Psychopharmaka bei schweren psychischen Erkrankungen

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Richtig eingestellt? Gratwanderung Neuroleptika! DGSP 24.9.2009
Psychopharmaka bei schweren
psychischen Erkrankungen:
Evidenz oder Übermaß?
Stefan Weinmann
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité Berlin und
Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie, Oberhavel Kliniken Hennigsdorf
Ziele antipsychotischer Therapie
Positivsymptome
Neurologische Nebenwirkungen
Negativsymptome
Spezifische NW
Kognition
Endokrine NW
Stimmung
Metabolisches Syndrom,
Gewichtszunahme
Suizidalität
Herz-Kreislauf-NW
Rückfallvermeidung
Mortalität
Lebensqualität
Soziale Funktionen
Langfristiges Outcomes
Doppel-blinde randomisierte Studien
Wissenschaftl. Experimente
Offene Studien
Alltagssituation/ Routineversorgung
Wachstum der Psychopharmakotherapie
90er Jahre und 2000 –
- SSRI/SNRI (Fluoxetin 1987)
• USA: 2001 12 Mrd. US$
- Atypische Antipsychotika (Clozapin 1989)
• USA: 2001 4,1 Mrd. US$
• USA: 2004 8 Mrd. US$
Wachstum der Psychopharmakotherapie
1. Ältere Substanzen werden durch neuere ersetzt bzw.
neuere UND ältere verschrieben
- Argumente:
• weniger Nebenwirkungen
• besseres Wirkspektrum
2. Ausweitung auf Patientengruppen, die vorher keine
oder andere Psychopharmaka einnahmen
Neuere Antidepressiva
- Keine generelle Überlegenheit in der Wirkung
gegenüber älteren Antidepressiva
Weniger Benommenheit, Mundtrockenheit, Obstipation,
Konzentrationsbeschwerden, Sehstörungen, weniger
Toxizität bei Überdosierung
- Niedrigere Verschreibungsschwelle bei leichter
Erkrankten und bei anderen Diagnosen
Neuere Antipsychotika
- Zusätzliche Optionen, Hinweise, dass bestimmte
Patienten eher profitieren, aber: Keine generelle
Überlegenheit in der Wirkung gegenüber älteren
Antipsychotika
(Vermutlich) weniger Spätdyskinesien, aber teilweise
mehr ungünstige Stoffwechselwirkungen (metabolisches
Syndrom)
- Mehr Polypharmazie, niedrigere
Verschreibungsschwelle bei anderen psychischen
Erkrankungen
Off-label-Verschreibung von
Antipsychotika
D. Leslie et al., 2009, Veterans Administration, n=279.778
- 60,2% der Patienten, die Antipsychotika verschrieben
bekommen haben, hatten keine Diagnose, für die sie
zugelassen waren
• Alzheimer Demenz und andere Demenz-Formen
• Depression
• Zwangserkrankung
• Posttraumatische Belastungsstörung
• Autismus
• Borderline-Persönlichkeitsstörung ......
Leslie et al. Psych Services 2009
Studiendurchführung/ -finanzierung
Über 70% (ca. 85%) der veröffentlichten MedikamentenStudien in der Psychiatrie werden durch
pharmazeutische Hersteller finanziert
Perlis et al. Am J Psychiatry (2005)
Evidenz?
Unfaire Dosierungsstrategien
Selektion von Endpunkten/ Subgruppenergebnisse
Maskierung unerwünschter Ergebnisse
Doppelpublikation positiver Ergebnisse
Nicht-Publikation negativer Ergebnisse
Bericht nicht-signifikanter Ergebnisse als Positivergebnis
Verleugnung des Sponsorship/ ghostwriting
Perlis et al. Am J Psychiatry 2005, Shah 2009
Mittelgebereinfluss
Von der Industrie finanzierte Studien
haben eine 4 mal höhere
Wahrscheinlichkeit (Odds Ratio: 4,1),
ein positives Ergebnis zu produzieren
10
Lexchin BMJ 2003 May 31;326(7400):1167-70.
