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Kritik des Strafgedankens - abschließende Thesen
Kury, Helmut; Scherr, Albert
Veröffentlichungsversion / Published Version
Zeitschriftenartikel / journal article
Zur Verfügung gestellt in Kooperation mit / provided in cooperation with:
Centaurus-Verlag
Empfohlene Zitierung / Suggested Citation:
Kury, Helmut ; Scherr, Albert: Kritik des Strafgedankens - abschließende Thesen. In: Soziale Probleme 24 (2013), 1,
pp. 164-173. URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-441235
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Kritik des Strafgedankens – abschließende Thesen
von Helmut Kury und Albert Scherr
Über den Nutzen strafrechtlicher Sanktionen einerseits, ihre sozialen und
ökonomischen Kosten andererseits liegen weitreichende und empirisch gut
gesicherte Erkenntnisse vor. Bilanziert man den Stand der Forschung, wie er
in den Beiträgen zu dieser Ausgabe der ‚Sozialen Probleme‘ deutlich wird,
dann lässt sich pointiert feststellen: Strafen sind generell nur begrenzt zur
Lösung der Probleme geeignet, auf die sie reagieren und bei Gefängnisstrafen
sind die unerwünschten Nebenwirkungen, die humanen und sozialen Folgen
offenkundig, ihr Beitrag zur Verhinderung von Kriminalität ist ersichtlich
gering. Sie sind zweifellos bei den relativ wenigen gefährlichen Gewalttätern
nicht verzichtbar, bei denen es darum geht, ihre voranschreitende „Karriere“
zu stoppen und vor allem auch, weitere Taten zu verhindern. Kriminalpräventiv wirksam sind sie in aller Regel aber nur dann, wenn bei der Sanktion nicht
allein die Bestrafung im Vordergrund steht, sondern mehr eine Verhaltensänderung, die Strafe somit als „Motivation“ hierfür genutzt wird und dem Täter
die Möglichkeit eröffnet wird, bei der „Ausgestaltung“ der Freiheitsstrafe
durch aktive Mitarbeit mitzuwirken, anstelle lediglich die Haftzeit „abzusitzen“.
Das gesellschaftliche Kriminalitätsniveau hängt nach soziologischen und
kriminologischen Forschungsergebnissen vor allem von gesamtgesellschaftlichen Gegebenheiten ab, insbesondere vom Ausmaß der sozialen Ungleichheit, den Bedingungen des Aufwachsens sowie im Fall von Gewaltkriminalität nicht zuletzt mit dem Niveau und den Formen der gesellschaftlich akzeptierten, der legalen und legitimen Gewalt, nicht aber, oder jedenfalls kaum,
von der Härte der Sanktionen (Thome/Birkel 2007). Diese grundlegenden
Einsichten, die zweifellos im Hinblick auf jeweilige Deliktbereiche zu differenzieren sind und genauere Betrachtungen erfordern, wurden im Kern durch
zahlreiche internationale Studien immer wieder bestätigt.
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Es ist von vornherein verfehlt, das Strafrecht und seine Sanktionen als
zentrales Mittel zur Begrenzung und Verhinderung von Delikten zu begreifen. Dies wurde erneut exemplarisch im folgenreichen Scheitern der Drogenpolitik US-amerikanischer Prägung deutlich, die mit harten Strafen für geringe Delikte zu einem massiven Anstieg der Gefängnisinsassen, nicht aber zu
einer Verringerung von Drogenabhängigkeit und der damit verbundenen Beschaffungskriminalität sowie der höchst profitablen illegalen Drogenökonomie geführt hat. Die Effekte der Entkriminalisierung des Drogenkonsums in
Portugal und der systematischen Einleitung von Hilfsmaßnahmen für die Abhängigen belegen ein weiteres Mal den geringen Effekt von Kriminalstrafen,
vor allem, wenn diese nicht mit gezielten Behandlungsprogrammen verbunden werden, sich lediglich auf einen „War on Drugs“ nach US-amerikanischem Modell beschränken.
