Szene ist Chéreaus Konzept tatsächlich vom Werk her gestützt. Aber

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Szene ist Chéreaus Konzept tatsächlich vom Werk her gestützt. Aber leider findet
das Werk auch in der letzten Szene nicht zur Ruhe. Selbst wenn man von den bereits
geschilderten Sinnwidrigkeiten absieht, wird man durch das Kommen und Gehen der
Personen, durch den Mord an Aiwa, der unbeweint erschlagen wird, und schließlich
noch durch das ebenfalls wortreiche Auftreten des Rippers gestört. Daß die Größe
der Schlußmusik, wie wir sie von der bisher gebräuchlichen Fassung im Gedächtnis
haben, dadurch zunichtegemacht wurde, daß der Mörder noch Lulu auf die Bühne
schleift, geht wahrscheinlich wieder mehr zu Lasten der Regie.
Hat die formale Abrundung des Werkes einen wesentlichen Beitrag zu dessen dauernder Existenz geleistet? Es ist ja ohnehin fraglich, ob die Dimensionen einer
abendfüllenden Oper mit den technischen Mitteln, die einer weitaus kürzeren Symphonie oder einer Sonate zur formalen Abrundung helfen, zu einer Einheit geschlossen werden können. Selbst Wagnersche Leitmotivtechnik bewegt sich im allgemeinen
lediglich auf der psychischen Ebene, tonartliche Abrundungen werden von ihm
ebensowenig beachtet wie von Mozart und Beethoven. Alban Berg dürfte freilich an
die verborgene Kraft der Symphonik in der Oper geglaubt haben, ob sein Glaube
aber eine reale Grundlage hatte, ist bis heute nicht erwiesen. Es ist richtig, daß der
dritte Akt musikalische Teile enthält, die in der intellektuellen Zusammenschau des
Ganzen so etwas wie ein „Gleichgewicht" herstellen. In der Praxis fällt dieses musikalische Gleichgewicht aber kaum auf, zumal es im emotionalen Bereich eine Einheit
schafft, die eher zu bedauern als zu befürworten ist: eben die Einheitlichkeit einer
immer hektischen, keinen Ruhepunkt kennenden, asthmatischen Handlung. Daß
Alban Berg unter dieser Erkenntnis gelitten hat, scheint mir glaubhaft aus den Raffungsmitteln hervorzugehen, die er schon im zweiten Akt gebraucht, durch den (in
Paris nicht gezeigten) Film von Lulus Verurteilung und Gefängnishaft, durch die geschwätzigen, nicht komponierten Prosastellen, die einfach aus dem Rahmen fallen.
O b das Pariser Spielhöflenbild mit seinen vielen neuen Charakteren dramaturgisch
wirklich notwendig ist, um der Handlung Abrundung zu geben, muß bezweifelt
werden. Und Lulus Tod hatte beim Auftauchen ihres stummen Mörders - wie er
bisher zum Adagio der Lulu-Suite dastand - weit mehr Größe und schicksalshafte
Tragik als nach dem Besuch der beiden grotesken Kunden und nach den gemeinen
Äußerungen des Rippers.
Eine in allen Teilen adäquate Wiedergabe der dreiaktigen ,,Lulu" könnte die nach
der Pariser Premiere noch immer bestehenden offenen Fragen endgültig beantworten.
Dennoch scheint schon heute eine Entscheidung gefallen: die formale Abrundung des
Werkes verlagert die Problematik auf seine Substanz und zieht deren Qualität in
einem höheren Maße in Zweifel, als es die bisher gespielte Fassung getan hat.
DER KOMPONIST FRIEDRICH CERHA
Walter Szmolyan
Der folgende Beitrag basiert auf einem ausfuhrlichen Gespräch, das der Verfasser mit
D r . Friedrich Cerha führte. In ihm gab der Komponist erstmalig auch einige Hinweise auf
seine neue Oper „ B a a l " , die 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt werden soll.
