EmstMayr Evolution und die VieHalt

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EmstMayr
Evolution
und die VieHalt
des Lebens
Ubersetzt von Karin de Sousa Ferreira
Springer-Verlag
Berlin Heidelberg New York 1979
Professor Dr. ERNST MAYR
Museum of Comparative Zoology, The Agassiz Museum
Harvard University, Cambridge, Mass. 02138, USA
Ubersetzer:
KARIN DE SOUSA FERREIRA, Lissabon, Portugal
Mit
12 Abbildungen
ISBN-13: 978-3-540-09068-7
DOl: 10.1007/978-3-642-67110-4
e-ISBN-13: 978-3-642-6711 0-4
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek. Mayr, Ernst: [Sammlung <dt.>J.
Evolution und die Vielfalt des Lebens 1 Ernst Mayr. Ubers. von Karin de Sousa Ferreira. Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 1978. Einheitssacht.: Evolution and the diversity
oflife < dt. >.
Das Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere
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© by Springer-Verlag Berlin· Heidelberg 1979
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Umschlaggestaltung: W. Eisenschink
2131/3130-543210
Vorwort
Die deutsche Ausgabe meiner Aufsatze begrli~e ich mit besonderer
Freude, da die Anfange meiner Gedankengange oft bis zu den Zeiten zurlickreichen, als ich noch in Berlin am Zoologischen Museum
der Universitat tatig war. Die Probleme, mit denen ich mich in dieser Sammlung auseinandersetze, werden nicht nur in der wissenschaftlichen, sondern auch in der philosophischen Literatur eifrigst
erortert. Besonders wichtig fUr die Behandlung dieser Probleme ist
das Auftauchen v611ig neuer Denkrichtungen in der modernen Evolutionsbiologie. In der Wissenschaftsphilosophie, und besonders
bei den Positivisten, war die Uberzeugung weit verbreitet, alle Probleme der Biologie konnten letzten Endes auf die Gesetze der
Physik und Chemie zurlickgeflihrt werden. Wer widersprach, dem
wurde vorgeworfen, Vitalist oder Mystiker zu sein. Da~ jedoch
diese Auffassung der Positivisten falsch ist, wird in einigen meiner
Aufsatze nachgewiesen.
Bei der Zusammenstellung dieses Bandes habe ich mich von
dem Prinzip leiten lassen, so1che Aufsatze zu wahlen, die sich mit
neuen Entwicklungen in der Gedankenwelt der Biologen beschiiftigen. Ais besonders wichtige Themen erschienen mir die Wirksamkeit der natUrlichen Auslese, der Populationsgedanke, das Prinzip
der Teleonomie, die Rolle des genetischen Programms und andere
gedankliche Entwicklungen der modernen Biologie, mit denen
nicht nur Wissenschaftler und Philosophen, sondern auch jeder
gebildete Laie vertraut sein soUte, denn ohne dieses Verstandnis
ist eine moderne Weltanschauung eigentlich undenkbar.
Oft wird, und leider zu Recht, auf die gedankliche Kluft zwischen Wissenschaftlern und Humanisten hingewiesen. Eine krasse
wissenschaftliche Unbildung sei angeblich entschuldbar, weil die
Wissenschaft zu schwer verstandlich ist. Das ist aber nicht richtig.
Sicherlich gibt es einige Fachgebiete wie die Atomphysik oder die
chemische Theorie der Molekularkrafte, fUr die dies zutrifft. Aber
gerade fUr die Wissenschaftsbereiche, die jeder ganz unmittelbar als
Grundlage fUr eine eigene Weltanschauung braucht, wie die EvoluV
tionsbiologie und die Verhaltensforschung, gilt diese Entschuldigung nicht. Die Ergebnisse dieser Wissenschaften sind leichter zu
verstehen als etwa Hamlet oder die Divina Commedia.
Es ist also nicht die Schwierigkeit der Materie, die so viele Laien
zu wissenschaftlichen Analphabeten macht, sondern einfach Mangel an Interesse. Und so merken sie gar nicht, wie viel sie dabei verlieren und wie anachronistisch viele ihrer Auffassungen tiber die
Natur sind. Wer aber die ehrliche Absicht hat, sich mit dem Denken
des heutigen Evolutionsbiologen vertraut zu machen, der wird, das
hoffe ich, in diesen Aufsatzen vieles finden, das ihn zu weiterem
Denken anregt.
Elf Aufsatze sind der englischen Ausgabe (Evolution and the
Diversity of Life, Harvard University Press, 1976) entnommen, ein
Aufsatz wurde erst kiirzlich publiziert, und ein weiterer ist noch
unveroffentlicht .
. Besonderen Dank mochte ich Frau Ferreira fiir ihre vorzugliche
Obersetzung aussprechen.
Cambridge (Mass.), Sommer 1978
VI
Ernst Mayr
Inhaltsverzeichnis
1. Die Evolution lebender Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
1
Verschiedene Arten lebender Systeme .................
Die Pflege des Nachwuchses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
6
9
2. Zufall oder Planmiij3igkeit: Das Paradoxon der Evolution. .. 14
Planung .........................................
