aktuell - Kassenärztliche Vereinigung Sachsen

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aktuell
Pharmakotherapie
Rationale und rationelle Pharmakotherapie in der Praxis
Informationsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen
Jahrg. 21, Nr. 1 | März 2016
NOAK
Wie wirksam und
sicher ist die neue
Antikoagulation?
INGE 2
L
T
für
FLÜCH
L
A
e
Hilf isalltag
a
Pr x kheiten
den
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i
f
u
Hä
chse
er
erwa erjährig r
d
min
ende
h
c
u
s
Asyl
NACHRICHTEN
DIALOG
Ovulationshemmer: Vorsicht bei der
dritten und vierten Generation
STIKO: Welche Änderungen gibt es
bei den Impfempfehlungen?
Choosing wisely: Nützliche
Empfehlungen für die Praxis
SPEC
I
STANDPUNKT
EDITORIAL
Verordnungseinschränkung
für Glinide ab 1. Juli 2016
Sehr geehrte Frau Kollegin, sehr geehrter Herr Kollege,
nach einer Mitte Februar dieses Jahres vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)
herausgegebenen Pressemitteilung ist jetzt der Weg frei für den am 17. Juni 2010 zur
Verordnungseinschränkung von Gliniden bei der Behandlung von Patienten mit Diabetes
mellitus Typ 2 gefassten Beschluss. Nach der Veröffentlichung im Bundesanzeiger wird der
Beschluss voraussichtlich zum 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten.
Damit endet ein langjähriger Rechtsstreit mit dem Bundesgesundheitsministerium, das den
G-BA-Beschluss zur Verordnungseinschränkung der Glinide beanstandet hatte, weil der
G-BA nach dessen Auffassung für die erforderliche vergleichende Bewertung der Unzweckmäßigkeit oder Unwirtschaftlichkeit von Gliniden gegenüber Therapiealternativen keine
hinreichenden wissenschaftlichen Belege angeführt habe.
Dr. Burkhard John
Vorstandsvorsitzender
KV Sachsen-Anhalt
Das Landesozialgericht Berlin-Brandenburg hat in seinem inzwischen rechtskräftigen Urteil
am 27. Mai 2015 entschieden, dass die Beanstandung des Beschlusses rechtswidrig war, und
sie infolgedessen aufgehoben.
Nach Mitteilung des G-BA haben die pharmazeutischen Hersteller Nateglinid- und Repaglinid-haltiger Antidiabetika (z. B. Starlix®, Novonorm) bisher weder ergänzende versorgungsrelevante Studien noch Studien zu patientenrelevanten Endpunkten, wie Morbidität, Mortalität
und Lebensqualität, vorgelegt. Damit kann der gefasste Beschluss unverändert in Kraft treten
(Quelle: KBV).
Nachdem der G-BA die Glitazone im Ergebnis der Nutzenbewertung im Jahr 2010 von der
Verordnung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgeschlossen hat, erfolgt
nunmehr ein weiterer nachvollziehbarer Einschnitt bei den für die Behandlung des Diabetes
mellitus Typ 2 zur Verfügung stehenden Antidiabetika. Künftig kann von den Gliniden nur
noch Repaglinid für die Behandlung von niereninsuffizienten Patienten mit einer KreatininClearance < 25 ml/min zulasten der GKV verordnet werden, soweit keine anderen oralen
Antidiabetika infrage kommen und eine Insulintherapie nicht angezeigt ist.
Der G-BA-Beschluss zur Verordnungseinschränkung der Glinide ist vorerst der letzte Beschluss
zur Nutzenbewertung für Arzneimittel des Bestandsmarktes, da der Gesetzgeber dieses Bewertungsverfahren 2014 aus dem fünften Sozialgesetzbuch gestrichen hat. Der Schwerpunkt
liegt nun ausschließlich auf der frühen Nutzenbewertung neuer Arzneimittel oder von Arzneimitteln mit neu zugelassenen Anwendungsgebieten.
Ich wünsche Ihnen gute Wahlentscheidungen bei der Kammer- und der Landtagswahl und
einen schönen Frühling, der uns allen neue Kraft gibt.
Ihr
Burkhard John
2
KVH aktuell 1|2016
Inhalt
SCHWERPUNKT
1|2016
SEITEN 4 –13
Antikoagulantien
Marcumar® oder NOAK – eine komplexe Entscheidung
NACHRICHTEN
SEITEN 14 –16
UAW: Seltene Nebenwirkungen im Überblick
STIKO: Neue Impfempfehlungen
Hypertonie: Spironolacton bei therapieresistentem Bluthochdruck
und weitere Meldungen
SPECIAL FLÜCHTLINGE
SEITEN I –XII
Diagnostik und Therapie:
Häufige Erkrankungen Asylsuchender (Teil 2)
STANDPUNKT
SEITEN 17 –22
Kontrazeptiva: Risiko Pille
Protonenpumpenhemmer: Von wegen harmlos!
Unverantwortlicher Datenverlust: Wenn Studien nicht publiziert werden
FORSCHUNG & PRAXIS
SEITEN 23 –25
Arzneimittelsicherheit: Myopathie-Risiko durch Statine
Buchbesprechung: Sanfte Medizin?
DIALOG
SEITEN 26 –30
Choosing wisely in der Pädiatrie: Therapieren Sie defensiv!
Choosing wisely: Ihre Fragen
Impressum
KVH aktuell 1|2016
3
SCHWERPUNKT
Edoxaban (Lixiana®):
Hier finden Sie die
Nutzenbewertungen
der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (AKdÄ), des
Instituts für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen
(IQWiG) und des
Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) als
PDFs zum Download:
AKdÄ-Bericht
kvh.link/1601008
IQWiG-Bericht
kvh.link/1601009
G-BA-Bericht
kvh.link/1601007
HINTERGRUND
4
KVH aktuell 1|2016
SCHWERPUNKT
ANTIKOAGULANTIEN
®
Marcumar
oder NOAK –
eine komplexe
Entscheidung
Neue orale Antikoagulantien (NOAKs), auch als
direkte orale Antikoagulantien (DOAKs) bezeichnet,
sind gerinnungshemmende Arzneimittel, die direkt
gegen bestimmte Gerinnungsfaktoren wirken und
oral eingenommen werden. Inzwischen ist der vierte
Wirkstoff dieser Substanzklasse – Edoxaban – auf
dem Markt. In Zulassungsstudien war er Warfarin
zwar nicht überlegen, führte aber deutlich seltener zu
Blutungen. Deshalb wurde Edoxaban ein Zusatznutzen
für bestimmte Patienten bescheinigt. Die folgenden
Beiträge geben einen Überblick über die Substanz
sowie die Bewertungsverfahren von AkdÄ, IQWiG
und G-BA. Offen ist noch immer, in welchem Umfang
NOAKs statt Marcumar® verordnet werden sollten.
DR. MED. WOLFGANG LANGHEINRICH
DR. MED. STEFAN GRENZ
KVH aktuell 1|2016
5
SCHWERPUNKT
AkdÄ-Informationen
zu Lixiana®
So beurteilt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) das neue Antikoagulans.
Quellen:
1. http://www.akdae.de/
Arzneimitteltherapie/N
A/Archiv/201504-Lixiana-VHF.pdf
2. http://www.akdae.de/
Arzneimitteltherapie/N
A/Archiv/201504-Lixiana-DVT.pdf
3. https://www.iqwig.de/
download/A1529_Edoxaban_Nutzenbewertung-35a-SGBV.pdf
4. https://www.gba.de/downloads/39261-2458/2016-0121_AM-RL-XII_Edoxaban_2015-08-01-D174.pdf
E
doxaban (Lixiana®) ist seit dem 1. August 2015
bundesweit bei Erwachsenen zugelassen. Es
ist nach Dabigatran (Pradaxa®), Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®) das vierte direkte
neue orale Antikoagulans (NOAK) auf dem deutschen Markt. Zugelassene Indikationen sind:
1. Prophylaxe von Schlaganfällen und systemischen Embolien (SEE) bei nicht valvulärem
Vorhofflimmern (NVAF) und mindestens
einem Risikofaktor,
2. Behandlung von tiefen Venenthrombosen
(TVT) und Lungenembolien (LE) sowie
Prophylaxe von rezidivierenden TVT und LE.
Für die Zulassung von Lixiana® in der Prophylaxe
von Schlaganfällen und SEE bei NVAF wurde die
Studie ENGAGE-AF vorgelegt. Auswertungen, die
den Richtlinien der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) entsprechen, zeigen, dass 60 mg
Edoxaban nicht weniger wirksam waren als Warfarin. Eine signifikant bessere Wirksamkeit zeigte sich allerdings auch nicht. Es wurden aber
Vorteile durch eine geringere Rate an (schweren)
Blutungen ermittelt.1
Für die Zulassung des Medikaments in der
Behandlung und Prophylaxe von (rezidivierenden) TVT und LE wurde die Studie
HOKUSAI-VTE vorgelegt. EdoxaSeit Veröffentlichung
ban war nicht weniger wirksam
der AkdÄ-Informatio- als Warfarin, konnte aber keine
nen im Oktober 2015 signifikant bessere Wirksamkeit
liegen sowohl eine zeigen. Schwere und klinisch relevante, nicht schwere BlutunIQWiG-Bewertung3 gen waren unter Edoxaban selals auch ein G-BA- tener, nicht aber schwere Blu2
Beschluss4 vor (siehe tungen allein.
Da Vorteile hinsichtlich des
Kurzlinks auf S. 4). Blutungsrisikos mit steigender
Güte der Warfarin-Einstellung in
der Vergleichsgruppe abnahmen, bleibt offen,
inwieweit sie im hiesigen Versorgungsalltag
erwartet werden können. Die Versorgung in
6
KVH aktuell 1|2016
Deutschland zeichnet sich durch eine im internationalen Vergleich regelmäßig hohe TTR (time in
therapeutic range) aus. Hier wird anstelle von
Warfarin das Phenprocoumon (Marcumar®) eingesetzt, das eine längere Halbwertszeit hat.
Ausgewählte unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Blutungen kommen häufig vor, können in jeder
Lokalisation auftreten und auch schwerwiegend
oder tödlich verlaufen. Am häufigsten sind
Schleimhautblutungen, beispielsweise Epistaxis,
gastrointestinale und urogenitale Blutungen.
Ebenfalls häufig treten posthämorrhagische Anämien, Ausschläge und erhöhte Leberwerte auf.
Ausgewählte Warnhinweise
Lixiana® wird nicht empfohlen bei Patienten mit
terminaler Niereninsuffizienz, Dialysepatienten
oder stark eingeschränkter Leberfunktion. Das
Gleiche gilt für die Prophylaxe von Schlaganfällen
und systemischen Embolien bei Patienten mit prothetischen Herzklappen und bei mäßig schwerer
bis schwerer Mitralstenose. Wegen eines potenziell höheren Blutungsrisikos ist bei gleichzeitiger
Anwendung von ASS Vorsicht geboten. Die bei
therapeutischer Dosierung von Lixiana® beobachteten Veränderungen der Gerinnungsparameter
sind für die Therapiekontrolle nicht hilfreich. 쮿
DR. MED. STEFAN GRENZ
✓ Interessenkonflikte: keine
SCHWERPUNKT
SUBSTANZVERGLEICH
Die Wirksamkeit der NOAKs
Wie gut eine INR-Einstellung unter Warfarin oder
Phenprocoumon (z. B. Marcumar®) ist, zeigt die
Verweildauer im therapeutischen Bereich, TTR
(time in therapeutic range). Je länger sich Patienten mit ihren INR-Werten im vorgegebenen therapeutischen Bereich (mean TTR, siehe Tabelle 1)
befinden, desto geringer ist das Risiko möglicher
Blutungen bzw. Thromboembolien. Der Zusatz-
nutzen der neuen NOAKs bemisst sich im Zugewinn an Wirksamkeit (efficacy) beziehungsweise
Sicherheit (safety) im Vergleich zu einer gut eingestellten Therapie mit Warfarin oder Phenprocoumon (siehe Tabelle 2). 쐍
DR. MED. STEFAN GRENZ
✓ Interessenkonflikte: keine
Tabelle 1: Die TTR unter Studienbedingungen im Vergleich
Substanz
Dabigatran
Rivaroxaban
Apixaban
Edoxaban
Warfarin
Handelsname
PRADAXA®
XARELTO®
ELIQUIS®
LIXIANA®
Studie
RE-LY1
Rocket-AF2
Aristotle3
Engage4
AuriculA5
publiziert
2009
2011
2011
2013
2011
Design
RCT
RCT
RCT
RCT
Register
n
18.113
14.264
18.201
21.026
18.391
Zentren
951
1.178
1.400
1.393
67
Länder
44
45
40
46
1
INR-Zielbereich
2–3
2–3
2–3
2–3
2–3
TTR6,7 mean
64 %
55 %
62 %
65 %
76 %
INR-Messmethode1–5 ?
POCT
POCT
POCT
?
Hemmung8
Thrombin
Faktor Xa
Faktor Xa
Faktor Xa
Halbwertszeit (h)8
13–18
(5–)11–13
12
10–14
Cytochrom P8
3A4, p-GP
3A4, p-GP
3A4, p-GP
3A4/5, p-GP
renale Elimination8
85 %
33 %
27 %
35 %
Einzeldosis (mg)8
150, 110
20 (15)
5 (2,5)
60 (30)
Einnahmen pro Tag8
2x
1x
2x
1x
1. Dabigatran versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation, N Engl J Med 2009; 361: 1139–51
2. Rivaroxaban versus Warfarin in Nonvalvular Atrial Fibrillation, N Engl J Med 2011; 365: 883–91
3. Apixaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation, N Engl J Med 2011; 365: 981–92
4. Edoxaban versus Warfarin in Patients with Atrial Fibrillation, N Engl J Med 2013; 369: 2093–104
5. Anticoagulation control in Sweden: AuriculA, European Heart Journal (2011) 32, 2282–2289
6. Time in therapeutic range (TTR), siehe: Rosendaal FR et al., Thromb Haemost 1993; 69: 236–9
7. TTR-Angaben als Mittelwert (mean TTR) sind niedriger als TTR-Angaben als Median (median TTR).
ARISTOTLE (S. 986): „... a median of 66.0% of the time and a mean of 62.2% of the time.“
ENGAGE (S. 2097): „... the median ... was 68.4% and the mean ... was 64,9%.“
ROCKET (S. 886): „... mean of 55% of the time (median 58%).“
RE-LY (S. 1112): „... the mean percentage ... within the therapeutic range was 64%.“
AURCULA (S. 2284): Table I, letzte Spalte
8. European public assessment reports (EPARs) der European Medicines Agency (EMA)
KVH aktuell 1|2016
7
SCHWERPUNKT
Tabelle 2: Die Endpunkte der NOAK-Zulassungsstudien im Vergleich
Studienergebnisse, wie sie in den veröffentlichten Zulassungsstudien stehen, und was die Werbung
daraus macht. Nur die primären Endpunkte sind aussagekräftig. Für Wirksamkeitsaussagen (= efficacy)
sind Intention-to-treat-Analysen üblich. Indikation: Vorhofflimmern.
DR. MED. STEFAN GRENZ
Pradaxa®
DABIGATRAN (RE-LY: 2 x 110 mg)1
DIFF-rel
DIFF-abs
DAB110
WARFARIN*
9%
0,16 %
1,53 %
1,69 %
19 %
0,65 %
2,71 %
3,36 %
DABIGATRAN (RE-LY: 2 x 150 mg)1
DIFF-rel
DIFF-abs
DAB150
WARFARIN*
efficacy
Apoplex oder Embolie
34 %
0,58 %
1,11 %
1,69 %
safety
schwere Blutungen (alle)
7%
0,25 %
3,11 %
3,36 %
RIVAROXABAN (Rocket-AF 1 x 20 mg)2 DIFF-rel
DIFF-abs
RIVA20
WARFARIN*
efficacy
Apoplex oder Embolie
13 %
0,30 %
safety
schwere Blutungen (alle)
-3 %
-0,40 %
14,90 % 14,50 %
efficacy
Apoplex oder Embolie
safety
schwere Blutungen (alle)
*INR-Einstellungsqualität ist 64 % (mean TTR)
Xarelto®
2,10 %
2,40 %
*INR-Einstellungsqualität ist 55 % (mean TTR)
Eliquis®
APIXABAN (Aristotle 2 x 5 mg)3
DIFF-rel
DIFF-abs
APX5
WARFARIN*
efficacy
Apoplex oder Embolie
21 %
0,33 %
1,27 %
1,60 %
safety
schwere Blutungen (alle)
31 %
0,96 %
2,13 %
3,09 %
DIFF-abs
EDO30
WARFARIN*
-13 %
-0,24 %
2,04 %
1,80 %
53 %
1,82 %
1,61 %
3,43 %
*INR-Einstellungsqualität ist 62 % (mean TTR)
Lixiana®
EDOXABAN (Engage 1 x 30 mg)4
efficacy
Apoplex oder Embolie
safety
schwere Blutungen (alle)
4
DIFF-rel
EDOXABAN (Engage 1 x 60 mg)
DIFF-rel
DIFF-abs
EDO60
WARFARIN*
efficacy
Apoplex oder Embolie
13 %
0,23 %
1,57 %
1,80 %
safety
schwere Blutungen (alle)
20 %
0,68 %
2,75 %
3,43 %
*INR-Einstellungsqualität ist 65 % (mean TTR)
1– 4 siehe Quellen Tabelle 1, Seite 7
Einstellungsqualität der Warfarin-Behandlung in den vier Studien:
Time in Therapeutic Range (INR von 2 bis 3; der Standard „mean TTR“ ist etwas niedriger als die „median TTR“).
Abweichung der mean TTR vom Bestwert (= 76,2 % der AuriculA-Studie: relativ, gerundet):
-28 % (Xarelto®), -19 % (Eliquis®), -16 % (Pradaxa®), -15 % (Lixiana®)
8
KVH aktuell 1|2016
SCHWERPUNKT
Was heißt eigentlich
Zusatznutzen?
So verläuft die Nutzenbewertung neuer Arzneimittel im Institut
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).
„Zusatznutzen“ als sozialrechtlicher Begriff in
der Bewertung neuer Arzneimittel wurde 2010
durch das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz
(AMNOG) in die gesetzliche Krankenversicherung
(GKV) eingeführt. Gemeint sind erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen oder einer
neuen Indikation.1
■ Die frühe Nutzenbewertung nach § 35a SGB V
erfolgt durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) auf der Grundlage der Rechtsverordnung AM-NutzenV durch das Bundesgesundheitsministerium (BMG).2
■ Der G-BA beauftragt das Institut für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
(IQWiG) als fachlich unabhängige wissenschaftliche Einrichtung mit der Bewertung im
engeren Sinn. Verfahrensgrundlage sind die
„allgemeinen Methoden” des IQWiG.3 Am Ende des Bewertungsprozesses steht ein
G-BA-Beschluss über den patientenrelevanten
Zusatznutzen. Das Bewertungsergebnis muss
drei Monate nach Markteintritt des Arzneimittels abgeschlossen und veröffentlicht sein.
