Selektion aufgrund genetischer Diagnostik? – Rechtliche Aspekte

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Selektion aufgrund genetischer Diagnostik? –
Rechtliche Aspekte der Präimplantationsund Präfertilisationsdiagnostik
von Susanne Schneider
Ziel der Arbeit war die Ermittlung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die
Durchführung der Präimplanations- und Präfertilisationsdiagnostik (PID/PFD) in
Deutschland. Ausgangspunkt der Betrachtung war das bestehende einfachgesetzliche Regelungsumfeld (dazu unter 1). Der Schwerpunkt der Untersuchung lag
sodann bei der verfassungsrechtlichen Würdigung (dazu unter 2), die sich eng an der
Schutzpflichtendogmatik orientierte und anhand derer durch Betrachtung der rechtlichen Handhabung des Schwangerschaftsabbruchs Folgerungen für die Behandlung
der PID/PFD aufgezeigt werden konnten.
1. Strafrechtliche Beurteilung von PID und PFD
Bei der PID wird die entnommene Zelle im Rahmen der Biopsie verbraucht. Nach
§ 2 Abs. 1 des am 1. Januar 1991 in Kraft getretenen Gesetzes zum Schutz von Embryonen (Embryonenschutzgesetz – ESchG) ist es strafrechtlich verboten, einen extrakorporal
erzeugten Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck zu verwenden. Da eine totipotente Zelle im Sinne des § 8 Abs. 1 ESchG als Embryo strafrechtlichen Schutz genießt, ist damit die PID unter Verwendung totipotenter Zellen
verboten.1
Etwas anderes gilt jedoch für die Vornahme der PID durch Biopsierung einer
nicht mehr totipotenten Zelle und der PFD. Diese werden strafrechtlich durch das
ESchG nicht erfasst und daher auch nicht eingeschränkt. Die in der Literatur2 im
1
2
SCHNEIDER, S. (2002): Rechtliche Aspekte der Präimplantations- und Präfertilisationsdiagnostik,
Frankfurt a.M., Berlin, Bern, 50 f.; GÜNTHER, H.-L. (2002): § 2 ESchG, in: KELLER, R.,
GÜNTHER, H.-L., KAISER, P. (1992): Embryonenschutzgesetz, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, Stuttgart, Berlin, Köln, Randnr. 54; SCHROTH, U. (2002): Forschung
mit embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik im Lichte des Rechts, in: Juristenzeitung 2002, 170-179, 170.
BECKMANN, R. (2001): Zur Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik nach dem Embryonenschutzgesetz, in: Zeitschrift für Lebensrecht 1, 12-16; RIEDEL, U. (2000): Präimplantationsdiagnostik – Plädoyer für eine unvoreingenommene, offene Debatte, in: Deutsches Ärzteblatt 97
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Hinblick auf die PID am intensivsten diskutierte Vorschrift des ESchG ist dabei § 1
Abs. 1 Nr. 2 ESchG, wonach derjenige bestraft wird, der „es unternimmt, eine
Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft
der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt“. So wird vertreten, dass im
Fall der PID die Befruchtung gerade nicht mit der – oder zumindest nicht der ausschließlichen – Absicht erfolge, eine Schwangerschaft herbeizuführen, sondern den
Embryo zu untersuchen. Die Vorsatzform der Absicht (dolus directus ersten Grades)
entfällt jedoch nicht etwa deshalb, weil man einen später vorzunehmenden Teilakt –
hier den Embryotransfer – noch von einer Bedingung, die nicht im Beeinflussungsbereich des Betroffenen liegt – hier die Entscheidung der Mutter, ob die befruchtete
Eizelle übertragen werden soll – abhängig machen will. Die Absicht bestimmt sich
allein nach der voluntativen Beziehung zwischen Täterpsyche und Taterfolg.3
Bewusst herbeigeführte und erwünschte Erfolge sind immer beabsichtigt, auch
wenn ihr Eintritt nicht sicher ist.4 Der Wortlaut der Norm würde zudem dann überstrapaziert, wollte man daraus ableiten, dass ein Verstoß gegen § 1 Abs.1 Nr. 2
ESchG nur entfällt, wenn die künstliche Befruchtung ausschließlich der „Herbeiführung der Schwangerschaft“ dient. Die „zusätzliche“ absichtliche Verfolgung der
Eröffnung einer Selektionsmöglichkeit ist daher möglich.
Sofern bei der Befruchtung der Wille besteht, alle befruchteten Eizellen zu übertragen, liegt auch kein Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Nr. 5 ESchG vor, wonach bestraft
wird, wer „es unternimmt, mehr Eizellen einer Frau zu befruchten, als ihr innerhalb
eines Zyklus übertragen werden sollen.“ Dass der Transfer von einer weiteren
Bedingung abhängig gemacht wurde, ist dabei unbeachtlich.
Ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ESchG, der die „missbräuchliche Verwendung“
von Embryonen sanktioniert, ist durch die Vornahme der PID ebenfalls nicht gegeben. Das „Stehenlassen“ des Embryos erfüllt den Tatbestand nicht, da dem Arzt die
Einsetzung der „selektierten“ befruchteten Eizelle entweder gar nicht möglich ist
oder es ihm nicht zuzumuten wäre, gegen den Willen der Patientin und entgegen
dem Ziel der Behandlung den Embryo zu transferieren.
