Recht und soziale Gerechtigkeit

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Holzleithner
Recht und Soziale Gerechtigkeit
Vortragsmanuskript 2004
Recht und soziale Gerechtigkeit: rechtsphilosophische
Perspektiven1
Elisabeth Holzleithner
Über Recht und soziale Gerechtigkeit in rechtsphilosophischen Perspektiven sprechen zu
wollen, ist ein kühnes Unterfangen. Was ich hier leisten kann, ist allenfalls eine Skizze zu
einem Thema bzw. einer Vielfalt von Themen, die Philosophie und Rechtsphilosophie seit
Anbeginn beschäftigen und in verschiedensten Konzeptionen bearbeitet haben. Um meinem
Vorhaben gerecht zu werden, beginne ich zunächst mit einer provisorischen Bestimmung der
Begriffe, die uns beschäftigen: „Recht“, „Gerechtigkeit“, schließlich „soziale Gerechtigkeit“.
Die Begriffsbestimmung ist neben ihrer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit notwendig auch
subjektiv. Das bedeutet, andere würden zu anderen Begriffsbestimmungen kommen. Aber nur
wenn einmal ein Begriff bestimmt wurde, kann eine Debatte darüber beginnen, wie er
vielleicht präziser oder anders passender zu fassen wäre.
Ich beginne im Folgenden mit dem Begriff des Rechts. Bei der Auslotung seiner Dimensionen
stellt sich auch die Frage, ob und inwiefern Recht und Gerechtigkeit miteinander
zusammenhängen. Nach der Exposition dieser Problematik und verschiedener Varianten von
Antwortmöglichkeiten ist dann der Frage nachzugehen werden, was es mit dem Begriff der
(sozialen) Gerechtigkeit auf sich hat. In diesem Zusammenhang werde ich einige neuere
Entwürfe der politischen Philosophie skizzieren, die in den letzten Jahren besonders
prominent diskutiert werden. Rawls, Walzer, Sen und Nussbaum etwa versuchen, vor dem
Hintergrund
Gedanken zum Begriff des Rechts2
Was ist “Recht”? Die Antwort auf diese Frage ist nicht selbstevident, und Studierende der
Rechtswissenschaften sind zu Beginn ihres Studiums oft überrascht, wenn sie feststellen, dass
ihre Lehrenden sich nicht einig sind. Einer der wesentlichen strittigen Punkte ist jener, ob und
was Recht mit Gerechtigkeit „zu tun“ hat.
1
Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Recht und soziale Gerechtigkeit im Kontext der Epochen und
Kulturen“, Universität Wien, 04.03.2004
2
Ausführlichere Überlegungen finden sich in Holzleithner 2002, 13-18.
1
Holzleithner
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Vortragsmanuskript 2004
Rechtspositivisten im Gefolge der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens3 fassen Recht als
System von Normen, die mittels staatlich organisiertem Zwang durchgesetzt werden sollen.
Das „positive Recht“ ist „jedes von Menschen für Menschen gesetzte, regelmäßig wirksame
(effektive), organisierten Zwang androhende Regelungssystem.“ (Walter/Mayer) Darin steckt
die weiter gehende Annahme, alles, was menschlichem Verhalten zugänglich ist, könnte auch
Gegenstand des Rechts sein. Diese Annahme versteht sich vor dem Hintergrund eines
ausgesprochenen „Wertrelativismus“, der Werturteile als nicht wahrheitsfähig, als keiner
rationalen Erkenntnis zugänglich ansieht. Daher müsse sich, wer Recht beschreibt und schon
gar, wer Recht anwendet, völlig davon fernhalten. Rechtspositivisten fordern daher eine
strikte Trennung von wertgeladener Rechtspolitik und wertneutraler Rechtsanwendung.