Zufall ..........................................
Die Mutation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Gen und Merkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Die natiirliche Auslese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Evolutionare Zufalle und genetische Information. . . . . ..
Einwande gegen eine selektionistische Auffassung der
Adaptation ..................................
Anpassung und Zweckmaf~igkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
15
16
20
22
23
26
27
31
33
3. Typologisches Denken kontra Populationsdenken ........ 34
Der Begriff der Rasse ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
Die natiirliche Auslese .............................. 38
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 39
4. Selektion und die gerichtete Evolution . ................ 40
Gerichtete Evolution ..............................
Die Wirkungsweise der gerichteten Evolution . . . . . . . . . . . .
Was sind die Folgerungen dieser Befunde? ..............
Evolutionistische Tendenzen ......................
Polyphyletische Parallelerscheinungen .................
Stagnierung und Bliiteperioden .......................
Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
44
47
52
52
53
55
57
57
VII
5. Geschlechtliche und natiirliche Auslese . . . . . . . . . . . . . . ..
Welche Merkmale sind das Ergebnis der sexuellen Auslese?
Schmuck und Lockmittel der Mannchen ............
Wahl durch das Weibchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Vorbedingungen fOr das Funktionieren der sexuellen Auslese
Mannchen-Vberschu~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Der Kampf unter den Mannchen . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Geschlechtliche oder natOrliche Auslese? ..............
Epigamische Selektion ......................... ,
Isolationsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Unterschiedliche Nischenausnutzung ...............
NatOrliche Fitness und Fortpflanzungsvorteil . . . . . . . . . ..
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
6. Die Unterschiede zwischen kosmischer und organischer
Evolu tion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
59
62
63
64
67
67
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70
71
73
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77
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80
Die Frage des Fortschritts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 82
Typen von Evolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83
Sprunghafte Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 83
Echte teleologische Vorgange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 84
Fortwahrende Anpassung durch Vererbung erworbener
Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 85
Teleonomische Vorgange ........................ 86
Die aus teleomatischen Vorgangen bestehende kosmische
Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 87
Evolution durch Selektion ....................... 88
Die Auslegung der biologischen Evolution seitens der Physiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 91
Obereinstimmungen und Unterschiede von kosmischer und
biologischer Evolution .......................... 92
Gemeinsamkeiten der kosmischen und der biologischen
Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Unterschiede zwischen kosmischer und biologischer
Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 94
1st es sinnvoll, von einer "Reduktion" der biologischen
Evolution auf die Gesetze der Physik zu sprechen? ... 101
Schlu~bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 101
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 102
VIII
Z Umweltveriinderung und Speziation . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104
Der evolutive Genflu~ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Die Struktur der Arten . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Okotypische Variation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
"Typostrophische" Variation .....................
Die Rolle des Genflusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Die genetische Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Das koadaptierte System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Veranderungen der genetischen Umwelt . . . . . . . . . . . . . ..
Die Rolle der physikalischen und biotischen Umwelt . . . ..
Das Aufspalten des kontinuierlichen Verbreitungsgebietes
einer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Genetische Variabilitat ............................
Randpopulationen und Makroevolution ...............
Evolutionsraten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Phylogenetische Saltationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Okologische Umstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
106
108
108
110
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129
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133
133
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8. Das Wesen der Darwinschen Revolution . .............. 136
Die Macht der retardierenden Konzepte . . . . . . . . . . . . . ..
Naturtheologie und Schopfungsglaube ................
Der Schopfungsglaube und die Fortschritte der Geologie ..
Der Essentialismus und eine statische Welt . . . . . . . . . . . ..
Lyells Artbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Lyell und der Uniformitarianismus . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Erfolglose Widerlegungen der Evolutionstheorie aufgrund
falsch gewahlter Alternativen .....................
Keine Unterscheidung distinkter Phanomene ...........
Der Einflu~ des Origin of Species . ...................
Besondere Aspekte der Darwinschen Revolution .. . . . . ..
Das Wesen der Darwinschen Revolution . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
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155
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9. Darwin und die natiirliche Auslese ................... 164
Wie Darwin seine hochst unkonventionelle Theorie entdeckt haben konnte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 164
Der Kampf urns Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 170
IX
Kampf der Arten oder der Individuen? ................
Einzigartigkeit des Individuums .....................
Natiirliche Aus1ese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Wievie1 verdankte Darwin nun eigentlich Ma1thus? . . . . . ..
Darwins geistige Vorbereitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
174
175
178
180
181
183
10. Ursache und Wirkung in der Biologie ................ 185
Funktiona1e Biologie und Evolutionsbiologie . . . . . . . . . ..
Kausalitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Te1eo1ogie ......................................
Das Problem der Voraussage ........................
