetz geändert und die PID zugelassen werden sollten.“ Der Status des
Embryos und seine Schutzwürdigkeit
müssten jedoch noch grundlegend und
präzise geklärt werden.
Für Benda liegt die rechtliche Situation auf der Hand: „Die Frage, von welchem Zeitpunkt an menschliches Leben
unter dem Schutz der Menschenwürde
steht, ist verfassungsrechtlich dahin zu
beantworten, dass dies vom Zeitpunkt
der Befruchtung – in vivo oder in vitro –
der Fall ist“, sagte er. Nach der Entscheidung des Ersten Senats von 1975 komme
jedem menschlichen Leben Menschenwürde zu. Dabei sei es unwesentlich, ob
sich der Träger dieser bewusst sei
(BVerfGE 39, 1). „Abstufungen der
Menschenwürde gibt es nicht“, erklärte
Benda. „Die PID verbietet sich daher.“
Dieser Ansicht ist auch Prof. Dr.
Wolfram Höfling, Staatsrechtler an der
Universität Köln. Ein explizites Verbot
der PID könnte verfassungsrechtlich
gerechtfertigt werden, meinte er; eine
Klarstellung durch den Gesetzgeber
müsste aber dennoch erfolgen. Als Argumente gegen die PID führte er das
Embryonenschutzgesetz an. Darin werde nach § 2 Abs.1 bestraft, wer einen
extrakorporal erzeugten Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden
Zweck verwendet. Als Embryo gelte
nach §8 Abs.12 auch jede einem Embryo
entnommene totipotente Zelle.
„Untersucht man die Stellungnahmen
der Vertreter, die die PID und die Verwerfung eines geschädigten Embryos für
strafbar halten, fragt man vergeblich
nach einer haltbaren juristischen Begründung“, meint hingegen Prof. Dr.
Monika Frommel, Direktorin des Instituts für Sanktionsrecht und Kriminologie
der Universität Kiel. „De lege lata ist die
PID unter engen Voraussetzungen in
Deutschland erlaubt.“ Als Rechtfertigungsgründe nennt Frommel die spezielle medizinische Situation sowie einen allgemeinen Notstand. Dieser könne entstehen, da eine risikoreiche Implantation
die körperliche und seelische Gesundheit der Patientin schädige. Der Arzt
dürfe deshalb nach § 34 StGB eine Gü-
Heft 7, 15. Februar 2002
Deutsche (Gesundheits-)Politik
terabwägung treffen und die Gesundheit
der Frau als das höhere Rechtsgut zulasten des Embryonenschutzes retten.
Für ethisch vertretbar hält Dr. Viktoria Stein-Hobohm vom Justizministerium Rheinland-Pfalz die PID, wenn diese auf Hochrisikopaare begrenzt wird.
Zu diesem Ergebnis kommt auch der
Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer. Er appelliert deshalb an
den Gesetzgeber, die Rechtslage zu
klären. „Sollte die PID erlaubt werden,
ist die Indikation in jedem Einzelfall zu
prüfen“, ergänzte Hoppe. Eine Festlegung auf bestimmte Diagnosen verbiete
sich, um eine regelhafte Anwendung der
PID in solchen Fällen zu vermeiden. Es
soll lediglich der Zustand einer Erkrankung beschrieben werden. Gegen die
Auflistung der Erkrankungen mit einer
„Generalklausel“ wendet sich Benda.
Dies widerspräche der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie. Danach müssen wesentliche Entscheidungen vom Gesetzgeber
selbst getroffen werden und dürfen nicht
an andere Entscheidungsgegner (an die
Eltern, den Arzt und die Ethikkommission) delegiert werden. Dr. med. Eva A. Richter
Ein klares Jein
E
ine Sternstunde des deutschen Parlamentarismus sei die Debatte um die
Embryonenforschung im Bundestag
gewesen – so das Urteil zahlloser Kommentatoren. Ohne Polemik und Fraktionszwang, sachlich und ernst seien die
Abgeordneten ihrem Auftrag nachgekommen.
Eines wird dabei übersehen: Wieder
hat die Politik nicht den Mut aufgebracht, zu einer klaren Entscheidung zu
kommen, wieder einmal hat sie ein entschiedenes „Jein“ zustande gebracht.
Die Meinungsverschiedenheiten über
den genauen Wortlaut des nun fälligen
Gesetzes zeigen einmal mehr, dass Politik hierzulande nicht mehr die Kunst
des Machbaren bedeutet, sondern vielmehr die Kunst, jedes größere Problem
ungelöst vor sich herzuschieben.
Die Nicht-Entscheidung des Bundestages zur Embryonenforschung ist
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nur ein Beispiel für die lähmende Unentschlossenheit der Politik. Wohin
man blickt in der Gesundheitspolitik –
überall herrscht Stillstand. Wem kann
man noch plausibel vermitteln, dass es
über eine schier endlose Zeit hinweg
nicht möglich ist, die Medizinerausbildung zu reformieren? Wer –
außer einer Hand voll Experten – ist
noch in der Lage, innerhalb eines Krankenversicherungssystems, das dringend
reformbedürftig ist, aber seit Jahrzehnten Opfer einer detailversessenen Regelungswut ist, den Überblick zu bewahren? Wie immer man zur Rezertifizierung der ärztlichen Approbation
stehen mag – fast unerträglich ist die
Vorstellung, dass dieses Thema in den
nächsten zehn Jahren landauf, landab
in diversen Ländergremien behandelt
wird, ohne dass eine klare Entscheidung fällt. Das föderale System, für
dessen Etablierung es einmal gute
Gründe gab, dient inzwischen dazu, jeden Reformansatz, der den Abstimmungsprozess auf Bundesebene überstanden hat, aus politischem Kalkül
oder Koalitionsräson zunichte zu machen.
(Gesundheits-)Politiker müssen entscheiden, und sie müssen die Verantwortung dafür übernehmen. Politik
kann nicht heißen, es jedem recht machen zu wollen und jedem größeren
Problem elegant aus dem Weg zu gehen. Aber noch herrscht die Devise „im
Großen kleckern, im Kleinen klotzen“
vor. Und so freuen wir uns auf die Gesetzesinitiative der Bundesregierung,
mit der Jugendlichen unter 16 Jahren
mithilfe einer Chipkarte die Benutzung
von Zigarettenautomaten verwehrt
werden soll. In welcher Welt leben die
Thomas Gerst
Politiker?
D O K U M E N T A T I O N
Heft 7, 15. Feburar 2002
Embryonenforschung
Machtproben
Forscher rütteln am Kompromiss des Bundestages.
Die Meinungsbildung in der Ärzteschaft ist offen;
zwischen Bundesärztekammer und deren Wissenschaftlichem Beirat bahnt sich eine Machtprobe an.
K
aum hatte der Bundestag am 30.
