Lektion 9 Der absolute Geist als Vernunftreligion Diese neue

Werbung
Lektion 9
Der absolute Geist als Vernunftreligion
*
Diese neue Perspektive, diese neue Orientierung im Denken und im Leben, kann
auch als ‚Religion‘ bezeichnet werden, natürlich gänzlich im rationalen Sinne
einer Weltauffassung, Weltanschauung. Das Prinzip dieser Denk- und
Lebenseinstellung, dieser Vernunftreligion, der prägnanten Definition Immanuel
Kants zufolge, ist die absolute Vernunft als Grundprinzip von allem. Dieses
Prinzip ersetzt den einen Gott der monotheistischen Religionen, der seinerseits
die Götter der polytheistischen Religionen ersetzt hatte.
Daher stehen wir vor einer Epochenwende, vor dem Beginn einer wirklichen
und echten neuen Zivilisation. Von der Kultur des Monotheismus, die in ihre
unterschiedlichen Formen aufgeteilt ist, gehen wir in die Kultur der
Vernunftreligion bzw. der Philosophie, der komplett rationalen Weise, das
Absolute zu erkennen und auszudrücken, über. Kurz gesagt: zur „Kultur des
Idealismus“, so wie er in Lektion 3 im Rahmen der Gleichstellung von
Philosophie und Idealismus erläutert wurde.
Hegel war sich genau darüber bewusst, dass er eine neue Epoche einläuten
würde, als er mit ca. 35 Jahren die erste vollständige Version seines eigenen
philosophischen Systems erarbeitet hatte, welches er jedoch niemals in seiner
Originalform veröffentlichte. Sein Biograph, Karl Rosenkranz, der Hegels
Schüler war und die Aufgabe erhielt, seine offizielle Biographie zu schreiben,
hatte nach dem Tod Hegels die Möglichkeit, alle Schriften des Philosophen zu
sichten und somit uns dessen Gedanken über jene neue Kultur zu überliefern.
Sie waren in einem Schriftstück verfasst, das später leider verloren gegangen ist
(vielleicht ist es auch von seinen Erben zusammen mit anderen Manuskripten
zerstört worden, denen daran gelegen war, ein Bild Hegels zu bewahren, das ihn
als einen der evangelischen Religion und der preußischen Monarchie treuen
Christen zeigte, was er in der Zeit vor Berlin sicher nicht war). Es ist wichtig,
jene Seiten von Rosenkranz und Hegel vollständig wiederzugeben, denn sie
erschließen uns ein klares Bild von der epochalen Bedeutung der Geburt der
Philosophie Hegels und somit von ihrer Bedeutung als neue Religion, nicht nur
als Philosophie.
Den Text, in dem sich der Stuttgarter Philosoph davon bewusst zeigt, dass er
dabei ist, eine neue Kulturepoche einzuleiten, schrieb er zu der Zeit, als er sich
in Jena aufhielt. In dieser zentralen Zeit seiner Entwicklung verfasste Hegel die
Hauptprinzipien seines Systems sowie auch wichtige Teile davon. Der Text mit
dem Titel Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit ist ein langes überliefertes
Fragment. Den Titel gab ihm Rosenkranz, der der Ansicht war, dass das
Schriftstück als Schlusskapitel von dem System der Sittlichkeit (1802/1803)
gemeint war, d.h. als Konklusion zur ersten Version von Hegels Philosophie der
Sittlichkeit. Bei dem System der Sittlichkeit handelt es sich um eine
‚Reinschrift‘, die Hegel ursprünglich publizieren wollte, worauf er dann jedoch
verzichten musste, weil er zu keinem passenden Schluss kam. Aus diesem
Grund ist die Reinschrift genau an der Stelle unterbrochen, bei der es um die
Begründung der absoluten Sittlichkeit durch die Religion und daraufhin auch um
die richtige Religion geht, die dieser Aufgabe gerecht werden kann. Es soll sich
um eine absolute Religion handeln, da keine relative Religion eine absolute
Sittlichkeit gründen kann. Rosenkranz zufolge enthält genau das lange Fragment
Fortsetzung des Systems der Sittlichkeit die Lösung dieser Frage und somit
bildet es den Abschluss von Hegels System der Sittlichkeit. Wenn man den
abschließenden Teil der Fortsetzung liest, wird dies deutlich:
Schauen wir zunächst auf die einleitenden Worte von Rosenkranz:
“Per quanto Hegel, come risulta sufficientemente dalla presente esposizione, considerasse
allora il protestantesimo una forma finita del cristianesimo tale e quale il cattolicesimo, egli
non passò tuttavia, come molti dei suoi contemporanei, al cattolicesimo stesso, in quanto
riteneva che dal cristianesimo stesso, attraverso la mediazione della filosofia, sarebbe nata una
terza forma di religione. Così si esprimeva al riguardo (...)” (ora seguono le parole di Hegel
riportate dal Rosenkranz):
“Dopo che il protestantesimo si sarà spogliato della consacrazione estranea, lo spirito potrà
giungere a santificare se stesso nella propria forma ed oserà restaurare la conciliazione
primitiva in una nuova religione, la quale prenderà in sé il dolore infinito e tutto il peso del
suo opposto, ma risolvendolo con purezza e senz'alcuna confusione, quando ci sarà un popolo
libero e la ragione avrà rigenerato la sua realtà come spirito etico, che avrà l'audacia di
assumere la sua pura forma sul suo proprio terreno e con la sua propria maestà. Ogni singolo è
un cieco membro nella catena della necessità assoluta con cui il mondo si sviluppa. Ogni
singolo può raggiungere il dominio di una parte più lunga di questa catena solo nel caso in cui
riconosca in quale direzione si muova la grande necessità e da questa conoscenza impari a
pronunciare la parola magica che fa nascere la figura di essa. Questa conoscenza, di assorbire
in sé l'intera energia del dolore e dell'opposizione, che per due millenni ha governato il mondo
e tutti gli aspetti della sua formazione e di sollevarsi nello stesso tempo al di sopra di tale
energia, può essere offerta solo dalla filosofia".