■ Initiiert wird eine Nutzenbewertung gemäß
§ 35a SGB V seitens des Herstellers. Hierzu
reicht dieser zum Zeitpunkt der Markteinführung ein Dossier über das neue Arzneimittel
beim G-BA ein. Reicht der Hersteller kein
Dossier ein, gilt der Zusatznutzen generell als
nicht belegt. Ohne belegten Zusatznutzen
darf der Erstattungsbetrag nicht höher sein
als die Kosten der Vergleichstherapie. Mit
belegtem Zusatznutzen werden GKV-Spitzenverband und Hersteller gem. § 130b SGB V
einen Erstattungsbetrag verhandeln.
Erheblich – beträchtlich – gering
Der Nutzen beschreibt den „patientenrelevanten
therapeutischen Effekt, insbesondere hinsichtlich
der Verbesserung des Gesundheitszustands, der
Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens, der Verringerung von
Nebenwirkungen oder einer Verbesserung der
Lebensqualität“. Als Zusatznutzen gilt ein im Vergleich zur zweckmäßigen (etablierten) Therapie
quantitativ oder qualitativ höherer Nutzen.2 Dieser
ist definiert als
■ erheblich (insbesondere: Heilung, erhebliche
Verlängerung des Lebensdauer, langfristige
Freiheit von schweren Symptomen, weitgehende Vermeidung schwerer Nebenwirkungen),
■ beträchtlich (insbesondere: Abschwächung
schwerer Symptome, moderate Verlängerung
der Lebensdauer, spürbare Linderung der
Erkrankung, relevante Vermeidung schwerer
Nebenwirkungen, bedeutsame Vermeidung
anderer Nebenwirkungen),
■ gering (insbesondere: Verringerung nicht
schwerwiegender Symptome, relevante Vermeidung von Nebenwirkungen),
■ nicht quantifizierbar (ein Zusatznutzen liegt
vor, ist aber nicht quantifizierbar, weil die
wissenschaftliche Datengrundlage dies nicht
zulässt),
■ kein Zusatznutzen belegt.2
Das IQWiG bewertet die Herstelleraussagen aufgrund des allgemein anerkannten Stands der
medizinischen Erkenntnisse beziehungsweise der
internationalen Standards der evidenzbasierten
Medizin und der Gesundheitsökonomie. Die
Wahrscheinlichkeit, dass ein Zusatznutzen nicht
nur zufällig ist, wird gemäß den allgemeinen
Methoden des IQWiG3 qualifiziert als
■ Beleg (höchste Aussagesicherheit),
■ Hinweis (mittlere Aussagesicherheit),
■ Anhaltspunkt (schwächste Aussagesicherheit).
Die Beurteilung hängt von der Anzahl der vorhandenen Studien ab. Existiert nur eine Studie, kann
die höchste Aussagesicherheit grundsätzlich nicht
erreicht werden.3 Eine Ausnahme ist möglich,
wenn ein Studienbericht gemäß ICH-Richtlinien
(International Conference on Harmonisation) vorliegt und mindestens 10 Zentren beteiligt waren,
Hier können ausführliche Informationen
zu den wissenschaftlichen Auswertungsmethoden des IQWiG
nachgelesen werden.
kvh.link/1601006
PRAXISTIPP
Quellen:
1. Gesetzentwurf –
ArzneimittelmarktNeuordnungsgesetz
(AMNOG), Bundesdrucksache 17/2413
2. Arzneimittel-Nutzenbewertungsverordnung
vom 28. Dezember
2010 (BGBl. I. S. 2324),
zuletzt durch Artikel 2
des Gesetzes vom
27. März 2014 (BGBl. I,
S. 261) geändert
3. Allgemeine Methoden:
IQWiG, Version 4.2.
vom 22. April 2015
KVH aktuell 1|2016
9
SCHWERPUNKT
der p-Wert < 0,001 ist und die Studienergebnisse
konsistent sind.3 Die Nutzenbewertung von Einzelstudien ist von der Einhaltung der GCP-Richtlinien (GCP = good clinical practice) als Teil der
ICH-Richtlinien abhängig.
Im Hinblick auf die Ergebnisqualität bewertet
das IQWiG Subgruppenanalysen in Studien kritisch. Diese sind demnach nur dann methodisch
korrekt, wenn sie „a priori“ definiert werden.
Hierfür müssen Subgruppenanalysen Bestandteil
eines vor (!) Studienbeginn vereinbarten Studienprotokolls sein. Dies ist eine zentrale Forderung
der GCP-Richtlinien. Post-hoc-Analysen nach Studienbeginn seien „methodisch nicht korrekt“. Ihre
Ergebnisse hätten daher „keinen Beweischarakter“. Dies gelte in gleicher Weise für Protokolländerungen (Amendments).3
DR. MED. STEFAN GRENZ
✓ Interessenkonflikte: keine
Hier wirken NOAKs
Gewebefaktor
VIIa
Faktor X
Marcumar®
Faktor IX
Faktor
II, VII, IX, X
Faktor IXa
Faktor VIIIa
Faktor Va
Rivaroxaban
Apixaban
Faktor
Xa
Edoxaban
Niedermolekulares Heparin
Unfraktioniertes Heparin
Thrombin
(Faktor II)
Dabigatran
Tabletten
Quelle: Cardiologisches Centrum Bethanien, Frankfurt
10
KVH aktuell 1|2016
Faktor
IIa
Fibrinogen
Fibrin
Niedermolekulares Heparin
Unfraktioniertes Heparin
Intravenös oder
subkutane Spritze
SCHWERPUNKT
Messfehler-Risiko: EMA
prüft Zulassungsstudie
Schnelltest-Geräte (POCT) zum wöchentlichen GerinnungsSelbstmanagement können regelmäßige Laborkontrollen nicht
ersetzen – erst recht nicht in klinischen Studien.
Die europäische Arzneimittelbehörde EMA überprüft die Zulassungsstudie ROCKET-AF zu Rivaroxaban (Xarelto®).1 Hintergrund ist eine Mitteilung
der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA
über Messfehler-Risiken bei den Geräten „INRatio“ und „INRatio 2“ des Herstellers ALERE. Beide
POCT-Systeme (Point-of-Care-Testing) wurden
demnach für die monatlichen INR-Tests der Warfarin-behandelten Kontrollgruppe genutzt.2 Bei
Patienten mit Anämie, niedrigem Hämatokrit
(< 30 %) oder bei erhöhtem Fibrinogen (zum
Beispiel bei Infektionen, chronisch-entzündlichen
Erkrankungen, fortgeschrittenen Krebsleiden)
könne es zu falsch-niedrigen INR-Messergebnissen kommen. Die folglich inadäquaten WarfarinDosierungen könnten sogar negative Auswirkungen auf das Blutungsrisiko in der Kontrollgruppe
gehabt haben. Auch in den Zulassungsstudien
zu Apixaban (Eliquis®) und Edoxaban (Lixiana®)
wurde zur Therapiesteuerung der Warfarin-Kontrollgruppe laut Protokoll im Wesentlichen auf
POCT-Systeme vertraut. Für Dabigatran (Pradaxa®)
fehlen solche Hinweise: Das Protokoll zur RE-LYStudie wurde nicht mit veröffentlicht.
Grenzen von INR-Schnelltestgeräten
Zweifellos können wöchentliche INR-Sofortmessungen mit POCT-Systemen in der Therapie mit
Vitamin-K-Antagonisten (VKA) als sicher gelten.
Bei besonderen Indikationen sind sie den monatlichen Kontrollen des INR-Labors sogar überlegen.3
Vier- bis zehntägige Messintervalle werden emp-
fohlen.3,4 Die Verordnung des Messgeräts ist an
die Bestimmungen des Hilfsmittelverzeichnisses
gebunden (Gruppe 21, Ort 34, Untergruppe 1:
„Indikation“).4 Regelmäßige Kontrollen gegen die
Referenzmethode der Plasma-INR-Laborbestimmung sind aus Sicherheitsgründen monatlich bis
vierteljährlich zu wiederholen.5
Fazit
Der Nutzen von INR-Schnelltestgeräten (POCT) für
das wöchentliche Gerinnungs-Selbstmanagement
ist gut belegt. Eine Substitution der monatlichen
INR-Laborkontrollen weitet die POCT-Methode
dagegen ohne Unbedenklichkeitsnachweis aus. 쮿
DR. MED. STEFAN GRENZ
✓ Interessenkonflikte: keine
Quellen:
1. blitz-a-t: Daten aus Rivaroxaban-Studie werden
überprüft. [email protected] vom
11.12.2015.
2. www.fda.gov/Safety/Recalls/ucm426166.htm
3. Sharma P, Scotland G, et al.: Health Technol Assess.
2015; 19 (48): 1–172. DOI: 10.3310/hta19480
(http://dx.doi.org/10.3310/hta19480).
4. https://hilfsmittel.gkv-spitzenverband.de/home.action
5. Bundesärztekammer: Richtlinie zur Qualitätssicherung laboratoriumsmedizinischer Untersuchungen.
Patientennahe Sofortdiagnostik mit Unit-use-Reagenzien. Teil B1, Abs. 2.1.5.2, Deutsches Ärzteblatt
2014; 38: A 1583–1618.
.
KVH aktuell 1|2016
11
SCHWERPUNKT
Die Nutzenbewertung
bleibt schwierig
Bei der Bewertung der neuen oralen Antikoagulantien (NOAKs)
genügt es nicht, sich nur auf einen der vier am Markt befindlichen
Wirkstoffe zu konzentrieren. Man muss die gesamte Substanzgruppe betrachten.
Ein Artikel über Lixiana® (Edoxaban) muss immer die
Bewertung des Wirkstoffs durch das IQWiG, die
Nutzenbewertung des G-BA zu Eliquis® (Apixaban)
sowie die Therapieempfehlung der AkdÄ zu den
NOAKs Pradaxa® (Dabigatran) und Xarelto® (Rivaroxaban) mit berücksichtigen. Ein kritischer Artikel nur
zu Edoxaban wäre für die Beurteilung der Wertigkeit der Therapie absolut unzureichend. Eine rein
formale Betrachtung der IQWiG-Bewertung zu Edoxaban ist in diesem Zusammenhang auch nicht zielführend. Dies möchte ich nachfolgend begründen.
Relevante Nebenwirkungen
Bei keinem medizinischen Endpunkt – etwa dem
Vermeiden von Schlaganfällen oder der Mortalität –
hat das IQWiG einen Zusatznutzen für Edoxaban
oder Apixaban gesehen. Edoxaban war der Warfarin-Therapie jedoch auch nicht unterlegen. Es gibt allerdings einen
Trotz aller Kritik an ein- Hinweis auf einen geringen Zuzelnen Prüfverfahren satznutzen aufgrund der geringeren Nebenwirkungen der beiden
von IQWiG und G-BA NOAKs: deutlich weniger Blutunwerden diese unter gen nahezu aller Schweregrade.
höchstmöglicher Nebenwirkungen können Nutzenbewertungen positiv oder negativ
Evidenz durchgeführt beeinflussen, da sie von den Nutund ihre Ergebnisse zenbewertungseinrichtungen wie
sind verbindlich. dem IQWiG, dem britischen NICE
oder der FDA in den USA berücksichtigt werden. Dies zeigt sich
auch bei Nutzenbewertungsverfahren des G-BA:
Arzneimitteln, die gegenüber der Vergleichstherapie mehr Nebenwirkungen oder einen größeren
Schaden verursacht haben, wird kein Zusatznutzen
bescheinigt.
Kontroverse Bewertung
Immer wieder wird Kritik an Studien zu einem neuen Arzneimittel oder der Bewertung durch das
IQWiG geäußert. Diese ist in der vorgebrachten
Form weder richtig noch haltbar. Unstrittig ist, dass
12
KVH aktuell 1|2016
es pharmagesponserte Studien gibt, die regelrecht
„zusammengebastelt“ sind. Sie spielen aber bei der
Nutzenbewertung durch das IQWiG keine Rolle.
Reicht ein Hersteller das Dossier zu einem Arzneimittel ein, muss er eine weltweite Studienrecherche
mit den entsprechenden Publikationen beilegen.
Das IQWiG bewertet diese nach seiner Verfahrensordnung extrem kritisch und schließt die meisten
aufgrund von Mängeln aus. Diese Studienbewertung ist so rigide, dass im G-BA seitens der Ärzte
immer mal wieder Kritik laut wird, da evidenzbasiertes Wissen aus formalen Gründen oft nicht berücksichtigt wird. Der Nutzenbewertung liegen meist
wenige Studien zugrunde, gelegentlich nur eine.
Der Zusatznutzen
Wird zur Nutzenbewertung nur eine Studie herangezogen, kann lediglich ein „Hinweis auf einen
geringen Zusatznutzen“ gegeben werden. Belegen lässt sich dieser nur, wenn mindestens zwei
bewertete Studien einen Mehrnutzen ergeben.
Die Bewertung eines geringen, beträchtlichen
oder erheblichen Zusatznutzens erfolgt nicht
„freihändig“, sondern ist in der Verfahrensordnung des IQWiG eindeutig geregelt. Sie wird aus
den Ergebnissen der Nutzenbewertung unter
Berücksichtigung vieler Einzelaspekte ermittelt.
Der G-BA ist ein sogenannter untergesetzlicher
Normgeber. Seine Aufgabe ist es, unter Berücksichtigung der verfügbaren wissenschaftlichen
Evidenz die Nutzenbewertungsverfahren durchzuführen. Deren Ergebnisse sind verbindlich –
trotz aller Kritik, die im Zusammenhang mit einzelnen Verfahren oder bestimmten Punkten der Verfahren geäußert werden kann. Dies ist wichtig für
die Verordnung von Arzneimitteln mit einem Zusatznutzen und die Frage, inwieweit derartige Verordnungen von Regress bedroht sein können.
Objektive Verordnungsgründe
Die ersten NOAKs – Dabigatran und Rivaroxaban
– kamen vor dem AMNOG-Verfahren (Arzneimit-
Indikation für NOAKs
Welche Patienten sollten mit NOAKs versorgt werden? Die AkdÄ hat im September 2012 eine Therapieempfehlung für den Einsatz von Dabigatran
und Rivaroxaban gegeben: Diese sind bei allen
Patienten angezeigt, die mit Marcumar® (Phenprocoumon) nicht ausreichend zu behandeln sind.
Eine genauere Definition wird nicht gegeben. Studien haben gezeigt, dass in Deutschland nur etwa
rund 65 Prozent der mit Warfarin/Phenprocoumon behandelten Patienten im therapeutischen
INR-Bereich liegen. Ob eine bessere INR-Einstellung das positive Ergebnis der NOAKs mindern
würde, bleibt offen. Realistisch ist, dass eine
wesentlich bessere Einstellung auf Marcumar®
(Phenprocoumon) bei Patienten mit Vorhofflimmern nicht oder nur sehr, sehr langsam zu erreichen sein wird.
Aus der AkdÄ-Empfehlung kann man also
ableiten, dass bis zu 35 Prozent der Patienten mit
Vorhofflimmern zur Schlaganfallprophylaxe Dabigatran oder Rivaroxaban erhalten sollten. Ob
die AkdÄ ihre Therapieempfehlung unter dem
Gesichtspunkt der Nutzenbewertungsverfahren
um Apixaban und Edoxaban erweitern wird, ist
bisher noch offen. Ich bin überzeugt, dass dies
nicht geschehen wird.
Quellen:
1. http://www.akdae.de/
Arzneimitteltherapie/NA
/Archiv/201504-LixianaVHF.pdf
2. http://www.akdae.de/
Arzneimitteltherapie/NA
/Archiv/201504-LixianaDVT.pdf
3. Edoxaban – Nutzenbewertung gemäß § 35a
SGB V; IQWiG-Berichte
– Nr. 334, Stand: 28.
Oktober 2015
SCHWERPUNKT
telmarkt-Neuordnungsgesetz) auf den Markt. Daher liegt bei ihnen keine Bewertung gegenüber
der Vergleichstherapie mit Warfarin (bei uns Phenprocoumon) vor. Die Nutzenbewertung für Apixaban und Edoxaban hat dagegen einen Mehrnutzen gegenüber der Vergleichstherapie ergeben.
Dieses Ergebnis darf hinterfragt und angezweifelt
werden, dennoch ist es eine Verordnungsgrundlage. Der Mehrnutzen von Apixaban und Edoxaban
gilt für die komplette Indikation „Schlaganfallprophylaxe bei nicht valvulärem Vorhofflimmern“. Anders als beispielsweise bei den neuen HepatitisC-Präparaten wurden keine Subgruppen mit oder
ohne Zusatznutzen definiert. Daher ist der mit den
Krankenkassen vereinbarte Preis ein wirtschaftlicher Preis und die Verordnung der nutzenbewerteten NOAKs kann und wird nicht zu Regressen
führen. Bei Dabigatran und Rivaroxaban ist dies
wegen der fehlenden Nutzenbewertung nicht so.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere
nicht für eine First-Line-Therapie mit nutzenbewerteten NOAKs für die Schlaganfallprophylaxe bei
Vorhofflimmern. Mir ist wichtig, dass alle NOAKs
betrachtet und die IQWiG-/G-BA-Bewertungen
objektiv einbezogen werden.
Bewertung von Edoxaban
Die AkdÄ ist in den Nutzenbewertungsverfahren
des G-BA ein zugelassener Stellungnehmer. Sie
ist berechtigt, zu den Verfahren eine eigenständige Stellungnahme/Bewertung einzubringen. Bei
Edoxaban sieht die AkdÄ wie das IQWiG einerseits keine bessere Wirksamkeit gegenüber Warfarin, andererseits aber weniger schwere sowie
klinisch relevante nicht schwere Blutungen. Die
Vorteile hinsichtlich des Blutungsrisikos relativiert
die AkdÄ allerdings, weil sie im „hiesigen Versorgungsalltag“ eine bessere Einstellung auf Warfarin beziehungsweise Phenprocoumon erwartet.
Dies kann man durchaus kontrovers diskutieren.
DR. MED. WOLFGANG LANGHEINRICH
✓ Interessenkonflikte: keine
FAZIT
Ist ein NOAK zu verordnen, sollte es in jedem
Fall ein nutzenbewertetes sein. Dies trifft bisher nur für Apixaban (Eliquis®) und Edoxaban
(Lixiana®) zu. Für sie gilt ein Mehrnutzen nach
der AMNOG-Bewertung als belegt. Außerdem
ist für Apixaban ein wirtschaftlicher Preis mit
den Krankenkassen vereinbart worden. Für
Edoxaban wird dies demnächst erwartet.
Daher kann ihre Verordnung niemals
unwirtschaftlich oder regressbedroht sein.