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
186
189
191
192
196
197
11. Teleologisch und teleonomisch: eine neue Analyse. . . . .. 198
Traditionelle Einwande gegen eine teleo1ogische Ausdrucksweise ........................................ 200
Die Heterogenitat teleologischer Phanomene . . . . . . . . . .. 202
Gerichtete Evolutionsreihen (Progressionismus, Orthogenese)203
Scheinbar oder wirklich zie1gerichtete Vorgange ......... 205
Te1eomatische Vorgange in der unbelebten Natur ...... 206
Teleonomische Vorgange in der belebten Natur ....... 207
Ineinanderiibergehen von teleomatischen und teleonomischen Vorgangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 216
Teleologische Systeme ............................ 216
Der heuristische Wert der teleonomischen Sprache ....... 220
Aristote1es und die Teleo1ogie ....................... 223
Kant und die Te1eo1ogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 225
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226
Literatur ....................................... 228
12. Die biologische Bedeutung der Art . . . . . . . . . . . . . . . . .. 230
Der typo1ogische oder "essentialistische" Artbegriff . . . . ..
Der nominalistische Artbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Der biologische Artbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Diskontinuitat .................................
Die Vervielfaltigung der Arten ....................
Die Genetik der Art ............................
x
231
232
234
236
238
239
Die Rolle der Art in der Evolution . . . . . . . . . . . . . . . ..
Arten und Okosysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Arten und Artenreichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Schlu~bemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
240
241
242
244
245
13. Verhaltensprogramme und evolutioniire Strategien ...... 246
Geschlossene und offene Programme .................
Einteilung des Verhaltens ..........................
Intraspezifisches Verhalten .......................
Interspezifisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
Nicht-kommunikatives Verhalten ..................
Makroevolutionare Folgen .........................
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
248
257
259
261
262
264
268
Sachverzeichnis . ................................... 271
XI
1
Die Evolution lebender Systeme
1
Oberwaltigend groB ist die Anzahl der lebenden Systeme, die Mannigfaltigkeit ihrer Arten und Gestalten, und jedes dieser Systeme
ist auf seine besondere Weise einzigartig. So verschieden sind in der
Tat die Organisationstypen, daB es vergebene LiebesmUhe ware,
wollte man die Evolution in ihrer Gesamtheit zu verstehen suchen,
indem man die Entwicklung von Viren und Fungi, Walen und
Mammutbaumen oder Elefanten und Kolibris beschriebe. Vielleicht
konnen wir durch ein relativ unorthodoxes Herangehen an unsere
Aufgabe zu giiltigen Verallgemeinerungen gelangen. Die lebenden
Systeme evoluieren, urn der "Herausforderung" der Umwelt gewachsen zu sein. Wir konnen also fragen, welches die Anforderungen
sind, denen ein Organismus genUgen muB.
Die erste Anforderung ist die, es mit einer sich unablassig wandelnden und ungeheuer vielgestaltigen Umwelt aufnehmen zu konnen, deren Ressourcen allerdings nicht unerschopflich sind. Das
Mittel, urn mit der Vielfalt der Umwelt in Raum und Zeit fertigzuwerden, ist unbestritten die Mutation, die Erzeugung genetischer
Variation. Gehen wir bis zu den Anfangen des Lebens zurUck: Ein
urzeitlicher Organismus, der sich von einem speziellen komplexen,
in der sogenannten "Ursuppe" vorhandenen Molekiil ernahrte,
erzielte einen besonderen Vorteil, wenn er sich so veranderte, daB er
nach Verbrauch dieser Ressource in seiner Umwelt in der Lage war,
das benotigte Molekiil aus den reichlich vorhandenen einfacheren
Molekiilen zu synthetisieren. Einfache Lebewesen wie Bakterien
oder Viren, bei denen alle 10 oder 20 Minuten eine neue Generation heranwachst und deren gewaltige Populationen aus Millionen
und Milliarden von Individuen bestehen, konnen durchaus in der
Lage sein, sich lediglich mittels Mutation an die Diversitat wie
auch an die Veranderungen der Umwelt anzupassen. In der Tat ist
die Fahigkeit zur Mutation vielleicht das wichtigste evolutive
Entnommen aus: The evolution of living systems. Proc. Nat. Acad. Sci. 51,
No.5, 934-941 (1964).
1
Merkmal der einfachsten Organismen. Dariiber hinaus ist ihr System
der phanotypischen Adaptation bemerkenswert plastisch, es erlaubt
daher eine rasche Anpassung an Umweltveranderungen.
FUr komplexere Lebewesen, d.h. so1che mit sehr viel gr6~eren
GenerationsHingen, viel kleinerer Populationsgr6~e und vor allem
einem sorgfaltig ausbalancierten koadaptierten Genotypus, ware es
riskant, wollten sie sich so weitgehend auf Mutationen verlassen,
urn Veranderungen in der Umwelt nachzukommen. Die Wahrscheinlichkeit, da~ die richtige Mutation zur richtigen Zeit eintreten wUrde, so da~ die Mutation allein die angemessene genetische
Variabilitat fUr pl6tzliche Veranderungen in der Umwelt so1cher
Organismen liefern k6nnte, ist praktisch gleich null. Welches also
ist die Voraussetzung fUr das Auftreten komplexerer lebender
Systeme? Es ist die Fahigkeit der verschieden veranlagten Organismen, untereinander "genetische Information" auszutauschen, der
Vorgang, den der Genetiker Rekombination nennt - allgemein
besser bekannt unter dem Namen "Sex". Der selektive Vorteil der
Sexualitat ist so direkt und so gro~, da~ wir annehmen k6nnen,
Mechanismen fUr Genaustausch sind bereits in einem sehr fruhen
Stadium der Geschichte des Lebens entstanden. Wir wollen diesen
Vorteil anhand eines einfachen Beispiels eriautern: Ein primitiver
Organismus, der die Aminosaure A synthetisieren, aber die Aminosaure B nur aus der Ursuppe beziehen kann, und ein anderer Organismus, der Aminosaure B synthetisieren kann, aber hinsichtlich
Aminosaure A von der Ursuppe abhangig ist, k6nnten durch genetische Rekombination Nachkommen produzieren mit der Fahigkeit, beide Aminosauren zu synthetisieren und somit in einer an
beiden Sauren armen Umwelt zu leben. Die genetische Umkombination kann den evolutiven Wandel beschleunigen und zur Emanzipation von der Umwelt beitragen.