Die erwähnten – keineswegs neuen – Einsichten haben, historisch betrachtet, dazu geführt, dass gesellschaftlich gelernt wurde, dass es möglich
und sinnvoll ist, den Anteil von unbedingten Freiheitsstrafen an allen strafrechtlichen Sanktionen zu reduzieren und diese zu einem erheblichen Teil
durch bedingte Strafen auf Bewährung, Geldstrafen sowie Formen des TäterOpfer-Ausgleichs zu ersetzen, ohne dadurch die Innere Sicherheit zu gefährden. Finnland etwa lieferte dafür einen empirischen Beleg. Auch in Deutschland nahm die Sanktionshärte in den letzten ca. 150 Jahren deutlich ab – ohne
dass dadurch die Begehung von Straftaten begünstigt wurde. Die Abschaffung der Todesstrafe 1949 bewirkte keineswegs – wie anfangs teilweise befürchtet – einen Anstieg der Schwerkriminalität; anfangs von der Mehrheit
der Bevölkerung abgelehnt, wird diese Entscheidung inzwischen weitgehend
akzeptiert und für gut befunden.
Dieser Lernprozess, der in den 1970er Jahren zu einer auch politisch einflussreichen wissenschaftlichen Kritik des Strafvollzugs geführt hat, setzt
sich jedoch keineswegs fort. In einer internationalen Perspektive lässt sich
vielmehr feststellen, dass eine umgekehrte Tendenz einflussreich ist, deren
Vorreiter die USA waren: In neoliberalen Gesellschaftsmodellen verbindet
sich die Forderung nach einem Abbau sozialstaatlicher Leistungen mit dem
Plädoyer für härtere strafrechtliche Sanktionen; ein sozialpolitisch schwacher
Staat soll zugleich ein kriminalpolitisch starker Staat sein. Dies hat in den
USA zu einem dramatischen und weltweit einmaligen Anstieg der Inhaftiertenraten geführt.
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Eine analoge Entwicklung zeichnet sich nach Ansicht der meisten Kriminologen in Deutschland und Mitteleuropa bislang nicht ab. In Deutschland
hat man in den letzten Jahrzehnten eine Kriminalpolitik betrieben, die in die
richtige Richtung weist, dieser Weg sollte weiter beschritten und ausgebaut
werden, eine Umkehr ist nicht sinnvoll. Die polizeilich registrierte Gesamtkriminalitätsbelastung ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren durchgängig rückläufig. Wurden 1993 noch 6.750.613 Straftaten registriert (Gesamthäufigkeitszahl HZ: 8.337), waren es 2011 5.990.679 (HZ: 7.328). Die Zahl
der Tötungsdelikte, einschließlich der Versuche, ging im selben Zeitraum auf
nahezu die Hälfte zurück, ebenso zeigt sich bei sexuellem Missbrauch von
Kindern seit Ende des letzten Jahrhunderts, entgegen vieler Mediendarstellungen, ein deutlicher Rückgang, dasselbe gilt für Raubdelikte (Bundeskriminalamt 2012: 32, 147, 151, 157). Andere Straftaten, wie Vergewaltigung
und sexuelle Nötigung, vor allem aber Körperverletzungsdelikte, sind im selben Zeitraum gestiegen, wobei sich bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung in den letzten vier Jahren wiederum ein Rückgang abzeichnet (S.
166).
Die kriminalpolitischen Entwicklungen etwa in Finnland und Portugal
zeigen, dass es möglich ist, strafrechtliche Sanktionen erheblich zu reduzieren, ohne dass dies zu einer Ausweitung von Kriminalität führt. Ganz im Gegenteil zeigt sich, dass eine auf Entkriminalisierung, gesundheitliche und soziale Hilfen setzende Drogenpolitik erheblich erfolgreicher ist als der Glaube
an die Macht der Strafen.
Fragt man danach, warum Forderungen nach einer Verschärfung strafrechtlicher Sanktionen in Deutschland gleichwohl immer wieder politisch
formuliert werden und eine Debatte über die Möglichkeiten einer weiteren
Reduzierung von Gefängnisstrafen und der Zahl der Inhaftierten nicht in
Gang kommt, dann ist es erforderlich, die nicht-rationalen Annahmen, Motive und Erwartungen in den Blick zu nehmen, die in die Thematisierung von
Kriminalität und justiziellen Sanktionen eingehen. Sicher haben auch die
Medien einen erheblichen Einfluss auf die Sichtweise der Kriminalität in der
Öffentlichkeit, die vor allem spektakuläre Fälle in vielfach einseitiger und
verkürzter Weise aufgreifen, um damit ihre eigenen (Verkaufs-)Interessen zu
bedienen, damit aber zu einem erheblich verzerrten Bild von Taten und Tätern beitragen (Hestermann 2011).