Der Wiener Friedrich Cerha ist in seinen schöpferischen Aktivitäten ungemein vielseitig und vielschichtig: sie schließen nicht nur den Komponisten ein, sie betreffen
ebenso den Interpreten (Gründer, Leiter und Dirigent des Ensembles für neue Musik
„die reihe") und den Pädagogen (ordentlicher Professor für „Komposition, Notation und Interpretation neuer Musik" an der Hochschule für Musik und darstellende
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Kunst in Wien) wie den Musikwissenschaftler (Cerha promovierte 1951 an der Universität Wien mit den Fächern Germanistik, Kunstgeschichte und Musikwissenschaft)
und Editor (siehe die „Herstellung" des III. Aktes von Alban Bergs Oper „ L u l u " ) .
Als Musiker ist Cerha unbedingt und bedingungslos ein Mensch des 20. Jahrhunderts. Er hat nach dem Zweiten Weltkrieg, als in Österreich zunächst ein ungeheurer
Nachholbedarf an Musik bestand, die man zuvor nicht hören konnte und durfte, alle
Tendenzen und Entwicklungen der zeitgenössischen Musik aufmerksam beobachtet
und apperzipiert, wobei es ihm seine Tätigkeit als Interpret erleichterte, reiche Erfahrungen zu sammeln. Interessant ist, daß Cerha damals neben der „reihe" auch ein
Ensemble für alte Musik, die Camerata Frescobaldiana, leitete; ein Hinweis darauf,
daß jedes echte Neue organisch aus der Tradition wächst.
Als Komponist knüpfte Cerha zunächst bei Strawinsky an, nachdem der frühe Versuch, eine Symphonie zu schreiben, in welche „Modelle aus der Symphonik von
Beethoven bis Schönberg" einflössen, gescheitert war. 1947/48 komponierte Cerha
ein dreisätziges Divertimento für acht Bläser und Schlagzeug. „Ich habe mit dieser
ganz bewußten Huldigung Strawinsky von meiner Seele gelöst", kommentiert er 30
Jahre später sein Jugendwerk. Es folgte die intensive Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der „Wiener Schule" Schönbergs, speziell mit dem Werk Weberns,
und schließlich mit den seriellen Techniken der Darmstädter Schule, die in den fünfziger Jahren en vogue waren. Charakteristisch für diese Zeit ist etwa die 1956/57
entstandene Komposition „Formation et solution" für Violine und Klavier, 1958 bei
den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt uraufgeführt. „Es
lag mir an profilierten Gestalten, in denen die Permutation von Einzelelementen Variabilität brachte, ohne bestimmte Grundtypen unkenntlich zu machen. U m der Gefahr der Uniformität des Gesamtergebnisses, dem Abschaffen aller Bezugspunkte,
wie sie extreme Anwendungen der seriellen Technik mit sich bringen, zu begegnen,
habe ich die Aufsplitterung des Materials nicht in allen Schichten - vor allem nicht
im Rhythmischen - bis ins Einzelelement vorgetrieben. Neben trotzdem eher punktuellen Strukturen, die für diesen Stil charakteristisch sind, findet man - entwicklungsgeschichtlich betrachtet sehr früh - eine Tendenz zum Amalgamieren rhythmischer, harmonischer und melodischer Konturen. Dieser alte tonsprachliche Formulierungen in anderer Weise als der Serealismus auflösende und gleichzeitig andere Zusammenhänge von Klangereignissen fördernde Prozeß sollte für mein künftiges musikalisches Denken bedeutend werden. Klangliches spielt eine wesentliche Rolle,
wird aber schon in diesem Stück nicht nur um des Klangreizes willen aufgesucht, der
in formaler Isolation zum Effekt wird. Die formbildenae Funktion klanglicher Veränderungen ist in ,Relazioni fragili' und .Intersecazioni' fortgeführt und in „Fasce',
.Mouvements' und ,Spiegel', die einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der
sogenannten ,Klangkomposition' um 1960 darstellen, zu einem primären Interesse
für mich geworden."
