Zum moralischen Anspruch demenzkranker Menschen Eine

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TERTIANUM Bildungsinstitut ZfP,
Fachtagung „Demenz und Wertekultur“
Kongresshaus Zürich, 28.01.10
Zum moralischen Anspruch demenzkranker Menschen
Eine Herausforderung für Pflege und Betreuung
Thesen
Dr. Heinz Rüegger MAE
Institut Neumünster
1.
Demenzkranke haben moralische Ansprüche, die anzuerkennen sind.
Es ist von zentraler Bedeutung, dass Menschen, die Demenzkranke pflegen und
betreuen, dass aber auch die Gesellschaft insgesamt und insbesondere die Sozialpolitik sich der moralischen Ansprüche bewusst werden, die an einer Demenz erkrankte Mitmenschen haben. Ihnen gilt es gerecht zu werden.
Voraussetzung dafür ist einerseits das selbstkritische Eingeständnis der eigenen
Ängste im Blick auf Demenz, die – bewusst oder unbewusst – leicht Abwehr und eine
„Psychodynamik des Ausgrenzens“ (Tom Kitwood) hervorrufen können. Sie erschweren es uns, ein Leben mit Demenz als eine mögliche lebenswerte Form des Altseins
zu denken.
Voraussetzung dafür ist andrerseits, dass Demenzkranke bei aller Veränderung ihrer
Persönlichkeit, die sie durchmachen, von den sie umgebenden Nicht-Dementen nach
wie vor als gleichwertige Personen mit grundsätzlich denselben Ansprüchen wie alle
anderen wahrgenommen und anerkannt werden.
2.
Demenzkranken
Menschen.
kommt
dieselbe
Menschenwürde
zu
wie
allen
Es besteht weitherum die Tendenz, Menschenwürde von Fähigkeiten (z.B. der Kognition, der Selbstachtung, der Selbstständigkeit, der Leistungsfähigkeit) abhängig zu
machen und sie dementsprechend Demenzkranken abzusprechen. Die Anerkennung
der vollen, unverlierbaren Menschenwürde auch bei Demenzkranken in fortgeschrittenem Stadium ist Voraussetzung für eine tragfähige Begründung ihrer moralischen
Ansprüche auf Rechte, Solidarität und mitmenschlichen Respekt.
3.
Demenzkranke haben ein Recht auf Leben generell und auf ihre durch
die Demenz bestimmte Art des Lebens im Besonderen.
Es steht niemandem zu, das Leben von Demenzkranken als „unwertes Leben“ zu
bewerten, nur weil es den in unserer Gesellschaft zentralen Aspekten von Leistungsfähigkeit (Produktivität), Vernunft (Rationalität) und Selbstbestimmung (Autonomie)
nicht entspricht.
H.Rüegger
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Das Leben von Demenzkranken ist darum grundsätzlich genau so zu schützen und
zu erhalten wie das anderer Menschen. Zudem haben Demenzkranke einen Anspruch auf ein unterstützendes Lebensumfeld, das ihnen ermöglicht, ihre von Demenz bestimmte Art des Lebens (Thomas Klie spricht von einer eigenen „Zivilisation
zweiter Ordnung“) zu leben. Nicht sie haben sich der Welt der Nicht-Dementen anzupassen, sondern diese tragen die Verantwortung, sich so gut als möglich in die
Welt der Demenz hineinzufühlen und ihr angepasste Lebensumfelder zu gestalten.
4.
Demenzkranke haben einen Anspruch auf solidarische Fürsorge und
Unterstützung.
Weil das Leben Demenzkranker schützenswert ist, haben sie einen Anspruch auf
Fürsorge. Diese meint nicht nur ein „Tun für Demenzkranke“, sondern in einem noch
viel fundamentaleren Sinn ein „Sein mit ihnen“ und eine „Anerkennung ihrer Person“
als uns vielleicht fremd gewordene, aber dennoch gleichwertige Mitmenschen.
Fürsorge orientiert sich an den ethischen Grundprinzipien des Respekts vor der
Selbstbestimmung (Autonomie-Prinzip), des Nicht-Schadens (Non-MalefizenzPrinzip) und des Wohltuns (Benefizenz-Prinzip).
5.
Auch bei zunehmender Autonomie-Unfähigkeit ist der unverlierbare
Autonomie-Anspruch Demenzkranker zu respektieren.
Demenzkranke verlieren mit fortschreitendem Krankheitsverlauf ihre Fähigkeit, autonom zu entscheiden. Nicht verloren geht aber der mit der Menschenwürde gegebene
Anspruch, nicht zum Objekt fremden Verfügens gemacht, sondern als Subjekt des
eigenen Lebens ernst genommen zu werden.
In dem Mass, wie Demenzkranke urteils- und autonomie-unfähig werden, ist es die
Pflicht derer, die sie betreuen und pflegen, stellvertretend für sie aber in ihrem Sinn
zu entscheiden. Immer wieder vorkommende Momente klaren Bewusstseins sind zur
Orientierung zu nutzen. Ansonsten geht es darum, Betreuung und Pflege so weit wie
möglich nach dem mutmasslichen Willen der demenzkranken Person auszurichten.