1m Laufe der Zeit entwickelten sich zahlreiche Mechanismen,
urn die Rekombination in jeder Beziehung zunehmend praziser
werden zu lassen. Das Resultat war die Herausbildung komplizierter Chromosomenstrukturen, die Entstehung der Diploidie infolge
des Erwerbs zweier homologer Chromosomensatze, von denen der
eine vom Vater, der andere von der Mutter abstammt, sowie die
Evolution eines verwickelten Meioseprozesses, in dessen Verlauf
homologe Chromosomen untereinander Stucke austauschen, so da~
die Chromo so men von Vater und Mutter den Enkeln nicht intakt,
sondern in neuer Zusammensetzung und mit einer neuen Genmischung ubermittelt werden. Diese Mechanismen regulieren die Neu2
kombination von Genen unter den Individuen, die die bei weitem
bedeutendste QueUe der genotypischen Variabilitat bei hoheren
Lebewesen ist.
Das Ausma~ der genetischen Vielfalt innerhalb einer einzelnen
sich fortpflanzenden Population wird durch ein ausgewogenes Verhaltnis zwischen Mechanismen geregelt, die entweder die Inzucht
oder eine Kreuzung mit entfemt verwandten Individuen ("outbreeding") fordem. Extreme in dieser Hinsicht sind bei Pflanzen
und niederen Tieren Mufiger als bei hoheren Tieren. Extreme Inzucht (Selbstbefruchtung) und extreme Kreuzung zwischen entfemt verwandten Populationen (regulare Bastardierung mit anderen Arten) sind bei hoheren Tieren selten. Inzucht und "outbreeding" sind grundverschiedene Lebenssysteme, bei denen jeweils
zahlreiche Anpassungen auf harmonische Weise korreliert sind.
Die Sexualitat hat zur Folge, da~ in jeder Generation immer
wieder neue Genkombinationen von der Umwelt getestet werden
konnen. Welch ein gewaltiges Potential dem bei der geschlechtlichen Fortpflanzung auftretenden Vorgang der genetischen Rekombination innewohnt, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwartigen,
da~ bei sich geschlechtlich fortpflanzenden Arten nie zwei Individuen genetisch identisch sind. Wir miissen zugeben: Sex ist etwas
Wundervolles!
Doch auch die Sexualitat hat ihre Nachteile. Urn dies deutlich
zu machen, wollen wir das Modell eines Universums konstruieren,
welches ausschlie~lich aus genetisch verschiedenen Lebewesen
besteht, die nicht in Arten organisiert sind. In diesem Modell kann
jedes Individuum mit jedem anderen Gene austauschen und umkombinieren. Gelegentlich fiihrt dies durch Zufall zum Zusammenbau neuer Genkomplexe mit einzigartigen adaptiven Vorteilen.
Doch da in diesem speziellen Fortpflanzungssystem keinerlei
Garantie besteht, da~ ein solches au~ergewohnliches Individuum
nur mit Individuen eines ahnlich adaptiven Genotypus Gene austauscht und neukombiniert, wird dieser au~erst vorteilhafte Genotypus schlie~lich durch die Rekombination bei der Fortpflanzung
unvermeidlich wieder zerstort werden.
Wie la~t sich ein solches Mi~geschick vermeiden? Es gibt zwei
mogliche Losungen, und die Natur versucht sie beide. Die eine
Moglichkeit besteht darin, die geschlechtliche Fortpflanzung aufzugeben. Tatsachlich finden wir im gesamten Tierreich und sogar
noch haufiger bei den Pflanzen eine Tendenz, voriibergehend oder
fiir immer auf die Sexualitat zu verzichten, urn einem erfolgreichen
3
Genotypus Gelegenheit zu geben, sich Generation urn Generation
unverandert zu replizieren und den Vorteil seiner einzigartigen
Dberlegenheit zu genieBen. Die Geschichte der organischen Welt
HiBt jedoch keinen Zweifel daran, daB ein solcher evolutiver Opportunist frillier oder spater scheitert. Die erste beste plotzliche Veranderung der Umwelt wird seinen genetischen Vorteil zu einem Nachteil werden lassen. Da er nicht die Fahigkeit besitzt, mit Hilfe der
Rekombination neue genetische Variabilitat hervorzubringen, ist
er unweigerlich zum Aussterben verurteilt.