Ebenso wenig kann ein Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ESchG durch das „Untersuchen“ bejaht werden. Die Untersuchung stellt als objektives Tatbestandsmerkmal
eine neutrale Handlung dar, da mit dieser Handlung noch keine Folge für den Emb-
3
4
(10), A-586-588, A-588; LAUFS, A. (2001): Soll eine Präimplantationsdiagnostik eingesetzt werden dürfen?, in: BUNDESMINISTERIUM FÜR GESUNDHEIT (Hg.): Fortpflanzungsmedizin in
Deutschland, Wissenschaftliches Symposium des Bundesministeriums für Gesundheit in
Zusammenarbeit mit dem Robert-Koch-Institut vom 24. bis 26. Mai 2000 in Berlin,
Baden-Baden, 204-208, 204.
SAMSON, E. (1989): Absicht und direkter Vorsatz im Strafrecht, in: Juristische Ausbildung
1989, 449-454, 450.
ROXIN, C. (1997): Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl., München, § 12, Randnr. 11.
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ryo verknüpft ist.5 Auf subjektiver Ebene kommt es dem Täter auch nicht darauf an,
mit der Handlung einen Zweck zu verfolgen, der nicht der Erhaltung des Embryos
dient, so dass § 2 Abs. 1 ESchG nicht erfüllt ist. Auch ist § 2 Abs. 2 ESchG durch
die längere Kulturdauer in vitro nicht betroffen, da es hier ebenfalls an der entsprechenden Zweckverfolgung fehlt. Strafrechtlich kann aufgrund des bestehenden
Argumentationsspielraumes auch aus § 3 ESchG, wonach die künstliche Befruchtung mit einer Samenzelle, die nach dem in ihr enthaltenen Geschlechtschromosom
ausgewählt wurde, verboten ist, auch kein Verbot der PID hergeleitet werden.
Die PFD, die zu einem Zeitpunkt noch vor Abschluss der Befruchtung vorgenommen wird, ist ebenfalls nicht vom Embryonenschutzgesetz erfasst.
2. Verfassungsrechtliche Aspekte
Die erforderliche einfachgesetzliche Behandlung von PID und PFD ist durch eine
verfassungsrechtliche Untersuchung zu ermitteln.
Dem Wortlaut des Grundgesetzes kann keine Aussage entnommen werden, welche rechtliche Bedeutung der embryonalen Daseinsform zukommt.6 Das verfassungsrechtliche Schweigen zu der Rechtsstellung des Embryos hat dazu beigetragen,
dass die Diskussion um die Auslegung verfassungsrechtlicher Normen zum Schutz
des Embryos, wie die langjährigen Auseinandersetzungen mit den Rechtsfragen des
Schwangerschaftsabbruchs und die Debatte um ein Embryonenschutzgesetz in den
achtziger Jahren belegen7, besonders intensiv geführt wurde. An diese Diskussion,
insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, knüpft die verfassungsrechtliche Untersuchung an. Sie bildet, wie
der in der Öffentlichkeit beständig herangezogene Vergleich mit dem Schwangerschaftsabbruch nach erfolgter pränataler Diagnostik zeigt, den Kernpunkt der Frage
nach der rechtlichen Behandlung der PID/PFD.
2.1
Die Schutzpflichtendogmatik als Ausgangspunkt der Untersuchung
Die Vornahme der In-vitro-Fertilisation (IVF), die Diagnostik, ein eventueller Embryotransfer und damit der mögliche Eingriff in ein Grundrecht des Embryos, geht
5
6
7
Anders RENZIKOWSKI, J. (2001): Die strafrechtliche Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik,
in: Neue Juristische Wochenschrift 2001, 2753-2758, 2756.
Vgl. PESTALOZZA, C. (1996): Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG, in: V. MANGOLDT, H., KLEIN,
F., PESTALOZZA, C. (Hg.): Das Bonner Grundgesetz, Bd. 8: Artikel 70-75, Die Gesetzgebungskompetenzen, 3. Aufl., München, Randnr. 1926, 1927.
Vgl. mit weiteren Nachweisen: HERMES, G., WALTHER, S. (1993): Schwangerschaftsabbruch
zwischen Recht und Unrecht, in: Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2337-2347, 2337 ff.
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bei PID und PFD nicht vom Staat aus, sondern von Seiten Privater, d.h. der Eltern,
auf deren Bestreben hin die Ärzte und Forscher eine bestimmte Handlung vornehmen. Zu ermitteln ist daher, ob und in welcher Form es dem Staat obliegt, einen
solchen Eingriff seitens Dritter zu verhindern. Ursprünglich wurden die Grundrechte ausschließlich als staatsgerichtete Abwehrrechte des Einzelnen begriffen.8
Früh hat das Bundesverfassungsgericht, in zwischenzeitlich als gefestigt anzusehender Rechtsprechung, aus dem „objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte“ die
Pflicht des Staates hergeleitet, nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in grundrechtlich geschützte Güter und Freiheiten zu unterlassen, sondern diese Güter und
Freiheiten auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten nichtstaatlicher Dritter zu
bewahren.9 Das Abwehrrecht und die staatliche Schutzpflicht sind als „gegenläufige
Funktionen“ des Freiheitsgrundrechts anzusehen.10 Beide sichern das identische
Grundrecht vor Eingriffen. Die Eingriffe drohen beim Abwehrrecht von Seiten der
öffentlichen Gewalt, bei der Schutzpflicht von Seiten des Privaten. Im ersten Fall
hat der Staat die grundrechtliche Substanz von sich aus zu schonen, im zweiten Fall
hat er die grundrechtliche Substanz vor Dritten zu schützen.11 Besteht im ersten Fall
regelmäßig eine bipolare Beziehung zwischen dem eingreifenden Staat und Bürger,
zeichnet sich die Schutzpflichtendogmatik durch eine Dreieckskonstellation zwischen privatem Eingreifer, privatem Opfer und Staat aus.12
Das Konzept der Schutzpflicht weist in seinem dogmatischen Bauplan unterschiedliche Ebenen auf.13 Von besonderer Bedeutung für das Verständnis der weiteren Prüfung ist dabei die Differenzierung zwischen der „Tatbestands-“ und der
„Rechtsfolgenseite“. Zunächst muss der Tatbestand erfüllt sein, der die staatliche
Schutzpflicht überhaupt auslöst.14 Das heißt, dass ein rechtswidriger Übergriff auf
ein grundrechtliches Schutzgut durch einen Privaten vorliegen muss. Wird dies
bejaht, ist auf „Rechtsfolgenebene“ zu ermitteln, wie der Staat dieser Schutzpflicht
nachzukommen hat. Der Tatbestand setzt sich aus drei Elementen zusammen: der
Ermittlung des Inhalts des möglicherweise betroffenen Schutzguts, der Feststellung
einer Beeinträchtigung dieses Schutzguts und der Ermittlung, ob diese Beeinträchtigung „rechtswidrig“ ist. Objekt des Eingriffs, den der Staat abzuwehren hat, kann
8
9
10
11
12
13
14
KLEIN, E. (1989): Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, in: Neue Juristische Wochenschrift 1989, 1633-1640, 1633.