Damit ist aber nicht die Frage beantwortet,
wie vielen Patienten zur Schlaganfallprophylaxe NOAKs verordnet werden sollten. Sind es
20 Prozent gemäß den Wirtschaftlichkeitsvereinbarungen mit den Krankenkassen zur Therapie mit NOAKs? Oder sind es 35 Prozent auf
Basis der Therapieempfehlung der AkdÄ?
Sollten sie möglicherweise allen Patienten verordnet werden, da ein Mehrnutzen gegenüber
der Marcumar®-Therapie belegt ist?
KVH aktuell 1|2016
13
UAW
NACHRICHTEN
Seltene Nebenwirkungen:
ein Überblick
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) treten oft erwartet
auf oder sind zumindest bekannt – vor allem, wenn Patienten
Medikamente hoch dosiert einnehmen. Meist handelt es sich
dabei um Überempfindlichkeitsreaktionen oder mit dem Wirkmechanismus des jeweiligen Arzneimittels verbundene UAW.
Nachfolgend möchten wir Ihnen einige eher außergewöhnliche
Nebenwirkungen vorstellen.
Stimulation des Wimpernwachstums
Das Glaukommittel Bimatoprost (Lumigan®) hat
als seltene UAW die Eigenschaft, das Wachstum
der Wimpern zu beeinflussen: Sie werden länger, dichter und dunkler. Nach dem Absetzen
wird die ursprüngliche Wimpernlänge im Lauf
von Wochen wieder erreicht – im Gegensatz zu
den Verfärbungen der Iris, die lebenslang bestehen bleiben können.
Verschwinden der Fingerabdrücke
Das Zytostatikum Capecitabin (Xeloda®) lässt
Fingerabdrücke verschwinden. Dies kann zum
Beispiel bei Reisen in die USA Probleme verursachen, vor allem, wenn dieses palmar-plantare
Erythrodysästhesie-Syndrom in schweren Fällen
bis zum kompletten Verlust des Fingerabdrucks
geführt hat. Auch andere Arzneistoffe können
zu diesem Hand-Fuß-Syndrom führen, sodass
bei entsprechenden Reisen ein Schreiben des
Farbiger Urin
Eine Reihe von Arzneimitteln können selbst oder durch ihre Metabolite
den Urin verfärben.
14
쐍 Anthrazykline wie Doxorubicin
rötlich bis rotbraun
쐍 Anthrachinone
rotbraun
쐍 Rifamycine
rotbraun
쐍 Vitamin B 12
intensiv gelb
쐍 Methylenblau
grün
쐍 Pyrazolon-Derivate (Metamizol)
rot
쐍 Amitryptilin
grün bis blau
쐍 Triamteren
grün bis blau
쐍 L-Dopa, Methyldopa
rötlich, nach Stehenlassen
schwarz
KVH aktuell 1|2016
behandelnden Arztes über den Verlust von Fingerlinien von Vorteil sein kann.
Haarzunge durch Antibiotika
Eine schwarze Zunge mit haarähnlichen, verdickten Papillen kann nach Einnahme von Antibiotika
auftreten. Sie bildet sich in der Regel zurück,
wenn die auslösenden Medikamente abgesetzt
werden. Darunter fallen auch Arzneistoffe wie
Anticholinergika, die zur Mundtrockenheit
führen.
Störungen des Geruchssinns
Kalziumantagonisten, Antibiotika und Lokaltherapeutika (Nasentropfen bei chronischem Gebrauch)
können das Riechvermögen teilweise ausschalten oder völlig auslöschen.
Störungen des Geschmackssinns
Makrolide, Gyrasehemmer, Antimykotika, ACEHemmer, Kalziumantagonisten, Psychopharmaka, Parkinsonmittel und Zytostatika gehören zu
den Arzneistoffen, die eine Dysgeusie, eine
Hypogeusie oder eine Ageusie hervorrufen können, die bei Absetzen der Arzneistoffe in der
Regel reversibel sind.
Albträume
Paradebeispiel für das Auftreten von Albträumen
unter der Therapie dürfte das Malariamittel
Mefloquin (Lariam®) sein. Diese UAW war unter
anderen ein Grund dafür, dass die Lufthansa ihren Piloten die Einnahme dieses Arzneistoffes
untersagte. Auch bei Vareniclin (Champix®) zur
Raucherentwöhnung besteht der Verdacht des
Auftretens von Albträumen unter der Therapie.
„Männerbusen“
Somnambulismus wird insbesondere unter der
Therapie mit Zolpidem und Zopiclon berichtet.
Ohne dass sich die Betroffenen erinnern können, haben sie Mahlzeiten zubereitet oder verzehrt, telefoniert oder Geschlechtsverkehr ausgeübt. Insbesondere ärztliche Hinweise auf ein
mögliches „Schlaffahren“ sind von Bedeutung
für die Sicherheit im Straßenverkehr. Grundsätzlich werden auch andere zentral nervös wirkende Arzneistoffe mit Schlafwandeln in Zusammenhang gebracht: Antidepressiva, Benzodiazepine, Neuroleptika.
Die Einnahme von Antiandrogenen bei Männern
mit Prostatakrebs, eine 5-a-Reduktasehemmertherapie bei gutartiger Prostatavergrößerung,
eine Testosteronbehandlung oder ein Anabolikamissbrauch können das Brustwachstum bei Männern fördern. Weniger bekannt ist, dass unbeabsichtigter längerer Kontakt über die Haut mit
Östrogenpflastern einen ähnlichen Effekt hervorrufen kann. Auch Pflegeprodukte oder Lifestyle-Produkte mit Östrogenen oder Östrogenähnlichen Substanzen (Teebaumöl, Lavendelöl,
Hopfenblüten) können ein Brustwachstum beim
Mann fördern. Als Auslöser einer Gynäkomastie
sind auch Cimetidin und Ranitidin sowie Omeprazol und Spironolacton bekannt. 쐍
Impulskontrollstörungen
Alle Dopamin-Agonisten, insbesondere zur Therapie von Morbus Parkinson, stehen in Verdacht,
Impulskontrollstörungen zu verursachen. Die
Hersteller dieser Präparate wurden vom Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte bereits 2007 aufgefordert, die Produktinformationen entsprechend zu ändern und konkret auf
die Gefahren einer Spielsucht, Libidosteigerung
und Hypersexualität hinzuweisen.
NACHRICHTEN
Schlafwandeln
DR. MED. GÜNTER HOPF
✓ Interessenkonflikte: keine
Quelle:
Pharm. Ztg. 2015;
160 (14): 30–37
NICHTMEDIKAMENTÖSE THERAPIEN
Jeder Schritt zählt
Steigende Body-Mass-Indizes (BMI), die Zunahme
stoffwechselbedingter Erkrankungen wie Diabetes mellitus und Hypertonie und eine damit verbundene erhöhte Sterblichkeit – auch bei jüngeren Menschen – machen nichtmedikamentöse
Maßnahmen immer wichtiger. Dazu gehört auch
die regelmäßige körperliche Bewegung. Gerade
übergewichtigen Menschen fällt es aber schwer,
dauerhaft sportlich aktiv zu sein. Verschiedene
niedrigschwellige Programme zielen daher darauf
ab, beispielsweise über die tägliche Anzahl von
Schritten die persönliche Fitness zu steigern und
so Folgeerkrankungen von Übergewicht und
Adipositas vorzubeugen. Als Motivationshilfe für
„Fitnessmuffel“ bewährt sich häufig ein einfacher Schrittzähler (mit oder ohne Internetanbindung). Er zeigt den Betreffenden, wie sie ihr
selbst gestecktes Ziel von 3.000, 5.000, 7.000
oder 10.000 Schritten pro Tag erreichen können.
Dies kann motivieren, die im Alltag zurückgelegte Gehstrecke weiter zu steigern und sich mehr
zu bewegen. Und das trägt ganz nebenbei dazu
bei, die Grundlagen für eine gesündere
Zukunft zu schaffen. Schrittzähler gibt es sowohl
als kostengünstige Variante für den Gürtel
als auch als Zusatzfunktion in vielen neueren
Smartphones. 쐍
DR. MED. CLAUS HAESER
✓ Interessenkonflikte: keine
Quelle:
Lee SF, et al.: An investigation and comparison
of the effectiveness of
different exercise
programmes in improving
glucose metabolism
and pancreatic beta-cell
function of type 2 diabetes patients. Int J Clin
Pract 2015;
doi10.1111/ijcp.12679
KVH aktuell 1|2016
15
STIKO
NACHRICHTEN
Neue Impfempfehlungen
Die Ständige Impfkommission am Robert KochInstitut (STIKO) hat ihre Impfempfehlungen
2015/16 leicht geändert:
쐍 Meningokokken: Patienten mit EculizumabTherapie wurden in die Gruppe der gesundheitlich gefährdeten Personen übernommen, die
gegen Meningokokken A, C, W, Y und/oder B
geimpft werden sollen. Dies gilt auch für
gefährdetes Laborpersonal. Die Reiseimpfung
gegen Meningokokken A, C, W, Y wird über
die Hadj hinaus auch auf die Umrah (Pilgerreise
nach Mekka zu beliebiger Zeit) ausgeweitet.
쐍 Pneumokokken: Im Kleinkindalter wird nur
noch 3-mal geimpft (2, 4, 11–14 Monate).
Bei Frühgeborenen bleibt es bei 4-mal (2, 3,
4, 11–14 Monate).
쐍 Gelbfieber: Die einmalige Impfung bietet
lebenslangen Schutz, es ist keine Auffrischung
notwendig. Da die Umsetzung der internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) in einigen
Ländern noch andauern kann, sollte man sich
über die aktuellen Vorschriften des Reiselandes
informieren. Neu ist die Impfempfehlung für
Gelbfieber-Forschungslabore.
쐍 Masern: Im Rahmen eines Ausbruchs können
nach Abwägung schon 6–8 Monate alte Säuglinge (off-label use) geimpft werden. Anschließend sollten die üblichen Masernimpfungen
folgen. Indiziert ist eine Masernimpfung ab
9 Monaten bei Eintritt in eine Kita. 쐍
DR. MED. GERT VETTER
✓ Interessenkonflikte: keine
FENTANYL
Sicherheitshinweise für Pflaster beachten
Quelle:
Rote-Hand-Brief
vom 1.6.2014
Grund für die erneute Warnung sind Todesfälle bei
Kindern, die auf einen zu nachlässigen Umgang mit
diesen potenziell hochtoxischen Pflastern zurückzuführen waren. Dazu gehören das Vermeiden
von unbeabsichtigten Applikationen, z. B. durch
Pflasterübertragung, versehentliches Verschlucken
(Kontrolle der Applikationsstelle) sowie die Kontrol-
le der Entsorgung (Klebeflächen der Pflaster aufeinander kleben und sicher entsorgen). 쐍
DR. MED. GÜNTER HOPF
✓ Interessenkonflikte: keine
HYPERTONIE
Spironolacton bei therapieresistentem
Bluthochdruck
Quelle:
Ärzte Ztg.
vom 2.9.2015, S. 1
16
KVH aktuell 1|2016
In einer Studie mit 335 Patienten mit resistenter
Hypertonie wurden der Alphablocker Doxazosin,
der Betablocker Bisoprolol, Spironolacton und
Placebo gegeneinander getestet. Im Zielbereich
(unter 135 mmHg) lagen im Doxazosin-Arm
41,7 Prozent, im Bisoprolol-Arm 43,6 Prozent, im
Placebo-Arm 24,4 Prozent und im SpironolactonArm 57,8 Prozent der Patienten. Unter sorgfältiger
Überwachung der Nierenfunktion und der Kaliumwerte scheint der schon sehr lange bekannte
Arzneistoff Spironolacton gerade bei problematischer Hypertonie noch sinnvoll zu sein. 쐍
DR. MED. GÜNTER HOPF
✓ Interessenkonflikte: keine
SPECIAL FLÜCHTLINGE
DIAGNOSTIK UND THERAPIE
Häufige Erkrankungen
Asylsuchender
Die Zahl der Flüchtlinge steigt weiter an. Damit nehmen auch die
Anforderungen an niedergelassene Ärzte in Hessen weiter zu.
Deshalb haben wir dieser Thematik ein zweites Special gewidmet.
Diesmal geht es um psychische Störungen sowie häufige Krankheiten
von Asylsuchenden im Kindes- und Jugendalter.
DR. THOMAS GÖTZ, MEIKE HUBER, DR. BERNHARDT KRACKHARDT, DR. UDO GÖTSCH, DR. PETER NEUMANN,
GESUNDHEITSAMT DER STADT FRANKFURT AM MAIN
PROF. DR. JOACHIM PFEIL1, DR. ROBIN KOBBE2, DR. STEFAN TRAPP3, DR. CHRISTA KITZ4, DR. MARCUS
HUFNAGEL5
1
Kinderheilkunde I, Universitätsklinikum Heidelberg, 2 Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-
Eppendorf, 3 Bremen, 4 Kinder- und Jugendmedizin, Missionsärztliche Klinik Würzburg, 5 Sektion Pädiatrische Infektiologie und Rheumatologie,
Klinik I, Universitätsklinikum Freiburg
KVH aktuell 1|2016
I
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Psychische Störungen
Viele Flüchtlinge sind aufgrund ihrer Erlebnisse seelisch belastet.
Worauf man bei ihrer Versorgung achten sollte.
DR. MED. THOMAS GÖTZ
GESUNDHEITSAMT DER STADT FRANKFURT AM MAIN
D
er Slogan „Keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit“ wurde von der Weltgesundheitsorganisation geprägt.1 Er gibt einen
groben Rahmen für die Betreuung aller Patienten
vor, besonders aber für die Flüchtlinge und Asylsuchenden, die derzeit nach Europa kommen. Bei
diesen Menschen bestehen oftmals größere Kommunikationshürden und Gefahren möglicher Fehleinschätzungen psychischer Erkrankungen als bei
der übrigen Bevölkerung. Diese sind vor allem bedingt durch:
1. Verständigungsprobleme – Psychiatrie als Beispiel einer sprechenden Medizin beruht primär
auf Sprachkompetenz,
2. kulturelle und religiöse Unterschiede – inklusive eines unterschiedlichen Stellenwerts
psychischer Gesundheit in den Ursprungskulturen,
3. soziale Einflussfaktoren im Herkunfts- und
Ankunftsland – wie noch in der Heimat verbliebene Familienmitglieder oder das subjektive Gefühl von Sicherheit im Ankunftsland,
4. mangelhafte wissenschaftliche Evidenz zur
Epidemiologie, Diagnostik und Therapie
psychischer Erkrankungen der Asylsuchenden.
Zur medizinischen Versorgung
Asylsuchende haben gegenüber gesetzlich Krankenversicherten eingeschränkte Ansprüche (§ 4
Asylbewerberleistungsgesetz, AsylbLG) auf medizinische Leistungen:
■ ärztliche und zahnärztliche Behandlung akuter
Erkrankungen und Schmerzzustände einschließlich der Versorgung mit Arznei- und
Verbandsmitteln,
■ Gewährung von zur Genesung, Besserung
oder Linderung von Krankheiten oder
Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen –
dies beinhaltet auch akute Symptombilder aus
II
KVH aktuell 1|2016
dem psychiatrischen Bereich, zum Beispiel suizidales Verhalten,
■ werdenden Müttern und Wöchnerinnen sind
ärztliche und pflegerische Hilfe und Betreuung, Hebammenhilfe, Arznei-, Verband- und
Heilmittel zu gewähren,
■ Verabreichung amtlich empfohlener Schutzimpfungen,
■ Versorgung mit Zahnersatz nur, wenn dies aus
medizinischen Gründen unaufschiebbar ist.
Zudem können gemäß § 6 AsylbLG auch andere
Leistungen gewährt werden, wenn sie im Einzelfall
unerlässlich sind, um den Lebensunterhalt und die
Gesundheit zu sichern oder besondere Bedürfnisse
von Kindern zu decken.
Keine homogene Gruppe
So vielfältig gesellschaftliche und individuelle Gründe für eine Flucht sein können, so verschieden sind
auch die Ursprungskulturen – oftmals in VerDie gute körperliche
bindung mit religiösen
Aspekten – der Flücht- und seelische
linge. Kulturunterschie- Gesundheit ist eine
de müssen daher geraGrundvoraussetzung
de im Hinblick auf psychische Auffälligkeiten für die erfolgreiche
besonders berücksich- Integration
tigt werden. Dies setzt
asylsuchender
voraus, dass man spezielle
transkulturelle Menschen.
Kompetenzen entwickelt, um gezeigte Symptome adäquat einschätzen zu können.2 Hinzu kommen noch die unterschiedlichen Flüchtlingsgruppierungen. Dabei müssen vor allem unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) von erwachsenen Asylsuchenden
und deren Angehörigen unterschieden werden.
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Ursache und Wirkung
Allgemein gelten Flüchtlinge aufgrund der
sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten als
oft schwer erreichbare Risikogruppe für psychische Störungen. Diese können das gesamte
Spektrum psychiatrischer Erkrankungen umfassen. Hierbei sind Einflussfaktoren zu berücksichtigen, die vor, während und nach der Flucht auftreten können (Abbildung unten). Dabei ist auch
immer zu klären, ob nicht bereits vor der Flucht
eine psychische Erkrankung bestand.
Im Fokus der gegenwärtigen Diskussion stehen vor allem traumatisierende Erfahrungen, die
Menschen überhaupt erst dazu veranlassen, ihr
Land zu verlassen, und Erlebnisse während der
oft monatelangen Flucht. Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur schwer möglich, hierzu genaue quantitative Angaben zu machen. Es muss
davon ausgegangen werden, dass die überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge eines oder mehrere solcher Erlebnisse hatte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich daraus automatisch eine
Traumafolgestörung oder eine andere (psychische) Erkrankung entwickeln muss. Allerdings ist der Stellenwert traumatischer Erfahrungen als Risikofaktor für psychische Störungen
allgemein unbestritten.
EINFLUSSFAKTOREN PSYCHISCHER STÖRUNGEN
PRÄ
■ vorbestehende
Psychopathologie
■ Geschlecht
■ Alter
■ niedriger sozioökonomischer Status
PERI
POST
■ Art, Ausmaß und Dauer
der Migration
■ Stressoren im Ankunftsland (interpersonelle
Konflikte, Unsicherheit
bezüglich Aufenthaltsstatus, körperliche und
ökonomische Schäden),
mit Dauer und Intensität
der Stressoren als weiteren Einflussgrößen
■ Art, Ausmaß und Dauer
von Ereignissen während der Migration
■ Angehörige ethnischer
Minderheiten
■ fehlendes soziales Netz
■ fehlendes soziales Netz
■ Beziehungen ins
Ursprungsland
■ Persönlichkeit
■ Familienstand, Kinder
■ frühere traumatische
Erfahrungen
MIGRATIONSPHASEN
KVH aktuell 1|2016
III
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Unterschiedliche Symptome
Nach der Ankunft stehen zunächst grundlegende
Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Ähnliches
im Vordergrund.3 Dennoch zeigen manche Flüchtlinge bereits bei ihrer Ankunft psychische Auffälligkeiten, etwa Schlafstörungen, Unruhezustände, soziale Rückzugstendenzen oder Schreckhaftigkeit. Diese Anzeichen können auf eine zugrunde liegende psychische Störung hinweisen. Möglicherweise sind sie Ausdruck der Anpassungsschwierigkeiten an die neuen Lebensverhältnisse.