(Karl Rosenkranz, Vita di Hegel, Milano 1974, pp.158-159).
Der Ausdruck ‚neue Religion’ katapultiert Hegel zunächst in eine Welt der
Zukunft, nicht nur von einem theoretischen und rein philosophischen
Standpunkt aus, sondern auch aus einem menschlichen Blickwinkel gesehen.
Hegel war sein Leben lang auf der Suche nach einer Religion, nachdem er sich
als junger Mann zusammen mit Schelling und Hölderlin definitiv von der
evangelischen Religion distanziert hatte, obwohl er als Student des Tübinger
Stifts für den kirchlichen Dienst ausgebildet wurde. Nach dem Studium arbeitete
er aber als Privatlehrer bewusst in verschiedenen katholischen, nicht
evangelischen Städten, um sich dieser anderen Religion zu nähern, wie aus
seiner Briefsammlung hervorgeht. Aber auch der Katholizismus, wie
Rosenkranz richtig beobachtet, konnte Hegel nicht überzeugen, weshalb ihm
schlussendlich nichts Anderes übrigblieb, als sich in erster Linie für sich selbst
eine neue Religion auf der Basis von Kants Religionsphilosophie zu erarbeiten.
(wie verschiedene neue Studien deutlich, auch in philologischer Hinsicht gezeigt
haben).
Wir können also sagen, dass Hegel mit seinem eigenen philosophischen System
das von Kant 1793 erarbeitete Programm einer Vernunftreligion umgesetzt hat,
wie im Übrigen auch aus dem Briefwechsel zwischen Schelling und Hegel
hervorgeht, als die beiden jungen Denker Studenten des evangelischen
Universitätskollegs in Tübingen waren. Sie sahen in Kant den Vater der neuen
Philosophie („Vater Kant“ nannten sie ihn) und sie schrieben, dass sie es als ihre
Aufgabe ansahen, das Werk von Vater Kant zu Ende zu bringen. Das ist genau
das, was Hegel in seinem philosophischen System getan hat, indem er darin die
Vernunftreligion dargestellt hat, deren Grundzüge bereits vom Königsberger
Philosophen in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von
1793 vorgezeichnet worden waren. Diese hatte Hegel in seinem letzten
Studienjahr in Tübingen (1793) und in der allerersten Zeit als Privatlehrer in
Bern (1794) gelesen und übernommen.
Verlassen wir jetzt den Bereich der geschichtlich-philosophischen und
philologischen Betrachtungen, die notwendig waren, um die historischen
Wurzeln unseres Diskurses nachzuvollziehen, der sich offenkundig auf die von
anderen Denkern erzielten Ergebnisse stützt, und kehren zu unserer eigentlichen
philosophischen und allgemeinverständlichen Ebene zurück. Die neue Religion,
die die verschiedenen Formen der monotheistischen Religion ersetzen soll, ist
also die Vernunftreligion, bzw. die Philosophie, die das Absolute erkennt, so
wie sie sich im hegelianischen philosophischen System findet, insbesondere in
der Wissenschaft der Logik. Daher ist die von der neuen Religion eingeläutete
neue Kulturepoche die der Philosophie, insofern man unter Philosophie nicht
irgendeine rationale Weltanschauung versteht, sondern ausschließlich die auf
sich selbst begründete Philosophie, wie wir sie bisher versucht haben zu
erläutern. Es ist also die Philosophie, wie sie sich im philosophischen System
Hegels befindet, wobei dies heute natürlich auf der Basis von jüngeren Texten
über die neueren sozialen, wissenschaftlichen usw. Entwicklungen integriert,
modifiziert, neu formuliert werden soll.
Es handelt sich dabei um einen Aktualisierungsprozess des philosophischen
Systems Hegels, der dessen Ausdrucksform modifiziert, indem er sie an unsere
Zeit anpasst. Er ermittelt auch dessen Schwachpunkte, sowohl die, die auf den
damals sicher geringeren Kenntnisstand zurückzuführen sind, als auch die, die
auf dem unbestreitbaren hegelianischen Einlenken beruhen, der von
verschiedenen Interpreten wie z.B. Karl Marx festgestellt wurde, so sehr jener
jedoch nicht den Hauptinhalt des Gedankens des Philosophen betreffe, sondern
nur einige Begriffe, bei deren Formulierung Hegel aufpassen musste, die
Sensibilität der Institutionen nicht zu reizen. Er war von diesen Institutionen am
Ende nicht nur finanziell abhängig, sondern war auch ein einflussreicher
Vertreter, zunächst als Dozent, später sogar als Rektor der Universität zu Berlin.
Diese Aktualisierungsarbeit ist absolut notwendig und unerlässlich, um der
hegelianischen Philosophie wieder Leben einzuhauchen, also der Philosophie,
die die neue Kultur der Menschheit einläuten soll und die wir deshalb nicht
außer Acht lassen dürfen, aber auch nicht nach dem gleichen Maßstab wie
andere Philosophien als ausschließlich kulturelles Produkt einer vergangenen
Epoche betrachten sollen. Hegels Philosophie ist, so sehr sie auch nachgeprüft,
neu formuliert, aktualisiert wird, unsere Philosophie, weil sie die Philosophie
unserer post-monotheistischen Kultur ist.
Versuchen wir jetzt, diese neue Kultur genauer zu definieren.
Herunterladen