Dieser Sichtweise wird auf zwei Ebenen entgegen gehalten. Auf einer Ebene wird betont, es
bedürfe der „Gerechtigkeit“ als Korrektiv, wenn „horrendes Unrecht“ in Gesetzesform
gegossen, als Recht erlassen wird. Derartigen Rechtsvorschriften sei der Rechtscharakter
abzusprechen. Diese „Notbremse“ schlug Gustav Radbruch4 vor als Reaktion auf das
horrende Unrecht, das von Nationalsozialistischer Gesetzgebung erlassen worden war: Die
Richter der damaligen Zeit hätten Regelwerken wie den „Nürnberger Rassegesetzen“ mangels
Überreinstimmung mit fundamentalen Forderungen der Gerechtigkeit den Rechtscharakter
absprechen müssen. Derart kommt man einerseits in den Bereich zivilen Ungehorsams bis hin
zum Widerstandsrecht. Andererseits ist die Anwendung dieser Vorgabe gar nicht so weit
entfernt. Zur Freude der einen und zum Verdruss der anderen hat das deutsche
Bundesverfassungsgericht vor einigen Jahren die Radbruch’sche Formel herangezogen, um
die Verurteilung der sogenannten „Mauserschützen“ rechtsethisch zu legitimieren.
Das ist eine besonders „spektakuläre“ Art der Anwendung von „überpositiven“
rechtsethischen Prinzipien im Rechtsdiskurs. Welche Rolle spielen nun aber Gebote der
Gerechtigkeit, Prinzipien wie jene der Menschenwürde oder der gleichen Freiheit in
Prozessen der Rechtssetzung und Rechtsanwendung? Ist Recht notwendig, wie Gerhard Luf
im Gefolge der Kantischen Rechtsphilosophie moniert, auf die Realisierung von gleicher
Freiheit bezogen – ein Prinzip, das die gesamte Rechtsordnung durchzieht? Oder sollen
Rechtsprinzipien, wie Rechtspositivisten fordern, nur mit äußerster Vorsicht genossen
werden, steht doch zu befürchten, dass Rechtsanwenderinnen dem Recht ihre eigenen
Vorstellungen von Ethik und Gerechtigkeit unterschieben, um diese dann triumphal dem
3
Kelsen 1960.
4
Radbruch 1946, 211-219.
2
Holzleithner
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Recht zu entnehmen? Ich werde mich diesen Fragen mit Bezug auf einige Beispiele zu
nähern, um die rechtsphilosophischen Fragen mit Leben auszustatten – damit klar wird, dass
es sich hier nicht um graue Theorie handelt, sondern dass die Theorie lediglich antritt, die
Komplexitäten der sogenannten Praxis zu ordnen, sie damit in einen Sinnzusammenhang zu
stellen, der weitere Praxis anzuleiten vermag.
Einschätzung der Debatte zum Stellenwert der Gerechtigkeit im Recht und
Übergang zum Begriff des Rechtsdiskurses
Was können wir dieser Debatte um den Stellenwert der Gerechtigkeit für das und im Recht
entnehmen? Ich denke, verschiedene Annäherungen an den Rechtsbegriff stehen für
unterschiedliche Arten, Recht zu fassen und damit zu verwenden. Wie er gebraucht wird, hat
jeweils eine Funktion. Wer Recht nur über staatlich organisierten Zwang definiert, kann von
sich behaupten, sich vom Minenfeld der Gerechtigkeitsfrage fernzuhalten und insofern
“ideologiefrei” zu sein. Auf der anderen Seite wird der legitimatorische Charakter des Rechts
durch den Zusammenhang mit der Idee der Gerechtigkeit betont: Was Recht ist, steht unter
dem Anspruch oder zumindest der Anforderung, richtig, gerecht, legitim zu sein. Ich denke,
beide Elemente – jenes des rechtlichen Herrschaftsanspruchs wie jenes seiner Legitimation –
stellen genuine Bestandteile des Rechtsdiskurses dar. Das steckt in einer der
wirkungsmächtigsten Formeln, die den Rechtsbegriff auf den Punkt bringen: jener Immanuel
Kants. Er fasst Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit
der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt
werden kann.“ (Kant) Das bedeutet, dass Freiheit durch Recht ermöglicht werden soll, und
dass ein Freiheitsgebrauch, der in die Freiheit einer anderen Person eingreift, durch Recht in
die Schranken zu weisen ist.