Cerha erwähnt in dem eben zitierten Rückblick, der einer 1976 verfaßten Konzerteinführung entnommen wurde, die ebenfalls 1956/57 entstandenen „Relazioni fragili" für Cembalo und Kammerorchester sowie die 1959 konzipierten „Intersecazioni"
für Violine und großes Orchester, deren Partiturreinschrift freilich erst 1973 fertiggestellt wurde (die Uraufführung erfolgte im selben Jahr beim Grazer „Musikprotokoll" im Rahmen des Steirischen Herbstes). Beide Werke gehören mit den „Espressioni fondamentali" für Orchester (1957) der seriellen Phase in der Entwicklung des
Komponisten an. Wie Cerha bereits andeutete, wurde diese bald - um 1960 - von
einer stärkeren Hinwendung zur postseriellen „Klangkomposition" (auch Klangfarbenkomposition genannt) abgelöst. Auch auf diesem Gebiet schuf Cerha Eigenständiges. Als Schlüsselwerk sind hier die „Trois Mouvements" für Kammerorchester
aus dem Jahre 1960 anzusehen, faszinierende Studien über kontinuierlich bewegte,
sich oft fast unmerklich ändernde Klänge. „Spontan habe ich mich darin für jeweils
ein Stück auf einen einzigen, charakteristischen Klangzustand beschränkt. Bewegung
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ist hier keine grundsätzliche Zustandsänderung, sondern sie vollzieht sich innerhalb
eines für das jeweilige Stück charakteristischen Zustands. Mouvement I verwendet
hohe, kurze Klänge, die vom Hölzernen bis zum Metallisch-Gläsernen reichen. Das
Geschehen resultiert aus Färb-, Dichte- und Intensitätsveränderungen, all das aber
vollzieht sich innerhalb des für dieses Stück charakteristischen Zustands des HellKlappernden. Im zweiten Stück der Mouvements geschehen innerhalb eines abgesteckten Tonraums in gewissen Zonen Ereignisse, andere Zonen bleiben stumm. Es
gibt einen Teppich von sehr langsamen, leisen Streicherglissandi, dessen Konturen
von kurzen Fortissimo-Blechbläserstichen durchbohrt werden. Die von den Streichern realisierten Bewegungen vermitteln kein musikalisches Zeiterlebnis, durch die
Bläserattacken aber wird die Zeit doch so geteilt, daß im Hörer der Eindruck von
Vorgang, von Ablauf entsteht. Der dritte Satz verzichtet völlig auf kurze Werte, er
besteht aus einem einzigen tiefen Cluster. Wie Zonen und Farben unmerklich kenntlich werden, hervortreten und wieder verschwinden, wodurch die Gestaltwahrnehmung des Ganzen beeinflußt wird, das ist das Ereignis des Stücks. Leben und Bewegen subtiler Farbnuancen, das kaum merkliche Fortschreiten von einem zum anderen
hat mich immer fasziniert - lange habe ich nicht gewagt, die Zeit, die es braucht, um
seine Existenz kundzutun, wirklich zu beanspruchen, und ich wäre auch technisch
nicht imstande gewesen, es zu realisieren. Dauerwahrnehmung geht innerhalb dieses
Stücks gänzlich verloren, die Gesamtdauer tritt dadurch desto stärker in Erscheinung." (Aus einem Vortrag ,,Zu meiner Musik und einigen Problemen des Komponierens heute", der in Wien in den Räumen der österreichischen Gesellschaft für
Musik gehalten und in den „Beiträgen 1968/69" der Gesellschaft veröffentlicht wurde.)