Genauso können sich die Symptome während der
Flucht entwickelt haben. Oder sie bestanden bereits vorher, wurden jedoch aufgrund fehlender
Versorgungsstrukturen im Herkunftsland nicht
adäquat diagnostiziert und behandelt. Andere
Flüchtlinge entwickeln erst nach einem Intervall
im Ankunftsland Krankheitszeichen. Wieder andere verfügen über ausreichend Resilienz, um sich
den Anforderungen der Zukunft uneingeschränkt
zu stellen. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass das westliche Konzept einer psychischen
Erkrankung in vielen Herkunftsländern nicht existiert oder nicht akzeptiert wird. Psychische Symptome werden in der Folge oft stark körperlich ausgedrückt (z. B. durch Zittern oder Angabe von
Schmerzen) oder gar nicht erst erwähnt, weil sie
mit einem starken Stigma belegt sind. Grundsätzlich stellt die Migration einen Prozess dar, der die
psychische Gesundheit lebenslang beeinflussen
kann. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Notwendigkeit, sich in eine fremde Kultur zu integrieren, die für viele Migranten einen zusätzlichen
Stressor darstellt.4 Das bedeutet auch, dass sich
manche psychischen Störungen erst deutlich nach
der Flucht manifestieren.
Keine genauen Zahlen
Es erstaunt wenig, dass die Prävalenz psychischer
Erkrankungen bei Flüchtlingen in Ankunftsländern je nach Studie erheblich variiert. Selbst neuere Metaanalysen kommen aufgrund der Heterogenität der Population, der verwendeten Messinstrumente und Erhebungszeitpunkte zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen für einzelne Erkrankungen. So zeigte eine Metaanalyse von Fazel et
al.5 2007 eine Prävalenz der posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) von 9 % und der unipolaren Depression von 5 % bei Erwachsenen. Bogic
et al.6 konnten in ihrer 2015 erschienenen, auf
Langzeitfolgen ausgerichteten Metaanalyse Prävalenzen für die PTBS, unspezifische Angststörun-
IV
KVH aktuell 1|2016
gen und Depressionen von jeweils 20 % und höher berechnen. Zum Teil betrifft dies auch unbegleitete minderjährige Asylsuchende.7 Insgesamt
finden sich bei ihnen deutlich höhere Prävalenzen,
als beispielsweise für die Allgemeinbevölkerung
zu erwarten sind (z. B. PTBS: 1,3–1,9 % oder Depression: 10 %). Neben den „klassischen“ Erkrankungen im Zusammenhang mit der Flucht (PTBS,
Angststörungen, Depressionen bzw. internalisierende/externalisierende Auffälligkeiten bei unter
18-Jährigen) sind andere psychische Krankheiten
bisher nicht oder nur unzureichend untersucht.
Dazu zählen der schädliche Gebrauch oder die
Abhängigkeit von Substanzen, nicht stoffgebundene Süchte, aber auch die Psychosen, etwa im
Kontext der Schizophrenien.
Schwierige Anamnese
Verhaltensauffälligkeiten, die auf eine mögliche
zugrunde liegende Erkrankung hinweisen, können sich auf unterschiedliche Weise manifestieren. Es gilt immer der Grundsatz, dass psychische
Erkrankungen (wie in Kapitel V der ICD-10 definiert) per se Ausschlussdiagnosen sind. Oft ist es
aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren im
zeitlich dicht gepackten Praxisalltag nur schwer
möglich, über eine differenzierte, empathische
Kommunikation ausreichend Hinweise für eine
Verdachtsdiagnose zu erhalten. Häufig zeigen sich
dann Tendenzen, dies durch die reine Beobachtung des Erscheinungsbildes und Verhaltens zu
kompensieren. Dadurch läuft man allerdings Gefahr, sich zu voreiligen, inkorrekten Schlüssen verleiten zu lassen. Die Folge sind entsprechende
Nachteile für therapeutische Interventionen. Auch
vom Ausfüllen von Selbstscreeningbögen ist gegenwärtig abzuraten, da valide Instrumente und
direkte Handlungsmöglichkeiten fehlen. Zudem
besteht das Problem, dass psychische Störungen
als stigmatisierend empfunden werden könnten.
Es gilt hier vielmehr, die Patienten durch eine möglichst sachliche persönliche Einschätzung grundlegender Verhaltensweisen zu identifizieren.
Zeigt oder berichtet eine Patientin/ein Patient Verhaltensauffälligkeiten wie Weinen, Schreien,
Schreckhaftigkeit, Zittern, Unruhe, Wutanfälle,
Schlafstörungen, Selbstgespräche oder Stimmenhören, so können dies Hinweise auf eine psychische Störung sein. Dies bedeutet, dass die Patientin/der Patient dann dem spezialisierten psychosozialen Versorgungssystem zugeführt werden sollte, damit eine fundierte Diagnostik mit
entsprechenden Therapieempfehlungen durchgeführt werden kann. Ein besonderes Augenmerk
sollte dabei auf Anzeichen für Suizidalität (inklusive selbstverletzenden Verhaltens) gelegt werden,
die eine Krisenintervention in einer psychiatrischen Fachklinik nach sich ziehen können. Dabei
sind die üblichen gesetzlichen Grundlagen zu beachten (freiwillige Aufnahme versus Einweisung
gegen den Willen des Patienten nach den jeweiligen öffentlich-rechtlichen Landesbestimmungen
oder, falls gegeben, dem Betreuungsrecht). Für
die aktuell in den Frankfurter Notunterkünften
untergebrachten Flüchtlinge haben wir einen einfachen Fragebogen entwickelt, der die wichtigsten Verhaltensauffälligkeiten auf einer Seite zusammenfasst und als eine Art Weiche für die Weitervermittlung in das psychosoziale Versorgungssystem dienen soll.
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Überweisung an Spezialisten
Ausblick
Das psychosoziale Versorgungssystem wird sich an
die durch die Flüchtlinge neu gestellten Herausforderungen anpassen müssen. Dazu gehören:
■ Steigerung interkultureller Kompetenzen,8
■ Ausbildung, Verfügbarkeit, Supervision und
Finanzierung von kompetenten
Dolmetschern,9
■ neue therapeutische Herangehensweisen, wie
psychotherapeutische Kurzinterventionen,
spezialisierte Gruppentherapien oder auch
Angebote der Telepsychiatrie.10 쐍
Wielant Machleidt und
Andreas Heinz:
Praxis der interkulturellen
Psychiatrie und
Psychotherapie:
Migration und psychische
Gesundheit
Verlag: Urban & Fischer/
Elsevier GmbH, 2011
ISBN: 978-3437245701
85,95 Euro
Literatur:
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2013; 81 (5): 285–94.
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Renovating the Pyramid of Needs: Contemporary
Extensions Built Upon Ancient Foundations. Perspect
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Lancet. 2005; 365 (9467): 1309–14.
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A critical evaluation of videoconferencing-based
approaches. World J Psychiatry. 2015 Sep 22; 5 (3):
286–304.
KVH aktuell 1|2016
V
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Typische Krankheiten
jugendlicher Flüchtlinge
Eine Übersicht für die ambulante Betreuung.
MEIKE HUBER, DR. MED. BERNHARDT KRACKHARDT,
DR. MED. UDO GÖTSCH, DR. MED. PETER NEUMANN,
GESUNDHEITSAMT FRANKFURT/MAIN
A
uch in der niedergelassenen Praxis stellen sich
immer mehr minderjährige Flüchtlinge vor.
Vor diesem Hintergrund möchten wir in diesem Beitrag die Erfahrungen, die im Gesundheitsamt Frankfurt seit vielen Jahren bei der Untersuchung von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA;
Synonym: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge,
UMF) gemacht wurden, vorstellen. Alle Kinder und
Jugendlichen, die ohne ihre Familien geflohen sind
und in Südhessen ankommen, werden vom Frankfurter Jugendamt in Obhut genommen und in der
Abteilung Kinder- und Jugendmedizin des Gesundheitsamtes Frankfurt untersucht und geimpft.
Nach Erstdiagnose im Rahmen der Aufnahmeuntersuchung werden die Jugendlichen zur Behandlung der organischen Erkrankungen in das
reguläre Versorgungssystem überführt. So findet
sich nach Flucht und Unterbringung in Massenunterkünften vermehrt Skabies. Zudem begünstigen
schlechte hygienische Bedingungen bakterielle und
virale Infektionen sowie Mykosen. Durch Unfälle
oder Gewalteinwirkung entstehen Verletzungen
des Bewegungsapparates und der Haut. Der hohe
Stresspegel auf der Flucht begünstigt die Entstehung einer Gastritis. Inadäquate Kleidung und
Behausung führen zu Infektionserkrankungen im
Bereich der Atemwege und ableitenden Harnwege. Patienten mit latenter oder aktiver Tuberkulose werden von der Tuberkuloseberatung des
Gesundheitsamtes weiterbetreut. Bei aktiver Tuberkulose wird eine leitliniengerechte Behandlung
veranlasst. Bei Nachweis einer latenten Tuberkulose empfahlen wir zunächst eine Chemoprävention, haben diese Praxis jedoch wegen ComplianceProblemen zugunsten einer Aufklärung über
Frühsymptome einer Aktivierung verlassen.6–12 Die
Jugendlichen mit behandlungsbedürftigen Befunden, die durch unsere Abteilung Zahnmedizin erfasst werden, werden von niedergelassenen Zahnärzten versorgt. Ein Impfschutz, vor allem gegen
VI
KVH aktuell 1|2016
die gängigen Infektionserkrankungen, ist vor
allem im Hinblick auf die Unterbringung in einer
Gemeinschaftseinrichtung unabdingbar. Deshalb
beginnen wir die Impfserie bereits im Rahmen
der Erstvorstellung.
Die medizinische Erstuntersuchung der Kinder
und Jugendlichen im Gesundheitsamt Frankfurt/Main umfasst:
■ fragebogengestützte Anamnese (Fragebögen in
den häufigsten Landessprachen),
■ psychosoziale Anamneseerhebung zum Screening auf psychiatrische Krankheitsbilder,
■ eine körperliche Untersuchung, i. d. R. unter
Ausschluss der Anal- und Genitalregion,
■ Urin- und Stuhluntersuchung,
■ Seh- und Hörtest,
■ Untersuchungen zum Ausschluss einer Tuberkulose, d. h. Röntgenaufnahme des Thorax für
Jugendliche ≥ 15 Jahre; bei Kindern < 15 Jahre
Bluttuberkulose-Test (IGRA-Test) respektive
Tuberkulose-Haut-Test,
■ zahnärztliche Untersuchung,
■ bei Bedarf weitere Untersuchungen,
■ Beginn der Impfungen nach STIKO, d. h. MMR,
Varizellen, Tetanus, Diphtherie, Pertussis und
Polio.
Abklärungs- oder behandlungsbedürftige Befunde werden in Arztbriefen den zuständigen Ärzten
mitgeteilt, Klinikeinweisungen gegebenenfalls direkt veranlasst. Das Vorgehen orientiert sich an
den Empfehlungen des Robert Koch-Instituts, der
Ständigen Impfkommission (STIKO)1,2 sowie der
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für
Pädiatrische Infektiologie, der Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit
und des Berufsverbands der Kinderärzte.3
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Gesundheitsstatus UMA
erheblich zugenommen. In den ersten Monaten
des Jahres 2015 bis Ende August wurden bereits
deutlich mehr minderjährige Asylsuchende untersucht als in den Vorjahren (Grafik unten).
Von 2006 bis zum 31.08.2015 wurden im Gesundheitsamt in Frankfurt 2.819 Kinder untersucht. Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen
Asylsuchenden hat in den Jahren 2014 und 2015
UNTERSUCHTE UMA VON 2006 BIS 2015
(nach Untersuchungsjahr, n = 2.819)
Untersuchte UMA nach Untersuchungsjahr
1000
❚ Weiblich ❚ Männlich
900
55
800
700
600
64
400
869
300
200
38
493
100
35
53
56
Anzahl
276
0
36
47
41
35
2006
2007
44
36
58
81
2008
2009
151
165
186
2010
2011
2012
2013
2014
2015
Jahr
KVH aktuell 1|2016
VII
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Tuberkulose-Infektionen
Insgesamt waren 30 der 2.819 UMA (1,1 % aller
UMA) in Frankfurt/Main an Tuberkulose erkrankt.
Es traten Lungen- und Lymphknotentuberkulosen
auf. Am häufigsten betroffen waren somalische
(3,3 %) sowie äthiopische und schwarzafrikanische (1,5 und 1,4 %) Jugendliche. Jugendliche aus
anderen Ländern, einschließlich Afghanistan und
Eritrea, waren seltener erkrankt (Tabelle 1). Im
zweiten Halbjahr 2013 wurde bei allen UMA eine Bluttuberkulosetestung (Interferon-GammaRelease Assay, IGRA) durchgeführt. Ab 2014 wurden nur noch alle unter 15-Jährigen mittels IGRA
gescreent. Bei den ab 15-Jährigen wurde der Bluttuberkulosetest ab 2014 nur durchgeführt, wenn
anamnestisch oder klinisch ein Kontakt/Verdacht
auf Tuberkulose bestand. Bei 23 % der im Rah-
men des Screenings getesteten 254 Kinder konnte eine Infektion mit Tuberkulose-Erregern nachgewiesen werden, wobei der Anteil der Testpositivität je nach Herkunftsland deutlich variiert. Mehr
als 40 % der Kinder aus Schwarzafrika und Somalia waren positiv, aus Afghanistan waren es 13 %.
Ein positives Testergebnis bedeutet nur, dass der
Patient sich mit Tuberkulose auseinandergesetzt
hat. Dies muss keiner akuten Erkrankung an
Tuberkulose entsprechen. Es scheint aber ein
länderspezifisch unterschiedliches Risiko für den
Übergang einer Tuberkuloseinfektion in eine
Tuberkuloseerkrankung zu geben. Nach verschiedenen Untersuchungen an Migranten ist
hier Somalia führend.4,5 Dies entspricht auch
unseren Erfahrungen.
TABELLE 1: TUBERKULOSEFÄLLE UND POSITIVER QUANTIFERONTEST
(Untersuchte UMA nach Herkunftsland)
Afghanistan
Untersuchte
UMA
insgesamt
Erkrankt
an
Tuberkulose
Quantiferontest
durchgeführt
Davon
positive
Tests
n
n (%)
n
n (%)
1.074
5 (0,5)
84
11 (13,1)
Somalia
449
15 (3,3)
51
23 (45,1)
Eritrea
438
2 (0,5)
79
12 (15,2)
Äthiopien
264
4 (1,5)
13
4 (30,8)
214
3 (1,4)
7
3 (42,9)
114
0 (0)
5
1 (20,0)
101
1 (1,0)
4
1 (25,0)
arabische Halbinsel
93
0 (0)
6
2 (33,3)
sonstige Länder
72
0 (0)
5
2 (40,0)
2.819
30 (1,1)
254
59 (23,2)
sonstiges Schwarzafrika
Nordafrika
2
3
Asien
1
1
U. a. Saudi-Arabien, Jemen, Oman, Kuwait, Katar, Vereinigte Arabische Emirate, Libanon, Syrien
2
Marokko, Algerien, Libyen, Ägypten, Sudan
3
Indien/Bangladesch/Sri Lanka, Vietnam, Pakistan, Iran
Die Altersschätzung erfolgt bei fehlender Dokumentation im Rahmen eines psychosozialen
Clearinggesprächs durch das Jugendamt. Die
Mehrheit (88 %) der in Frankfurt registrierten
unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge sind
demnach Jugendliche im Alter zwischen 15 und
17 Jahren, nur 12 % waren jünger. Kamen in
den ersten Jahren bis 2007 noch fast genauso
viele Mädchen wie Jungen nach Deutschland, so
waren es 2015 nur noch 6 % Mädchen. Dies erklärt sich vermutlich daraus, dass die Fluchtwege
immer gefährlicher werden und für Mädchen
fast nicht mehr zu bewältigen sind.
VIII
KVH aktuell 1|2016
Nahezu 40 % der Kinder und Jugendlichen kommen aus Afghanistan, ebenso viele vom „Horn
von Afrika“, d. h. aus Somalia, Eritrea, Äthiopien. 8 % stammen aus dem sonstigen Subsahara-Afrika und 4 % aus Nordafrika. Der Anteil aus
anderen Staaten wie z. B. der arabischen Halbinsel, zu denen in diesem Zusammenhang auch
Syrien gezählt wird, war mit 2 % relativ gering.
Aus dieser Region kommen erst seit dem Jahr
2015 vermehrt Jugendliche alleine nach
Deutschland (Tabelle 1).
Ebenso wird bei allen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine Stuhlprobe genommen,
um den Stuhl auf pathogene Keime, Parasiten
und Würmer zu untersuchen (Tabelle 2). Es trat
auch ein gelegentlicher Befall mit zwei Erregern
auf. Sehr häufig wird das Giardia-lamblia-Antigen (10,5 %) nachgewiesen, seltener Entamoeba histolytica/Entamoeba dispar zu 1,6 %, Blas-
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Notwendige Stuhluntersuchungen
tocystis hominis zu 1,4 % und das Campylobacter-Antigen zu 1,2 %. Bei Entamoeba histolytica/dispar wird eine weitere Differenzierung
durch den niedergelassenen Arzt notwendig.
Diese Erreger werden vorrangig durch verunreinigte Nahrung und kontaminiertes Wasser übertragen und können gastrointestinale Symptome
verursachen.
TABELLE 2: STUHLPROBENBEFUNDE VON 2.684 UMA
(von 2006 bis 2015)
Erreger
Anzahl
pos. Befunde
Prozent
pos. Befunde
Salmonellen/Shigellen
7
0,3
Yersinien
0
0,0
Campylobacter-Antigen
31
1,2
Giardia-lamblia-Antigen
283
10,5
Entamoeba histolytica/dispar
43
1,6
Entamoeba spp
26
1,0
Campylobacter jejuni/coli
4
0,1
Cryptosporidien-Antigen
3
0,1
Hymenolepis nana
28
1,0
Trichuris trichiura
30
1,1
9
0,3
Ancylostoma duodenale/Necator americanus
11
0,4
Blastocystis hominis
37
1,4
Schistosoma mansoni
3
0,1
Taenia saginata
5
0,2
Entamoeba hartmanni
24
0,9
Sonstige
11
0,4
Ascaris lumbricoides
KVH aktuell 1|2016
IX
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Das Bundesgesundheitsministerium (BMG)
hat den „Ratgeber
Gesundheit für
Asylsuchende in
Deutschland“ in
fünf Sprachen (Deutsch,
Englisch, Arabisch,
Kurdisch, Pashto)
veröffentlicht.