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Wir versuchen im Weiteren, u. E. zentrale Aspekte des Strafgedankens
und deren Problematik pointiert aufzuzeigen.
Es scheint trivial zu sein, diesbezüglich zunächst anzumerken, dass das
Strafrecht als notwendige Reaktion auf ‚Kriminalität‘ gilt, als ein unverzichtbares Mittel, um die Gesellschaft und ihre Bürger vor der Bedrohung durch
Kriminalität zu schützen. Das impliziert ersichtlich die Unterstellung, dass
alles das, was im strafrechtlichen Sinne Kriminalität ist, eine ernst zu nehmende Bedrohung darstellt. Für den in medialen Darstellungen und politischen Diskursen prototypischen Fall von Kriminalität, d. h. für schwere Gewaltdelikte, den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und
Vergewaltigung ist dies zweifellos nicht zu bestreiten. Diese sind jedoch nur
ein sehr geringer Teil der Kriminalitätswirklichkeit. 2011 lag der Anteil der
Straftaten gegen das Leben von allen polizeilich registrierten Straftaten bei
0,1 Prozent, bei den Sexualdelikten waren dies 0,8 Prozent (Bundeskriminalamt 2012: 33). Zahlreiche andere Formen von Kriminalität – wie etwa Ladendiebstahl (einfacher Diebstahl: 21,5 %; schwerer Diebstahl: 18,6 %),
Schwarzfahren und Schwarzarbeit, der Konsum illegaler Drogen oder Verstöße gegen das Ausländerrecht – sind jedoch keineswegs in gleicher Weise
als massive Bedrohung qualifizierbar. Für einige Delikttypen lässt sich zudem argumentieren, dass sie keineswegs notwendig als gesellschaftlich inakzeptable und zu sanktionierende Delinquenz gelten müssen, sondern dass es
durchaus entscheidbar ist, ob sie in den Bereich der sozial tolerierbaren Abweichungen von der Normalität einzuordnen sind. Entkriminalisierungen im
Laufe der Jahrzehnte deuten auf einen entsprechenden Einstellungswandel
hin.
Für eine Versachlichung kriminalpolitischer Debatten wäre es deshalb erforderlich, zunächst einen nüchternen Blick auf die Kriminalitätswirklichkeit
einzunehmen, der weder verharmlost und romantisiert, noch dramatisiert und
moralisiert. Kriminalität wäre nicht als ein einheitliches Phänomen, sondern
als ein Spektrum höchst unterschiedlicher Verhaltensweisen und Problemlagen in den Blick zu nehmen, die keineswegs gleichermaßen bedrohlich sind
und für die es jeweils spezifisch zu entscheiden gilt, ob Sanktionen bzw.
welche Sanktionen zwingend sind. Es wäre dabei ein erheblicher Fortschritt,
wenn freiheitsentziehende Maßnahmen in der Folge unter Berücksichtigung
der inzwischen vorliegenden empirischen Forschung noch mehr als eine Ultima Ratio betrachtet würden – und nicht als ein prinzipiell bei allen Delikten
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problemlos anwendbares Mittel. Denn die in der öffentlichen Diskussion dominanten Fälle von Kriminalität (wie Mord, schwerer sexueller Kindesmissbrauch) sind vergleichsweise ausgesprochen selten. Im Strafvollzug sitzen
größtenteils Täter, die entlassen werden könnten, ohne die Innere Sicherheit
wesentlich zu gefährden – nach informierten Schätzung sind dies bis zur
Hälfte der derzeit in Deutschland Inhaftierten. Finnland liefert ein überzeugendes Beispiel, dass weniger Inhaftierungen nicht zwangsläufig zu mehr
Straftaten führen. Je mehr Information die Öffentlichkeit über Kriminalfälle,
die Kriminalitätswirklichkeit hat, umso milder wird die Beurteilung des Falles (Doob/Roberts 1983; Kury/Obergfell-Fuchs 2011; Roberts/Hough 2002;
Sato 2013). Es muss also auch Aufgabe der Kriminologie sein, die Öffentlichkeit aufzuklären.