Bislang habe ich den Begriff des Rechts unspezifisch gebraucht, als Überbegriff für ein noch
nicht näher ausdifferenziertes Konglomerat von Normen. Ich möchte diesen Begriff nun einer
näheren Bestimmung zuführen und ihn las „Rechtsdiskurs“ fassen. Der Rechtsdiskurs im
weiten Sinn ist eine komplexe Verbindung aus rechtlichen Vorgaben in ihrer Anwendung
durch die Rechtsprechung, Rechtsprinzipien in ihrer jeweils unterschiedlichen Gewichtung,
dogmatischer Rechtslehre, rechtsphilosophischen Texten, Lehre an den
rechtswissenschaftlichen Fakultäten, rechtlichen Institutionen, Rechtsverhältnissen,
Alltagsverständnissen von Recht, staatlichen Institutionen wie Gefängnis, Polizei, Gericht etc.
Ein wesentliches Merkmal des Rechtsdiskurses ist seine Heterogenität und Vielschichtigkeit,
3
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manchmal auch Widersprüchlichkeit, bedingt durch verschiedene zeitliche Schichten und
Rechtsformen (z.B. Gesetze, Verordnungen, Gerichtsurteile).
Rechtspositivisten haben für die Beschreibung von Rechtsnormen das Konzept des
„Stufenbaus“ gewählt, nach dem es „höheres“ und „niedrigeres“ Recht gibt. Höheres Recht ist
solches, das „schwieriger“ zu erzeugen ist – im österreichischen Fall wäre das höchste Recht
die Grundprinzipien der Verfassung: das demokratische, republikanische, rechtsstaatliche,
gewaltenteilende, bundesstaatliche und liberale Prinzip. Sie sind in der Verfassung explizit
verankert oder lassen sich aus ihr erschließen. Das liberale Prinzip etwa wird aus den liberalen
Grundrechten erschlossen, die Teil der Verfassung sind.
Eine zentrale Aufgabe der Verfassung besteht darin, den Staat zu organisieren. Sie legt fest,
welche höchsten Organe welche Aufgaben haben und wie diese Aufgaben durchzuführen
sind. Diese Organe sind den drei Gewalten zuzuordnen: Der Gesetzgebung (Nationalrat,
Bundesrat), der Vollziehung (Bundespräsident, Bundesregierung, Bundeskanzler,
Bundesminister) und der Judikatur. Diese Gewalten sind einerseits voneinander getrennt,
andererseits aber auf vielfältige Weise auch miteinander verflochten, all dies mit dem Ziel,
Machtakkumulationen und damit Machtmissbräuche zu verhindern.
Verschiedene Institutionen schaffen unterschiedliches Recht oder wenden rechtliche
Vorgaben unterschiedlich an. Für solche Fälle braucht es Vorrangregeln. Ein bedeutendes
Beispiel: Für einen Mitgliedstaat der Europäischen Union gilt neben dem nationalen auch das
von den Europäischen Instanzen gesetzte Recht, dem „Anwendungsvorrang“ zukommt:
Insofern innerstaatliches Recht im Widerspruch zu EU-Vorgaben steht, darf es nicht
angewendet werden. Ob ein solcher Widerspruch vorliegt, ist freilich eine (oft recht knifflige)
Frage der Interpretation. Somit ist die Frage, was rechtens ist, eine (oft recht knifflige) Frage
der Interpretation. Kommen wir an dieser Stelle zurück zu den Ansprüchen des Rechts an die
Menschen und dazu, was Recht den Menschen im Gegenzug zu bieten hat.