Januar über den Import embryonaler Stammzellen abgestimmt,
setzten auch schon Überlegungen ein,
wie der gefundene Kompromiss zugunsten der Forschung ausgeweitet werden
könnte.
Angelpunkt ist die Stichtagsregelung. Der Bundestag hatte beschlossen,
embryonale Stammzellen nicht zu importieren, abgesehen von Stammzelllinien, die zu einem Stichtag bereits existierten. Unter den Abgeordneten kursierte die Überlegung, als Stichtag den
30. Januar, zu nehmen, andere plädierten für den 7. August 2001, einen in den
USA angesetzten Stichtag. Im August
vergangenen Jahres sollen 72 Stammzelllinien existiert haben. Deren Zahl
hat sich inzwischen wohl erhöht. Die
deutschen Forscher, die den Embryonenimport befördern wollen, plädieren
für einen weit hinaus geschobenen
Stichtag. Man sucht nach möglichst „frischem Material“. Ein früher Stichtag
schränkt zudem die Menge des Angebots ein. Der Import nach Deutschland
könnte somit teuer werden. Dabei geht
es nicht allein um Geld. Die Anbieter
von Zelllinien könnten von deutschen
Forschern auch verlangen, am Forschungsdesign und an den Ergebnissen
beteiligt zu werden. Solche Befürchtungen standen schon im Raum, als Professor Dr. Oliver Brüstle sich nach Israel
orientierte, nachdem er zuvor Kontakte
in die USA gepflegt hatte.
Solche Argumente werden bei der
Formulierung des Gesetzentwurfes und
bei den Beratungen in den Bundestagsausschüssen ihre Rolle spielen. Der Gesetzentwurf wird im Bundesforschungsministerium erarbeitet. Im Bundestag
wird der Forschungsausschuss federführend sein. Beide gelten als Befür-
worter „liberaler“ Lösungen. Eine
Machtprobe zwischen jenen, die Embryonenimport strikt begrenzen wollen
und jenen, die den Forschern entgegenkommen wollen, ist zu erwarten.
Eine Machtprobe im Kleinen bahnt
sich unterdessen innerhalb der Ärzteschaft an. Die Bundesärztekammer hat
sich in Sachen Embryonenforschung
noch nicht definitiv entschieden. Es gibt
allerdings einen Beschluss des 104.
Deutschen Ärztetages aus 2001, der den
Import embryonaler Stammzellen als
ethisch nicht akzeptabel kennzeichnet
und der die Wissenschaft dazu auffordert,
mit Versprechungen zurückhaltend zu
sein. Der Vorstand der Bundesärztekammer wollte, so der letzte Stand der
Überlegungen, die Abstimmung im
Bundestag abwarten. Das Thema dürfte den kommenden Ärztetag, Ende
Mai diesen Jahres, erneut beschäftigen.
Im Vorfeld der Bundestagsentscheidung hatte der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich
Hoppe, in einem Pressegespräch Position gegen verbrauchende Embryonenforschung bezogen und vor Heilsversprechungen gewarnt. Gegen Hoppe
machte der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Karl-Friedrich Sewing, Front. In einem (inzwischen auch
öffentlich verbreiteten) Brief an Hoppe
bekundete Sewing, er fühle sich verpflichtet, sich „schützend vor die zahlreichen Ärzte zu stellen, die als Wissenschaftler in Kliniken und Forschungslaboratorien mit Erfolg für die praktizierenden Ärzte die Instrumentarien erarbeiten, mit denen diese ihre Patienten
zunehmend erfolgreicher behandeln
können.“ Sewing verlangte von Hoppe
zu verdeutlichen, dass seine, Hoppes,
Verlautbarungen, „nicht die einhellige
Meinung der Ärzteschaft darstellen
und nicht dem Rat der dafür zuständigen Gremien entspringen“.
Sewing ließ zudem auf eigene Faust
(zusammen mit der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer) eine Presseerklärung ab, in der er
namens des Wissenschaftlichen Beirats
die Bundestagsentscheidung als richtig,
ethisch ausgewogen und mutig bezeichnete. Es gibt freilich bisher keine förmliche Beschlussfassung des Wissenschaftlichen Beirats, auf die sich Sewing berufen
könnte, geschweige denn eine Vorlage
des Beirats an den Vorstand der Bundesärztekammer. Der aber wäre das zuständige Gremium, um die Auffassung
der Ärzteschaft zu vertreten.
Die Bundesärztekammer wird nach
dem Eindruck von Beobachtern klarstellen müssen, inwieweit sie selbst die
Positionen der Ärzteschaft zu embryonaler Stammzellforschung darlegt oder
ob sie bereit ist, ihrem Beratungsgremium, dem Wissenschaftlichen Beirat, das
Feld zu überlassen. Die Klärung erscheint umso vordringlicher, als die
nächste Machtprobe sich bereits abzeichnet: Noch in diesem Monat will
der Bundestag das heiße Thema Präimplantationsdiagnostik angehen. Der
Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat sich auch dazu bereits
Norbert Jachertz
positioniert.
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Heft 9, 1. März 2002
Symposium in der Kaiserin-Friedrich-Stiftung
Solidarität mit den
„fortpflanzungswilligen
Schichten“
Reproduktionsmediziner fordern die Zulassung
der Präimplantationsdiagnostik.
D
esinteresse an der menschlichen
Fortpflanzung warf Prof. Dr. med.
Jürgen Hammerstein, Geschäftsführer der Kaiserin-Friedrich-Stiftung,
Berlin, am 23. Februar der Politik vor:
„In Deutschland herrscht eine fortpflanzungsbehindernde Gesetzgebung“, sagte der ehemalige Reproduktionsmediziner des Klinikums Steglitz der Freien
Universität Berlin, zum Abschluss des
26. Symposiums für Juristen und Ärzte,
das die Kaiserin-Friedrich-Stiftung in
diesem Jahr zum Thema Reproduktionsmedizin organisierte. Die Befürworter „liberaler“ Lösungen waren dabei weitgehend unter sich.
Hammerstein erklärte, die Solidarität der Entscheidungsträger mit den
fortpflanzungswilligen Schichten des
Volkes drohe verloren zu gehen. Das
Grundgesetz zum Schutz von Ehe und
Familie würde zunehmend ausgehöhlt.
Der Gynäkologe verwies auf liberalere
Gesetze zur Reproduktionsmedizin in
anderen europäischen Ländern. So sei
in Großbritannien, Schweden, Dänemark, den Niederlanden, Finnland, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien und
Griechenland die Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt und werde dort
erfolgreich praktiziert. Von einem
Dammbruch könne in diesen christlichen Ländern nicht die Rede sein, betonte Prof. Dr. med. Hermann Hepp,
Direktor der Klinik und Poliklinik für
Frauenheilkunde und Geburtshilfe des
Klinikums Großhadern, München.