Fragt man danach, warum Haftstrafen – obwohl offenkundig ist, dass sie
den Inhaftierten und vielfach auch den Angehörigen erhebliches Leid zufügen – gesellschaftlich weithin akzeptiert werden, dann ist zunächst auf Motive der Rache und Sühne und die Erwartung hinzuweisen, dass die Strafe dem
Täter ein Leid zufügen soll, das dem Leid entspricht, das er Anderen zugefügt hat. Die alttestamentarische Formel ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘
beschreibt auch heute noch, wenn auch in abgeschwächter Weise, wirksame
Hintergrundannahmen. Demgegenüber wäre eine verantwortliche politische,
mediale und pädagogische Kommunikation aufgefordert zu verdeutlichen,
dass das moderne Strafrecht Bedürfnisse nach Rache und Vergeltung nicht
befriedigen kann und soll. Der zivilisatorische Fortschritt, den das staatliche
Strafrecht ermöglicht, besteht vielmehr gerade darin, einen Umgang mit Delikten zu ermöglichen, dessen Maßstab nicht – die mehr oder weniger legitimen, mehr oder weniger verständlichen – Strafbedürfnisse von Opfern sind.
Zu betonen wäre deshalb, dass die Funktion des Strafrechts allein darin liegen sollte, zentrale gesellschaftliche Normen zu verdeutlichen sowie soziale
Konflikte zu regulieren. Der zivilrechtliche Schadensausgleich sowie Hilfen
für die Bewältigung der Erfahrungen, die Opfern zugemutet werden, sind davon zu unterscheiden. Den Opfern von Straftaten zu helfen, etwa durch Beratung und Therapie, ist zweifellos eine gesellschaftliche Aufgabe, die aber
nicht dadurch gelöst werden sollte, dass das Strafrecht stellvertretend Rachebedürfnisse ausagiert.
Die empirische Forschung zeigt auch deutlich, dass es den Opfern – eine
Ausnahme mögen jene von extrem schweren Straftaten bilden – entgegen den
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Erwartungen auch vieler Fachleute nicht primär um eine Bestrafung der Täter
geht, mehr um einen Schadensausgleich und ein Bemühen, dass so etwas
nicht nochmals vorkommt. Sessar (1992) fand in seiner Befragung von Opfern von Straftaten vor allem auch Skepsis und Misstrauen gegenüber dem
Strafvollzug. „Dieser wurde nun nahezu einhellig, und fast unabhängig von
sonstigen konservativen oder liberalen Haltungen, als inhuman, ineffektiv
oder rückfallfördernd eingeschätzt; seine Existenzberechtigung wurde ganz
überwiegend in der Sicherung und Vorbeugung im Fall schwerer Taten gesehen, die manche Befragte eher widerwillig, quasi aus einer gewissen Ratlosigkeit heraus einräumten“ (S. 249, vgl. auch Sessar 2010). Bei der letzten
Welle der International Crime and Victimization Survey – EU ICS (Dijk et
al. 2007: 86 ff.) stimmten in den 18 beteiligten Ländern im Falle eines jugendlichen Einbrechers, einem Wiederholungstäter, der ein Farbfernsehgerät
aus einer Privatwohnung gestohlen hat, somit einem relativ schweren, Angst
auslösenden Delikt, als Sanktion durchschnittlich immerhin 49 Prozent für
einen Community Service und lediglich 24 Prozent für eine Freiheitsstrafe –
in Deutschland erwiesen sich die Befragten geringfügig weniger punitiv, 50
Prozent waren für einen Community Service und 19 Prozent für eine Freiheitsstrafe. 1989, bei der ersten Umfrage, waren dies allerdings noch 60 Prozent im Vergleich zu 13 Prozent, was auf eine Zunahme der Punitivität hinweisen kann (Kury/Obergfell-Fuchs 2011; vgl. aber die Beiträge in Kury
2006).