Recht als Herrschaftsdiskurs
Recht ist ein Herrschaftsdiskurs. Das Recht eines Staats ist für all jene verbindlich, die sich in
diesem Staat aufhalten. Sie sollen über die Realisierung ihrer Interessen nur im Rahmen der
Rechtsordnung disponieren. Der Rechtsdiskurs ist allgemein und gibt hegemoniale
Bedeutungen vor. Staatliche Institutionen mit bestimmten Uniformen, Architekturen und
Arten der Raumgestaltung sichern den Herrschaftsanspruch auch symbolisch ab. Sie geben
Zeichen von Macht und Herrschaftsanspruch des Staats. Allerdings ist die “hegemoniale
4
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Bedeutung” eines Diskurses “je nach Kontext verschieden: er wird „in der spezifischen
Eigenlogik der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, aber auch der einzelnen
Individuen je unterschiedlich transformiert und modifiziert.”5
Die damit angesprochene Mikrophysik der Rechtsmacht zeigt sich in den Details des
täglichen Lebens. Wer wie von Recht Gebrauch macht (rechtliche Argumente bemüht oder
sich an rechtliche Instanzen wendet), wer wie auf Recht im Gewand des staatlichen
Gewaltmonopols reagiert, ist je nach Kontext unterschiedlich. Das betrifft auch den Zugang
zum Recht. So spielt es, um ein gendersensibles Beispiel aufzugreifen, eine große Rolle,
welches Alltagsverständnis eine Frau von Recht und seinen durchsetzenden Behörden hat,
wenn sich für sie die Frage stellt, ob sie einen sexuellen Übergriff anzeigen soll oder nicht.
Wie wird man sie behandeln? Wird ihr geglaubt werden? Wenn die Polizei ihr glaubt, wird
ihr vor Gericht geglaubt werden? Wie wichtig ist einer Frau, “Recht” zu bekommen? Wie
hoch schätzt sie das Risiko ein, dass das Verfahren durch Einstellung oder mit dem Freispruch
des Verdächtigen endet, etwa aus Mangel an Beweisen? Es braucht Vertrauen in die
Institutionen des Rechtsstaats, sich in eine solche Situation zu begeben.
Anforderungen an das Recht im Licht der Legitimität von Rechtsordnungen
Die Vertrauenswürdigkeit rechtsstaatlicher Institutionen ist ein Element der wichtigen
Vorgabe, dass die Herrschaft des Rechts der Rechtfertigung bedarf. Dies gilt zunächst, das
Beispiel sollte es anzeigen, institutionell – Stichwort „Rechtsstaat“. Die Institutionen des
Rechts sollen „funktionieren“. Ein Recht ist nur dann ein Recht, wenn es durchsetzbar ist.
Grundrechte etwa waren lange Zeit bloße Prinzipien der Staatsgestaltung. Erst als sie durch
die Einrichtung von zuständigen Gerichten auch durchsetzbar wurden, konnte man von echten
„Rechten“ sprechen.
Gleichzeitig kann diese Vorgabe nicht immer bedeuten, dass Menschen das bekommen, von
dem sie glauben, dass es ihnen rechtens zusteht. Die Rechtsordnungen hat Vorsorge dafür
getroffen, dass eine rechtliche Entscheidung falsch ist, indem Urteile und Bescheide
anfechtbar sind – man kann sich (in den meisten Fällen) an eine Rechtsmittelinstanz wenden.
Irgendwann aber endet der Instanzenzug und enden auch außerordentliche Rechtswege – eine
Entscheidung erwächst dann in Rechtskraft. Das Motto könnte lauten: „Irgendwann muss
einmal Schluss sein.“ Derart kann Rechtssicherheit einziehen. Dafür wird auch in Kauf
5
Maihofer 1996, 81-82.
5
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genommen, dass eine Entscheidung nicht ganz „gerecht“ ist. Zu wissen, was in einem
Einzelfall rechtens ist, als Rechtssicherheit, stellt einen ganz wesentlichen „Wert“ dar.6
Selbstverständlich ist auch die Frage, welche Rechte und Pflichten Menschen haben, im Licht
der Legitimation von Recht von großer Bedeutung: Was als Recht erlassen wird, ist (den
„Rechtsunterworfenen“) nicht egal. Positives Recht fordert von den Rechtsunterworfenen
(nur) die äußere Übereinstimmung ihres Handelns mit den rechtlichen Vorgaben. Die
rechtlichen Vorgaben sollen aber in einer Weise gestaltet werden, die gerechtfertigt werden
kann. Die Frage nach der Legitimität bleibt jedenfalls als Anforderung an die Rechtsetzung
präsent. Rechtsprinzipien wie die Vorgabe, Menschen seien als gleichermaßen frei zu achten
und zu berücksichtigen, weisen die Richtung.