Hepp ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer
und war dort federführend mit der Erstellung des Diskussionsentwurfs zur
PID befasst. Dieser befürwortet die
PID in Grenzen (DÄ, Heft 9/2000).
132
Als zulässig erklärt die PID auch der
Artikel 18 der Bioethikkonvention des
Europarates vom April 1997, die aber
zugleich restriktivere, nationale Regelungen befürwortet. Das deutsche
Embryonenschutzgesetz, das seit dem
1. Januar 1991 in Kraft ist, steht der PID
nach Ansicht der meisten Experten entgegen. Danach dürfen Embryonen nur
zum Zwecke der Fortpflanzung erzeugt
werden.Alle Embryonen (zwei bis drei)
müssen der künftigen Mutter eingepflanzt werden. Eine Auswahl ist nur im
Vorkernstadium gestattet.
Erfolgsraten optimieren
„Durch diese restriktiven Regelungen
sind die Schwangerschaftsraten für kinderlose Paare nach In-vitro-Fertilisation
(IVF) deutlich eingeschränkt“, bedauert
Prof. Dr. med. Hans Van der Ven, Direktor der Abteilung für Gynäkologie, Endokrinologie und Reproduktionsmedizin am Universitätsklinikum Bonn. Diese lägen derzeit in Deutschland je nach
Alter der Frau zwischen 15 und 25 Prozent. Dies sei zwar beachtlich, verglichen
mit der natürlichen Befruchtung, bei der
die Erfolgsrate auch nur etwa 28 Prozent
betrage; die Baby-take-home-Raten
nach IVF im Ausland würden jedoch bei
etwa 50 Prozent liegen. Grund dafür sei
die Möglichkeit, ein oder zwei Embryonen mit optimalen Eigenschaften auszuwählen. Ein weiterer Vorteil sei dabei die
Reduktion der Mehrlingsschwangerschaften nach IVF.
„Untersuchungen haben gezeigt, dass
die PID zu einer zweifachen Implantationsrate und zu einer 2,5fachen Abnahme von Spontanaborten führt“, bekräf-
tigte Prof. Dr. med. Gerhard Wolff, Direktor des Instituts für Humangenetik
und Anthropologie der Universität Freiburg. Das Einpflanzen von Embryonen
mit Chromosomenstörungen, die die
Hauptursache für Fehlgeburten darstellen, könne deutlich minimiert werden,
wenn die Embryonen vorher untersucht
und gegebenenfalls verworfen werden.
Angesichts der Gesetzeslage in
Deutschland gelte es, die technischen
Möglichkeiten im Vorkernstadium zu
optimieren, meint Van der Ven. Dies wäre durch eine verbesserte Beurteilung
der Vorkerne, den optimalen Zeitpunkt
des Embryonentransfers sowie die Polkörperbiopsie möglich.
Prof. Dr. med. Heribert Kentenich,
Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung der DRK-Frauenklinik Westend,
Berlin, geht weiter: Er forderte auf dem
Symposion eine Änderung des Embryonenschutzgesetzes, das die eingeschränkte Selektion von Embryonen
und den Blastozystentransfer erlauben
sollte. Die PID müsse gestattet werden,
da die betroffenen Frauen ansonsten zu
einer Schwangerschaft auf Probe gezwungen wären oder vom Arzt ins Ausland geschickt werden müssten. Ferner
plädiert Kentenich dafür, die heterologe Insemination, die Eizellspende, die
Behandlung lesbischer Paare und die
Forschung an Embryonen zu gestatten.
Eine internationale Regelung sei
dringend erforderlich, meint Prof. Dr.
jur. Eberhard Eichenhofer. „Nationale
Zwischenschritte sind zwar unvermeidbar“, sagte der Inhaber des Lehrstuhls
Sozialrecht und Bürgerliches Recht der
Universität Jena, „aber liberalere Regelungen haben gegenüber konservativen
den Vorrang.“ Die Gründe für den
„deutschen Sonderweg“ sieht er in den
Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Doch: „Wir können einen
rechtlichen Sonderweg nur einfordern,
wenn wir die Güterabwägung mit anderen Argumenten treffen als die übrigen
europäischen Länder – aber dies tun
wir nicht“, sagte der Jurist. Es sei an der
Zeit, von der „German disease“ Abschied zu nehmen und sich in den europäischen Kontext einzuordnen.
Dies sei jedoch mit dem ärztlichen Berufsrecht kaum zu vereinbaren, argumentiert Prof. Dr. jur. Dr. h.c.Adolf Laufs
vom Institut für Deutsches, Europäisches
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Heft 12, 22. März 2002
und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim – er
war der einzige Jurist, der einen kritischen Vortrag zum Thema PID hielt. Der
Arzt müsse ungeborenes Leben erhalten; der Heilauftrag sei bei der PID zweifelhaft, sagte Laufs. Ihre Zulassung und
die Änderung des Embryonenschutzgesetzes stehe zudem dem Verfassungsrecht entgegen.Völlig anderer Ansicht ist
sein Mannheimer Kollege Prof. Dr. iur.
Jochen Taupitz, Mitglied im Nationalen
Ethikrat und in der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.
Für ihn ist der erste Artikel des Grundgesetzes („Die Menschenwürde ist unantastbar“) kein „Totschlagargument“. Die
Menschenwürde sei nicht statisch konzipiert; Änderungen könnten sich ergeben.
Zudem habe das Verfassungsrecht dem
Embryo niemals Grundrechte zugesprochen, sondern nur den Schutz durch die
Gesellschaft. Dieser käme jedoch auch
dem menschlichen Leichnam, der Natur
und den Tieren zu. Auch Margot von
Renesse,Vorsitzende der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen
Medizin“ des Bundestages, hält einen liberaleren Umgang mit dem Artikel 1 des
Grundgesetzes für angemessen. Sie sieht
die Diskussion um die PID als eine Suche
nach der Grenze des Strafrechts an.Menschen in Notsituationen müssten unter
Umständen straffrei bleiben können –
ähnlich wie bei der Abtreibungsregelung.
Behandlungschancen und die Erweiterung des Wissens sollten nicht beschränkt
werden.
Dass die Beschränkungen innerhalb
der Reproduktionsmedizin die menschliche Fortpflanzung stark beeinträchtigen, bezweifelt Prof. Dr. habil. Elmar
Brähler von der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik der Universität
Leipzig. „Nach empirischen Untersuchungen sind zwar 30 Prozent aller
Frauen zeitweilig ungewollt kinderlos,
von einer dauerhaft ungewollten Kinderlosigkeit sind jedoch lediglich ein bis
drei Prozent aller Frauen betroffen.“
Die Ergebnisse seiner Repräsentativerhebung von 1999 zeigen auch, dass die
Hälfte aller Schwangerschaften ungeplant zustande kommen. Brählers Fazit:
„Man sollte an spontaner Zeugung festhalten, da sonst die Geburtenzahl noch
weiter zurückgeht.“ Dr. med. Eva A. Richter
Stammzellgesetz
Tauziehen um Definitionen
Der Entwurf des Stammzellgesetzes weicht vom Beschluss
des Deutschen Bundestages vom 30. Januar ab –
zugunsten der Forschung. Er wird jetzt überarbeitet.