Die andere LOsung ist die ,,Erfindung" - man moge mir die
Verwendung dieses anthropromorphischen Ausdrucks verzeihen der biologischen Art. Die Art ist eine Schutzeinrichtung; sie bietet
die Gewahr, daB sich nur soIche Individuen miteinander fortpflanzen und untereinander Gene austauschen, die im groBen und ganzen den gleichen Genotypus besitzen. Innerhalb dieses Systems
besteht nicht die Gefahr, daB die genetische Rekombination zu
einer volligen Zerstorung von Genotypen fiihrt, da alle im Genpool
einer Art vorhandenen Gene zuvor im Verlauf vieler Generationen
auf ihre Fahigkeit der harmonischen Rekombination hin erprobt
wurden. Dies schlieBt allerdings nicht aus, daB innerhalb einer Spezies betrachtliche Variabilitat herrscht. In der Tat lassen alle unsere
Forschungen uns in zunehmendem MaBe erkennen, wie gewaltig
die genetische Veranderlichkeit selbst innerhalb relativ einheitlicher
Arten ist. Dennoch sind die grundlegenden Entwicklungs- und
Homoostasesysteme bei allen Angehorigen einer Art im Prinzip
dieselben.
Dadurch, daB ich einfach die biologische Bedeutung des Begriffes Spezies erlautert habe, bin ich bewuBt der verdrieBlichen Frage
nach der Definition dieses Begriffes ausgewichen. Ich mochte noch
hinzufiigen, daB die Art ihre Funktion, gut aufeinander abgestimmte, harmonische Genotypen zu schiitzen, nur erfiillen kann,
weil sie einige Mechanismen (sogenannte "Isolationsmechanismen")
besitzt, weIche die Kreuzung mit Individuen anderer Arten verhindern.
Bei unserem Entwurf eines perfekten Lebewesens sind wir nunmehr zu einem System gelangt, das mit der Mannigfaltigkeit seiner
Umwelt fertigwerden kann und seinen koadaptierten, harmonischen
Genotypus zu schiitzen imstande ist. Un serer Beschreibung nach
scheint dieses wohlausgewogene System so konservativ zu sein,
daB es keine Moglichkeit der Entstehung zusatzlicher neuer Systeme
laBt. Ware diese SchluBfolgerung richtig, so wiirde sie uns in einen
4
echten Konflikt mit der Geschichte der Lebewelt stiirzen. Wie wir
von den PaUiontologen erfahren, sind im Verlauf der geologischen
Zeit fortwahrend neue Arten entstanden und mufl die Vervielfaltigung der Arten, urn das Aussterben von Arten auszugleichen, mit
einer ungeheuren Geschwindigkeit stattfinden. Wenn eine Spezies
wirklich so vorziiglich angepaflt. so gut geschiitzt und so sinnreich
ist, wie wir sie dargestellt haben, wie kann sie dann in zwei Tochterarten geteilt werden? Dieses schwierige Problem bereitete schon
Darwin viel Kopfzerbrechen, und die Evolutionsforscher haben
sich mehr als hundert Jahre lang damit auseinandergesetzt.
Schliefllich zeigte sich, dafl es zwei mogliche Losungen gibt,
oder vielleicht sollte ich besser sagen: dafl man gewohnlich zwei
Losungen vorfindet. Die erstere kommt sehr haufig bei Pflanzen
vor, ist aber im Tierreich selten. Sie besteht in der Verdoppelung
des Chromosomensatzes, so dafl das neue Individuum nicht mehr
ein dipioides Individuum mit zwei homologen Chromosomensatzen
ist, sondern ein, nehmen wir einmal an, tetraploider Organismus
mit vier Chromosomensatzen oder, wenn der Prozefl weitergeht,
ein noch starker polyploides Lebewesen mit einer sogar noch hoheren Chromosomenzahl. Die Erzeugung eines polyploiden Organismus bedeutet sofortige Speziation; sie fiihrt mit einem einzigen
Schritt zu einer Inkompatibilitat von Eltern- und Tochterspezies.
Der andere Artbildungsmodus ist die Einfachheit selbst. Bisher
haben wir die Spezies als etwas Starres, Einheitliches und Monolithisches dargestellt. Tatsachlich aber bestehen die natiirlichen
Art en , vor aHem so lche , die weitverbreitet sind, ebenso wie die
menschliche Spezies aus zahlreichen lokalen Populationen und
Rassen, die sich in ihrer genetischen Zusammensetzung aHe mehr
oder weniger unterscheiden. Einige dieser Populationen, insbesondere jene an den Grenzen des Verbreitungsgebietes der Art, sind
voneinander und von der Stammspezies vollig isoliert. Nehmen wir
einmal an, eine dieser Populationen wiirde lange Zeit hindurch am
Genaustausch mit dem Rest der Art gehindert, da die isolierende
Schranke - sei es nun ein Gebirgszug, eine Wiiste oder ein Wasserlauf - unpassierbar ist. Der Genpool der isolierten Population wird
aHein durch die normalen Vorgange der Mutation, Rekombination
und Selektion zunehmend starker von dem des Restes der Art
abweichen und schliefllich einen Grad an Verschiedenartigkeit erreichen, wie er gewohnlich fiir eine eigene Spezies kennzeichnend
ist. Dieser Vorgang, der als "geographische Speziation" bezeichnet
wird, ist bei weitem der verbreitetste Artbildungsmodus im Tier5
reich und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch bei den Pflanzen.