Aus der strafrechtlichen Funktion der Normverdeutlichung – bereits Émile Durkheim hatte darauf hingewiesen, dass die Wirkung der Strafe weniger
darin besteht, auf die Täter einzuwirken, sondern die Normkonformen zur
weiteren Beachtung der Normen zu motivieren – kann nicht zwingend auf die
Notwendigkeit möglichst harter Sanktionen geschlossen werden. Die Bestrafung des Täters ist demnach ein Mittel zur Disziplinierung der Nicht-Täter.
Hieraus resultiert eine Paradoxie: Je härter Strafen sind, umso mehr verschaffen sie den Nicht-Abweichenden das Gefühl, dass Normverletzungen riskant
sind und nicht toleriert werden. Das hebt die Hemmschwelle für Delikte
dann, jedoch nur dann an, wenn mit einer erheblich großen Gefahr der Entdeckung gerechnet wird und Handlungen überhaupt auf rationalen Abwägungen
beruhen. Umgekehrt gilt aber: je härter Strafen sind, umso weniger tragen sie
dazu bei, dass diejenigen, die ein Delikt begangen haben, motiviert und befähigt werden, künftig auf Delikte zu verzichten. Ein sinnvoller Umgang mit
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dieser Paradoxie kann nicht darin bestehen, möglichst viele und möglichst
harte Strafen als wirksame Drohung und indirekte Belohnung für Konformität zu praktizieren und dadurch zugleich Resozialisierung zu erschweren und
Rückfallwahrscheinlichkeiten zu erhöhen. Angemessener und vor allem auch
wirksamer ist es demgegenüber, bei der Normverdeutlichung stärker auf
präventive Konzepte, also z. B. eine Stärkung gewaltfreier Erziehung oder die
offensive Auseinandersetzung mit Sexismus und sexueller Gewalt zu setzen.
Zur Akzeptanz von Strafen, die den Verurteilten erhebliches Leid zufügen, trägt weiter eine Sichtweise bei, die eine prinzipielle Unterschiedlichkeit
zwischen „uns“, den gesetzestreuen und moralisch handelnden Bürger/innen
einerseits und anderseits den „amoralischen“ und „asozialen“ Kriminellen
behauptet, eine Sichtweise, die von den Massenmedien in Kriminalromanen
und Filmen immer wieder erfolgreich inszeniert wird. Kriminalität wird nicht
als situatives Ereignis, sondern als bewusste und gewollte Handlung böser
Menschen dargestellt, von denen „wir“ uns schützen müssen. Durch eine
Charakterisierung der Täter als asoziale und amoralische Außenseiter, im Extremfall als bedrohliche „Monster“, werden diese tendenziell aus dem Kreis
derjenigen Mitmenschen symbolisch ausgeschlossen, deren wir moralisch
verpflichtet sind und die Anspruch auf Mitleid, die Anerkennung ihrer Bedürfnisse haben. In der Folge hat die Frage, welche Strafen zumutbar sind,
keine Bedeutung. Demgegenüber ist ein rationaler kriminalpolitischer Diskurs aufgefordert zu verdeutlichen, dass sich der „gewöhnliche“ Straftäter
nicht grundsätzlich – bzw. nur durch die entdeckte und registrierte Straftat –
von denjenigen unterscheidet, die nicht strafrechtlich auffällig werden. Von
einem relativ geringen Anteil von dauerhaft schwer gefährlichen Gewalttätern kann nicht auf die Gesamtheit von Straftätern geschlossen werden. Damit stellt sich auch die Frage, in welchem Maße es unverzichtbar und zumutbar ist, Mitbürger und Mitbürgerinnen, die straffällig geworden sind, durch
Strafen erhebliches Leid zuzufügen.