D
er Entwurf zum geplanten
Stammzellgesetz hält nicht, was
der Beschluss des Deutschen
Bundestages vom 30. Januar versprach:
„Keine verbrauchende Embryonenforschung“. Einige Regelungen im jetzigen
Entwurf, den 115 Abgeordnete von
SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die
Grünen erstellten, weichen die Auflagen wieder auf, die das Parlament an
einen Import von humanen menschlichen Stammzelllinien knüpfte.
Bei der mehr als sechsstündigen Anhörung des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung im Bundestag am 11. März wies vor
allem die Enquetekommission „Recht
und Ethik der modernen Medizin“ wiederholt auf die eigentliche Intention des
Gesetzes hin – nämlich die Forschung an
embryonalen Stammzelllinien sowie deren Import nur in Ausnahmefällen zuzulassen. An dem Gesetzentwurf kritisierten die Sachverständigen hauptsächlich,
dass nunmehr embryonale Stammzellen
statt embryonaler Stammzelllinien eingeführt werden sollen. Ferner bemängelten sie, dass nicht die Eltern der
Stammzellgewinnung zustimmen müssen, sondern lediglich „nach dem Recht
des Herkunftslandes dazu berechtigte
natürliche Personen“.Auch dass sich die
neu zu schaffende zentrale Ethikkommission der Zulassungsbehörde vorrangig aus Naturwissenschaftlern zusammensetzen soll, lehnen die Sachverständigen ab.
Damit treten Probleme zutage, die
mit der Gratwanderung des Bundestages, der sich weder für ein klares Ja noch
für ein klares Nein entscheiden konnte,
schon programmiert waren. Der Gesetzestext soll nun bis zum 26.April überarbeitet werden. Die zweite und dritte Lesung im Bundestag ist für den 26. April
vorgesehen.
Tatsächlich kommt der Formulierung
des Stammzellgesetzes große Bedeutung zu. Erst mit ihm werden die Weichen gestellt, wie die Forschung an embryonalen Stammzellen in Deutschland
gehandhabt werden soll. Federführend
für die Erarbeitung des Stammzellgesetzes ist das Forschungsministerium.
Von ihm werden der Gesundheits-, der
Rechts- und der Familienausschuss sowie die Enquetekommission „Recht
und Ethik der modernen Medizin“ zur
Beratung herangezogen.
„Der Import humaner embryonaler
Stammzellen wird auf bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten Stichtag etabliert wurden, beschränkt“, heißt es
in dem von den Bundestagsabgeordneten
beschlossenen Antrag. Jetzt ist jedoch nur
noch von Stammzellen die Rede. Die Begriffe „Stammzelllinien“ und „Stammzellen“ würden in der amerikanischen Literatur synonym gebraucht, verteidigte
Prof.Dr.Bärbel Friedrich,Institut für Biologie der Humboldt-Universität Berlin
und Präsidiumsmitglied der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, die jetzige Formulierung. Prof. Dr. Peter Gruss, MaxPlanck-Institut für Biophysikalische Chemie, Göttingen, und designierter Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, gab zu
bedenken, dass die Mehrzahl der in den
USA registrierten Stammzelllinien uncharaktisiert sei und damit der biologischen Definition von „Linien“ nicht entspreche. Die Formulierung „Stammzellen“ müsse unbedingt ins Gesetz, wolle
man die Forschung nicht behindern.
Gegner der Forschung an menschlichen Embryonen sehen hinter der geänderten Formulierung jedoch die Gefahr
der Ausweitung und des Missbrauchs.
Das „Herstellungsdatum“ sei nicht
mehr nachweisbar, wenn Stammzellen
importiert werden könnten, aus denen
erst später Stammzelllinien gezüchtet
133
D O K U M E N T A T I O N
würden, befürchtet Dr. Ingrid Schneider, Institut für Politikwissenschaft der
Universität Hamburg. Zudem sollte
nach ihrer Ansicht im Gesetz verankert
werden, dass nur kryokonservierte Embryonen zur Herstellung von Stammzelllinien verwendet werden dürfen.
Ansonsten sei nicht gewährleistet, dass
diese tatsächlich „überzählig“ seien.
Ein Streitpunkt war bei der Anhörung
erneut die Stichtagsregelung – obwohl
sich die Abgeordneten bereits Ende Februar auf den 1. Januar 2002 als Stichtag
geeinigt hatten. Damit waren sie der
Vorgabe des Bundestagsbeschlusses
nachgekommen, nur den Import von
Stammzelllinien zu erlauben, die vor einem bestimmten Stichtag hergestellt
wurden. Die Forschungspolitiker um Peter Hintze, Katharina Reiche (beide
CDU) und Ulrike Flach (FDP) fordern
jedoch eine liberalere Genehmigungspraxis und einen flexiblen Stichtag. Dabei soll jeweils zwischen dem Antrag der
Forscher auf Import und der Herstellung
der Stammzellen ein bestimmter Zeitpunkt liegen, beispielsweise sechs Monate, wie Flach meint. Behielte man die
vorgesehene Stichtagsregelung bei, wür-
de dies bedeuten, dass sich die Forscher
auf wenige Stammzelllinien beschränken müssten.
Die Naturwissenschaftler unterstützen diesen Vorschlag. Für die Grundlagenforschung reichten die Stammzelllinien, die den deutschen Forschern
durch die bisherige Stichtagsregelung
zur Verfügung stünden, zwar aus, die
Entwicklung von Therapien wäre jedoch nicht möglich, erklärte Friedrich.
Als Gründe führte die Biologin einerseits die geringe Anzahl der Stammzelllinien an, andererseits aber deren Kontaminierung mit tierischen Zellen und
Viren. In der Tat basieren die meisten
der etwa 80 weltweit existierenden und
in den USA registrierten Stammzelllinien auf Mausnährzellen und können
„verseucht“ und somit für die Anwendung am Menschen ungeeignet sein.