Der Ratgeber kann
kostenlos bestellt und
als PDF heruntergeladen
werden.
Allgemeine Befunde und
Erkrankungen
Die Abbildung zeigt die ärztlichen Befunde der
untersuchten Kinder und Jugendlichen nach
Krankheitsgruppen aufgegliedert. Bei gut der
Hälfte wurden medizinisch relevante Befunde
ermittelt, teilweise lagen bei einem Patienten
auch mehrere Befunde vor. Oft war die Haut der
Kinder und Jugendlichen behandlungsbedürftig
(bei 17 % aller Patienten). Am häufigsten zeigte
sich Krätze, gefolgt von Mykosen, bakteriellen
und viralen Infektionen und Verletzungen. Psychiatrische Befunde wurden als zweithäufigste
Diagnose festgestellt (12 % der Patienten); hier
führte ganz eindeutig die posttraumatische Be-
lastungsstörung. Weitere Diagnosen betrafen
den Bewegungsapparat (7 % der Patienten). Es
handelte sich vor allem um Verletzungen durch
Unfälle oder äußere Gewalteinwirkung. Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems sowie der Atmung (5 % der Patienten) traten genauso häufig
auf wie abdominelle Erkrankungen (5 %). Hier
führten stressbedingte Magenschmerzen vor
den Harnwegsinfekten. Seltener wurden Diagnosen aus dem HNO-Bereich (4 % der Patienten) gestellt. Neurologische und endokrinologische Erkrankungen traten nur vereinzelt auf. 쐍
UNTERSUCHUNGSBEFUNDE (ANAMNESE UND KÖRPERLICHE UNTERSUCHUNG)
(untersuchte UMA von 2006 bis 2015)
kvh.link/1601001
PRAXISTIPP
17 % Haut
47 % kein Befund
12 % Psychiatrie
UNTERSUCHUNGSBEFUNDE NACH
KRANKHEITSGRUPPEN
7 % Muskeln/Skelett
5 % Atmung/Herz-Kreislauf
5 % Abdomen
1 % Endokrinium
4 % HNO
3 % Neurologie
X
KVH aktuell 1|2016
Die UMA kommen nach oft monatelanger
Flucht über den Landweg, in den letzten Jahren kaum mehr mit dem Flugzeug, in Frankfurt/Main an. Zum Teil waren sie im Gefängnis
oder geschlossenen Lagern inhaftiert und/oder
auf ihrem Weg gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt. Viele der Kinder und Jugendlichen
sind Voll- oder Halbwaisen. Nicht nur die
Erlebnisse im Herkunftsland, sondern auch die
Erfahrungen auf der Flucht hinterlassen körperliche und seelische Spuren. Neben organischen Erkrankungen finden sich auch Kopf-,
Bauch- und Gliederschmerzen, Schlafstörungen, Angstzustände und Panikattacken als
Ausdruck einer kinder- und jugendpsychiatrischen Störung oder einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS). Jugendliche, die ihre
seelischen Nöte artikulieren können und die
Bereitschaft zur Teilnahme an einer Psychotherapie zeigen, werden – wenn irgend möglich –
an niedergelassene Therapeuten weitergeleitet. Viele Jugendliche lehnen eine Psychotherapie jedoch ab. Andere erwähnen ihre Nöte
erst gar nicht.
Gerade die seelischen Erkrankungen führen
nicht selten zu hohen Spannungen in den
Wohnheimen.13 Um hier effektiv zur psychischen Stabilisierung und Entlastung aller
beitragen zu können, wird seit 2015 durch
das Jugendamt in Zusammenarbeit mit dem
Sachgebiet Kinder- und Jugendpsychiatrie
des Gesundheitsamtes die Gruppentherapie
im Sinne einer Psychoedukation evaluiert.
Eine gute körperliche und seelische Gesundheit stellt eine Grundvoraussetzung für
eine gelingende Integration dar. Die Erstuntersuchung im Gesundheitsamt und die
weitere Betreuung in den niedergelassenen
Praxen sind hierfür eine unabdingbare
Voraussetzung.
SPECIAL FLÜCHTLINGE
FAZIT
Im Kindergesundheitsbericht des Gesundheitsamtes Frankfurt/Main
2002–2014 finden Sie
ausführlichere Daten
zu Untersuchungen
bei UMA.
kvh.link/1601002
INFO
Literatur:
1. Ständige Impfkommission am Robert Koch-Institut: Impfkalender (Standardimpfungen) für Säuglinge, Kinder, Jugendliche
und Erwachsene. In: Epidemiologisches Bulletin, 34, 329.
Online verfügbar unter http://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Empfehlungen/Aktuelles/Impfkalender.pdf;jsessionid=161B343A3C68610EB83AC5ABE0DCEE00.2_cid298?__blo
b=publicationFile, zuletzt geprüft am 27.08.2015
2. Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (2013):
Medizinische Maßnahmen bei immigrierenden Kindern und
Jugendlichen, Stellungnahme der Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen, Aktualisierung vom 07.10.2013.
Online verfügbar unter http://dakj.de/media/stellungnahmen/infektionskrankheiten-impffragen/2013_med-massnahmen-immigrierende-kinder-jugendliche.pdf, zuletzt geprüft am
05.10.2015
3. Pfeil J, Kobbe R, Trapp S, Kitz C, Hufnagel M.
Empfehlungen zur infektiologischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland. Stellungnahme
der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der
Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit und des Berufsverbands der Kinderärzte. Monatsschrift
Kinderheilkunde (2015) 163: 1269–1286
4. Kruijshaar ME, Abdubakar I, Stagg HR, Pedrazzoli D, Lippman M
(2013): Migration and tuberculosis in the UK: targeting screening
for latent infection to those at greatest risk of disease. In: Thorax, 68, 1172–1174. DOI: 10.1136/thoraxjnl-2013-203254
5. Robert Koch-Institut (2015d): Welttuberkulosetag 2015:Tuberkulose aktuell. In: Epidemiologisches Bulletin,11/12: 83–94
6. Brinkmann F, Thee S (2014): Update zur Therapie der Tuberkulose
im Kindesalter, Monatsschrift Kinderheilkunde, 162, 122–129
7. Deutsches Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose
(DZK); Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP) (2012): Empfehlungen zur Therapie und Chemoprävention und Chemoprophylaxe der Tuberkulose im Erwachsenen- und Kindesalter. Autoren: Schaberg T, Bauer T, Castell S,
Dalhoff K, Detjen A, Diel R, Greinert U, Hauer B, Lange C, Magdorf K, Loddenkemper R, in: Pneumologie 2012; 66, 133–171.
DOI: 10.1055/s-0031-1291619
8. Diel R, Loytved G, Nienhaus A, Castell S, Detjen A, Geerdes-Fenge H, Haas W, Hauer B, Königstein B, Maffei D, Magdorf K, Priwitzer M, Zellweger JP, Loddenkemper R (2011): Neue Empfehlungen für die Umgebungsuntersuchungen bei Tuberkulose. In:
Pneumologie, 65, 359–378. DOI: 10.1055/s-0030-1256439
9. Kohns M, Seyfarth J, Schramm D, Mayatepek E, Jacobsen M
(2013): Tuberkulose, Pathogenese und Wertigkeit immundiagnostischer Tests. In: Monatsschr. Kinderheilkd, 161, 697–702. DOI
10.1007/s00112-2882-y
10. Pareek M, Baussano I, Abdukakbar I, Dye C, Lalvani A (2012):
Evaluation of Immigrant Tuberculosis Screening in Industrialized
Countries. In: Emerging Infectious Diseases, 18, 1422–1429. DOI
10.3201/eid1809.120128
11. Weltgesundheitsorganisation (WHO) (2015b):
Guidelines on the management of latent tuberculosis infection.
WHO/HTM/TB/2015.01. Online verfügbar unter
http://www.who.int/tb/publications/
12. Ritz N, Brinkmann F, Feiterna-Sperling C, et al. (2015): Tuberkulosescreening bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen < 15
Jahre in Deutschland. Stellungnahme der Arbeitsgruppe AWMFLeitlinie Tuberkulose im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik, Prävention und Therapie, unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie. Monatsschrift Kinderheilkunde 163: 1287–1292
13. Gavranidou M, Niemiec B, Magg B, Rosnaer R (2008): Traumatische Erfahrungen, aktuelle Lebensbedingungen im Exil und psychische Belastung junger Flüchtlinge. In: Kindheit und Entwicklung 17, 224–231
KVH aktuell 1|2016
XI
SPECIAL FLÜCHTLINGE
Infektiologische Diagnostik
junger Flüchtlinge
Bei entsprechender Verdachtsdiagnose sollte sofort ein pädiatrisch-infektiologisches/tropenmedizinisches Zentrum kontaktiert werden – je nach Akutheit und besonders bei Verdacht auf
Malaria noch am gleichen Tag. Besteht kein Verdacht und persistieren die Symptome trotzdem,
ist ebenfalls der Kontakt mit einem solchen Zentrum empfohlen.
Leitsymptom/Leitbefund
Akute Dysenterie (blutiger Stuhl,
Fieber, Bauchschmerzen)
Chronische Diarrhoe (> 14 Tage)
Periodisches Fieber und Bauchschmerzen mit Erhöhung von Leukozyten,
CRP und BSG
Fieber und Raumforderung Leber
Zystische Raumforderung
insbesondere Leber und/oder Lunge
Gedeihstörung, pulmonale Symptomatik, pathologische Lymphknoten,
Aszites, Pleura-, Perikarderguss und
weitere Organmanifestationen
extrapulmonaler Tuberkulose
Fieber ohne klinischen Fokus
Zerebraler Krampfanfall
Eosinophilie (> 500/nl)
Transaminasenerhöhung
Splenomegalie, sonografische Zeichen
einer Leberfibrose, Zeichen der portalen Hypertension
Rezidivierende Harnwegsinfekte,
sonografische Zeichen von
Blasenwandveränderungen,
Harnabflussstörungen
Unklare Hautläsion – mit Juckreiz
Unklare (chronische) Hautulzera
Erst- bzw. Differenzialdiagnostik (regionenspezifisch)
Stuhluntersuchung auf pathogene Bakterien (Kultur) auf enteroinvasive bakterielle Infektionen (A–E)
Stuhluntersuchung auf Amoeben (Entamoeba histolytica) und Amoebenserologie bei V. a. Amoeben-Colitis (A–E)
Stuhluntersuchung auf Giardia lamblia (PCR/Antigen/Mikroskopie) (D–E)
Serologie auf HIV, insbesondere D, E
häufige DD: Laktoseintoleranz (insbesondere B, C, E)
Überweisung an Zentrum mit Fragestellung familiäres Mittelmeerfieber (insbesondere Mittelmeeranrainerstaaten)
Blutkultur
Amoebenserologie (DD Amoeben-Leberabszess; A–E) – Vorsicht: Bei Patienten aus Endemiegebieten kann eine
positive Amoebenserologie auch eine serologische Narbe einer früheren Infektion darstellen
Überweisung an Zentrum mit Fragestellung zystische Echinokokkose (A–E)
(Online-Anfrage über www.tropenmedizin-heidelberg.de – „Konsiliaranfrage Echinokokkose“)
Tuberkulin-Hauttest (THT) und/oder Interferon-Gamma-Release Assay (IGRA), Bildgebung und mykobakterielle
Diagnostik: pulmonale und extrapulmonale Tuberkulose (A–E)
Serologie auf HIV (insbesondere D, E)
Dicker Tropfen und dünner Blutausstrich, ggf. ergänzend Schnelltest bis 1 Jahr nach Ankunft in Deutschland
bei Malaria (Verdacht bereits medizinischer NOTFALL) (C, E)
Blutkultur (u. a. Salmonella typhi) bei u. a. Typhus abdominalis (A–E)
Leishmanien-Antikörper (insbesondere bei Hepatosplenomegalie und Panzytopenie) bei viszeraler
Leishmaniasis (A–E)
Bildgebung (DD Neurozystizerkose; A–E)
Stuhl auf Wurmeier (3 Stuhlproben von verschiedenen Tagen) auf intestinale Helminthen (Wurmeier im Stuhl
sind oft erst verzögert nachweisbar, da Eosinophilie erst während der Gewebspassage ausgeprägt ist)
Strongyloides-Serologie bzw. Strongyloides-PCR im Stuhl
Falls negativ, umfangreiches Gewebshelminthen-Screening in Absprache mit einem pädiatrischinfektiologischen/tropenmedizinischen Zentrum
Serologie auf Hepatitis A, B, C und EBV, CMV (A-E)
Überweisung an ein pädiatrisch-infektiologisches/tropenmedizinisches Zentrum (DD gastrointestinale Schistosomiasis,
insbesondere E)
Überweisung an ein pädiatrisch-infektiologisches/tropenmedizinisches Zentrum (DD urogenitale Schistosomiasis,
insbesondere E)
Frage nach nächtlichem Juckreiz, Hautinspektion auf Kratzspuren und Skabies-typische Prädilektionsstellen
(intertriginös, Genitalbereich) zur DD Skabies
Überweisung an ein pädiatrisch-infektiologisches/tropenmedizinisches Zentrum (DD kutane Leishmaniose,
insbesondere B, C)
Die Auswahl der Regionen orientiert sich an der aktuellen Häufigkeitsverteilung der Flüchtlingspopulationen in Deutschland:
A Westlicher Balkan, B Syrien, Irak, C Pakistan, Afghanistan, D Russische Föderation, Georgien, E Afrika südlich der Sahara.
Quelle: Pfeil J, Kobbe R, Trapp S, Hufnagel M: Empfehlungen zur infektiologischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland.
Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie, der Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Gesundheit und des Berufsverbandes
der Kinder- und Jugendärzte. Monatsschrift Kinderheilkunde (2015) 163: 1269–1286. Hier finden Sie die Originalpublikation: kvh.link/1601003
XII
KVH aktuell 1|2016
KONTRAZEPTIVA
Tiefe Venenthrombose, Lungenembolie, Schlaganfall – das sind
nur einige der möglichen Nebenwirkungen von Ovulationshemmern der dritten und vierten Generation. Es gibt viele Gründe,
warum ihre Verordnung kritisch hinterfragt werden sollte.
DR. MED. JOACHIM SEFFRIN
P
ro Jahr wären hierzulande 250 venöse Thromboembolien (VTE) vermeidbar, wenn beispielsweise auf Drospirenon-haltige Pillen komplett zugunsten von Levonorgestrel-Präparaten verzichtet
würde“ berichtet das arznei-telegramm® vom Mai
2015.1 Seit dem Jahr 20002,3,4,5 beschäftigt sich
das Journal mit den Wirkstoffen der neueren Pillen bzw. der Pillen der sogenannten dritten und
vierten Generation,2 die als günstig für Haare,
Haut und Stimmung beworben werden.14 Die
neueren Präparate enthalten Wirkstoffe wie Drospirenon, Desogestrel, Gestoden und Norgestimat. Möglicherweise gelten die erhöhten VTEGefahren auch für Chlormadinon, Dienogest und
Nomegestrol. So ist seit rund 15 Jahren bekannt,
dass der Umgang mit diesen Substanzen für unsere Patientinnen problematisch, ja unter Umständen
sogar riskant ist. Auch wenn die absoluten Zah-
lenunterschiede gering erscheinen mögen, ist aufgrund der Millionenzahl der Nutzerinnen ein hoch
bedenkliches Invaliditäts- und Todesrisiko definiert. Unter anderem in den Jahren 2011 und
2014 warnte die Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) eindrücklich vor
den Risiken von Thromboembolien unter der Einnahme von Drospirenon-haltigen oralen Kontrazeptiva.6,7,8 Anfang 2014 veröffentlichte die
AkdÄ eine ausführliche Information8 über das
Thromboembolie-Risiko unter der Behandlung
mit den neueren Gestagenen. Deshalb verwundert es, dass trotz dieser bekannten Risiken nach
wie vor zwei Drittel der verordneten Präparate
Ovulationshemmer der dritten und vierten Generation sind.1 Wie kann das sein? Ein Grund dafür
ist die zunehmende Beeinflussung junger Frauen,
die sich im Internet über Verhütungsmittel infor-
Kombinierte Kontrazeptiva
(< 50 µg Ethinylestradol) mit
verschiedenem Gestagenanteil
Geschätzte Rate venöser
Thromboembolien pro 10.000
Frauen pro Anwendungsjahr
Geschätzte Zahl venöser
Thromboembolien in
Deutschland pro Jahr*
Levonorgestrel
Norgestimat
Norethisteron
5–7
3.400–4.700
Etonogestrel
Norelgestromin
6–12
4.080–8.160
Gestoden
Desogestrel
Drospirenon
9–12
6.120–8.160
Chlormadinon
Dienogest
Nomegestrol
Daten bislang unzureichend
für Risikovergleich
Risiko für nicht schwangere
Frauen ohne orale Kontrazeptiva
2
*bei 6,8 Mio. Anwenderinnen von oralen Kontrazeptiva
STANDPUNKT
Risiko Pille
Quellen:
1. arznei-telegramm®
2015; Jg. 46, Nr. 5
2. arznei-telegramm®
2000; Jg. 31, Nr. 12
3. arznei-telegramm®
2007; Jg. 38, Nr. 10
4. arznei-telegramm®
2011; Jg. 42, Nr. 12
5. arznei-telegramm®
2012; Jg. 43, Nr. 5
6. http://www.akdae.de/
Arzneimittelsicherheit/Bekanntgaben/Archiv/2011/20111111.
html
7. http://www.akdae.de/
Arzneimittelsicherheit/Bekanntgaben/Archiv/2014/20140912.
html
8. Rote-Hand-Brief, 30.
Januar 2014
9. http://www.jenapharm.de/verhuetung/
bzw.
http://www.pille.com
Hohes Risiko für
Thromboembolien
1.360
Quelle: AkdÄ, Dtsch Ärztebl 2014; 111 (37): A-1533
KVH aktuell 1|2016
17
STANDPUNKT
Unter folgendem Link
finden Sie die Vorlage
für einen Warnhinweis
zum ThromboembolieRisiko bei Einnahme
verschiedener Kontrazeptiva. Dieser kann als
einseitiges PDF heruntergeladen und – eventuell
ergänzt durch Ihre Praxisdaten – an Patientinnen
mit oraler Kontrazeption
ausgehändigt werden.
kvh.link/1601004
PRAXISTIPP
Quellen:
10. Vinogradova Y, et al.:
Use of combined oral
contraceptives and
risk of venousthromboembolism: nested
case-control studies
using the QResearch
and CPRD databases,
BMJ 2015;350:h2135
doi.org/10.1136/bmj.
h2135
11. http://www.bvf.de/
presse_info.php?r=2&
m=0&s=0&artid=475
&search=Dinger
12. Dinger J, et al.: Cardiovascular and general safety of a 24-day
regimen of drospirenone-containing combined oral contraceptives: Final results
from the international
active surveillance
study of women
taking oral contraceptives. Contraception
(2014), doi:
10.1016/j.contraception.2014.01.023
13. Prescrire International,
September 2015,
Volume 24, No.163,
P200
14. http://www.tk.de/tk/
themen/pillenreport2015/770798
18
KVH aktuell 1|2016
mieren. Nach Aussage des Pillenreports 2015 der
Techniker Krankenkasse (TK) zeigt sich, „dass die
Pharmaindustrie das Internet gezielt als
Marketingmedium nutzt“.14
Irreführende Experteninformationen
Wenn sich eine Frau über die Pille informieren
möchte, findet sie unter anderem auf der Internetseite eines ärztlichen Berufsverbands einen
Link, der sie auf eine Seite des Konzerns Jenapharm leitet. Auf dieser Firmenseite werden in
der Tat die thromboembolischen Risiken ausführlich beschrieben und dargestellt, während sich
aber keine Hinweise auf die besonderen Risiken
der neuen Gestagene finden. Stattdessen kann
man dort lesen: „Mit geeigneten Pillen wird neben
der verhütenden Wirkung ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen
Hormonen hergestellt“9 und: „Während bei Anwendung älterer Pillen-Präparate eine Appetitzunahme und daraus resultierend eine allmähliche
Gewichtszunahme infolge vermehrter Nahrungsaufnahme nicht immer ausgeschlossen werden
konnte, ist bei heute gebräuchlichen Mikropillen mit einer Appetitsteigerung kaum
mehr zu rechnen.“ Jenapharm vertreibt
unter anderem die Drospirenon-haltigen
Pillen Yasmin® und Yaz®.