Vgl. mit weiteren Nachweisen: UNRUH, P. (1996): Zur Dogmatik der grundrechtlichen
Schutzpflichten, Berlin, 29 f.
ISENSEE, J. (1992): Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht (§ 111), in:
ISENSEE, J., KIRCHHOF, P. (Hg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik
Deutschland, Bd. V, Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg, 143-241, Randnr. 1.
Ibid., Randnr.1; PIETZRAK, A. (1994): Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext –
Überblick und neue Aspekte, in: Juristische Schulung 1994, 748-753, 748.
Ibid., 748.
ISENSEE 1992, Randnr. 88.
Ibid., Randnr. 89.
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Rechtliche Aspekte der Präimplantations- und Präfertilisationsdiagnostik 333
jedes Schutzgut eines Freiheitsgrundrechts sein.15 Die tatbestandliche Handlung ist
eine gegenwärtige oder drohende Schutzgutbeeinträchtigung. Um die „Rechtswidrigkeit“ der Beeinträchtigung zu bejahen, kann nicht ausschließlich das einfache
Recht herangezogen werden, da sich gerade auf diesem Feld oftmals durch Nichtregelung das staatliche Schutzdefizit manifestiert und sich bei Beschränkung des
Maßstabs auf einfaches Gesetzesrecht ein Zirkelschluss ergeben würde. Entscheidender Maßstab für die Ermittlung der Rechtswidrigkeit ist die Verfassung selbst.16
Ob eine Beeinträchtigung anderer verfassungswidrig ist, kann erst festgestellt werden, wenn das Verhältnis vom Schutzgut zu den entgegenstehenden Belangen
untersucht wurde.17 Dies umfasst auch die Frage nach möglicherweise entgegenstehenden Grundrechten Dritter18, hier insbesondere denen der eingreifenden Mutter.
Nach Untersuchung der tatbestandlichen Voraussetzungen, der staatlichen
Schutzpflicht und der Feststellung, dass eine solche besteht, stellt sich die Frage
nach der möglichen Rechtsfolge. Die Rechtsfolge ist die objektivrechtliche Pflicht
des Staates, den Eingriff abzuwehren. Er hat dafür Sorge zu tragen, dass die betroffenen grundrechtlichen Schutzgüter mit zwecktauglichen und rechtsstaatlichen Mitteln wirksam geschützt werden. Adressat der staatlichen Schutzpflicht ist die Staatsgewalt in all ihren Erscheinungsformen, wobei im vorliegenden Bereich für die PID
der Legislative die Schlüsselrolle zukommt.
Die Eigenheit der Ermittlung des Inhalts staatlicher Schutzpflichten ergibt sich
aus der Vielfältigkeit bestehender Handlungsalternativen. Anders als im Rahmen der
Abwehrrechte wird nicht das Unterlassen eines konkreten Eingriffs verlangt, sondern die Vornahme einer „beliebigen“ staatlichen Handlung, die dem Schutz des
betroffenen Rechtsguts vor den drohenden Eingriffen dient. Es stehen dem Staat
im Regelfall mehrere „Schutzhandlungen“ mit unterschiedlichen Folgewirkungen
für die Pflichterfüllung zur Auswahl. Neben diese Besonderheit eines Handlungsspielraums tritt, als weitere entscheidende Komponente des Schutzpflichtenkonzepts in Dreieckskonstellationen, die Wechselwirkung mit der Schutzhandlung.
Indem der Staat im Interesse des Opfers den Störer in seine Schranken weist, greift
er zugleich in dessen Rechtssphäre ein. Die Schutzhandlung, mit der der Staat seiner
Schutzpflicht gegenüber dem Opfer nachkommt, stellt folglich ihrerseits eine
Beeinträchtigung des Störers dar.19 Aufgabe des Staates ist es, bei der Ausfüllung der
15
16
17
18
19
Ibid., Randnr. 89.
Ibid., Randnr. 100.
HERMES, G. (1987): Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit. Schutzpflicht und
Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Heidelberg, 227.
Ibid., 227.
WAHL, R., MASING, J. (1990): Schutz durch Eingriff, in: Juristenzeitung 1990, 553-563,
553 f.; HÖFLING, W. (1993): Die Abtreibungsproblematik und das Grundrecht auf Leben, in:
THOMAS, H., KLUTH, W. (Hg.): Das zumutbare Kind. Die zweite Bonner Fristenregelung vor dem Bundesverfassungsgericht, Herford, Stuttgart, Hamburg, 119-144, 130.