Prof. Dr. Dr. h. c. Rüdiger Wolfrum,
Max-Planck-Institut für ausländisches
Recht und Völkerrecht, Heidelberg, hat
rechtliche Bedenken bezüglich der Stichtagsregelung. Der § 5 des neuen Stammzellgesetzes spreche nicht nur von
Grundlagenforschung,sondern nenne als
Ziel auch die Entwicklung diagnostischer, präventiver und therapeutischer
Verfahren zur Anwendung beim Menschen. Dies müsse bei der Stichtagsregelung bedacht werden, wenn das Gesetz
Heft 16, 19. April 2002
Kirchen
Feilschen um den Stichtag
einige Jahre gültig sein solle. Ein weiteres
Problem sei die rechtliche Verfügbarkeit
der Stammzelllinien. Denn auf die amerikanischen Zelllinien sind meist Patente
angemeldet. Jede Forschung bedarf der
Genehmigung der Verwertungsfirmen.
Die Firma Gerold besitze sogar die Lizenz auf die Herstellung der Stammzelllinien, argumentiert Schneider. „Alle Forscher müssen somit dieses Patent beachten. Nicht der Stichtag schreibt das Monopol der Stammzellanbieter vor, sondern das internationale Patentrecht.“
Die Vertreter der evangelischen und
katholischen Kirche sind enttäuscht
über die Ausgestaltung des Gesetzes.
Besonders beklagen sie die „ungleichmäßige“ Zusammensetzung der zentralen Ethikkommission der Zulassungsbehörde, die die Erfüllung der Auflagen
überprüfen und entscheiden soll, ob die
Forschungsprojekte ethisch vertretbar
sind. Die Kommission soll sich aus fünf
Naturwissenschaftlern und Medizinern,
aber nur aus vier Ethikern und Theologen zusammensetzen. Juristen warnten
vor zu einschneidenden Regelungen im
Gesetz. Es laufe dadurch Gefahr, verfassungswidrig zu sein. Die Hürden, die
es setze, müssten bewältigbar bleiben.
Die „Haltbarkeitsdauer“ des Gesetzes
ist ihrer Meinung nach sowieso bereits
Dr. med. Eva A. Richter
eng begrenzt.
Absage an PID
D
ie Vertreter der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland sind
sich einig: In einer Stellungnahme anlässlich der „Woche für das Leben“ betonen Präses Manfred Kock und Kardinal
Karl Lehmann, dass für die Kirchen „die
Erkenntnis maßgeblich ist, dass menschliches Leben mit der Befruchtung von
Ei- und Samenzelle beginnt. Der
Mensch entwickelt sich von diesem Zeitpunkt an nicht mehr zum Menschen,
sondern als Mensch.“
Folglich lehnen sie auch die „Vernutzung menschlicher Embryonen, wie sie
bei der embryonalen Stammzellforschung geschieht, aus christlicher Sicht
entschieden ab, selbst wenn sie zugunsten der Heilung anderer Menschen angestrebt wird.“ Denn die Gewinnung
134
menschlicher embryonaler Stammzellen ist, wie die Kirchen betonen, nur
durch die Vernichtung von Embryonen
möglich. Die Präimplantationsdiagnostik (PID) stößt ebenfalls auf scharfe
Kritik. Im Gegensatz zur Pränataldiagnostik diene die Präimplantationsdiagnostik keinerlei therapeutischen
Zwecken, sondern sei allein auf die Selektion von menschlichem Leben ausgerichtet. Einen Anspruch auf ein Kind,
gar auf ein gesundes Kind, gebe es nicht.
Die Kirchen wollen es jedoch nicht bei
dieser Stellungnahme belassen, sie wollen auch auf die Politik einwirken. Sie bedauern den Beschluss des Bundestages
zum Import embryonaler Stammzelllinien und hoffen, dass die strikte Begrenzung des Imports embryonaler Stamm-
zellen im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nicht aufgeweicht werde. Der
Beschluss des Bundestages müsse so umgesetzt werden, „dass das grundsätzliche
Nein zum Import und der Koppelung der
ausnahmsweisen Zulassung an enge Voraussetzungen auch deutlich wird“, so
Kock. In Bezug auf die PID begrüßen die
Kirchen das „Votum der Enquete-Kommission und hoffen, dass der Bundestag
diesem Votum folgen wird“.
Ob die Kirchen tatsächlich Einfluss auf
politische Entscheidungen nehmen werden, bleibt abzuwarten. Die ökumenische
„Woche für das Leben“, auf der sie gemeinsam ihre Standpunkte vertreten, ist
jedenfalls ein Beitrag zur Debatte über
medizinethische Themen, der nicht überGisela Klinkhammer
hört werden sollte.
D O K U M E N T A T I O N
Heft 17, 26. April 2002
Stammzellgesetz
Klarheit oder Kompromiss
D
em Stammzellgesetz, das den Import menschlicher embryonaler
Stammzellen nach Deutschland regeln
soll, scheint das Schicksal so mancher
Kompromisse zu drohen. Es wird von
mehreren Seiten gleichzeitig angegriffen und könnte bei der zweiten Lesung
des Gesetzentwurfs an diesem Freitag
im Bundestag zerrissen werden.
Die Vorsitzende des Forschungsausschusses, Ulrike Flach (FDP), will die
Stichtagsregelung aufweichen und für jedes Forschungsprojekt einen eigenen
Stichtag durchsetzen. Die Grünen-Abgeordnete Monika Knoche will sich dagegen gemeinsam mit Wolfgang Wodarg
(SPD) und Hubert Hüppe (CDU) für ein
eindeutiges Importverbot einsetzen. Damit wäre die Ausgangssituation der Bun-
destagsdebatte zum Stammzellimport
vom 30. Januar wieder hergestellt: „Ja“
kontra „Nein“ kontra „Konsens“.
Bei den mitberatenden Ausschüssen
bestehen bis jetzt große Differenzen über
die Ausgestaltung des Gesetzes.Während
der federführende Bundestagsausschuss
für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung einem geänderten Entwurf des Stammzellgesetzes mit großer
Mehrheit zustimmte, lehnte der Rechtsausschuss diesen grundsätzlich ab.
Sachverständige hatten bei einer Anhörung im März (DÄ, Heft 22/2002) bereits den Gesetzentwurf von Dr. Maria
Böhmer (CDU), Wolf-Michael Catenhusen (SPD) und Andrea Fischer
(Bündnis 90/Die Grünen) kritisiert.
Diese versuchen jetzt wieder einen
Spagat und haben den Entwurf geändert. Danach sollen Stammzellen statt
Stammzelllinien importiert werden.
Der Begriff wird allerdings konkretisiert. Als Stichtag für die Erzeugung der
Stammzellen soll weiterhin der 1. Januar
2002 gelten. Die Gewinnung soll sich
nach den Rechtsvorschriften des Herkunftslandes richten, aber auch den
Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung folgen.