Auf der Website des betreffenden
Berufsverbands werden Frauen folgendermaßen aufgeklärt: „Die Häufigkeit
der Thrombosen ist nach einer aktuellen Publikation, in der über 200.000
,Frauenjahre’ ausgewertet wurden,
bei Pillen mit dem älteren Gestagen
Levonorgestrel genauso hoch wie bei
Antibabypillen mit dem moderneren
Wirkstoff Drospirenon.“ Der zitierte
Autor dieser Behauptungen11,12, Jürgen
Dinger, war früher Leiter des Bereichs
Gynäkologie bei Schering.3 Dessen Aussagen kontrastieren in auffälliger Weise
mit den Veröffentlichungen durch die
AkdÄ. Dieser Widerspruch irritiert, hebt er
sich doch deutlich von Ergebnissen anderer
Wissenschaftler vom März 2015 ab.10 Immerhin zeigt die neuere Forschung aus Großbritannien, dass die Warnungen der AkdÄ wohl doch
berechtigt sind. Abwiegelnde Aussagen wie die
von Jürgen Dinger sollten daher eher mit Misstrauen betrachtet werden.
Warnungen verhallen
Während wiederholte sachliche Informationen
und Warnungen in unserer Fachpresse beim Zielpublikum offensichtlich wirkungslos verhallen,
vermögen in Frankreich andere Informationswege
die Verbraucherinnen nachhaltiger zu erreichen.
So berichtet Prescrire13 darüber, dass ein kritischer
Report der französischen Zeitschrift Le Monde im
Dezember 2012 offensichtlich ausreichend viel
Staub aufgewirbelt hat, um auch Verbraucherinnen nachhaltig für die Risiken zu sensibilisieren.
Ende 2014, berichtet Prescrire, sei aufgrund des veränderten Einnahmeverhaltens bereits eine
deutlich geringere
Inzidenz
der
thrombo-
Bayer-Konzerns gegenüber Schmerzensgeldforderungen und den „Pillenreport 2015“ der TK14
berichtet. Wünschenswert wäre,
dass diese Beiträge möglichst viele junge Frauen erreicht haben. In Rezeptieren Sie Pillen
der Sendung im Ersten forderte mit den inkriminierten
Professor Gerd Glaeske die Wirkstoffen? Wenn ja,
Marktrücknahme der Präparate.
Eine Forderung, der wir uns an- warum? Kennen Sie
schließen. Aus unserer Sicht gibt bewiesene Vorteile?
es keinen objektiven Grund, Machen Sie Ihre PatienWirkstoffen wie Drospirenon und
Ähnlichen die Zulassung weiter tinnen auf die erhöhten
zuzugestehen, da andere Wirk- Risiken der neuen
stoffe eine vergleichbare Wirkung Gestagene aufmerksam?
bei weniger Komplikationen und
Todesfällen bieten. Auch Behörden und Fachverbände sind gefordert, endlich
ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
STANDPUNKT
embolischen Komplikationen und Krankenhausbehandlungen festzustellen. Der direkte positive
Einfluss dieser Änderung lässt sich nicht genau
beziffern. Sicher ist aber, dass dadurch viele
Komplikationen abgewendet und Menschenleben
gerettet werden konnten. Auf der Internetseite
www.risiko-pille.de kann man die Berichte betroffener Frauen bzw. der Hinterbliebenen lesen, die
teilweise folgenschwere Erfahrungen mit den
neuen Gestagenen gesammelt haben. Im Oktober
2015 gab es in Deutschland eine spätabendliche
Sendung von Stern-TV und im November
desselben Jahres eine im Ersten
Programm. In beiden wurde über die Risiken,
die Abwehrstrategien des
Fazit
Nutzen Sie jede mögliche Gelegenheit, um Ihre
Patientinnen über die besonderen Gefahren der
oben besprochenen Präparate aufzuklären! 쮿
✓ Interessenkonflikte: keine
THROMBOEMBOLIEN VERMEIDEN
250
Pro Jahr wären in Deutschland 250 venöse
Thromboembolien (VTE) vermeidbar, wenn
auf Drospirenon-haltige Pillen zugunsten von
Levonorgestrel-Präparaten verzichtet würde.
KVH aktuell 1|2016
19
PROTONENPUMPENHEMMER
STANDPUNKT
Von wegen harmlos!
Welche gesundheitlichen Schäden ein unkritischer Einsatz von
PPI haben kann.
DR. MED. JOACHIM SEFFRIN
E
in Artikel in der Online-Ausgabe des JAMA
berichtete im Januar 2016 über mögliche
Nebenwirkungen unter der Therapie mit einem
Protonenpumpeninhibitor (PPI).1 Die Untersucher
stellten fest, dass die Behandlung durch PPI mit
einem 20–50 % erhöhten Risiko der Entwicklung
einer Nierenfunktionsstörung verbunden ist. Mit
höherer Dosis stieg die Wahrscheinlichkeit, eine
Niereninsuffizienz zu entwickeln. Bezüglich PPI
und Nierenkomplikationen war bereits bekannt,
dass sie eine akute Nephritis mit Nierenversagen
auslösen können. Dies mag absolut gesehen wohl
selten sein, bei der weit verbreiteten und hochfrequenten Nutzung der PPI muss aber mit dem Auftreten von Komplikationen gerechnet werden.
Laut Arzneiverordnungs-Report 2014 wurden im
Ulkustherapeutika:
Verordnungen in
Hessen im Jahr 2014
Substanzen
Pantoprazol
Kaum einer unserer Patienten verlässt eine stationäre Behandlung ohne einen PPI bzw. die
Empfehlung an den Hausarzt, diesen weiter zu
Verordnungen
Umsatz (AVP* in Euro)
33.993.395
727.335
16.533.853
Esomeprazol
83.477
2.386.273
Ranitidin
74.845
1.566.531
7.208
793.363
11.119
306.294
Pirenzepin
3.470
102.568
Rabeprazol
2.772
83.226
Sucralfat
2.939
81.546
Amoxicillin + Omeprazol + Clarithromycin
1.034
81.285
678
67.861
Famotidin
2.680
61.111
Cimetidin
1.603
33.454
135
5.345
3
254
2.311.350
56.096.357
Pantoprazol + Clarithromycin + Amoxicillin
Lansoprazol
Citronensäure, Bismut-Kalium-Salz
(2:1:5)-1,5-Wasser + Tetracyclin + Metronidazol
Misoprostol
Dexlansoprazol
Summe
KLAUS HOLLMANN
KVH aktuell 1|2016
Verordnungsalltag
1.392.052
Omeprazol
20
Jahr 2013 in Deutschland mehr als 3 Milliarden (!)
DDD (defined daily dose), also etwa 60 Tonnen
PPI, verbraucht bzw. von uns geschluckt. Zum
Vergleich: Ulkustherapeutika lagen in der Verordnungshäufigkeit aller rezeptierten Wirkstoffe und
Wirkstoffgruppen auf Rang sechs mit über 31 Millionen Verordnungen. Von den rund 3,2 Milliarden DDD waren 3,15 Milliarden DDD den PPI zuzuordnen, die damit gegenüber den H2-Blockern
und sonstigen Wirkprinzipien (rund 60 Millionen
DDD) den Löwenanteil darstellten.
*Apothekenverkaufspreise (AVP)/Quelle: Insight health
PPI-EINNAHME
STANDPUNKT
3.000.000.000
Laut Arzneiverordnungs-Report 2014 wurden im Jahr 2013 in Deutschland mehr
als 3 Milliarden DDD (defined daily dose), also etwa 60 Tonnen PPI – verordnet oder
als rezeptfrei erhältliche Präparate –, geschluckt.
verordnen. Nebenbei bemerkt ist dies in der Regel
Pantoprazol, obwohl Omeprazol allgemein als
Standard gilt und stärker wirksam ist. Dabei ist
zu vermuten, dass pharmakologische Überlegungen eher selten die Begründung sein dürften. Die
Suche nach einer entsprechenden Indikation in
der Diagnosenliste im Entlassungsbrief verläuft
fast immer ergebnislos. Das erweckt den Eindruck der Leichtfertigkeit, als seien PPI quasi
Smarties. So hat sich eingebürgert, fast jeden
Menschen, der kurzfristig ein NSAR (nichtsteroidales Antirheumatikum) braucht, parallel mit
einem PPI zu versorgen. Mit hohen Dosen wird
auch nicht gegeizt. Das ist keine vernünftige
Pharmakotherapie, außerdem werden hier Geld
(Gesamt-Nettokosten Ulkustherapeutika: über
729 Millionen Euro) und wertvolle Ressourcen
verschwendet, die anderswo dringend benötigt
werden. Demgegenüber wird neben den zentralen Indikationen für den rationalen Einsatz eines
PPI allerdings in bestimmten Konstellationen zu
einer präventiven Behandlung mit einem PPI
geraten: Das betrifft Menschen über 60 Jahre,
die durch die Behandlung mit NSAR einem erhöhten Ulkusrisiko ausgesetzt sind, wie auch mit
bekannter Ulkuskrankheit oder früherer gastrointestinaler Blutung. In diesen Fällen ist eine
prophylaktische PPI-Behandlung begründbar
und empfohlen. Im Gegensatz zum mechanisierten Gebrauch bei NSAR-Behandlung ist dies rational. Ebenso kann erwogen werden, bei Patienten
mit Mehrfach-Antikoagulation das erhöhte Blutungsrisiko durch Behandlung mit einem PPI zu
reduzieren. Wegen des Interaktionspotenzials
bei Multimedikation ist hier begründet Pantoprazol zu bevorzugen. Laut ArzneiverordnungsReport 2014 liegen allerdings keine Studien vor,
die die vermutete Wirkung belegen würden.
Patienten, die anamnestisch gastrointestinale
Beschwerden mit NSAR erlebt haben, können
ebenfalls von einer begleitenden PPI-Behandlung profitieren. Alternativ ist auch ein H2-Blocker denkbar, allerdings wegen der schwächeren
Wirkung erst in zweiter Linie.
Fazit
Quellen:
1. Lazarus B, et al.: Proton
Pump Inhibitor Use and
the Risk of Chronic
Kidney Disease,
Jama, 11. Januar 2016,
online first
2. ArzneiverordnungsReport 2014, P 752 ff.
Bei der Erwähnung der oben benannten Risiken
sollte auch bedacht werden, dass unsere Patienten
mit weiteren, zum Teil bedenklichen Nebenwirkungen durch PPI rechnen müssen. Die Gefahren
einer Erkrankung durch Clostridium difficile, einer
Pneumonie, des Anstiegs des Frakturrisikos sowie
der Verminderung des Magnesiumspiegels sind
hier zu nennen. Durch den mittlerweile extremen
Gebrauch, ja vielfachen Missbrauch der PPI müssen wir vermuten, damit vielen Menschen ernsten
gesundheitlichen Schaden zuzufügen. Wie oben
erwähnt, ist durchaus zu überlegen, ob nicht in
einigen Situationen die Behandlung mit einem
H2-Blocker sicherer und ausreichend ist. Die Warnsignale der Studie lassen zudem raten, bei einer
chronischen PPI-Therapie gelegentlich die Nierenfunktion zu kontrollieren.
Die aktuelle Untersuchung ist keine methodisch hochrangige Studie, doch die Ergebnisse
sind aus unserer Sicht auf jeden Fall als Mahnung zu verstehen, die uns aufrütteln sollte.
Auch der Einsatz eines scheinbar harmlosen PPI
sollte jedes Mal verantwortungsvoll geprüft sein.
Automatismen sind zu vermeiden. Die Forscher,
die die Studie veröffentlicht haben, sagen selbst,
dass weitere Untersuchungen zu dieser Fragestellung erforderlich sind. Dieser Aussage schließen wir uns uneingeschränkt an. 쮿
✓ Interessenkonflikte: keine
KVH aktuell 1|2016
21
AKTUELLES AUS INFOMED-SCREEN
STANDPUNKT
Unverantwortlicher
Datenverlust
D
Unter diesem Link
kommen Sie zum Volltext
der Kohortenstudie:
kvh.link/1601005
INTERNET
22
KVH aktuell 1|2016
a die für die Registrierung eines Medikaments
bei der Behörde eingereichten Studien nicht
publiziert werden müssen, sind viele der daraus
gewonnenen Erkenntnisse weder für Forschende
noch für die Ärzteschaft zugänglich. Es ist bekannt, dass nur etwa die Hälfte der vorgesehenen
Endpunkte, die für die Testsubstanz kein positives
Ergebnis zeigten, überhaupt je publiziert wird.
Über Studien mit Substanzen, die später gar nie
zur Zulassung eingereicht wurden, weiß man
nichts, obwohl diese Informationen für die Forschung und für die Planung der Entwicklung ähnlicher Substanzen wertvoll wären. Zudem könnten
diese Substanzen in Ländern eingeführt werden,
die nicht die gleichen strengen Zulassungsbedingungen haben wie die USA. Eine Studentin der
McGill University untersuchte in ihrer Masterarbeit
daher, wie viel Information über in den USA nicht
zugelassene Substanzen im Vergleich zu der über
zugelassene Substanzen verloren geht.
Im Rahmen der Untersuchung wurden 81 Studien mit 34 Substanzen untersucht, die nie registriert wurden, und 96 Studien mit 25 später registrierten Substanzen. Es wurden Studien aus den
Gebieten Neurologie, Kardiologie und Onkologie
ausgewählt, die alle im Register clinicaltrials.gov
des National Health Service der USA registriert
worden waren. Für die nie zugelassenen Substanzen wurden zwischen 2005 und 2009 für abgeschlossen erklärte Studien ausgewählt, von denen
bis 2009 eine Phase-III-Studie vorliegen musste.
Die Studien mit den 25 zwischen 2005 und 2009
zugelassenen Substanzen waren zwischen 1998
und 2009 durchgeführt worden. 75 % der Studien
zu später zugelassenen Substanzen, aber nur
37 % derjenigen zu nicht zugelassenen Substanzen wurden publiziert. Von 15 % der Studien zu
zugelassenen Substanzen und 57 % zu nicht zugelassenen Substanzen konnte nirgends eine Information gefunden werden.
Für die praktizierende Ärzteschaft mögen diese
Befunde und Zahlen unbedeutend erscheinen.
Wenn man aber bedenkt, wie viel Information
über Substanzen verloren geht, die von anderen
Forschenden für andere Indikationen getestet
werden könnten, und wie viel Information über
Wirkungen und Nebenwirkungen, die als Klasseneffekte bezeichnet und in die Planung von zu
entwickelnden Substanzen einbezogen werden
könnten, dann ist dieser Verlust unverantwortlich. Tausende von zukünftigen Studienteilnehmenden werden Gefahren ausgesetzt, die vielleicht vermieden werden könnten. Niemand verlangt, dass alles als Publikation erscheinen muss.
Aber dass die für alle Studien, die einem ethischen Komitee eingereicht und von ihm bewilligt
wurden, obligatorischen abschließenden Berichte
der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind, ist unbegreiflich. Auch dafür wäre eigentlich ein Studienregister zuständig. 쮿
ZUSAMMENGEFASST UND
KOMMENTIERT VON RENATO L. GALEAZZI
Quellen:
1. Hakala A, Kimmelman J, Carlisle B, et al.: Accessibility of trial reports for drugs stalling in development: a
systematic assessment of registered trials.
BMJ 2015 (9. März) 350: h1116
FORSCHUNG & PRAXIS
ARZNEIMITTELSICHERHEIT
Myopathie-Risiko
durch Statine
S
tatine sind effiziente Medikamente zur Primärund Sekundärprävention kardiovaskulärer
Ereignisse. Im Jahr 2013 wurden in Deutschland
insgesamt 1.707 Millionen definierte Tagesdosen (DDD) von Statinen verordnet.1 Damit setzt
sich der stetige Anstieg der Verordnungen der
letzten Jahre fort. An der Spitze der Verordnung
steht Simvastatin, der Hauptanteil des Zuwachses entfällt auf Atorvastatin. Mit Atorvastatin,
Fluvastatin, Pitavastatin, Rosuvastatin, Pravastatin,
Lovastatin und Simvastatin sind derzeit sieben
Wirkstoffe mit gleichem Wirkungsmechanismus,
aber teilweise erheblichen Unterschieden in der
Pharmakokinetik auf dem deutschen Markt. Unterschiede in der Metabolisierung sind für das
Interaktionspotenzial der Statine von großer
Bedeutung. Darauf ist zu achten, wenn der
Patient weitere Medikamente einnimmt, um das
Risiko einer Statin-induzierten Myopathie zu
minimieren. Muskeltoxizitäten sind eine klinisch
bedeutende unerwünschte Wirkung der Statine.
Eine Statin-assoziierte Myopathie mit einer signifikanten Erhöhung der Serumkreatininkinase
(CK) ist eine seltene, aber schwere Nebenwirkung
der Statine (1 pro 1.000 bis 1 pro 10.000 Menschen mit Standardstatindosis).2 Statin-assoziierte
Muskelsymptome mit normaler oder leicht erhöhter CK wurden mit einer Prävalenz von 7 bis 29 %
in Register- und Beobachtungsstudien beschrieben.2 Eine Myopathie und Rhabdomyolyse tritt
selten unter einer Statinmonotherapie (Standarddosis) auf, das Risiko steigt allerdings mit steigender Dosis und interagierenden Medikamenten.