Ehe eine soIche im Werden befindliche Art sich als echte neue
Art qualifizieren kann, mu~ sie im Verlauf der Neukonstruktion
ihres Gengefiiges zwei Eigenschaften erworben haben. Erstens mu~
sie Isolationsmechanismen herausgebildet haben, die eine Kreuzung mit der Ausgangspezies verhindern, wenn die beiden wieder
miteinander in Beriihrung kommen. Zweitens mu~ sie sich in ihren
Anforderungen an die Umwelt - in ihrer Nischenausnutzung, wie
der Okologe sagen wiirde - ebenfalls so weitgehend geandert
haben, da~ sie Seite an Seite mit Mutter- und Schwesternarten
leben kann, ohne der Konkurrenz zu erliegen.
Verschiedene Arten lebender Systeme
Bei unserer Erorterung der Evolution lebender Systeme habe ich
mich bisher auf gewisse typische Vorgange oder Erscheinungen
konzentriert, die fiir die Mannigfaltigkeit der Lebewelt verantwortlich sind, beispielsweise auf die Rolle der Mutation, der genetischen
Rekombination und der Sexualitat, der biologischen Arten und
des Artbildungsprozesses. Diese Vorgange liefern die Mechanismen,
weIche die Vieigestaltigkeit der lebenden Welt moglich machen, sie
bieten aber keine Erklarung dafiir, warum es iiberhaupt eine derart
gewaltige Vielfalt des Lebens auf der Erde gibt. Es leben sicherlich
mehr als drei Millionen Tier- und Pflanzenarten auf dieser Erde,
vielleicht sogar mehr als fUnf Millionen. Welches Prinzip ermoglicht
die Koexistenz einer soIchen Fiille verschiedener Arten? Diese
Frage bereitete schon Darwin Kopfzerbrechen, und er fand eine
Antwort darauf, die seither nichts von ihrer Giiltigkeit eingebOOt
hat. Urn koexistieren zu konnen, miissen sich zwei Arten bei ihrer
Ausnutzung der Umweltgegebenheiten geniigend unterscheiden,
urn eine gefahrliche Konkurrenz zu verhindern. Wahrend der Speziation steht also eine hohe selektive Belohnung auf jedem Anderswerden gegeniiber den bereits bestehenden Arten, auf jedem
Anderswerden im Ausprobieren neuer okologischer Nischen. Dieses
Experimentieren mit neuen Anpassungen und neuen Spezialisierungen ist die wesentlichste Bedeutung des Artbildungsprozesses
fiir die Evolution. Immer wieder einmal findet eine dieser neuen
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Arten den Eingang zu einem ganz neuen adaptiven Lebensraum.
Eine so1che Art war beispielsweise der ursprUngliche Ahnherr der
erfolgreichsten aller Gruppen von Organismen, der Insekten, die
heute mehr als eine Million Arten zahlen. Vogel, Knochenfische,
Bliitenpflanzen sowie aIle anderen Tier-und Pflanzengruppen stammen letztlich von einer einzigen Ausgangsspezies abo Hat eine Art
einmal eine leere adaptive Zone entdeckt und erschlossen, so
kommt es zu einer regen Artbildung und zu adaptiver Radiation,
bis diese Zone mit ihren Nachkommen ausgefiillt ist.
Zur Vermeidung der Konkurrenz konnen die Organismen auf
vielerlei Weise voneinander abweichen, zum Beispiel in der Gro~e.
Obwohl in der Evolution generell ein Trend zu gro~erer Korpergro~e herrscht, haben sich einige Arten und Gattungen - haufig
in denselben Gruppen, die gro~e Arten und Gattungen erzeugt
haben - zu immer kleinerer Korpergro~e entwickelt. Geringe Korpergro~e ist keineswegs immer ein primitives Merkmal.
Vielleicht der haufigste evolutionistische Trend ist die Spezialisierung auf eine sehr schmale Nische. Dies ist zum Beispiel die charakteristische Methode der Parasiten. Buchstablich Tausende von
Parasiten sind auf einen einzigen Wirt, ja nur auf einen kleinen Teil
des Wirtskorpers beschrankt. Zum Beispiel gibt es drei Milbenarten,
die auf verschiedenen Teilen der Honigbiene leben. Eine derart
extreme Spezialisierung ist bei den hoheren Pflanzen selten, wenn
nicht vollig unbekannt, aber sie ist bezeichnend ffir die Insekten
und erklart die enorme Geschwindigkeit, mit der diese neue Arten
bilden. Die Tiefsee, dunkle Hohlen und das Liickensystem des Sandes entlang der Meereskiisten sind andere Biotope, die ebenfalls
zur Spezialisierung fiihren.