Hinter all dem steht die Idee der Verallgemeinerung, die Kant der Rechtsetzung in Form einer
„praktischen Vernunftidee“ auferlegt: Sie besteht darin, „jeden Gesetzgeber zu verbinden,
dass er seine Gesetze so gebe, als ob sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes
haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als
ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmet habe.“ Kant bezeichnet diese
Vorgabe als der allseitigen Zustimmungsfähigkeit als „Probierstein der Rechtsmäßigkeit eines
jeden öffentlichen Gesetzes.“
Die allgemeine Zustimmungsfähigkeit ist freilich nicht bloß ein Regulativ, das an Normen
angelegt wird. Eine weitere wesentliche Komponente der Rechtfertigung von Recht ist die
demokratische Legitimation. Darin steckt die Idee der “Volkssouveränität”, die in komplexen
Gesellschaften in der mittelbaren Demokratie aufgehoben ist: Das Volk, vertreten durch
demokratisch gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten, gibt sich selbst jene Gesetze,
die ihm zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Freiheit, Ordnung, Sicherheit,
Gerechtigkeit und Solidarität erforderlich scheinen. Rechtsnormen legen fest, was als sozial
adäquates Verhalten und was als sozial inadäquates Verhalten gelten soll.7
Schließlich wird der Gesetzesinhalt durch die Tätigkeit rechtsanwendender Organe im
Einzelfall zur Anwendung gebracht. Damit wird, wie Alexander Somek betont, “die
demokratische Selbstherrschaft in einem letzten Vermittlungsschritt”8 vollendet. Mit anderen
Worten: Jeder Bescheid, den Sie bekommen, jedes Urteil, das Sie als Mitglied einer
6
Siehe auch die Abwägung von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit bei Radbruch.
7
Benke/Holzleithner 1998, 45..
8
Somek 1992.
6
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Rechtsgemeinschaft adressiert, ist letztlich Ausfluss Ihres eigenen gesetzgeberischen
Willens.9 Damit schließt sich der Kreis. Und damit möchte ich meine einführenden
Bemerkungen zum Begriff des Rechts und seinen Verbindungen zur Gerechtigkeit
abschließen. Ich wende mich im Folgenden etwas detaillierter dem Begriff der Gerechtigkeit
zu.
(Soziale) Gerechtigkeit
Objektive und subjektive Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit
Worauf bezieht sich Gerechtigkeit? Hume nannte Gerechtigkeit die „vorsichtige,
argwöhnische Tugend“.10 Er stellte sie in den Zusammenhang von Notwendigkeiten und
Mangel: Objektiv gesehen sind die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit „mäßige
Güterknappheit“ sowie „die Notwendigkeit der sozialen Kooperation“ (Rawls 2001, 137).
Das bedeutet erstens, nicht jede und jeder kann alles haben, wonach er oder sie strebt. Nicht
jedes Interesse kann befriedigt werden. Dadurch entstehen Konflikte. Es bedeutet zweitens,
dass die meisten Menschen ohne irgendeine Art der sozialen Kooperation nicht überleben und
kein gutes Leben führen können. Das gilt jedenfalls für die ersten Lebensphasen, in denen
aufwachsende Menschen darauf angewiesen sind, dass jemand sich um sie kümmert, und es
gilt auch für die meisten Erwachsenen mit Ausnahme vielleicht von selbstversorgenden
Eremiten.