Rolle des Industrie-Sponsoring
Zahl der Publikationen
zugunsten des SponsorMedikaments vs. Kontrolle
Medikament
des Sponsor
Vergleichsmedikament
Olanzapin versus Risperidon
Lilly
Janssen
5
3
0
1
Olanzapin versus Clozapin
Lilly
Novartis
2
1
1
0
Clozapin versus Risperidon
Novartis
Janssen
1
1
0
0
Ziprasidon versus Olanzapin
Pfizer
Lilly
1
2
1
0
Amisulprid versus Olanzapin
Lilly
Sanofi-Synthelabo
1
1
0
0
Atypika
Vergleichspaar und Sponsor-Medikament
Heres et al . 2006, Am J Psychiatry. Feb;163(2):185-94
“getting what you ask for”
(Die Frage ist schon die Antwort)
PLoS Medicine, www.plosmedicine.org 0696 Essay Open access, freely available online August 2005 | Volume 2 | Issue 8 | e124
Overall symptoms
Drop out rates
Geddes et al. (2000) BMJ; 321(7273)
Olanzapin vs. Haloperidol: Bias
VA study, Rosenheck 2003, 12 Monate, öffentlich finanziert
Haloperidol (flexible Dosis 5-20 mg) + Benzatropin
Olanzapin (flexible Dosis 5-20 mg)
Keine Unterschiede in Rückfallrate, Symptome,
Lebensqualität, extrapyramidale Symptome
1.
Akathisie ohne prophylaktische anticholinerge Medikation (1930% unter Typika) kann als fehlende Wirksamkeit
fehlinterpertiert werden
2.
Akinetische Syndrome/akinetische Depression können von
Negativ-Symptomen ununterscheidbar sein
3.
LOCF-Auswertung führt zum Artefakt stärkerer PANSSReduktion bei Olanzapin, wenn Haloperidol-Patienten früher
abbrechen
Frühe Neuroleptika-Studien
1-Jahres-Ergebnisse (Schooler et al. 1967)
Placebo-Patienten hatten eine niedrigere
Wahrscheinlichkeit, stationär
wiederaufgenommen zu werden als diejenigen
unter Phenothiazin-Behandlung.
“While the drugs were effective over the shortterm, perhaps they made people more biologically
vulnerable to psychosis over the long run, and
thus the higher rehospitalization rates at the end
of one year.”
Cole/Gardos 1976
•Aufrichtiger Vergleich medikamentöser
vs. nicht-medikamentöser Behandlung der
Schizophrenie
•Psychosoziales Funktionsniveau von
Placebo- und Medikamenten-Respondern
Cole/Gardos 1976
•“There is a subgroup of patients who
function better without drugs”
•“Every chronic patient should have the
benefit of an adequate trial without drugs”
Rückfallraten und antipsychotische
Behandlung
•Etwa doppelt so viele Patienten erkranken
nach den gängigen Kriterien der Studien
nach Umstellung von Antipsychotikum
auf Placebo erneut im Vergleich zur
kontinuierlichen Antipsychotika-Therapie
(59% vs. 27% nach 24 Monaten)
Hogarty et al. 1974/ Gilbert u., Jeste 1995
Rückfallraten und antipsychotische
Behandlung
•Je höher die antipsychotische Dosis war,
desto höher die Rückfallrate
•Je abrupter die Dosisreduktion (Absetzen),
desto höher das Rückfallrisiko
• 13-fach erhöhtes Rezidivrisiko in den
ersten 3 Monaten nach Abbruch (50% vs.