Ein deutlich größerer Anteil von Strafen sollte deshalb auf Bewährung
ausgesprochen werden und die Haftzeit sollte möglichst im offenen Vollzug
stattfinden. So bestimmte etwa auch das 1977 in Kraft getretene, erste deutsche Strafvollzugsgesetz in § 10, die Gefangenen „sollen grundsätzlich in
einer Anstalt oder Abteilung des offenen Vollzuges (Abs. 1), im Übrigen müssen sie in einer Anstalt des geschlossenen Vollzuges (Abs. 2) untergebracht
werden. Die Unterbringung im offenen Vollzug ist also die Regelvollzugsform
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… Die Unterbringung im geschlossenen Vollzug soll nach § 10 die Ausnahme
sein … Mit der Vorschrift werden die Vollzugsgrundsätze des § 3, nämlich
der Angleichungs-, der Gegensteuerungs- und der Integrationsgrundsatz konkretisiert. Ihr liegt das Prinzip der Vollzugsbestimmung des § 2 zugrunde: soviel Entzug der Freiheit wie nötig, soviel normale Lebensumstände und Kontakt mit der übrigen Gesellschaft wie möglich zu verwirklichen“ (Calliess/
Müller-Dietz 2000: 135). In Wirklichkeit wurde diese Forderung allerdings
selbst in liberaleren Zeiten nie umgesetzt.
Dass Alternativen zu Freiheitsstrafen hinsichtlich einer Reintegration der
Täter nicht nur billiger, sondern auch effektiver ist, zeigt die kriminologische
Forschung deutlich (vgl. etwa den Beitrag von Spieß in diesem Heft). Wenn
es um „Inklusion“ der Täter in die Rechtsgemeinschaft geht, was ja gerade
von kriminalpolitischer Seite immer wieder betont wird, kann eine „Exklusion“ nur dann sinnvoll sein, wenn sie der ersteren dient. Inzwischen liegen,
bei allen Kontroversen um Einzelfragen, genügend überzeugende Forschungsergebnisse vor, die zeigen, wie etwa der Strafvollzug effizienter gestaltet werden kann. Die Diskussion um immer mehr Sicherheit, die vor allem in den Bereichen gefordert wird, in denen die Betroffenen kaum eine
Beschwerdemacht haben, man somit leicht „Sündenböcke“ finden kann, wie
bei Straffälligen, wobei in anderen Bereichen, wie dem Straßenverkehr, man
deutlich mehr Todesfälle „akzeptiert“, als durch Mord und Totschlag zum
Opfer werden, sollte nicht dazu führen, dass Freiheitsstrafen kontraproduktiv
ausgedehnt werden.
Täter – auch diejenigen, die schwere Delikte begangen haben und bei denen zum Zeitpunkt der Inhaftierung eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit
angenommen wird –, können nicht auf Dauer aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Die zeitlich befriste Einschließung in Gefängnisse muss
deshalb vorrangig dem Ziel der Inklusion, der Befähigung zur Teilhabe am
sozialen Leben außerhalb von Haftanstalten dienen. Gefangene sollten deshalb klare Richtlinien und Perspektiven bekommen, was sie zu tun haben und
wie sie ihre Haftzeit durch gutes Verhalten zuverlässig verkürzen können, sie
sollten entsprechend angeleitet werden. Das ewige Hängenlassen, Versprechungen, die nicht eingehalten werden, Verzögerungen usw. zermürben und
nehmen jegliche Motivation für eine Änderung, nicht nur bei Straffälligen.
Resozialisierung im Vollzug bedeutet vor allem auch Zuverlässigkeit, klare
Perspektiven, zuverlässige Regeln und Aufbau von Vertrauensverhältnissen.
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Das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Proband und Therapeut, das
Verstanden- und Aufgefangenfühlen, ist die wichtigste Wirkvariable bei
jeglicher therapeutischer und helfender Intervention (Grawe/Donati/Bernauer
1994). Zudem muss die Nachentlassungssituation verbessert werden, hier ist
deutlich mehr Unterstützung und Beratung erforderlich. Ein straffreies Leben
in Freiheit kann man am besten in Freiheit üben. Eine Entlassung auf Bewährung mit ambulanter Nachbetreuung sollte den Strafvollzug verkürzen. Mehr
vorzeitige Entlassungen sind vor allem dann möglich, wenn die effiziente
Nachbetreuung gesichert ist. Investitionen in diesen Bereich lohnen sich auch
finanziell.