Bei der Identifizierung des mutmasslichen Willens können frühere Äusserungen der
demenzkranken Person oder eine Patientenverfügung hilfreich sein. Allerdings ist zu
beachten, dass die meisten (noch) nicht dementen Menschen sich kaum wirklich in
die Lebenswelt einer demenzkranken Person und die in ihr gegebene Lebensqualität
einfühlen können, sondern Demenz pauschal als persönliche Katastrophe und als
ganz und gar unerwünschte Lebensform für sich ablehnen (Problematik von Vorausverfügungen nach dem Konzept der precedent autonomy). Demgegenüber ist die
Frage zu klären, was am ehesten dem mutmasslichen Willen einer demenzkranken
Person in der aktuellen Situation der Demenz entsprechen würde (Anliegen des
Konzepts der current/contemporaneous autonomy).
Im Stadium fortgeschrittener Demenz bleibt der betroffenen Person u. U. noch so
etwas wie eine „Autonomie des Augenblicks“ (Ruth Schwerdt): aktuelle Gefühle,
Wünsche, Bedürfnisse, Impulse. Sie sind ernsthaft zu berücksichtigen.
H.Rüegger
6.
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Demenzkranke sind vor dem zu schützen, was ihnen schaden könnte.
Zur Fürsorge gehört, Demenzkranke vor dem zu schützen, was ihnen schaden oder
bei ihnen Unwohlsein auslösen könnte. Da Demenzkranke die Folgen ihres Handelns in zunehmendem Masse nicht mehr einschätzen können, sind sie gegebenenfalls auch vor sich selbst bzw. vor eigenen Handlungsimpulsen (z.B. dem Davonlaufen) zu schützen. Demenzkranke ernst nehmen kann deshalb nicht immer heissen,
ihren Wünschen nachzukommen. Massnahmen wie eine geschlossene Abteilung
oder ein weglaufsicherer Garten können angezeigt sein, auch wenn sie u.U. als
schwache Zwangsmassnahmen empfunden werden. Auf starke Zwangsmassnahmen wie Fixierung, Zwangspflege oder Zwangsernährung ist zu verzichten, wenn
nicht eine massive Selbstgefährdung oder eine unzumutbare Gefährdung bzw. Belästigung Dritter vorliegt. Manchmal kann auch eine Veränderung des Verhaltens der
Betreuenden zum Verschwinden schwierigen Verhaltens auf Seiten der Demenzkranken führen.
7.
Fürsorgliches Handeln im Blick auf Demenzkranke hat sich am Ziel der
Sicherstellung einer möglichst hohen Lebensqualität für die betroffene
Person zu orientieren.
Grundsätzlich haben Demenzkranke den gleichen Anspruch auf medizinisch indizierte Therapien wie alle anderen Patienten. Eine Vorenthaltung indizierter Massnahmen
allein aufgrund einer vorliegenden Demenz ist unverantwortlich und käme einer Diskriminierung gleich. Entscheidend ist die Frage, ob eine Intervention subjektiv empfundenes Leiden vermeiden oder minimieren kann und ob sie zu einer möglichst hohen Lebensqualität für die betroffene Person beiträgt.
Dabei sind aber demenzspezifische Aspekte zu berücksichtigen: Beispiele:
- Demenzkranke leben ganz im Hier und Jetzt und können nicht nachvollziehen, dass
das vorübergehende Aushalten von Unannehmlichkeiten zu einer Besserung der
Situation in der Zukunft beiträgt. Sinnvoll sind darum primär Massnahmen, die das
aktuelle Wohlbefinden verbessern.
- Auf unangenehme Interventionen wie Infusionen, Katheter, Sonden ist eher zu verzichten, da demenzkranke Patienten sie bloss als Belästigung empfinden und oft
selbst wieder zu entfernen versuchen.
- Neue, unbekannte Personen und Örtlichkeiten können Angst machen. Hospitalisationen sind darum wenn immer möglich zu vermeiden und die Schnittstellen zwischen Privatkontext, ambulanter Betreuung, Spital und Heim sorgfältig zu bearbeiten.
- Demenzkranke empfinden oft keinen Hunger und Durst. Es ist darum einerseits auf
genügende Ernährung zu achten, andrerseits bei Nahrungsverweigerung auf
Zwangsmassnahmen zu verzichten.
- Grössere Therapieprogramme, die eine langfristige, disziplinierte Teilnahme des
Patienten erfordern, dürften Demenzkranke meist überfordern.
H.Rüegger
8.
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Zum moralischen Anspruch Demenzkranker auf Solidarität und
Betreuung gehört indirekt auch die Unterstützung von betreuenden
Angehörigen durch entsprechende Angebote.
Die meisten Demenzkranken werden zu Hause von Angehörigen betreut und gepflegt, die sich dadurch mitunter einer grossen physischen und psychischen Belastung aussetzen. Da das Wohlergehen der Demenzkranken unmittelbar vom Ergehen
der Betreuungspersonen abhängt, impliziert der moralische Anspruch Demenzkranker auf angemessene Betreuung und Pflege die gesellschaftliche Verpflichtung,
Dienstleistungen bereitzustellen, die pflegenden und betreuenden Angehörigen die
Unterstützung geben können, die sie brauchen, um ihre Betreuungsaufgabe gut
wahrnehmen zu können.
Literaturhinweise
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H.Rüegger
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