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Schutzpflicht die betroffenen grundrechtlichen Belange des Opfers ebenso wie die
des Störers in Bezug auf die konkret geplante Maßnahme genau zu untersuchen und
einen bestmöglichen Ausgleich zu schaffen.20
Ist auf Tatbestandsebene im Rahmen der dort erfolgten Abwägung ein „Überwiegen“ der betroffenen Grundrechtsposition des Embryos festgestellt worden, so
ist damit für die auf Rechtsfolgenebene erfolgende Untersuchung der Ausfüllung
der staatlichen Schutzpflicht lediglich der Ausgangspunkt definiert. Aufgabe der
„Abwägung“ ist es nun, zu ermitteln, welches staatliche Schutzgut den „Störer“ –
hier die Mutter – einerseits am wenigsten in seinen Grundrechten beeinträchtigt und
andererseits einen hinreichenden Schutz des Grundrechts des Opfers – hier des
Embryos – bietet.
2.2 Tatbestandsebene
Für die Untersuchung der Tatbestandsebene kann hier summarisch21 Folgendes
festgehalten werden: Zentral betroffenes Schutzgut von PID und PFD ist das
Leben. Der normative Lebensschutz beginnt ab dem Zeitpunkt der zweiten Polkörperbildung. So ist nicht zu erkennen, wieso zwischen dem Stadium der Kernverschmelzung22 und dem Vorkernstadium ab Bildung des zweiten Polkörpers eine
rechtliche Unterscheidung getroffen werden sollte. Das „neue Genom“ steht ab der
Bildung des zweiten Polkörpers fest und entwickelt sich ebenso kontinuierlich wie
die befruchtete Eizelle ab Kernverschmelzung. Ebenso besteht dieselbe reale
Möglichkeit der Entwicklung von einen geborenen Menschen kennzeichnenden
Eigenschaften.
Durch die Zeugung in vitro kann eine Beeinträchtigung des Rechts auf Leben
noch nicht angenommen werden. Die Untersuchung des Embryos jedoch, mit der
ein Selektionsautomatismus einhergeht, ist eine Gefährdung, die den Stellenwert
einer Beeinträchtigung hat. Der Nichttransfer des Embryos stellt aufgrund des
Bestehens einer Transferpflicht seitens der Mutter ebenfalls eine zurechenbare
Beeinträchtigung dar. Diese Beeinträchtigungen sind auch rechtswidrig. So dürfen
die Eltern in eine solche Untersuchung im Rahmen ihres elterlichen Sorgerechts
nicht einwilligen. Zudem überwiegt das Lebensrecht des Embryos die entgegenstehenden Rechte, hier Fortpflanzungsfreiheit und Recht auf körperliche Unversehrtheit der Mutter. Zwar kann das Lebensrecht eingeschränkt und somit auch
einem Abwägungsprozess zugeführt werden; das Lebensrecht des Embryos kann
20
21
22
ERICHSEN, H.-U. (1997): Grundrechtliche Schutzpflichten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Jura 1996, 85-89, 88.
Vgl. dazu ausführlich SCHNEIDER 2002, 107 f.
Zur Diskussion um den normativen Lebensschutz siehe ibid., 101 f. Von den Vertretern
der hier verfolgten Argumentation wurde bisher der Zeitpunkt der Kernverschmelzung
als normativer Schutzbeginn festgelegt.
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jedoch keine entwicklungsbedingte Abstufung erfahren, die Einfluss auf die Abwägung hat. Der normative Lebensschutz ist immer gleichwertig. Es liegt somit schon
mit der Untersuchung eine rechtswidrige Beeinträchtigung des Lebensrechts des
Embryos durch Private vor. Eine solche rechtswidrige Beeinträchtigung ist auch im
Hinblick auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Embryos gegeben.
Durch die Erhebung der genetischen Daten ist ebenfalls das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Embryos beeinträchtigt. Auch in diesem Fall führt die Abwägung zu
einem Überwiegen der Rechte des Embryos, so dass ein Eingriff zu bejahen ist.
Ebenso ist das Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG durch die Vornahme der PID betroffen, woraus sich für den Staat die Schutzpflicht zur Unterbindung einer rechtswidrigen Benachteiligung ergibt. Der Schutz der Menschenwürde
setzt mit dem Beginn des normativen Lebensschutzes ein.23 Entnahme und Untersuchung der Zelle sowie die gezielte Verwerfung des Embryos stellen einen Verstoß
gegen die Menschenwürde des Embryos dar.
2.3 Rechtsfolgenebene
Auf der Rechtsfolgenebene erhebt sich nun die Frage, wie der Staat seiner Schutzpflicht nachzukommen hat. Dabei handelt es sich um eine Prognoseentscheidung.
Es stellt sich daher die Frage, ob die derzeit bestehende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland, insbesondere des Abbruchs nach erfolgter Pränataldiagnostik (PND), möglicherweise als „Vorlage“24 für die Ermittlung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein Schutzkonzept bei Behandlung der
PID/PFD dienen können. Der Schwangerschaftsabbruch nach PND wird in der
Diskussion beständig als Vergleich25 zur Behandlung der PID herangezogen. Insbesondere von den Befürwortern der PID wird diese, unter Verweis auf den in einem
23
24
25
Zu der kontroversen Diskussion zu Umfang und Beginn des Schutzes der Menschenwürde, siehe ibid., 201 f.
WOOPEN, C. (1999): Präimplantationsdiagnostik und selektiver Schwangerschaftsabbruch. Zur
Analogie von Embryonenselektion in vitro und Schwangerschaftsabbruch nach Pränataldiagnostik im
Rahmen der medizinischen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB aus ethischer Perspektive, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 45, 233-244, 239 f.