Die „Trois Mouvements" sind gleichsam Vorstudien zu einem größeren Werk, den
sieben „Spiegel" für großes Orchester, die 1960/61 komponiert wurden. Die Herstellung der Partiturreinschriften und die sukzessive Aufführung der einzelnen Teile
zog sich bis 1972 hin; die Uraufführung des Gesamtzyklus erfolgte 1972 in Graz im
Rahmen des Weltmusikfestes der IGNM. Das Werk kann auch szenisch auf der
Bühne dargestellt werden. „Vielleicht hätte man vor 100 Jahren den Sätzen meiner
,Spiegel' Namen gegeben: Nebel, Sonne, Wind und Meer, Schreie, Wüste, Angst
. . . In bewußten Bereichen blieben Vorstellungen und kompositorisches Vorgehen
von diesen Phänomenen unberührt. Die kompositorischen Anliegen entwickeln sich
konsequent aus denen der vorangegangen Werke, besonders der drei .Mouvements'
. . . Dem dritten ,Mouvement' ist ein Zug zum Monomanen eigen. Er findet in
,Spiegel V' seine Fortsetzung und letzte Konsequenz. Ein ganzer, homogener Klangkörper dreht sich: keine Stimme, keine Orchestergruppe ragt hervor, dominiert; das
verwendete Tonband ist nur ein Teil des Orchesters, wie alle Instrumente des großen
Apparats dient es dem - wahrscheinlich beängstigenden - Gesamtklang" (Programmeinführung).
Ebenfalls auch als Stück für die Bühne gedacht sind die „Exercises" für Bariton,
Sprecher und Kammerensemble, 1962-68 entstanden, 1968 in Wien konzertant uraufgeführt. In diesem aus 11 Sätzen bestehenden Werk, in dem die menschliche
Stimme keine syntaktische, sondern eine aus 57 Lauten des phonetischen Alphabets
„komponierte" Sprache vorträgt, bahnt sich eine neue Entwicklung an. Der Bereich
der „Klangkomposition" wird verlassen, „heterogene" und „regressive" Elemente
werden in die Komposition einbezogen, melodische Linien und rhythmische Strukturen werden sieht- bzw. hörbar. Das heterogene Material wird Ansatzpunkt für
formale Entwicklungen und für die Herstellung von Zusammenhängen zwischen
scheinbar Unzusammenhängendem. „Meine Sehnsucht nach Transparenz und sensitiv kontrollierbaren Beziehungen zwischen klar formulierten Einzelelementen wurde
immer größer. Es war mir bald klar, daß ein Weg dazu weitgehender als üblich
Formen unserer musikalischen Tradition berühren muß. Die besten neuen Werke
zwischen 1965 und heute schleusen zunehmend etwas aus dem Bereich traditioneller
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Harmonik und Melodik in die grundlegenden Denkmodelle der fünfziger und sechziger Jahre ein. Mein Bedürfnis war es, die letzteren zu verlassen, obwohl ich einige
Komponisten, die den anderen Weg gehen, und ihre Stücke sehr schätze. Nach dem
indirekten Abbau einiger Tabus in der neuen Musik in Teilen von ,Exercises' und
Ubergangswerken wie ,Catalogue' habe ich Bezüge zu traditionsgebundenem Material, aie zu verschleiern aber unter bestimmten Voraussetzungen nicht zu vermeiden
ist, zunächst betont angesprochen - also den Stier bei den Hörnern gepackt - und sie
in verschiedenem Maß und verschiedener Funktion in die Arbeit einbezogen. Was
sich dabei herauskristallisiert hat, war zunehmend eine Konzentration auf den Begriff
von .Komposition' im eigentlichen Sinn, aufgesucht in verschiedenem Material"
(Programmeinführung).