Die Abstimmung im Bundestag wird
vermutlich namentlich und ohne Fraktionszwang erfolgen (über den aktuellen
Stand informiert der tägliche Nachrichtendienst des DÄ im Internet unter
www.aerzteblatt.de).Vielleicht setzt man
ja diesmal auf Klarheit statt auf einen verwaschenen Konsens. Dr. med. Eva A. Richter
Heft 18, 3. Mai 2002
Entscheidung zum Stammzellgesetz
Die Tür steht einen Spalt offen
Die Mehrheit des Bundestages plädierte dafür, den Import von
menschlichen embryonalen Stammzellen unter Auflagen zu erlauben.
S
elig sind die, die Frieden stiften“, zitierte Margot von Renesse aus der
Bergpredigt und meinte damit diejenigen, die zwei Stunden später nochmals
für den Kompromiss zum Import von
menschlichen embryonalen Stammzellen stimmen würden. Dies taten am
Abend des 25. April zwei Drittel der 563
anwesenden Bundestagsabgeordneten.
Sie verabschiedeten in zweiter und dritter Lesung den Gesetzentwurf von Dr.
Maria Böhmer (CDU), Wolf-Michael
Catenhusen (SPD), Andrea Fischer
(Bündnis 90/Die Grünen) und Margot
von Renesse (SPD), der den Beschluss
des Bundestages vom 30. Januar in geltendes Recht umsetzen soll. Erlaubt ist
nun der Import von embryonalen
Stammzellen, die vor dem 1. Januar 2002
im Ausland hergestellt wurden, sofern
das Gesetz im Mai (wie allgemein erwartet wird) den Bundesrat passiert.
Die Diskussion in der vergangenen
Woche war die etwas kleinere Neuauflage der Bundestagsdebatte vom 30. Januar. Allein ihrem Gewissen verpflichtet, stimmten die Abgeordneten wieder
namentlich und ohne Fraktionszwang
über drei Varianten ab: über ein „Nein“
oder ein „Ja“ zur Stammzellforschung
sowie über die Kompromisslösung. Für
diese plädierten 360 Abgeordnete; für
das „Nein“ 190. Der forschungsfreundliche Antrag der FDP, in dem Ulrike
Flach einen flexiblen Stichtag forderte,
fiel bereits vorher ohne namentliche
Abstimmung durch. Die Neuauflage
der Debatte zeigt, dass der im Januar erzielte Kompromiss nur eine Notlösung
war. Ein Konsens, der offensichtlich vie-
len Bauchschmerzen bereitete. Der Gesetzentwurf konnte keine Brücken zwischen Importgegnern und Befürwortern bauen. Im Gegenteil: Er verschärfte die Situation.
„Ein bioethischer Eiertanz – der Bundestag wird hinters Licht geführt“, kritisierte Wolfgang Wodarg (SPD) den Entwurf. Dieser hielte nicht, was der Beschluss vom Januar versprochen hätte,
nämlich lediglich eine Genehmigung
des Importes von Stammzellen aus etablierten embryonalen Stammzelllinien.
„Stattdessen erlaubt das Gesetz den
Import von kultivierten und kryokonservierten Stammzellen, die dann in
Deutschland vermehrt werden können“,
sagte Wodarg. Der SPD-Abgeordnete
plädierte deshalb dafür, nur den Import
von Stammzellen aus etablierten Zellli-
135
D O K U M E N T A T I O N
Das Gesetz im Überblick
Das vom Bundestag verabschiedete Stammzellgesetz verbietet grundsätzlich die Gewinnung
von menschlichen embryonalen Stammzellen
(ESZ) in Deutschland. Ein Import der Zellen und
die Forschung daran ist nur unter folgenden Bedingungen erlaubt:
> Es dürfen nur ESZ eingeführt werden, die am
1. Januar 2002 bereits vorhanden waren und die
in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsland gewonnen wurden.
> Es müssen hochrangige Forschungsziele verfolgt werden, die mit anderen Zellen nicht zu erreichen sind.
> Die ESZ müssen aus „überzähligen Embryonen“ stammen, die definitiv nicht mehr zur Erzeugung einer Schwangerschaft verwendet werden.
> Den Spendern darf kein Entgelt gezahlt werden.
> Jeder Import und jede Verwendung von ESZ bedarf der Genehmigung der zuständigen Behörde
(Robert Koch-Institut oder Paul-Ehrlich-Institut).
> Eine zentrale Ethikkommission, der neun Sachverständige aus Biologie, Medizin, Ethik und
Theologie angehören, muss die Projekte begutachten.
> Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnisoder Geldstrafen geahndet.
> Anstiftung oder Beihilfe zu einer nach deutschem Recht strafbaren Verwendung von ESZ im
Ausland werden gleichfalls bestraft.
nien zu gestatten, die „stabilisiert, vermehrbar und hinreichend charakterisiert
sind“. Sein Antrag wurde abgelehnt.
„Die ethische Wanderdüne hat sich
bereits in Bewegung gesetzt“, kommentierte Hubert Hüppe (CDU). Gemeinsam mit Monika Knoche (Bündnis
90/Die Grünen) forderten Hüppe und
Wodarg ein generelles Importverbot.
Dagegen sprächen keinerlei rechtliche
Gründe, verteidigten sie ihren Antrag.
„Der Mittelweg ist kein Ausweg“, sagte
Knoche. Nicht grundsätzliche philosophische und ethische Argumentationen
seien jetzt wichtig, sondern der harte
Gesetzestext. „Darin darf keine Doppelmoral stecken.“ Das für den Gesetzentwurf verantwortliche Quartett Böhmer, Fischer, Catenhusen und von Renesse verteidigte diesen. „Für die deutsche Forschung hat kein Embryo das
Leben zu lassen.Wir haben den Auftrag
des Parlaments loyal erfüllt“, sagte die
Juristin Margot von Renesse.
Bereits bei einer Anhörung des federführenden Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
im Bundestag am 11. März war Kritik am
136
Entwurf laut geworden. Bemängelt hatten Sachverständige, dass lediglich „nach
dem Recht des Herkunftslandes dazu
berechtigte natürliche Personen“ der
Stammzellgewinnung zustimmen müssen; sich die zentrale Ethikkommission
hauptsächlich aus Naturwissenschaftlern zusammensetzen soll und deutsche
Forscher im Ausland straffrei mit jenen
menschlichen embryonalen Stammzellen forschen können, die nicht nach
deutschen Bedingungen gewonnen wurden. „Darauf haben wir reagiert“, sagte
von Renesse. Der Zustimmungspassus
wurde gestrichen. Für die Gewinnung
von Stammzellen dürfen jetzt nur Embryonen verwendet worden sein, die
zum Zwecke einer Schwangerschaft extrakorporal erzeugt, aber endgültig
nicht mehr dafür verwendet werden.