4% ab viertem Monat)
•Höherer Anteil an Varianzaufklärung
bzgl. Rückfall für Expressed Emotions
Gilbert u., Jeste 1995; Baldessarini et al. 1995, Vaughn 1976
CATIE : Clinical Antipsychotic
Trials of Intervention Effectiveness
CATIE : Ergebnisparameter
CATIE: Zeit bis zum Studienabbruch
75%
brechen
ab
Antipsychotika und Mortalität
• Standardisierte Mortalitätsrate
Schizophrenie vs. Normalbevölkerung:
– 1970: 1,84 1990er Jahre 3,2
• 14 Kohortenstudien zur Beziehung
Antipsychotika-Einnahme und Mortalität
• 2 von 4 Studien: Polypharmazie erhöhte
Mortalität
• 3 von 5 Studien: höhere Dosis erhöhte
Mortalität
• Inkonsistente Studienlage zu Atypika
Weinmann et al. Schiz Research 2009
Metabolisches Syndrom (MS)
Metabolische Ursache der Mortalität
• 47% von 689 Patienten der CATIE-Studie haben ein
Metabolisches Syndrom (McEvoy et al 2005)
---- HDL-Erniedrigung
- Hypertonus
- Triglyceriderhöhung
- abdominelle Gewichtszunahme
- erhöhter Nüchtern-Blutzucker
- Diabetes mellitus
• Beitrag der Atypika zum MS ist nicht sicher
einschätzbar, aber vorhanden
;
Nebenwirkungen: metabolisches Syndrom
Antipsychotika und Mortalität
• Mortalitätsrisiko im Vergleich zur aktuellen
Einnahme von Perphenazin bei
– Clozapin: HR 0,74
– Quetiapin HR 1,41
• Langzeit-kumulative Einnahme von
Antipsychotika (7-11 Jahre) war verbunden mit
niedrigerer Mortalität als keine Einnahme (HR
0,81)
• Niedrigste Mortalität bei Patienten mit
kumulativer Antipsychotika-Einnahme über 0-0,5
Jahre Subgruppe mit guter Prognose?
Tiihonen Lancet 2009
Antipsychotika und
Langzeitverlauf
• Fehlende Behandlung der
Schizophrenie insgesamt führt zu
ungünstiger Prognose und erhöhter
Mortalität
• Behandlung der Schizophrenie ist
mehr als medikamentöse Behandlung
• Langzeitverlauf hängt stark von
anderen Faktoren ab
Antipsychotika und
Langzeitverlauf: Probleme
Wiederekrankung:
• Psychotische Symptome können nach
Absetzen einer neuroleptischen
Behandlung in größerer Intensität
wieder auftauchen als dies ohne
jegliche Behandlung der Fall gewesen
wäre
Bola 2009 Psychosis 1: 4-18
Antipsychotika und
Langzeitverlauf: Probleme
Verschlechterung:
• Eine potentiell schädliche langfristige
Wirkung einer Antipsychotikatherapie zeigt
sich insbesondere bei denjenigen an einer
Psychose Erkrankten, die eine gute Prognose
haben. Bei den Erkrankungen mit schlechter
Prognose kann die kontinuierliche Gabe mit
Antipsychotika Vorteile mit sich bringen
Bola 2009 Psychosis 1: 4-18
Fazit
• Neuere Antidepressiva und atypische Antipsychotika
erfüllen die Minimalstandards der Zulassungsbehörden
hinsichtlich Sicherheit und Überlegenheit gegenüber
Placebo und sollten verfügbar sein
• Die Vorteile gegenüber älteren Substanzen wurden in
den Studien übertrieben und erscheinen geringer
• Die Langzeitrisiken auch neuerer Atypika sind nicht
ausreichend erforscht
• Die Zuwächse der Verschreibungsraten und die niedrigen
Verschreibungsschwellen sind nicht ausreichend durch
Evidenz gestützt
Fazit
• Einbezug von Betroffenen in die Definition von „Nutzen“
therapeutischer Interventionen: welche Themen/ welche
Outcomes?
• Durch Hersteller finanzierte Studien tragen immer das
Risiko, primär Instrumente des Marketing zu sein
• Die negativen Folgen der Psychopharmaka-Evaluation
durch den privaten Sektor überwiegen die positiven
Impulse für Innovation
• Neubewertung der „Unabhängigkeit“ ärztlichpsychiatrischer Professionalität
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