Das Gegenstiick des Spezialisten ist der "Generalist". Individuen
solcher Arten besitzen eine betrachtliche Toleranz gegeniiber den
verschiedenartigsten Veranderungen in Klima, Biotop .und Nahrung. Es sieht so aus, als sei es schwierig, ein erfolgreicher Nichtspezialist (Generalist) zu werden; die sehr wenigen Arten aber, die
als so1che eingestuft werden konnen, sind weitverbreitet und individuenreich. Der Mensch mit seiner Fahigkeit, in allen Breiten und
in jeder Hohenlage, in Wiisten und Waldern, von der reinen Fleischkost der Eskimos oder fast ganzlich vegetarisch zu leben, ist der
Nichtspezialist par excellence. Einige Anzeichen lassen darauf schlie~en, da~ Nichtspezialisten iiber ungewohnlich reiche Genpools verfiigen und infolgedessen durch genetische Rekombination eine
recht hohe Zahl minderwertiger Genotypen hervorbringen. Bei
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weitverbreiteten und erfolgreichen Drosophila-Arten scheint die
Quote der Letalgene groBer zu sein als bei seltenen Arten oder
solchen mit engem Verbreitungsgebiet. Es ist nicht sicher, ob diese
Beobachtung auch auf den Menschen anwendbar ist, aber so viel
steht auBer Zweifel: die menschlichen Bevolkerungen weisen eine
grol'e genetische Vielfalt auf. Beim Menschen haben wir nicht die
krassen Unterschiede zwischen Morphotypen, wie sie bei vielen
polymorphen Tier- und Pflanzenpopulationen an der Tagesordnung
sind. Stattdessen finden wir ein relativ liickenloses Ineinanderiibergehen geistiger, kiinstlerischer, manueller und physischer Fahigkeiten (bzw. des Fehlens solcher Fahigkeiten). Doch ob nun kontinuierlich oder diskontinuierlich, seit langem schon ist die genetische Variation als eine niitzliche Einrichtung bekannt, mit deren
Hilfe eine Art ihren Toleranzbereich erweitern und ihre Nische vergroBern kann. DaB dies auch fUr den Menschen gilt, wird oft verg~ssen. In der Erziehung beispielsweise hat man viel zu lange dazu
tendiert, die erblich bedingte Verschiedenartigkeit der Menschen
zu ignorieren, und hochst unterschiedlichen Begabungen identische
Erziehungsprogramme aufzuzwingen versucht. Erst in jiingster Zeit
sind wir zu der Erkenntnis vorgedrungen, daB Chancengleichheit
Unterschiede in der Ausbildung verlangt. Individuen mit unterschiedlichen genetischen Anlagen haben keine gleichen Chancen,
solange die Umwelt nicht unterschiedlich gestaltet wird.
1m Verlauf der Geschichte der Welt hat jede Zunahme in der
Mannigfaltigkeit der Umwelt eine wahre Explosion von Speziationen zur Folge gehabt. Dies laBt sich besonders leicht fUr Veranderungen in der biotischen Umwelt nachweisen. Dem Entstehen der
Wirbeltiere folgte eine spektakulare Entwicklung von SaugwUrmern,
Bandwiirmern und anderen Wirbeltierparasiten. Die Insekten,
deren Geschichte bis zum Palaozoikum, also fast 400 Millionen
Jahre zuriickreicht, waren keineswegs besonders erfo19reich, bis
sich vor ungefahr 150 Millionen Jahren die Bliitenpflanzen (Angiospermen) herausbildeten. Diese Pflanzen lieferten eine solche Fiille
neuer adaptiver Zonen und Nischen, daB die Evolution der Insekten in eine wahrhaft explosive Phase eintrat. Ais eine Folge davon
sind jetzt Dreiviertel der bekannten Tierarten Insekten. Die Gesamtzahl der Insektenspezies (einschlieBlich der noch unentdeckten
Arten) wird auf nicht weniger als zwei oder drei Millionen geschatzt,
von denen die meisten auf Bliitenpflanzen oder auf andere Insekten angepaBt sind.
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Die Pflege des Nachwuchses
Wenden wir uns nur noch einem weiteren Aspekt der Vielfalt der
lebenden Systeme zu, der Sorge fiir den Nachwuchs. Hier stellen
die Austern, die iiberhaupt gar nichts fUr ihre Nachkommen tun,
das eine Extrem dar. Sie gie~en im wahrsten Sinne des Wortes Million en von Eiern und mannlichen Gameten ins Meer und schaffen
somit die Moglichkeit der Befruchtung der Eier. Einige der daraus
entstehenden Larven setzen sich an einem gUnstigen art fest und
erzeugen neue Austern. Die statistische Wahrscheinlichkeit, da~
dies geschieht, ist infolge der Unwirtlichkeit der Umwelt au~erst
gering, und obwohl eine einzige voll ausgewachsene Auster pro
Fortpflanzungsperiode mehr als 100 Millionen Eier produzieren
diirfte, hat sie im Durchschnitt nicht mehr als zwei Nachkommen.