Zu den Werken dieser noch nicht abgeschlossenen jüngsten Phase in der künstlerischen Entwicklung Friedrich Cerhas gehören neben dem „Catalogue des objets
trouvés" für Kammerensemble (1969), dem „Verzeichnis" für 16 Stimmen a cappella
(1969) und den beiden Langegger Nachtmusiken (1970/71; im niederösterreichischen
Wallfahrtsort Maria Langegg besitzt Cerha ein Landhaus, das ihm als Komponierklause dient) weiters das Auftragswerk der amerikanischen Koussevitzky-Stiftung
„Curriculum" für 13 Bläser (1972), die dreisätzige Sinfonie für Orchester aus 1975
und das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester (1973-76). Erweist
Cerha in „Curriculum", dessen Uraufführung 1973 unter der Leitung des Komponisten im New Yorker Lincoln Center stattfand, mit zitathaft verwendeten Floskeln
aus „Three Places in New England" von Charles Ives Amerika seine Reverenz, so
trägt das Doppelkonzert (1976 in Wien mit Ernst Kovacic und Heinrich Schiff uraufgeführt) die Widmung „Eric Satie zum 50. Todestag und mir zum 50. Geburtstag"; Cerha wollte hier die musiklische Welt des von ihm überaus geschätzten französischen Komponisten mit seiner eigenen konfrontieren.
Uberblickt man das bisherige Schaffen Friedrich Cerhas, so fällt vor allem auf, daß
er es stets vermieden hat, Serien von gleichartigen Werken zu produzieren, sich also
einer erfolgreichen „Masche" zu verschreiben, ein Verfahren, dem manche seiner
Kollegen nicht widerstehen konnten. Ein wesentliches Merkmal seines Schaffens ist
das Herstellen von Beziehungen, das unentwegte Stiften von Zusammenhängen zwischen erkennbaren musikalischen Elementargestalten, ein Merkmal, das er mit den
Meistern der „Wiener Schule" teilt und das selbst seinen seriellen und koloristischen
Kompositionen anhaftet. „Meine derzeitigen Anliegen sind: geistige Einbahnen zu
überwinden, flexibel zu sein im Erfahren und mich aufmerksam im Feld denkbarer
Vorstellungen - älterer u n d neuerer - zu bewegen."
Schon seit der Mitte der fünfziger Jahre trug sich Cerha mit dem Gedanken, Bertolt
Brechts dramatischen Erstling „Baal" in Musik zu setzen. Aber er sah keine Möglichkeit, diese große und mühevolle Aufgabe - die nun einmal das Schreiben einer
Oper ist - zu bewältigen, bis ihm nun ein - für ihn überraschend erteilter - Auftrag
des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst den nötigen finanziellen Rückhalt
gab. Das Bühnenwerk wird 1981 als gemeinsame Produktion der Wiener Staatsoper
und der Salzburger Festspiele im Kleinen Festspielhaus in Salzburg in Szene gesetzt
und dann vom Wiener Opernhaus übernommen. Als Regisseur ist Otto Schenk vorgesehen.
Von Brechts „Baal" existieren nicht weniger als fünf Fassungen; die erste stammt aus
1918, die letzte aus 1955. Es war für Cerna daher nicht leicht, aus diesen Fassungen
ein für ihn brauchbares Libretto herzustellen, wobei er sich am wenigsten auf die
letzte Fassung stützte, die schon sehr stark dem Typus des „epischen Theaters" angenähert ist, sondern den frühen expressionistischen Fassungen den Vorzug gab. In
dem Libretto steht allerdings kein Wort, das nicht von Brecht geschrieben wurde.
Der Dichter selbst bemerkte knapp vor seinem Tode über sein Erstlingsdrama: „Das
Stück ,Baal' mag. denen, die nicht gelernt haben, dialektisch zu denken, allerhand
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Schwierigkeiten bereiten. Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken. Jedoch setzt sich hier ein ,Ich' gegen die Zumutungen und Entmutigungen einer Welt, die nicht eine ausnutzbare, sondern nur eine
ausbeutbare Produktivität anerkennt. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer
Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre Verwurstung. Die
Lebenskunst Baals teilt das Geschick aller anderen Künste im Kapitalismus: sie wird
befehdet. Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft."