Gendefekte dürfen nicht festgestellt
worden sein. Der Begriff „embryonale Stammzelle“ wird zudem genau
definiert. Einen Tag vor der abschließenden Beratung legten Böhmer, Fischer
und von Renesse einen weiteren Änderungsantrag vor (Catenhusen klinkte
sich aus). Dieser beharrt auf den Vorschriften des Strafgesetzbuches. Das
Parlament nahm den Antrag an. Damit
bleibt ein deutscher Forscher strafbar,
wenn er im Ausland Forscher anstiftet
oder Beihilfe leistet, embryonale
Stammzellen zu gewinnen oder in anderer Weise zu verwenden, als es das deutsche Gesetz vorschreibt.
Besonders schwer tat sich nach eigenen Angaben Andrea Fischer mit der
Arbeit am Gesetzentwurf. „Ich habe
mich immer wieder gefragt, ob ich meine
eigene Position verrate“, sagte sie.
„Denn bei Leben und Tod kann es keinen Kompromiss geben. Unser Entwurf
ist jedoch keiner.“ Das Embryonenschutzgesetz werde auf Dauer festgeschrieben. „Wir beziehen uns nur auf die
unabänderliche Vergangenheit.“ Diese
Ausnahme müsse man machen, um sich
den Widersprüchen zu stellen, erklärte
Fischer. Viele Menschen würden große
Hoffnung in die Stammzellforschung
setzen. „Die Forschung hat uns Brücken
gebaut, wir sollten das jetzt auch tun.“
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte die Bundestagsdebatte im Januar abgewartet, bevor sie ihrerseits entschied, Forschungsprojekte
an menschlichen embryonalen Stammzellen zu fördern. Der DFG-Präsident,
Prof. Dr. med. Ernst-Ludwig Winnacker,
zeigte sich jetzt erleichtert über die Verabschiedung des Stammzellgesetzes. Zufrieden ist er mit dem Stichtag allerdings
nicht. „Wir können mit dieser Regelung
leben“, äußerte sich Winnacker vorsichtig. Kritik übte er an der ins Gesetz aufgenommenen Strafbewehrung. Diese
müsse überdacht werden, falls deutsche
Wissenschaftler im internationalen Kontext handlungsunfähig würden.
„Kleinstes Übel“ oder „Besser den
Spatz in der Hand“ – die Beweggründe
der Abgeordneten, die für den Gesetzentwurf stimmten, waren unterschiedlich. Wie lange das verabschiedete
Stammzellgesetz Bestand haben wird,
ist fraglich. „Ich sehe das gelassen“, sagt
Ulrike Flach (FDP), die mit ihrem Antrag auf einen flexiblen Stichtag scheiterte. „Wenn sich Forschungserfolge
zeigen, wird das Gesetz sowieso geänDr. med. Eva A. Richter
dert.“
DÄ: Beiträge zu Embryonenforschung
Seit der Veröffentlichung des „Diskussionsentwurfs zu einer Richtlinie zur
Präimplantationsdiagnostik“ (DÄ, Heft 17/2000) läuft der Diskurs nicht nur
über die Präimplantationsdiagnostik (PID), sondern auch über Embryonenforschung. Das Deutsche Ärzteblatt hat sich intensiv an dieser Diskussion beteiligt
und die unterschiedlichsten Stimmen zu Wort kommen lassen. Eine Zusammenstellung der Beiträge kann über das Internet unter www.aerzteblatt.de
abgerufen werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die veröffentlichten
Beiträge keineswegs in jedem Fall mit der Meinung der Redaktion decken.
Die Diskussion wird fortgeführt.
DÄ
Ergänzende Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der
Bundesärztekammer
zum
Diskussionsentwurf zu einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik
Die Bundesärztekammer hat im März 2000 der Öffentlichkeit einen Diskussionsentwurf zu
einer Richtlinie zur Präimplantationsdiagnostik (PID1) vorgestellt. Dieser Entwurf ist
kontrovers diskutiert worden.
Der Wissenschaftliche Beirat2 hat anhand der Einwendungen den Entwurf überprüft. Er hält
an seiner Position fest, wonach die PID im Einzelfall bei Verdacht auf die Entstehung einer
schwer wiegenden genetischen Erkrankung in engen Grenzen und unter Einhaltung strikter
Verfahrensregeln aus medizinischen, ethischen und rechtlichen Gesichtspunkten vertretbar
ist. Die kontroverse öffentliche Diskussion hat gezeigt, dass eine rechtliche Klärung der
Zulässigkeit der PID durch den Gesetzgeber notwendig ist. Eine Richtlinie der
Bundesärztekammer reicht deshalb nicht aus, weil in der Diskussion unterschiedliche
Positionen zu grundrechtlichen Fragestellungen und zur Frage, ob die PID nach dem
geltenden Embryonenschutzgesetz (ESchG) zulässig ist, hervorgetreten sind.
Embryonenschutzgesetz (ESchG)
Nach unserer Interpretation des ESchG ist die PID nicht verboten.
Es ist die Ansicht vertreten worden, die PID verstoße gegen § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG. Bei der
PID werde eine Eizelle zu einem anderen Zweck befruchtet, als die Schwangerschaft bei der
Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt. Die Befruchtung erfolge nicht, um direkt
eine Schwangerschaft zu veranlassen, sondern um eine Selektionsmöglichkeit zu eröffnen,
den Embryo zu prüfen und erst danach zu entscheiden, ob eine Schwangerschaft
herbeigeführt werden solle.
Zweifelsfrei ist das Ziel der extrakorporalen Befruchtung die Herbeiführung einer
Schwangerschaft. Das kann, wenn eine PID vorgesehen ist, nicht deshalb verneint werden,
weil ein Teilakt (der Transfer) noch von weiteren Voraussetzungen, nämlich der Zustimmung
der Frau zum Transfer nach genetischem Test, abhängig gemacht wird. Die Zielsetzung wird
auch dann nicht unwirksam, wenn der Erfolg noch unsicher und von Zwischenbedingungen
1
2
Auf Grund der weiten Verbreitung der Abkürzung PID innerhalb der in Deutschland geführten Diskussion wird sie der
international gebräuchlichen Abkürzung PGD ("Preimplantation Genetic Diagnosis" (=PGD) in dieser Stellungnahme
vorgezogen.
Diese Ergänzende Stellungnahme hat der Wissenschaftliche Beirat am 15.12.2001 beschlossen.
2
abhängig ist. Eine andere Auslegung des Gesetzestextes wäre verfassungsrechtlich
verbotene Analogie (Art. 103 II GG).
Die PID stellt auch keinen Verstoß gegen § 2 EschG dar, der verbietet, einen extrakorporal
erzeugten Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden. Der auf
Grund eines genetischen Tests nicht transferierte Embryo wird nicht fremdnützig "verwendet". Die Unterlassung der Weiterkultivierung mit der Folge des Absterbens stellt keine
fremdnützige Verwendung dar, da durch die Unterlassung der Weiterkultivierung eine
Verwendung gerade nicht erfolgt.