Um auf eine Statinmyopathie durch Arzneimittelinteraktionen insbesondere bei Patienten
mit gleichzeitiger Antibiotika-/Antimykotikatherapie schnell und praktikabel im klinischen Alltag
aufmerksam zu machen, steht am Universitätsklinikum Jena jetzt ein Flyer als Informationsquelle für alle am Medikationsprozess Beteilig-
ten zur Verfügung (siehe Marginalie). Auch die
Beteiligung des Patienten ist für die Arzneimitteltherapiesicherheit von Bedeutung. Dieser sollte
seine Medikation kennen und über Nebenwirkungen aufgeklärt sein. Neben dem unterschiedlichen Metabolismus der Statine wird auf
dem Flyer bei CYP3A4-Substraten über wichtige
Begleitmedikation mit CYP3A4-Inhibitoren wie
Makrolidantibiotika und Azol-Antimykotika im
Rahmen der Interaktionen informiert. Gleichzeitig werden daraus abgeleitete Empfehlungen
zum praktischen Vorgehen der Therapieführung
als Orientierungshilfe angeführt. Dieser Flyer ersetzt in keiner Weise die entsprechenden Informationen aus den Fachinformationen der Statine, er gibt lediglich einen ersten, schnellen und
groben Überblick zur Interaktionsproblematik
der Statine.
Dieser Beitrag wurde
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
und des Herausgebers,
der Apotheke des
Universitätsklinikums
Jena, Universitäres
Zentrum für Pharmakotherapie und
Pharmakoökonomie,
Universitätsklinikum
Jena, übernommen.
PROF. DR. MED. KATRIN FARKER
✓ Interessenkonflikte: keine
Literatur:
1. Schwabe U, Paffrath D (Hrsg.): ArzneiverordnungsReport 2014. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag,
2014.
2. Stroes ES, Thompson PD, Corsini A, et al.:
Statin-associated muscle symptoms: impact on statin
therapy – European Atherosclerosis Society Consensus
Panel Statement on Assessment, Aetiology and
Management. Eur Heart J 2015; 36: 1012–22.
Auf der Internetseite
der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft
(AkdÄ) finden Sie den
Flyer mit Hinweisen
zur Statintherapie
und Vermeidung
unerwünschter
MedikamentenInteraktionen.
kvh.link/1601010
INTERNET
KVH aktuell 1|2016
23
FORSCHUNG & PRAXIS
BUCHBESPRECHUNG
Sanfte Medizin
Jenseits von Vorurteilen und Glaubensbekenntnissen schreibt
Norbert Schmacke über Homöopathie, anthroposophische
Therapien und die Versäumnisse der evidenzbasierten Medizin im
Umgang mit den Anliegen der Patienten.
P
rof. Norbert Schmacke lehrt als Internist in Bremen Gesundheitswissenschaften und forscht
über Fragen der Patientenorientierung. Zudem
bestimmt er als stellvertretendes Mitglied im
Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) mit, welche Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung versagt oder bereitgestellt werden. Der
Autor kommt nach umsichtiger wissenschaftlicher
Recherche der vorhandenen aktuellen Literatur zu
dem klaren, wenn auch nicht ganz überraschenden Ergebnis: Für die Homöopathie gibt es keine
Belege in der Heilung von Krankheiten, insbesondere bei Schlaganfall, Krebs, kindlichem Ekzem
und Wechseljahresbeschwerden. Trotz vielfacher
Versuche, den Nutzen zu belegen, wie dies in der
Medizin sonst üblich ist und sozialrechtlich erforderlich wäre. Kein einziges homöopathisches
Medikament hätte in Deutschland eine Chance,
einen Zusatznutzen nach dem ArzneimittelmarktNeuordnungsgesetz (ANMOG) vom G-BA attestiert zu bekommen. Dies ist aber Voraussetzung
für Preisverhandlungen mit dem Spitzenverband
der Kassen und Hinweis für eine wirtschaftliche
IMMER BELIEBTER
Alternative Heilmethoden sind in
der Bevölkerung immer gefragter.
Angeblich befürworten 70 % eine milde,
natürliche und „chemiefreie“ Therapie.
24
KVH aktuell 1|2016
Verordnung in der vertragsärztlichen Versorgung
– im positiven Fall eines Nutzennachweises.
Das Gleiche gilt für die Misteltherapie bei
Krebs, zu der nach einem aktuellen systematischen Review das amerikanische National Cancer
Institute 2015 festgestellt hat, was andernorts
international bereits ähnlich publiziert worden
war: „Es gab zahlreiche Berichte über Verbesserungen des Überlebens und/oder der Lebensqualität, aber fast alle dieser Studien wiesen große
Schwächen auf, die an der Verlässlichkeit der
Ergebnisse zweifeln lassen“, so Schmacke. Er
zögert nicht, angesichts der Bilanz seiner wissenschaftlichen Recherche die Vertreter der sogenannten alternativen Medizin laut und deutlich zu
kritisieren. Wohl wissend, dass „Homöopathen
70
Prozent
Autor: Norbert Schmacke
suhrkamp medizinHuman
FORSCHUNG & PRAXIS
Der Glaube an
die Globuli
Der
Glaube
an die
Globuli
Die Verheißungen
der Homöopathie
Herausgegeben von
Norbert Schmacke
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-46639-1
Taschenbuch:
244 Seiten, 14,00 Euro
allerdings unbelehrbar sind“. Auch die Stiftung
der Bonner Internistin Dr. Veronika Carstens, ehemals Ehefrau eines Bundespräsidenten, kommt
nicht ungeschoren davon.
Bewertung alternativer Therapien
Was den Autor offenbar besonders erzürnt, ist die
Ungleichbehandlung der verschiedenen Therapierichtungen durch den Gesetzgeber. Dieser akzeptiert seit Jahrzehnten – vermutlich sogar trotz
besseren Wissens – einen extrem niederschwelligen Zugang der homöopathischen und anthroposophischen Arzneien zum deutschen Markt. Und
errichtet gleichzeitig im SGB V eine zu Recht hochschwellige Zugangshürde mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) gemäß den
Prinzipien der evidenzbasierten Medizin (EbM) für
alle neuen Wirkstoffe. Wobei nach AMNOG die
arzneimittelrechtliche Zulassung alleine nicht ausreicht, um am Markt erfolgreich zu werden, sondern vor allem ein klinisch relevanter Zusatznutzen zur zweckmäßigen Vergleichstherapie nach
EbM-Kriterien belegt werden muss. Angeblich
befürworten 70 % der Bevölkerung milde, natürliche und „chemiefreie“ Therapien. Alle Parteien
des Deutschen Bundestages haben sich vor der
Bundestagswahl 2013 mehr oder minder deutlich
dafür ausgesprochen, die historisch gewachsene
Rechtslage zugunsten der alternativen Therapierichtungen nicht zu ändern. Man bleibt in der
Tradition bisheriger Entscheidungen der Vorgängerparlamente, die aus wahltaktischen Gründen
immer einen Schutzschirm über den „besonderen
Therapierichtungen“ aufgespannt haben.
einen wissenschaftlich ausgebildeten Arzt beunruhigend zu erkennen, dass es überwältigende
Belege dafür gibt, mit welchem Humbug nicht
nur in Deutschland unter dem Label „sanfte
Medizin“ Geld verdient wird. Und es ist bedrückend, zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass die
Apologeten dieser Mythen vom Fortschritt durch
das Zeitalter der Aufklärung in der Nachfolge eines Immanuel Kant bisher nichts verspürt haben.
Obwohl es ohne dieses Zeitalter überhaupt keinen Fortschritt in allen Wissenschaften gäbe. Das
ist nicht allein durch die sarkastische römische
Sentenz „Mundus vult decipi, ergo decipiatur”
(„Die Welt will betrogen sein, darum sei sie
betrogen“, hergeleitet aus einem alten römischen Rechtsgrundsatz) erklärlich. Es ist auch
den therapeutischen Placeboeffekten der alternativen Therapierichtungen geschuldet. Schmacke fordert deswegen ganz berechtigt, dass
neben der Aufklärung über evidenzbasiertes
medizinisches Wissen die dringende Notwendigkeit besteht, „die Erwartungen und Gefühle von
Kranken in Erfahrung zu bringen“. Ein gewiss
mit entscheidender Punkt, der in der Zeitnot des
Berufsalltags eines Schulmediziners gerne mal
vergessen wird. Während der homöopathisch
tätige Arzt genau an diesem notleidenden Punkt
der Arzt-Patienten-Beziehung ansetzt. 쮿
DR. MED. JÜRGEN BAUSCH
✓ Interessenkonflikte: keine
Fazit
Der besondere Reiz der Lektüre dieses Buchs
liegt vor allem darin zu erfahren: „Why smart
people believe in stupid things?“ Denn es ist für
KVH aktuell 1|2016
25
CHOOSING WISELY: IM PRAXISALLTAG
DIALOG
Therapieren Sie
defensiv!
Einfache Empfehlungen tragen dazu bei, den Dialog zwischen
Arzt und Patient zu verbessern. Ziel ist es, unnötige diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu vermeiden. Diesmal
mit Tipps für den Bereich der Pädiatrie.
Quellen:
1. Choosingwisely.org
2. The Good Stewardship
Working Group: Less Is
More: The „Top 5“
Lists in Primary Care.
Arch Intern Med.
2011; 171 (15):
1385–1390
Für die Initiative „Choosing wisely“ haben führende Fachgesellschaften und Patientenorganisationen in den USA zwei Listen erstellt, in denen Ärzte
und Laien (Patienten) recherchieren können, was
an geplanten Untersuchungen und Therapien
überflüssig sein könnte. Gleichzeitig erfährt man
hier auch, wo möglicherweise ein ausführlicheres
Gespräch bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung (shared decision making) sinnvoll ist.
Erklärungen, wie die Listen zusammengestellt
wurden und welche Quellen ihnen zugrunde liegen, stehen am Ende der jeweiligen Übersicht.
Unter www.choosingwisely.org findet man die
nach medizinischen Fachbereichen (Ärzte) bzw.
Testverfahren/Beschwerden (Patienten) geordneten Listen häufig nutzloser oder teilweise gefährlicher Maßnahmen. Hier die Top-5-Empfehlungen
aus der Pädiatrie – angelehnt an die englischen
Originaltexte:
1. Verschreiben Sie kein Antibiotikum bei
Sinusitis, Pharyngitis und Bronchitis, wenn
offensichtlich ein Virusinfekt vorliegt.
쐍 Obwohl die Verordnungshäufigkeit von Antibiotika bei Kindern gefallen ist, ist sie immer noch alarmierend hoch (siehe Tabelle).
쐍 Unnötige Antibiotikagaben bedeuten ein
potenzielles Risiko für Patienten, erhöhen
die Antibiotikaresistenzen von Bakterien
und treiben die Kosten im Gesundheitswesen unnötig in die Höhe.
26
KVH aktuell 1|2016
3. Ein Computertomogramm (CT) zur Erstuntersuchung ist bei leichtem Schädel-HirnTrauma (SHT) nicht erforderlich. Klinische
Beobachtung sowie die PECARN-Kriterien
(Pediatric Emergency Care Applied Research
Network, www.pecarn.org/) helfen dabei
zu entscheiden, ob eine CT-Untersuchung
erforderlich ist.
쐍 Leichte Schädel-Hirn-Traumata sind bei
Kindern und jungen Erwachsenen nichts
Außergewöhnliches.
쐍 Bei leichten SHT, das heißt ohne Bewusstseinsverlust, werden im CT nur selten
traumatisch bedingte abnorme Befunde
erhoben, und falls diese vorliegen, werden nur ganz wenige Kinder operiert.
쐍 Eine unnötige Strahlenbelastung beinhaltet
für betroffene Kinder die Gefahr, im Laufe
ihres Lebens eine Krebserkrankung zu
bekommen, da das kindliche Gehirn
beziehungsweise die kindlichen Organe
sensibler gegenüber ionisierender Strahlung ist/sind. Von 1.400 Kindern, die
mittels eines Schädel-CTs untersucht
werden, bekommt eines später eine
Krebserkrankung.
4. Bei Kindern mit einfachem Fieberkrampf
ist eine Bildgebung des Kopfes (CT, MRT)
nicht notwendig.
쐍 Siehe Punkt 3 bezüglich CT.
쐍 Bei MRT-Untersuchung ist meist eine mit
Risiken verbundene Sedierung der Kinder
erforderlich.
5. Bei Kindern mit Bauchschmerzen ist ein
Computertomogramm nicht notwendig.
쐍 Im Wesentlichen siehe Punkt 3.
DR. MED. JOACHIM FESSLER
DR. MED. JOACHIM SEFFRIN
✓ Interessenkonflikte: keine
Ihre Meinung
Wie vermeiden Sie
medizinische Über- oder
Unterversorgung im
Praxisalltag? Wie gehen
Sie damit um, dass für
sinnvolle Maßnahmen
wie ein längeres
Aufklärungsgespräch
gegenüber einer
schnellen medikamentösen Entscheidung
oft wenig Zeit besteht?
Entscheiden Sie sich
manchmal für Therapien
oder eine weitergehende
Diagnostik, um auf der
„sicheren Seite“ zu sein?
DIALOG
2. Verschreiben und empfehlen Sie bei Kindern
unter vier Jahren keine Erkältungs- oder
Hustenpräparate bei Atemwegsinfekten.
쐍 Wissenschaftliche Untersuchungen haben
gezeigt, dass diese Produkte bei Kleinkindern wenig Vorteile bieten, jedoch ernste
potenzielle Nebenwirkungen verursachen
können.
쐍 Viele dieser Produkte enthalten mehr als
einen Inhaltsstoff, was die Möglichkeit einer
versehentlichen Überdosierung bei Kombination mit einem anderen Produkt erhöht.
Schreiben Sie Ihre
Meinung an
petra.bendrich@
kvhessen.de
DIALOG
Antibiotikaverordnungen in Hessen (nach ATC2)*
Fachgruppe
2010
2011
2012
2013
2014
1.555.190
1.593.475
1.525.064
1.662.783
1.510.650
Internisten (470)**
368.825
397.411
388.337
415.577
392.248
Kinderärzte (400)**
267.666
257.276
243.562
239.259
229.465
Kliniken/Institute
347.494
193.183
176.968
182.838
172.396
HNO-Ärzte (270)**
137.941
136.128
131.195
134.944
123.225
Urologen (200)**
97.966
98.108
93.882
97.649
99.434
Frauenärzte (730)**
67.789
65.776
61.267
73.751
74.501
Chirurgen (370)**
28.006
32.157
30.705
32.082
31.271
2.926.330
2.845.709
2.711.736
2.895.367
2.688.716
Allgemeinmediziner (3.860**)
gesamt
KLAUS HOLLMANN
*ATC2 = anatomisch-therapeutisch-chemischer Code zur Einteilung von Arzneimitteln/Quelle: Insight health
**Anzahl der verordnenden Ärzte im vierten Quartal 2014
KVH aktuell 1|2016
27
STELLUNGNAHME
DIALOG
Choosing wisely:
Ihre Fragen
Zur Choosing-wisely-Kampagne in der Dezemberausgabe von
KVH aktuell erreichten uns Anrufe und Leserbriefe, die wir hier
kommentieren möchten.
Quellen:
1. http://www.choosingwisely.org
2. http://www.uspreventiveservicestaskforce.org
3. KVH aktuell, Dezember
2015, S. 29–32,
kvh.link/1601011
4. http://www.uspreventiveservicestaskforce.org
/Page/Document/UpdateSummaryFinal/cervical-cancer-screening?ds=1&s=cervical (hier:
Supporting Documents,
PDF-Version)
28
KVH aktuell 1|2016
Eine Kollegin machte darauf aufmerksam, dass
gesetzlich versicherte Frauen in Deutschland ab
dem 20. Lebensjahr Anspruch auf Früherkennungsmaßnahmen bezüglich Gebärmutterhalskrebs haben. Das ist korrekt. Das Alter von 21 Jahren, das in den amerikanischen Empfehlungen der
U.S. PSTF (United States Preventive Services Task
Force)2 benannt ist, erklärt sich aus den länderspezifisch unterschiedlichen Empfehlungen. Dabei ist
das Gremium der U.S. PSTF zu der Überzeugung
gelangt, dass vor dem 21. Lebensjahr die Häufigkeit des Auftretens von Gebärmutterhalskrebs so
gering ist, dass die Zahl der falschen Verdachtsfälle mit den darauf folgenden Untersuchungen den
Patientinnen in der Bilanz mehr schadet als nutzt.
Denn jeder frühzeitig erkannten Krebserkrankung
steht eine mehr oder weniger große Anzahl falsch
positiver Befunde gegenüber, die zu weitergehenden Untersuchungen führen. Diese können – je
nach Methode – in unterschiedlicher Häufigkeit
auch zu schwerwiegenden und sogar tödlichen
Komplikationen führen. Zudem kann die seelische
Belastung (Krebsverdacht) für die Betroffenen in
jedem einzelnen Fall schwerwiegend sein.
Eine andere Kollegin berichtete über den Fall
einer gegen HPV geimpften Patientin, die 19-jährig
an einem Zervixkarzinom in situ erkrankt ist. Aus
diesem Grund schlägt sie vor, das Alter für Früherkennungsuntersuchungen auf unter 20 Jahre zu
senken bzw. den Beginn des Screenings vom Alter
beim Eintritt der sexuellen Aktivität abhängig zu
machen. Die Kollegin empfiehlt, mit dem Screening ein Jahr nach dem ersten Geschlechtsverkehr
zu beginnen. Sie führt einen Fall an, der in England durch die Presse ging, bei dem eine junge
Patientin an den Folgen eines Zervixkarzinoms verstorben sei, da in deren Alter noch kein Screening
angeboten wurde. Auch zu dieser Fragestellung
(Beginn des Screenings in Abhängigkeit vom Alter
bei Beginn der sexuellen Aktivität) gibt es Untersuchungen4, die das U.S. PSTF2 in seinen Empfehlun-
gen berücksichtigt hat. Diese kommen ebenfalls
zu dem Schluss, dass der zu erwartende Nutzen
vom möglichen Schaden übertroffen wird, wie
oben dargelegt. Die Empfehlungen des U.S. PSTF
stammen von 2011, wurden 2012 veröffentlicht
und werden voraussichtlich 2018 aktualisiert.