Diese objektiven Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit werden ergänzt bzw.
verkompliziert durch die Tatsache, dass Menschen keine einheitlichen, aufeinander
abgestimmten Vorstellungen dahingehend haben, was den „Sinn des Lebens“ ausmacht. Sie
differieren in ihren „Globalvorstellungen“ darüber, wie ein gutes Leben gelebt werden kann –
die subjektiven Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit, kurz als „Faktum des
Pluralismus“ (Rawls) bezeichnet.11 Das ist ein Faktum, dem in modernen Gesellschaften nicht
9
Anders ist die Situation bekanntlich für “Fremde” nach dem nationalen Recht.
10
Hume 1739/40, 101.
11
Hume führt kurz aus, in welchen Fällen die Gerechtigkeit daher nicht zum Tragen kommen würde.
Dazu zählt er zwei Extreme: Erstens, wenn vollkommenes Chaos herrscht und sich niemand seines Eigentums
sicher sein kann, so dass es nur um das bloße Überleben, nicht aber um Fragen der Gerechtigkeit gehen kann.
Zweitens, wenn die Liebe so groß ist, dass für die Gerechtigkeit gar kein Raum bleibt, weil man sie aufgrund des
alle Probleme von vornherein konsumierenden Wohlwollens nicht braucht. (Holzleithner 2001, 239)
7
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entgangen werden kann. Es betrifft die ethischen, philosophischen und religiösen Grundlagen
von Gesellschaften.
Aus dem Konglomerat Mangel, Notwendigkeit sozialer Kooperation und Reproduktion,
Vorstellungen vom guten und richtigen Leben gehen jene Interessen hervor, die aufeinander
abzustimmen Aufgabe von Gerechtigkeit ist. Interessen sind keineswegs von vornherein
harmonisch (das wird nur im Kontext von kleinen Gemeinschaften, im speziellen der Familie
manchmal unterstellt12). Interessen tendieren dazu, miteinander zu kollidieren. Das Ideal, „an
einem Strang zu ziehen“, ist meist das Ergebnis aufwändiger Verhandlungen über Ziele und
Mittel zu deren Erreichung. Das bedeutet, Interessen müssen aufeinander abgestimmt werden.
Dabei ist es oft notwendig, partikulare Interessen, Präferenzen, die anderen Schaden zufügen
können, zu zügeln und sozial kompatibel zu machen. Es bedeutet demnach auch, Interessen
und Präferenzen zu hinterfragen.13
Ungerechtigkeit
Selbst ohne soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten wäre Gerechtigkeit somit eine
soziale Notwendigkeit. Als Antwort auf ein vielfältiges Problem mit verschiedenen
Gesichtern: das der Ungerechtigkeit14, ist sie noch brisanter. Gesellschaften sind geprägt von
weitreichenden Ungleichheiten unter Menschen – welche Arten von Ungleichheiten
gerechtfertigt werden und welche Ungleichheiten im Gegenteil Ungerechtigkeiten darstellen,
die bekämpft werden müssen, ist eine zentrale Frage, der sich Theorien der Gerechtigkeit zu
stellen haben.
Von der Gerechtigkeit zur sozialen Gerechtigkeit
Vor diesem Hintergrund eine Arbeitsdefinition von Gerechtigkeit als Grundlage für die
folgenden Ausführungen: Es handelt sich bei Gerechtigkeit um „jene Teilmenge moralischer
Forderungen, welche die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Menschen innerhalb
einzelner zwischenmenschlicher Handlungen, regelmäßiger sozialer Beziehungen oder
12
Sandel 1998; dazu kritisch Holzleithner 2001.
13
„Unlike a standard utilitarian approach, the capability approach maintains preferences are not always
reliable indicators of life quality, as they may be deformed in various ways by oppression and deprivation.
Unlike the type of liberal approach that focuses only on the distribution of of resources, the capabilty approach
maintains that resources have no value in themselves, apart from their rolein promoting human funcitoning. It
therefore directst the planner to inquire into the varying needs individuals have for resources and their varying
abilities to convert resources into funcitonoing. In this way, it strongly invites a scrutiny of tradition as one of the
primary sources of such unequal abilities. [fn 27]
14
Siehe Shklar 1990.