Vgl. SCHROEDER-KURTH, T. (1999): Stand der Präimplantationsdiagnostik aus Sicht der
Humangenetik, in: Ethik in der Medizin 11, 45-54, 53; SCHROEDER-KURTH, T. (2000):
Präimplantationsdiagnostik in Deutschland – ganz oder gar nicht!, in: Zeitschrift für medizinische Ethik 46, 123-137, 126 f.; HONNEFELDER, L. (1999): Zur ethischen Beurteilung der Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik in der Medizin 11, 119-120; MIETH, D., GRAUMANN, S.
(2000): Ethische Stellungnahme zum Präimplantationsdiagnostikentwurf der Bundesärztekammer, in:
Zeitschrift für Lebensrecht 2, 30-32; KOLLEK, R. (2000): Präimplantationsdiagnostik, Embryonenselektion, weibliche Autonomie und Recht, Tübingen, Basel, 125-136; RUPPEL, K.,
MIETH, D. (1998): Ethische Probleme der Präimplantationsdiagnostik, in: DÜWELL, M., MIETH,
D. (Hg.): Ethik in der Humangenetik, Tübingen, Basel, 358-379.
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späteren Entwicklungsstadium vorgenommenen Abbruch und dessen schwere physische und psychische Bedeutung für die Schwangere, als das „geringere Übel“ und
die „besserer Alternative“ propagiert. Auch von politischer Seite werden Stimmen
laut, die vorschlagen, die rechtliche Behandlung der PID der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nachzubilden. Bezieht sich dieser Vorschlag einmal auf die
Rechtsfolge des Beratungsmodells als „unrechtmäßig“, aber „tatbestandslos“, so
wird von anderer Seite eine Angleichung an die medizinisch-soziale Indikation, welche den Abbruch „rechtfertigt“, gefordert.
Bei der im Schrifttum zu findenden Heranziehung des „Vergleichs“ zum
Schwangerschaftsabbruch nach erfolgter PND ist eine differenzierende Betrachtung
geboten. So wird der Schwangerschaftsabbruch nach PND in der Diskussion um
die PID in unterschiedlichen argumentativen Funktionen eingesetzt: zum einen als
„direkte Vergleichshandlung“ zur Ermittlung des rechtlichen und ethischen Handlungs(un)wertes der PID26 und zum anderen in der Funktion als drohende faktische
Konsequenz beim Verbot der PID27. Diese Differenzierung bedarf der genauen
Beachtung. Hier kommt dem erstgenannten handlungsbezogenen Vergleichselement die vorrangige Bedeutung zu, d.h. dem „Entscheidungs-“, oder konkreter:
dem „Auswahlelement“. Schon an dieser Stelle kann als Quasilegitimation für die
nähere Untersuchung einer Vergleichslösung von PID und Schwangerschaftsabbruch nach PND festgehalten werden, dass sowohl im Rahmen der PID nach
Inkenntnissetzung der Mutter über das Vorliegen eines bestimmten Merkmals des
Embryos als auch bei der PND nach Inkenntnissetzung der Mutter über das Vorliegen eines bestimmten Merkmals des Fetus eine Entscheidung über das – von der
Mutter ausgehende – Angebot einer Weiterentwicklungschance an den Embryo
getroffen wird. Diese „offensichtliche“ Gemeinsamkeit beider Verfahren kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass zugleich eine Reihe von – teilweise gewichtigen –
Unterschieden bestehen. Beispielhaft seien hier genannt: die gezielte Zeugung unter
Heranziehung von Dritten (des Arztes und Humangenetikers) im Gegensatz zu
einer „privaten“ natürlichen Zeugung, das Bestehen einer körperlichen Verbindung
von Mutter und Kind während der Schwangerschaft im Gegensatz zu einem körperlich distanzierten Verhältnis bei der IVF, das Erfordernis des körperlichen Eingriffs bei der Mutter durch Vornahme des Abbruchs entgegen einem die Mutter
körperlich nicht beeinträchtigenden Unterlassen durch den Nichttransfer des Embryos in den Mutterleib bei der PID.28 Diese Auflistung ließe sich fortführen.
Ein „Vergleichsschritt“, aus der genannten Parallelstruktur die Übertragung oder
Teilübertragung der Schwangerschaftsabbruchsregelungen zu legitimieren, ist in
26
27
28
Vgl. MIETH, D. (1999): Präimplantationsdiagnostik im gesellschaftlichen Kontext – eine sozialethische Perspektive, in: Ethik in der Medizin 11, 77-86, 83.
SEWING, K.-F. (2001): Pro und Contra Präimplantationsdiagnostik, in: Niedersächsisches
Ärzteblatt 2, 6.
STUBER, J. (1996): The Smokescreen of Preimplantation Diagnosis, in: Biomedical Ethics 1996,
36-37, 37.