Es gibt – jenseits der Vision eines totalen Überwachungsstaates – keine
absolute Sicherheit. Straffälliges Verhalten ist „normal“, gehört zu jeder Gesellschaft, kann nicht „ausgerottet“, bestenfalls reduziert werden (Heitmeyer/Schröttle 2006). Jeder Entlassene ist ein möglicher Rückfalltäter, jeder
Bürger ein möglicher Täter. Die Wahrscheinlichkeit gravierender Delikte
lässt sich durch eine Gesellschaftspolitik verringern, die soziale Ungleichheiten und gravierende Benachteiligungen abbaut, auf die Ächtung von Gewalt
als Machtmittel zielt und eine Kultur der Gleichberechtigung und des Respekts in den Geschlechter- und Generationenverhältnissen fördert. Der Glaube, dass es bei der Kriminalitätsbekämpfung zentral auf die strafrechtliche
Sanktionshärte ankommt, ist durch keinerlei empirische Erkenntnisse belegbar, sondern durch wissenschaftliche Forschung zwingend widerlegt.
Literatur
Bundeskriminalamt, 2012: Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland. Berichtsjahr 2011. Wiesbaden: Bundeskriminalamt.
Calliess, Rolf-Peter/Müller-Dietz, Heinz, 2000: Strafvollzugsgesetz. Gesetz über den Vollzug
der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung
mit ergänzenden Bestimmungen (Beck‘sche Kurz-Kommentare). München: Beck.
Dijk, Jan van/Manchin, Robert/Kesteren, John van/Nevala, Sami/Hideg, Gergely, 2007: The
Burden of Crime in the EU (Research Report: A Comparative Analysis of the European
Crime and Safety Survey, EU ICS, 2005). Brüssel: Gallup Europe. Internetquelle: [http://
www.europeansafetyobservatory.eu/downloads/EUICS%20-%20The%20Burden%20of%
20 Crime%20in%20the%20EU.pdf].
Doob, Anthony N./Roberts, Julian, 1983: Sentencing. An Analysis of the Public’s View of Sentencing. Ottawa: Department of Justice.
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Grawe, Klaus/Donati, Ruth/Bernauer, Friederike, 1994: Psychotherapie im Wandel. Von der
Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe.
Heitmeyer, Wilhelm/Schröttle, Monika (Hrsg.), 2006: Gewalt. Beschreibungen, Analysen, Prävention. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Hestermann, Thomas, 2011: Gewaltberichterstattung im Fernsehen. Wie die Medien ihre eigene
Wirklichkeit schaffen (Kerner, H.-J., Marks, E., Hrsg., Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages Hannover 2011). Internetquelle: [http://www.praeventionstag.de/
Dokumentation.cms/1335].
Kury, Helmut (Hrsg.), 2006: Härtere Strafen – weniger Kriminalität? Zur Verschärfung der
Sanktionseinstellungen (Soziale Probleme 17/2). Herbolzheim: Centaurus.
Kury, Helmut/Obergfell-Fuchs, Joachim, 2011: Punitiveness – Impacts and Measurements. S.
165-209 in: Kury, H./Shea, E. (Hrsg.), Punitivity – International Developments. Vol. 2: Insecurity and Punitiveness. Bochum: Brockmeyer.
Roberts, Julian V./Hough, Mike (Hrsg.), 2002: Changing Attitudes to Punishment. Public Opinion, Crime and Justice. Cullompton: Willan.
Sato, Mai, 2013: Public Opinion and the Death Penalty in Japan. Measuring Tolerance for Abolition. Berlin: Springer.
Sessar, Klaus, 1992: Wiedergutmachen oder strafen. Einstellungen in der Bevölkerung und der
Justiz. Pfaffenweiler: Centaurus.
Sessar, Klaus, 2010: Kriminalitätseinstellungen und sozialer Wandel. Gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit Forschungen zur Verbrechensfurcht und Punitivität. Monatsschrift für
Kriminologie und Strafrechtsreform 93: 361-381.
Thome, Helmut/Birkel, Christoph, 2007: Sozialer Wandel und Gewaltkriminalität. Deutschland,
England und Schweden im Vergleich, 1950 bis 2000. Wiesbaden: VS – Verlag für Sozialwissenschaften.
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