Der Umstand, da~ zahlreiche Arten mariner Organismen, von
denen viele ungeheuer abundant sind und viele sogar eine Stammesgeschichte von mehreren hundert Millionen Jahren aufzuweisen
haben, sich auf diese Weise fortpflanzen, zeigt, wie erstaunlich
erfolgreich das In-die-Welt-setzen von Nachkommen vermittels dieser "Schrotflinten"-Methode sein kann.
Wie anders ist die Fortpflanzung bei Arten, die Brutpflege betreiben! Hier ist stets eine drastische Verminderung der Nachkommenzahl erforderlich, und gewohnlich bedeutet die Fortpflanzung bei
diesen Arten gewaltig vergro~erte dotterreiche Eier, die Entwicklung von Bruttaschen, Nestern oder sogar von inneren Plazenten
und Mufig die Bildung einer Paarbindung, urn die Beteiligung des
Mannchens an der Aufzucht der Jungen zu gewahrleisten. Die
au~erste Entwicklung in dieser Richtung der Spezialisierung ist
offensichtlich der Mensch mit seiner enorm verlangerten Kindheit.
Verhaltensanpassungen sind ein wichtiger Bestandteil der Brutpflege, und unsere Behandlung der Evolution lebender Systeme
ware unvollstandig, wiirden wir es unterlassen, uns kurz dem Verhalten und dem Zentralnervensystem zuzuwenden. Das Keimplasma eines befruchteten Eis enthalt in seiner DNS den Code
eines genetischen Programms, welches die Entwicklung des jungen
Organismus sowie seine Reaktionen auf die Umwelt steuert. Hinsichtlich der Genauigkeit der ererbten Information und des Ausma~es, in dem ein Individuum Erfahrungen verwerten kann, bestehen jedoch starke Unterschiede zwischen den Arten. Bei einigen
Arten werden die J ungen allem Anschein nach mit einem geneti9
schen Programm geboren, das einen fast kompletten Satz gebrauchsfertiger, voraussagbarer Reaktionen auf Umweltreize enthalt. Von
einem so1chen Organismus sagen wir, da~ sein Verhalten angeboren,
instinktiv, nicht erlernt, da~ sein Verhaltensprogramm geschlossen
ist. Das andere Extrem bilden Lebewesen, die weitgehend die
Fahigkeit besitzen, sich Erfahrungen zunutze zu machen, zu lernen,
wie sie auf die Umwelt reagieren miissen, Organismen, die in der
Lage sind, ihrem Verhaltensprogramm weitere "Information" hinzuzufiigen, das folglich ein offenes Programm ist.
Betrachten wir die offenen und geschlossenen Programme und
ihr evolutionares Potential noch ein wenig genauer. Wir aIle kennen die Geschichte von den jungen Gansen, die Konrad Lorenz auf
sich selbst pragte. Junge Ganse oder Entchen, die gerade erst aus
dem Ei geschliipft sind, nehmenjedes sich bewegende Objekt (vorzugsweise jedoch eins, das geeignete Laute ausst5~t) als Elter an.
Sind sie in einem Brutapparat ausgebriitet worden, so werden sie
gew5hnlich ihrem Pfleger folgen und nicht nur diesen als ihren
EIter, sondern auch sich selbst als Angeh5rige der menschlichen
Spezies ansehen. Es kann dann vorkommen, da~ sie nach Erreichen der Geschlechtsreife dazu neigen, nicht eine andere Gans
oder Ente, sondern stattdessen einen Menschen anzubalzen und zu
umwerben. Der Grund fUr dieses scheinbar absurde Verhalten liegt
darin, da~ das ausschliipfende Kiiken keine angeborene Kenntnis
von der Gestalt seines Elterntieres besitzt; das einzige, was es
besitzt, ist eine Bereitschaft, diese Gestalt in sein Verhaltensprogramm aufzunehmen. Sein genetisch gespeichertes Programm sieht
eine Bereitschaft vor, das erste nach dem Ausschliipfen erblickte,
sich bewegende Objekt als Elter anzunehmen. In der Natur ist dies
natUrlich immer und ausnahmslos der Elter.
SteIlen wir dieses offene Programm dem v511ig geschlossenen
Programm eines anderen Vogels, des parasitaren Kuckucks, gegeniiber. Das Kuckucksweibchen legt seine Eier in die Nester verschiedener Singv5gel, z.B. des Wiesenpiepers, des Rohrslingers oder des
Rotkehlchens, und kiimmert sich dann iiberhaupt nicht mehr urn
sie. Der junge Kuckuck wird von seinen Pflegeeltern gro~gezogen,
und doch trennt er sich von ihnen, sob aId er fliigge geworden ist,
und fiihrt das typische Leben eines Kuckucks. FUr den Rest seines
Lebens schlie~t er sich den Angeh5rigen seiner eigenen Art an. Die
Gestalt seiner eigenen Art ist in dem genetischen Programm, mit
dem der Kuckuck von Anfang an ausgestattet ist, unerschiitterlich
verankert. Es ist - zumindest was das Erkennen der Artgenossen
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