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Rechtliche Aspekte der Präimplantations- und Präfertilisationsdiagnostik 337
mehrfacher Hinsicht problematisch. Neben der grundlegenden Frage nach der hinreichenden Vergleichbarkeit, d.h. der „Legitimation“ einer solchen vergleichenden
Heranziehung, und den damit einhergehenden, die Vergleichspositionen betreffenden Fragen werden die bundesverfassungsgerichtlichen Vorgaben zur Behandlung
des Schwangerschaftsabbruchs als Grundlage für die weitergehende Untersuchung
einzusetzen sein. Diese Vorgaben bieten ihrerseits jedoch in mancher Hinsicht
Anlass zur kritischen Hinterfragung und scheinen teilweise nicht ohne innere
Widersprüche anwendbar.29
Wendet man sich der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu, um Erkenntnisse
über die Ausfüllung der staatlichen Schutzpflicht zu erlangen, so muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass der Kernaspekt der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung nicht die Behandlung eines Schwangerschaftsabbruchs nach erfolgter
pränataler Diagnostik mit Feststellung einer genetischen oder sonstigen Aberration
des Fetus war, sondern vielmehr die Behandlung des Schwangerschaftsabbruch, der
unabhängig von der konkreten Erscheinung des Ungeborenen – welche allerdings
durchaus „Grund“ der Abtreibung sein konnte – vorgenommen werden sollte und
für den das so genannte „Beratungskonzept“ entwickelt wurde. Aber auch ohne
diese – für die hier verfolgten Zwecke wünschenswerte – Schwerpunktsetzung lassen sich aus den Urteilen wichtige Erkenntnisse für die besondere Behandlung des
Schwangerschaftsabbruchs nach der derzeit gültigen Regelung in Deutschland ziehen. Das Gericht stellt fest, dass die Ausgestaltung des Schutzes durch Rechtsordnung Mindestanforderungen entsprechen müsse.30 Zu diesen Mindestanforderungen
zähle, dass der Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft
grundsätzlich als Unrecht angesehen werden und demgemäß rechtlich verboten
werden müsse.31 Der Frau werde die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das
Kind auszutragen. Grundrechte der Frau – genannt werden Schutz und Achtung
ihrer Menschenwürde, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Persönlichkeitsrecht32 – würden gegenüber dem grundsätzlichen Verbot des Schwangerschaftsabbruchs nicht durchgreifen.33 Diese Rechte hätten zwar auch gegenüber
dem Lebensrecht des nasciturus Bestand und seien entsprechend zu schützen, „aber
sie tragen nicht so weit, daß die Rechtspflicht zum Austragen des Kindes von
Grundrechts wegen – auch nur für eine bestimmte Zeit – generell aufgehoben
wäre.“34 Diese weitergehende und folgenträchtige Grundaussage wird dann jedoch –
wie das die Ausnahmeoptionen ankündigende „generell“ schon vermuten lässt – wie
folgt eingeschränkt: „Die Grundrechtspositionen der Frau führen allerdings dazu,
29
30
31
32
33
34
HERMES, WALTHER 1993, 2337.
BVerfGE 88, 203, 254.
BVerfGE 88, 203, 255, mit Verweis auf das 1. Schwangerschaftsabbruchsurteil,
BVerfGE 39, 1, 44.
BVerfGE 88, 203, 254.
BVerfGE 88, 203, 255.
BVerfGE 88, 203, 255.
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338 Susanne Schneider
daß es in Ausnahmelagen zulässig, in manchen dieser Fälle womöglich geboten ist,
eine solche Rechtspflicht nicht aufzuerlegen.“35
Solche Ausnahmelagen sollen nach Ansicht des höchsten Gerichts nicht nur in
Fällen der ernsten Gefahr für das Leben der Frau oder einer schwerwiegenden
Beeinträchtigung ihrer Gesundheit in Betracht kommen, sondern darüber hinaus
auch in anderen Fällen denkbar sein.36 Das entscheidende Kriterium für die Feststellung des Vorliegens einer Ausnahmelage sei die „Unzumutbarkeit“, wie sie im ersten
Schwangerschaftsurteil im Jahr 1974 vom Bundesverfassungsgericht eingeführt
wurde.37 Im Urteil heißt es dazu:
„Das Lebensrecht des Ungeborenen kann zu einer Belastung der Frau führen, die
wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß
hinausgeht. Es ergibt sich hier die Frage der Zumutbarkeit, mit anderen Worten
die Frage, ob der Staat auch in solchen Fällen mit dem Mittel des Strafrechts die
Austragung der Schwangerschaft erzwingen darf. Achtung vor dem ungeborenen
Leben und Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte im Interesse der Respektierung dieses Rechtsguts
gezwungen zu werden, treffen aufeinander. In einer solchen Konfliktlage, die im
allgemeinen keine eindeutige moralische Beurteilung zuläßt und in der die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten
Gewissensentscheidung haben kann, ist der Gesetzgeber zur besonderen
Zurückhaltung verpflichtet [...].“38
Ausschlaggebend ist hier, dass sich die „Unzumutbarkeit“ durch ein staatlich vermitteltes Zwangselement auszeichnet. Das Kriterium der „Unzumutbarkeit“ sei
berechtigt, da sich das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs angesichts der einzigartigen Verbindung von Mutter und Kind nicht in einer Pflicht der Frau erschöpfe,
den Rechtskreis eines anderen nicht zu verletzen, sondern zugleich eine intensive,
die Frau existenziell betreffende Pflicht zum Austragen und Gebären des Kindes
enthalte und eine darüber hinausgehende Handlungs-, Sorge- und Einstandspflicht
nach der Geburt über viele Jahre nach sich ziehe.39 Für die hier entscheidende Frage
nach der Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs nach erfolgter PND und der
Feststellung des Vorliegens einer genetischen Belastung des nasciturus folgt wenig
später die Aussage:
„Für die Pflicht zum Austragen des Kindes folgt daraus, daß neben der hergebrachten medizinischen Indikation auch die kriminologische und – ihre hinrei35
36
37
38
39
BVerfGE 88, 203, 255.
BVerfGE 88, 203, 256.
BVerfGE 88, 203, 256, unter Verweis auf BVerfGE 39, 1, 48 ff.
BVerfGE 39, 1, 48.
BVerfGE 88, 203, 256.