Verfassungsrecht
Die PID verstößt auch nicht gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, insbesondere verletzt
sie nicht die Menschenwürde (Art. 1 GG) und das Recht auf Leben (Art. 2 II GG).
Neues, individuelles menschliches Leben beginnt mit der chromosomalen Vereinigung der
Zellkerne von Ei- und Samenzelle und ist verfassungsrechtlich prinzipiell geschützt.
Mit der extrakorporalen Befruchtung in Verbindung mit PID in dem im Diskussionsentwurf
vorgesehenen Umfang ist keine Verletzung der Menschenwürde des Embryo verbunden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts läge sie vor, wenn ein Mensch
zum bloßen Objekt herabgewürdigt, verächtlich gemacht und willkürlich behandelt wird. Dies
trifft bei der PID mit der Möglichkeit der Unterlassung des Transfers bei einer Feststellung
schwerer genetischer Schäden nicht zu. Denn extrakorporale Befruchtung und PID erfolgen
nur mit dem Ziel, eine Schwangerschaft herbeizuführen und eine schwerwiegende
genetische Erkrankung auszuschließen.
Die Einschränkung des Rechts auf Leben kann durch Gesetz entsprechend der
Rechtfertigung eines Schwangerschaftsabbruchs erlaubt sein. Zwar liegt zum Zeitpunkt der
PID ein Konflikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und einer gesundheitlichen
Gefährdung der Frau wie beim Schwangerschaftsabbruch noch nicht unmittelbar vor, da sich
der Embryo noch in vitro befindet. Die Konfliktsituation ist aber vergleichbar, sie wird jedoch
– da absehbar - bei der PID antizipiert: Das Lebensrecht des Embryos steht im Konflikt mit
der befürchteten gesundheitlichen Gefährdung der Frau.
Gegen die PID wird angeführt, dass es ein verfassungsrechtlich begründbares Recht auf ein
gesundes Kind nicht gebe. Dem ist zuzustimmen.
Bei der eng begrenzten Anwendung der PID geht es allerdings nicht um die Erfüllung
positiver Rechtsansprüche, sondern um die Möglichkeit zur Abwehr grundrechtsrelevanter
3
Gesundheitsrisiken der Frau unter der Annahme verfassungsrechtlich garantierter
Fortpflanzungsfreiheit.
Indikationen
Der Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer sieht eine enge, sehr begrenzte
Indikationenlösung für die PID vor. Sie soll nur zulässig sein bei solchen Paaren, bei denen
ein hohes Risiko für eine schwerwiegende genetisch bedingte Erkrankung der Nachkommen
besteht. Nur eine solche, auf den antizipierten Konflikt zwischen Frau und Embryo
abstellende Lösung ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Damit wird zum einen eine
befürchtete beliebige Selektion nach jeweils erwünschten Eigenschaften und eine allgemeine
eugenisch orientierte Nachwuchsplanung ausgeschlossen. Außerdem wird eine Ausweitung
der PID als allgemeines Screeningverfahren in der Fortpflanzungsmedizin damit verhindert.
Das gilt auch für den Einsatz der PID etwa zur Steigerung der Erfolgsrate extrakorporaler
Befruchtungsmaßnahmen.
Einer Ausweitung der PID auf nicht sterile Paare ohne hohes Risiko einer schweren
genetischen Erkrankung steht im Übrigen schon praktisch die physische und psychische
Belastung durch die für die PID erforderlichen Verfahren der assistierten Reproduktion
entgegen.
Die Indikation für eine PID ist in jedem Einzelfall in Abwägung des Schutzes des
ungeborenen Lebens gegenüber der Belastung der Frau unter Berücksichtigung des
Schweregrades und der Therapiemöglichkeiten der zu erwartenden Erkrankung des Kindes
zu prüfen. Eine Festlegung auf bestimmte Krankheiten verbietet sich schon, um eine
regelhafte Anwendung der PID bei bestimmten Krankheitsrisiken auszuschließen. Es kann
nur eine auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Indikation geben.
Überzählige Embryonen
Gegen die PID wird vorgebracht, dass sie die Tür öffne für Forschung - insbesondere
Stammzellforschung - an überzähligen Embryonen. Zur Verbesserung der Effizienz der PID
werden in den meisten einschlägigen Zentren im Ausland mehr als drei Embryonen
gleichzeitig untersucht. Dennoch hält der Diskussionsentwurf daran fest, dass entsprechend
der geltenden Rechtslage (§ 1 Abs. 3 ESchG) nicht mehr als drei Embryonen pro Zyklus
erzeugt werden dürfen, so dass nicht von vorneherein überzählige Embryonen entstehen.
Außerdem sieht der Diskussionsentwurf vor (Abschnitt 4.3.), dass die mit der in Frage
stehenden genetischen Veränderung nicht transferierten Embryonen weder kultiviert,
kryokonserviert noch anderweitig verwendet werden dürfen.
4
Fazit
Zulässigkeit und Indikationsgrundlage für die PID sollten gesetzlich festgelegt werden. Dabei
sollte – wie im Diskussionsentwurf vorgeschlagen – an einer Beschränkung auf eine
bekannte und schwerwiegende genetisch bedingte Erkrankung festgehalten werden. Das
Verfahren für die Zulassung der PID sollte auf Grund gesetzlicher Ermächtigung berufsrechtlich geregelt werden.
Mitglieder der Arbeitsgruppe
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. H. M. Beier, Direktor des Instituts für Anatomie und Reproduktionsbiologie der Medizinischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen
Prof. Dr. med. K. Diedrich, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Medizinische Universität zu Lübeck
Prof. Dr. med. W. Engel, Direktor des Instituts für Humangenetik der Universität Göttingen
Prof. Dr. med. H. Hepp, Direktor der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Klinikum Großhadern, München (federführend)
Prof. Dr. theol. M. Honecker, Evangelisch-theologische Fakultät der Universität Bonn,
Abteilung für Sozialethik
Prof. Dr. med. E. Nieschlag, FRCP, Direktor des Instituts für Reproduktionsmedizin,
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Prof. Dr. jur. Dr. h. c. mult. H.-L. Schreiber, Direktor des Juristischen Seminars der Universität Göttingen
Prof. Dr. med. K.-F. Sewing, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer (bis 07/2002), Hannover
RA’in U. Wollersheim, Rechtsabteilung der Bundesärztekammer, Köln
Dr. med. Chr. Woopen, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln,
Institut für Wissenschaft und Ethik, Bonn
Prof. Dr. med. H.-B. Wuermeling, em. Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität
Erlangen-Nürnberg (Ablehnung)
Geschäftsführung
Dezernat Wissenschaft und Forschung
Bundesärztekammer
Herbert-Lewin-Str. 1
50931 Köln
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