Wir nutzen diese Gelegenheit erneut, unsere
Leserschaft anzuregen, sich mit den Empfehlungen der Choosing-wisely-Kampagne1 zu beschäftigen. Wie in unserem Artikel3 erwähnt, stellen
diese Empfehlungen keine Gesetze dar, die sklavisch befolgt werden müssen. Sie sollen als Diskussions- und Entscheidungsgrundlage für die
Kommunikation mit unseren Patientinnen und
Patienten dienen. Sie können dabei sowohl uns
als auch unseren Patienten helfen, vernünftige
Entscheidungen zu treffen, die ihre Grundlagen
ausschließlich in wissenschaftlichen Erkenntnissen
haben. Genauso klar sei gesagt, dass jeder Patient
als einzigartig in seiner Persönlichkeit, Gesundheit
und Krankheit zu würdigen ist und deshalb alle
Entscheidungen, wie auch bei Leitlinienempfehlungen, immer individuell zu treffen sind. Die
Empfehlungen verfolgen keine wirtschaftlichen
Interessen; vielmehr steht der Patientennutzen im
Fokus. Dazu gehört letztlich auch die rationale
Nutzung unserer Ressourcen, die schließlich nicht
unendlich sind: Wir müssen darauf achten, dass
die Priorität unserer Zuwendung nicht weg von
der Versorgung der kranken Menschen hin zur
Beschäftigung mit Vorsorgeuntersuchungen bei
Gesunden verschoben wird. 쮿
DR. MED. JOACHIM SEFFRIN
✓ Interessenkonflikte: keine
ENTLASSUNGSMEDIKATION
Rezept des Monats
DIALOG
Eine 83-jährige Patientin war gestürzt und
hatte sich eine Oberschenkelhalsfraktur
zugezogen. Mit 16 Medikamenten kam
sie aus der Reha zurück. Folgende Liste
lag bei Entlassung aus der Reha vor:
Ursofalk® 250 mg (Ursodeoxycholsäure)
1-0-1
Ursofalk® 250 mg (Ursodeoxycholsäure)
1-0-1
Metoprolol 23,75 mg
1-0-0
Metoprolol 23,75 mg
1-0-0
Ramipril 5 mg
1-0-0
Ramipril 5 mg
1-0-0
Lercanidipin 10 mg
0-0-1
Lercanidipin 10 mg
0-0-1
Metamizol 500 mg
1-1-1
Metamizol 500 mg
1,5-1,5-1,5
Alendronsäure 70 mg
1x/Woche
Alendronsäure 70 mg
1x/Woche
Vigantoletten® 1000 IE
1-0-0
Vigantoletten® 1000 IE
1-0-0
Marcumar® nach Plan
Marcumar® nach Plan
Norspan® (Buprenorphin)10 mg/h
Pflaster
Oxycodon 10 mg (retard)
1-0-1
HCT 12,5 mg
1-0-0
HCT 12,5 mg
abgesetzt
Pantoprazol 40 mg
1-0-0
Pantoprazol 40 mg
abgesetzt
Methocarbamol 750 mg
1-0-1
Methocarbamol 750 mg
abgesetzt
Mirtazapin 15 mg
0-0-1
Mirtazapin 15 mg
abgesetzt
Haloperidol® 3–5 gtt. bei Übelkeit
abgesetzt
Haloperidol® 3–5 gtt. bei Übelkeit
MCP 10 mg
bei Bedarf
MCP 10 mg
abgesetzt
Celecoxib 200 mg
bei Bedarf
Celecoxib 200 mg
abgesetzt
In der ambulanten Betreuung konnte ein großer
Teil der Entlassungsmedikation (7 Mittel!) ohne Probleme abgesetzt werden. Die Schmerzmittel wurden
ausgetauscht beziehungsweise das Schmerzpflaster
durch ein orales Opioid ersetzt. Die Patientin hat so
weniger Schmerzen und fühlt sich allgemein besser.
DR. MED. MICHAEL WEIER
✓ Interessenkonflikte: keine
SCHREIBEN SIE UNS!
Zuschriften bitte per E-Mail oder Post an:
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Kassenärztliche Vereinigung Hessen,
Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt
Die KVH-aktuell-Redaktion freut sich
über Ihre Statements, behält sich aber die
Veröffentlichung und das Recht der
Kürzung vor. Außerdem bitten wir darum,
mögliche Interessenkonflikte offenzulegen.
KVH aktuell 1|2016
29
ARZNEIMITTELAUSGABEN
DIALOG
Ein Plus von 10 Prozent
ArzneiverordnungsReport 2015
Autoren: Ulrich Schwabe,
Dieter Paffrath
Verlag: Springer
ISBN: 978-3662471852
Taschenbuch:
1.320 Seiten, 59,99 Euro
Die jährlich erscheinenden Analysen des Arzneiverordnungs-Reports gelten als feste Größe im
deutschen Arzneimittelmarkt – spätestens, seit
einige Pharmahersteller vergeblich versucht
haben, die Ausgabe 1997 juristisch zu verhindern. Nach dem aktuellen Report verzeichnete
die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) für
das Jahr 2014 einen Anstieg der ArzneimittelAusgaben um 10 % (auf 35,4 Mrd. Euro). Dagegen habe die Zahl der Verordnungen praktisch
nicht zugenommen (+ 1 %). Die Autoren identifizieren für die rund 3,3 Mrd. Euro Mehrausgaben zwei Hauptursachen: Einerseits „koste“ die
(Wieder-)Absenkung des gesetzlichen Herstellerabschlags von 16 auf 7 Prozent die GKV etwa
1 Mrd. Euro jährlich. Andererseits seien patentgeschützte Präparate aus nur sechs Arzneimittelgruppen für weitere 2,1 Mrd. Euro bei den
Mehrausgaben verantwortlich:
Quelle:
1. Immunsuppressiva, + 25 % (Gruppenvolumen
insgesamt: 3.152 Mio. Euro): Anstieg hauptsächlich durch vier Biologika zur Therapie der
rheumatoiden Arthritis.
2. Antivirale Mittel, + 68 % (Gruppenvolumen
insgesamt: 1.534 Mio. Euro): Anstieg vor allem
durch einen Polymerasehemmer zur Therapie
der Hepatitis C.
3. Antithrombotika, + 22 % (Gruppenvolumen
insgesamt: 1.404 Mio. Euro): Anstieg durch
neue Antikoagulantien (NOAK) anstelle von
Phenprocoumon/Warfarin.
4. Onkologika, + 6 % (Gruppenvolumen insgesamt: 4.661 Mio. Euro)
5. Nervensystemmittel, + 164 % (Gruppenvolumen insgesamt: 387 Mio. Euro): Anstieg allein
durch Dimethylfumarat zur Therapie der Multiplen Sklerose.
6. Antidiabetika, + 7 % (Gruppenvolumen insgesamt: 2.085 Mio. Euro): Anstieg hauptsächlich durch Gliptine. 쮿
ArzneiverordnungsReport 2015
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INTERNET
DR. MED. STEFAN GRENZ
✓ Interessenkonflikte: keine
IMPRESSUM
Herausgeber und verantwortlich für die Inhalte:
Kassenärztliche Vereinigung Hessen, Georg-Voigt-Straße 15, 60325 Frankfurt
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Redaktionsstab:
Dr. med. Joachim Fessler (verantw.), Dr. med. Christian Albrecht, Petra Bendrich, Dr. med. Klaus Ehrenthal, Dr. med. Margareta
Frank-Doss, Dr. med. Jan Geldmacher, Dr. med. Harald Herholz, Klaus Hollmann, Dr. med. Günter Hopf, Dr. med. Wolfgang
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Vetter, Dr. med. Michael Viapiano, Dr. med. Jutta Witzke-Gross
Wissenschaftlicher Beirat:
Prof. Dr. med. Ferdinand Gerlach, Institut für Allgemeinmedizin der Universität Frankfurt; Prof. Dr. med. Sebastian Harder, Institut
für klinische Pharmakologie der Universität Frankfurt
Die von Mitgliedern der Redaktion oder des Beirats gekennzeichneten Berichte und Kommentare sind redaktionseigene Beiträge;
darin zum Ausdruck gebrachte Meinungen entsprechen der Auffassung des Herausgebers. Mit anderen als redaktionseigenen
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vor, Leserbriefe zu kürzen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in dieser Veröffentlichung berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichenoder Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Wie alle
anderen Wissenschaften sind Medizin und Pharmazie ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung
erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere, was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in dieser Ausgabe
des Magazins eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autor und Herausgeber große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angaben dem Wissensstand bei Fertigstellung des Magazins entsprechen.
Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Herausgeber jedoch keine Gewähr übernommen
werden. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers.
Verlag:
wdv Gesellschaft für Medien mbH & Co. OHG, Siemensstraße 6, 61352 Bad Homburg. Objektleitung: Karin Oettel; Redaktionskoordination: Dr. med. Detlef v. Meien-Vogeler; freie Mitarbeit: Dr. phil. nat. Andreas Häckel, Gestaltung: Steffen Klein, Udo Schankat;
Bildredaktion: Corinna Gab; Herstellung: Dieter Kempiak; Vertrieb: Brigitte Hoemberg
Bildnachweise: ordus – Fotolia (1), Oana Szekely – wdv (2), vectorscore – Fotolia (I), Science Photo Library RF – gettyimages (4 – 5),
lightgirl/fotomek – Fotolia (15–16), Victor Brave – istockphoto (18–19), Lubushka – istockphoto (26), edge69 – istockphoto (26),
pixtumz88 – Fotolia (26– 28), Panchenkhenko Dmytro – iStock (29).
Redaktionsschluss: 24. Februar 2016
30
KVH aktuell 1|2016
DEGAM S1-HANDLUNGSEMPFEHLUNG
Chronischer Schmerz
Definition
Zielgruppe sind Patienten mit Schmerzen nicht tumorbedingter Ursache, die 3 Monate und länger anhalten.
Epidemiologie/Versorgungsproblem
Etwa jeder 5. Patient in hausärztlichen Praxen leidet unter chronischen Schmerzen, meist in mehreren Körperregionen. Zu den häufigsten Schmerzzuständen gehören Rücken- und Gelenkschmerzen. Heilung von chronischen
Schmerzen ist vielfach nicht möglich. Subjektive Beeinträchtigungen und objektive Organschädigungen korrelieren
häufig nicht. Angst, Depression, somatoforme Störungen oder posttraumatische Belastungsstörung sind häufige
Komorbiditäten.
Einteilung
• Nozizeptiver Schmerz (auf Gewebereizung oder -schädigung zurückgehend, keine Nervenschädigung):
- Qualität: vielfältig je nach Grunderkrankung (z. B. bewegungsabhängig, kolikartig, nächtlicher
Schmerz), nicht dermatombezogen
- Beispiele: Arthrose, teils muskuloskelettale Schmerzen, Ischämieschmerz bei pAVK, Frakturen
• Neuropathischer Schmerz (verursacht durch Nervenschädigung):
- Qualität: einschießend, attackenartig, brennend, keine Linderung in Ruhe, Sensibilitätsstörungen,
Parästhesien, Allodynie (Überempfindlichkeit)
- Beispiele: Ischialgie, diabetische Neuropathie, Trigeminusneuralgie, postherpetische Neuralgie und
andere Neuralgien, möglicherweise Fibromyalgie
• Funktioneller Schmerz (Schmerz als Ausdruck psychischer Beeinträchtigung):
- Qualität: häufig multilokulär, hohe Inanspruchnahme, die Intensität der Schmerzen steht nicht in direktem Zusammenhang mit feststellbaren Gewebeschädigungen
Die Art des Schmerzes hat Einfluss auf die Wahl der Therapie. Häufig liegen Mischformen („mixed pain“) vor.
Autoren: A. Becker,
M. Becker, P. Engeser
Konzeption und
wissenschaftliche
Redaktion: M. Scherer,
C. Muche-Borowski,
A. Wollny
degam-leitlinien.de
DEGAM-Leitlinien
Hilfen für eine gute
Medizin
Stand 2013 © DEGAM
Schmerz und Psyche
Chronischer Schmerz bedeutet immer eine starke psychische Belastung. Zudem beeinflussen psychosoziale Faktoren
wie frühere Lebensereignisse oder die aktuelle Situation die Schmerzwahrnehmung. Die medikamentöse Therapie
hat hier keinen Nutzen. Psychosoziale Interventionen (körperliche und soziale Aktivität, aufmerksamkeitslenkende
Strategien, Verhaltenstherapie o. Ä.) können die Schmerzwahrnehmung entscheidend beeinflussen.
Behandlungsziele
• Ursächliche Faktoren sollten, wenn möglich, behoben werden
• Erkennen abwendbar gefährlicher Verläufe
• Früherkennung psychischer Komorbidität (begleitende Depression, Angsterkrankung,
Schlafstörungen, somatoforme Störung)
• Ausrichtung der Therapie auf die Lebensqualität des Patienten, nicht die Schmerzintensität
• Aufrechterhaltende Faktoren identifizieren und besprechen
Abwendbar gefährliche Verläufe
Malignität, entzündlicher Schmerz, Fraktur, Infektion, akute Schmerzursache bei chronischem Schmerzsyndrom,
interventionsbedürftige Nervenkompression, Medikamentenübergebrauch
Diagnostik
• Anamnese: Schmerzstärke (NRS, VAS oder VRS*), -ausprägung, Auslöser, Krankheitskonzept, aufrechterhaltende
•
•
•
Faktoren (yellow flags), Dauer der Episoden, Begleitsymptomatik (z. B. Übelkeit, Schwindel), Medikamenteneinnahmeverhalten
Beeinträchtigung: Wohlbefinden, Alltagsfunktion, Aktivität, Sozialleben, Stimmung, Schlaf
Therapieziel: gemeinsam mit dem Patienten realistisch festlegen
Körperliche Untersuchung: orientiert an Beschwerdedarstellung und Voruntersuchungen. Bildgebung ist nicht
regelhaft notwendig, sondern v. a. bei abwendbar gefährlichen Verläufen oder Klärung von Interventionsbedarf,
Verhaltensbeobachtungen (z. B. Vermeidungsverhalten) und Funktionstests (z. B. Bewegungsprüfung) zur Verlaufskontrolle
Therapie
• Aufklärung: Bedeutung psychosozialer Faktoren, aktive Bewältigungsstrategien
• Unter Einbezug von Patientenzielen sollte ein individueller Behandlungsplan, bezogen auf Schmerzlinderung
•
•
•
•
(30 % Verbesserung), Verbesserung von Lebensqualität, Funktion, Stimmung, private, berufliche und soziale
Partizipation sowie Reduktion des Analgetikakonsums, erstellt werden
Strukturierte Patientenführung (regelmäßige Wiedereinbestellung und Evaluation, um eine Exazerbation der
Beeinträchtigungen zu vermeiden)
Medikamentös: individuelle Dosistitration, spezifische Therapien beachten (z. B. Migräne, Hemicranie, Koliken)
• Nozizeptiv: WHO-Stufenschema (einfache Analgetika, NSAR, schwache Opioide, starke Opioide)
• Neuropathisch: Antikonvulsiva, ggf. Antidepressiva, lang wirksame Opioide, ggf. Lidocain- oder
Capsaicin-Pflaster
• Funktionell: ggf. Antidepressiva, keine Opioide
Nichtmedikamentös: aktivierende Maßnahmen (!), Entlastungsgespräche, ggf. Physiotherapie oder Funktionstraining, Psychotherapie (z. B. Verhaltenstherapie, Traumatherapie), Entspannungsverfahren, physikalische
Therapien (Kälte, Wärme), Stressbewältigungsverfahren
Weitere Maßnahmen: Selbsthilfegruppen, ggf. Antrag auf Rehabilitation, Vermittlung sozialrechtlicher Beratung
(Rentenansprüche, Finanzhilfen etc.)
* NRS: numerische Ratingskala
VAS: visuelle Analogskala
VRS: verbale Ratingskala
Hier finden Sie die
Kurzversion der DEGAMHandlungsempfehlung
„Chronischer Schmerz“
mit Empfehlungen zu
Diagnostik und Therapie
kvh.link/1601013
INFO
Persistierende Schmerzen oder intermittierende Schmerzen (länger als 3 Monate)
ja
Bekannte Schmerzqualität
und -lokalisation?
Folgekonsultation
nein
Schmerzintensität,
-qualität, -ausbreitung,
Begleitsymptomatik,
Komorbidität
Verdacht auf
- Malignität
- entzündlich
- Fraktur
- gravierende neurol. Ausfälle
(Kraft, Reflexe, Sensibilität)
- neues Akut-Schmerzereignis
- Medikamentenübergebrauch
ja
Zielführende
Diagnostik
(Untersuchung,
Labor,
Bildgebung),
Überweisung
nein
Anamnestische Zuordnung (häufig Mischbilder)
Nozizeptiv (Arthrose, Arthritis,
Frakturen, Tumore)
Neuropathisch (Neuralgie,
Polyneuropathie)
Funktionell (Schmerz als
Ausdruck psychischer
Beeinträchtigung
Krankheitskonzept des Patienten/Vorstellungen zu Ursache und Therapie
Weiterführende Diagnostik: je nach Vordiagnostik und Verdacht, keine regelhafte Bildgebung erforderlich
Realistisches Behandlungsziel vereinbaren
Edukation (Beruhigung, Zuversicht, Behandlungsstrategie)
Evaluation
• Wohlbefinden
• Alltagsfunktion
• Aktivität
• Sozialleben
• Stimmung
• Schlaf
• Medikamenteneinnahme und
UAW
BeispielMedikationen
(für differenzielle
Indikation b. w.)
Grundsätzlich:
orale Einnahme,
festes Zeitschema,
kurz wirksame
Präparate nur in
Einstellphase oder
für Durchbruchschmerzen, Opiate
mit Adjuvantien
(Laxantien,
Antiemetika)
Therapieeinleitung oder -anpassung, wenn notwendig
Funktion
Stimmung
Selbstmanagement
Medikamente
z. B. aktivierende
Physiotherapie
Entlastungsgespräche
Entspannung
Psychotherapie
ggf. Antidepr.
körperl. Aktivität
soziale Aktivität
Selbsthilfegruppe
Reha
Therapieanpassung
Gruppe
Medikament
Initialdosis
(Intervall für
Dosiserhöhung)
Nicht Opioide
z. B. Naproxen, Paracetamol, Metamizol
Schwache Opioide
z. B. Tramadol
retard
Starke Opioide
(LONTS-Leitlinie!)
Reevaluation:
• nach 2-6 Wo. bei
Neuverordnung
• sonst: nach 4-6
Monaten
Kein ausreichender
Therapieerfolg trotz
Behandlung nach
Leitlinie: ggf.
fachärztliche
Behandlung
Dosierung
Start oder
Kombination mit
nicht retardierter
Medikation
1 x 100-150 mg
(2-7 d)
max. 400 mg/d
Tramadol 50 mg
alle 4-6 h
z. B. Morphin
retard (1. Wahl)
2-3 x 10-30 mg
individuell titriert
Morphin 5-10 mg
alle 4 h
Antikonvulsiva
(neuropathischer Schmerz)
z. B. Gabapentin
2 x 100 mg
1.200-2.400 mg/d
(max. 3.600 mg/d)
Antidepressiva
(neuropathischer Schmerz/
Depression)
z. B. Amitriptylin
25 mg
50-75 mg/d
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