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Rechtliche Aspekte der Präimplantations- und Präfertilisationsdiagnostik 339
chend genaue Umgrenzung voraussetzt – die embryopathische Indikation als
Ausnahmetatbestände vor der Verfassung Bestand haben können; für andere
Notlagen gilt dies nur dann, wenn in ihrer Umschreibung die Schwere des hier
vorauszusetzenden sozialen oder psychisch-personalen Konflikts deutlich
erkennbar wird, so daß unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit betrachtet
die Kongruenz mit den anderen Indikationsfällen gewahrt bleibt.“40
Der Vergleich zeigt, dass in den Augen der Mehrheit der Bundesverfassungsrichter
des entscheidenden Senats für die Fälle der – inzwischen abgeschafften – embryopathischen Indikation quasi die Vermutung des Vorliegens eines Ausnahmetatbestands, sprich der „Unzumutbarkeit“ bestand. Zur Ausfüllung der staatlichen
Schutzpflicht in diesen besonderen Ausnahmelagen sei der Staat veranlasst, „durch
Rat und Hilfe der Frau beizustehen und sie dadurch womöglich doch für das Austragen des Kindes zu gewinnen; davon geht auch die Regelung in § 218a Abs. 3
StGB n.F. aus.“41 In der weiteren Entscheidung setzt sich das Gericht sodann mit
der – nicht als direkter Vergleichsmaßstab heranzuziehenden – Behandlung des
nicht-indizierten Schwangerschaftsabbruchs, der keine der schon angesprochenen
Ausnahmelagen zur Grundalge hat, auseinander. Für diese Fälle wird die bestehende
Rechtspflicht, den nasciturus auszutragen, nicht aufgehoben. Die Besonderheit des
gefundenen Lösungswegs über den straftatbestandlich nicht erfassten „beratenen“
Schwangerschaftsabbruch zeichnet sich dadurch aus, dass das Gericht erkennt, dass
sich der Einsatz des Strafrechts in bestimmten Fällen als „ineffektiv“ erwiesen hat,
da der Schwangerschaftsabbruch als „Massenerscheinung“ nicht habe eingedämmt
werden können. Es geht davon aus, dass aufgrund der Eigenheit der Situation, in
der sich die Frau bei bestehender Schwangerschaft befinde, dem Schutz des nasciturus durch folgende Maßnahmen hinreichend nachgekommen wird:
– eine Beratungsregelung;
– rechtliche und tatsächliche Maßnahmen, die die Frau im Sinne einer Ermutigung zur Annahme des Kindes zu beeinflussen suchen; und
– sozialpolitische Maßnahmen, die auf eine familien- und kinderfreundliche
Gesellschaft zielen, um günstige Rahmenbedingungen für die Bereitschaft der
Annahme des Kindes seitens der Schwangeren zu schaffen.
Es können mithin zwei Erklärungsmuster für die straflose Möglichkeit der Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs festgehalten werden: zum einen der Rückzug staatlicher Gewalt, da es unzumutbar wäre, der Mutter in der besonderen
Belastungssituation, in der sie sich befindet, die Verhaltenspflicht aufzuerlegen, die
Schwangerschaft fortzuführen (ausschlaggebend für die Indikationen), und zum
anderen der Rückzug staatlicher Gewalt in den Fällen, in denen sich die Strafandro40
41
BVerfGE 88, 203, 257.
BVerfGE 88, 203, 257.
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340 Susanne Schneider
hung als wirkungsloses Schutzmittel erwiesen hat (ausschlaggebend für die Beratungslösung).
Entscheidend für die „Suspendierung der grundsätzlich auferlegten Handlungspflicht“ ist das Merkmal der „Unzumutbarkeit“. Diente die „Unzumutbarkeit“ im
ersten Schwangerschaftsabbruchsurteil lediglich als Grund dafür, dass die bestehende Verhaltenspflicht nicht mit dem Mittel des Strafrechtes durchgesetzt werden
könne, wird im Urteil von 1993 die Pflicht als solche „aufgehoben“.42 Die „Aufhebung“ der Pflicht ist dabei dahingehend zu verstehen, dass der Staat diese Pflicht
nicht mehr „auferlegt“, d.h. eine grundsätzliche, insbesondere auf Tatbestandsebene
bestehende Verhaltenspflicht nicht in Frage gestellt wird, der Staat jedoch von einer
Durchsetzung – nicht allein beschränkt auf das Mittel des Strafrechts – Abstand
nimmt.43
Der Schwangerschaftsabbruch gilt daher weiterhin für die ganze Dauer der
Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht. Will man dieses Unrechtsurteil auf die
PID/PFD übertragen, stellt sich die Frage, worauf sich es sich erstreckt. Hier ist
eine für die weitere Untersuchung entscheidende Weichenstellung vorzunehmen.
Diese betrifft die Festlegung des Zeitpunktes der vergleichenden Betrachtung. Die
Heranziehung der Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs als Vergleichswert
setzt eine Bestimmung des Ausgangspunktes voraus. Diese hat sich wiederum an
dem die Schutzpflicht auslösenden tatbestandlichen Eingriff zu orientieren. Im Fall
des Schwangerschaftsabbruches wird die tatbestandliche Beeinträchtigung des
Rechtsguts „Leben“ grundsätzlich nur unter dem Aspekt des „Abbruchs“ betrachtet. Der Abbruch gilt als rechtswidriger Eingriff. Die tatbestandliche Untersuchung
des Schutzpflichtenkonzepts der PID/PFD hat im Hinblick auf das Rechtsgut
„Leben“ indes ergeben, dass neben dem „Nichttransfer“ des in vitro befindlichen
Embryos schon die Untersuchung des Embryos auf bestimmte nicht therapierbare
Merkmale aufgrund des bestehenden „Verwerfungsautomatismus“ eine Gefährdung
des Rechtsguts und damit eine tatbestandliche Beeinträchtigung darstellt. Sofern die
Untersuchung der Zelle bei der PID/PFD schon aufgrund des bestehenden Selektionsautomatismus eine Beeinträchtigung darstellt, erhebt sich die Frage, ob auch
bei schon bestehender Schwangerschaft die Untersuchung (PND) mit vergleichbarem Selektionsautomatismus eine Beeinträchtigung darstellt, was im Einzellfall
bejaht werden kann. Wird die PND dennoch nicht untersagt, so ist dies auf die
Unzumutbarkeit einer solchen Untersagung zurückzuführen. Hiermit wird die Frage
aufgeworfen, ob nicht die Untersagung der PID ebenfalls an der „Unzumutbarkeit“
scheitert. Dem könnte entgegenstehen, dass im Fall der PID im Gegensatz zur
PND noch keine körperliche Verbindung zwischen Embryo und Mutter vorliegt.