Baal ist ein hochbegabter Dichter, der an der Gesellschaft scheitert, weil er sich nicht
dem Management unterwirft und sich nicht arrangieren will. Er ist freilich hemmungslos im Essen, Trinken und in der Liebe, verkommt immer mehr, ermordet aus
Eifersucht seinen Freund Ekhart - einen Komponisten - und endet schließlich elend
in einer Holzfällerhütte. Das Problem des Künstlers und der Gesellschaft, die ihn
vermarkten will, das heute genauso aktuell ist wie ehedem, hat Cerha an diesem
Stück natürlich besonders angesprochen und herausgefordert. D i e in das Stück eingestreuten „ G e s ä n g e " Baals verlangen förmlich nach Musik. Sie werden von Cerha als
geschlossene Formen, also als Lieder, vertont; Baal, ein Bariton, singt sie zur Begleitung von Akkordeon und Gitarre, wobei Cerha Anklänge an den Weillschen Song
vermied. Die weiteren Hauptpartien der Oper sind dem Freund Ekhart (Baß) und
drei Frauen (Soprane) zugewiesen, die in Baals Leben eine Rolle spielen. Die Oper
wird aus zwei Akten mit insgesamt 24 Bildern, rasch wechselnden Szenen, bestehen.
Cerhas Wunsch geht nach einer realistischen Inszenierung seiner Brecht-Oper: ,,Man
kann das, was hinter der realen Handlung steht, nicht darstellen; den irrationalen
Hintergrund kann man nur verständlich machen, indem man das Vordergründige
realistisch verdeutlicht."
t)AS STAATSOPERNBALLETT Z U R U C K IN D E N PROVINZIALISMUS?
Hans Heinz Hahnl
Die Zukunft des Wiener Staatsopernballetts ist ungewiß. Man weiß warum. D e r Ballettchef ist wieder einmal gestürzt worden. Ein Vakuum steht bevor. Die Situation
ist keineswegs so neu, wie sie von den Beteiligten dargestellt wird. Ich erlebe das in
gewissen Abständen, seit ich Ballettkritiker, ja seit ich Ballettbesucher bin. Die Abstände werden nur immer kürzer. Ich möchte jetzt nicht die gegenseitigen Verdächtigungen wiederholen, nicht die Stationen der Intrigen dokumentieren. Ich möchte
eine simple Antwort auf die Frage versuchen, die man in diesen Tagen und Wochen
immer wieder gestellt bekommt: Warum ist das so? Wohlgemerkt nicht, wer hat
schuld, sondern warum ist das so? Ist das ein Wiener Zustand? Es ist eine Ballettzustand, der durch Wiener Zustände verschärft wird.
Alle Ballettcompagnien der Welt leben in permanenter Krise. Auch die Russen, auch
die Engländer, auch die Amerikaner. Sie haben ihre ästhetischen Probleme und ihre
Generationskonflikte. N u n könnte man sagen, das ist überall so, in jeder künstlerischen, ja schließlich überhaupt in jeder Gemeinschaft. Stimmt. Aber beim Ballett ist
es auf die Spitze getrieben. Das Ballett ist die künstlichste Kunst. Ein natürliches
Bedürfnis, aas Erleben des Körpers im Rhythmus, ist durch ein außerordentlich
kompliziertes, schwieriges, und nur in langem, strengem Training erlernbares System
zur Kunst verkünstlicht worden. Sie hat eine Hierarchie erzeugt, die mittelalterlich
anmutet. Man wird zweifellos wesentlich leichter Professor in der Staatsoper als
Halbsolist. Tanzensembles haben ein unglaubliches Insiderbewußtsein. Sie arbeiten
tagelang, wochenlang, monatelang körperlich und geistig unerhört konzentriert ohne
das Ventil des Auftrittes, des Erfolges. In einer Ballettcompagnie entstehen notwendigerweise Spannungen und damit Intrigen, Kämpfe. Nichts ist schwieriger zusam152
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