Die bestehende Transferpflicht muss jedoch als ein Umstand angesehen werden, der
42
43
Vgl. dazu KLUTH, W. (1993): Der rechtswidrige Schwangerschaftsabbruch als erlaubte Handlung –
Anmerkungen zum zweiten Fristenurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Familienrecht 1993, 1382-1390.
SCHNEIDER 2002, 241.
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Rechtliche Aspekte der Präimplantations- und Präfertilisationsdiagnostik 341
der existenten körperlichen Verbindung vergleichbar ist. Somit ist auch das staatlich
auferlegte Verbot einer Untersuchung des Embryos in vitro unzumutbar. Liegt ein
Embryo in vitro vor, kann die Vornahme einer Untersuchung aufgrund der Unzumutbarkeit nicht untersagt werden.
Betrachtet man in einem späteren Stadium, nach erfolgter Untersuchung, die
Handlungen „Nichttransfer des extrakorporal befruchteten Embryos“ und
„Abbruch der Schwangerschaft“, so ist ebenfalls von einer vergleichbaren Situation
auszugehen.
In einem nächsten Schritt erhebt sich jedoch die Frage, ob dem Staat bei der
PID/PFD andere effektive Mittel zur Umsetzung der staatlichen Schutzpflicht zu
Verfügung stehen.
So ist es dem Staat nicht möglich, das natürliche Sexualverhalten seiner Bürger zu
kontrollieren. Er kann allerdings durch eine Einschränkung oder das Verbot der
künstlichen Befruchtung, indem der die IVF durchführende Dritte ebenfalls adressiert wird, steuernd eingreifen und somit der Etablierung einer „Zeugung auf
Probe“ entgegenwirken.44 Hierbei stellt sich die Frage, auf wen sich diese Untersagung erstrecken soll. Ein undifferenziertes Verbot der IVF würde diejenigen Paare
unverhältnismäßig in ihrer Fortpflanzungsfreiheit einschränken, die auf die IVF
angewiesen sind, um sich fortzupflanzen, und zugleich nicht beabsichtigen, eine
genetische Untersuchung des Embryos im Präimplantationsstadium vornehmen zu
lassen. Auf der anderen Seite kann es den Paaren, die sich auf natürlichem Wege
fortpflanzen können, zugemutet werden, auf diesen Weg verwiesen zu werden. Dem
steht nicht entgegen, dass aufgrund der Möglichkeit, eine „Schwangerschaft auf
Probe“ einzugehen, die „Selektion“ nicht verhindert werden kann und sich das Verbot somit als „ineffektiv“ erweisen könnte. Dass die Selektionsmöglichkeit auf diesem Wege durchgesetzt wird, konnte bislang empirisch nicht belegt werden.
Der Staat hat folglich in den Fällen, in denen er nicht auszuschließen vermag,
dass nach erfolgter Befruchtung in vitro eine genetische Untersuchung vorgenommen wird, die künstliche Befruchtung zu verhindern. Mit dieser Maßnahme ist es
dem Staat möglich, einen effektiven Schutz des Embryos zu gewährleisten, da mit
diesem Verbot vermieden wird, dass eine Situation entsteht, in der der Frau eine
Untersuchung nicht untersagt werden kann. Einem solchen Verbot steht auch nicht
entgegen, dass dies für einige Paare den Verzicht auf ein genetisch eigenes und
gesundes Kind bedeutet.
44
Vgl. RÖGER, R. (2000): Verfassungsrechtliche Grenzen der Präimplantationsdiagnostik, in:
Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V., Nr. 17, 55-80, 75.
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342 Susanne Schneider
3. Schlussbetrachtung
Unter Zugrundelegung der staatlichen Schutzpflichtendogmatik und der verfassungsgerichtlichen Entwicklung der Behandlung des Schwangerschaftsabbruchs
bleibt festzuhalten, dass es dem Staat im Vorfeld der Beeinträchtigung möglich ist,
durch Verbot der künstlichen Befruchtung außerhalb des Mutterleibes den für die
PID/PFD erforderlichen Zugriff auf den Embryo zu verhindern. Es bleibt abzuwarten, welchen Regelungsweg der Gesetzgeber im Fall der PID/PFD beschreiten
wird. Die verfassungsgerichtlichen Vorgaben im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs sind einerseits sehr eng, andererseits zeigen sie über den unbestimmten
Begriff der „Unzumutbarkeit“ einen Weg auf, wie man die strengen tatbestandlichen
Schutzvorgaben, auf Rechtsfolgenebene, bei der Frage nach der Ausfüllung der
staatlichen Schutzpflicht, aufweichen kann. Ob der Gesetzgeber die bestehende
Grauzone im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs nach PND ausnutzen wird,
um dort die PID anzusiedeln, oder ob er vielmehr die erforderlichen Nachbesserungen bei der Umsetzung staatlicher Schutzpflicht vornimmt, ist weiterhin offen.
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