8
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dauerhafter gesellschaftlicher Verhältnisse betreffen und darauf abzielen, einen bei
unparteiischer Betrachtung allgemein annehmbaren Ausgleich zwischen den divergierenden
Interessen der Beteiligten herbeizuführen.“ (Koller 2001a, 24)
Machen wir nun einen weiteren Schritt und kommen wir zum Konzept der „sozialen
Gerechtigkeit“ – was ist das Besondere daran? Peter Koller, an dessen Begriffsverwendung
ich hier anknüpfen möchte, versteht darunter einen „Sammelbegriff, der sämtliche
Erfordernisse der Gerechtigkeit umfasst, die sich auf die soziale Ordnung oder Verfassung
ganzer Gesellschaften als übergreifender und relativ selbständiger sozialer Gemeinwesen
beziehen.“ (Koller 2001a, 35)
Das bedeutet: „Wenn von sozialer Gerechtigkeit die Rede ist, geht es um ganze
Gesellschaften, genauer: um deren Ordnung. Unter einer Gesellschaft soll dabei entsprechend
der üblichen Auffassung eine übergreifende soziale Einheit verstanden werden, die eine
Vielzahl von Menschen, welche ihrerseits zu kleineren sozialen Einheiten (wie Familien,
Gemeinden, wirtschaftliche Vereinigungen verbunden sind, durch wirksame soziale Normen
und Institutionen, ihre soziale Ordnung, zu einem relativ selbständigen, nämlich
selbsterhaltungs- und bestandsfähigen, im idealen Fall allgemein vorteilhaften Gesamtsystem
der sozialen Koexistenz und Kooperation zusammenfasst. (Koller 2001a, 34-35 mit Verweis
auf: Rawls 1971, 565ff]
Peter Koller bezieht sich bei dieser Definition auf ein großes Werk der politischen
Philosophie: John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. In einem „Neuentwurf“ hat Rawls kurz
vor seinem Tod seiner Theorie der „Gerechtigkeit als Fairness“ eine abschließende Form
gegeben. Ich möchte mich im Folgenden näher mit dieser Theorie auseinandersetzen, weil sie
die wohl meist diskutierte, prägendste Konzeption der politischen Philosophie des 20.
Jahrhunderts war. In meiner Profession kam und kommt niemand an Rawls vorbei: Sei es, um
sich abgrenzend an ihm abzuarbeiten, oder um die eigene Konzeption entlang seiner
auszuarbeiten.
Prinzipien der Gerechtigkeit (Rawls)
John Rawls steht für die Wiederbelebung der politischen Philosophie nach altem, großem
Anspruch. Anfang der siebziger Jahre veröffentlichte er sein großes Werk „Eine Theorie der
Gerechtigkeit“, mit dem er an Theorien des Gesellschaftsvertrags aus der philosophischen
9
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Aufklärung anknüpfte.15 Die Theorie der Gerechtigkeit stellt sich heute dar als eine
„politische Konzeption“ – eine Theorie, auf die man sich einigen können soll, egal, welche
Überzeugungen man sonst im Einzelnen hat. Solche Überzeugungen können politischer,
religiöser oder moralphilosophischer Natur sein. Damit antwortet Rawls auf das „Faktum des
Pluralismus“, der bei ihm ein „vernünftiger Pluralismus“ ist – so unterschiedlich die
Auffassungen sein mögen, sie konvergieren doch dahingehend, wie die Grundstruktur der
Gesellschaft eingerichtet ist.
Damit ist also Gegenstand seiner Theorie die Grundstruktur der Gesellschaft und jene
„Regulierungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um die Hintergrundgerechtigkeit für alle
Personen in der gleichen Form zu sichern, einerlei, welcher Generation sie angehören oder
welche soziale Position sie innehaben.“ (Rawls 2001, 94) Gesellschaft sieht Rawls als
„System der langfristigen Kooperation“, das unter der Anforderung der Fairness steht. Die
Bürgerinnen und Bürger kooperieren, „um die sozialen Ressourcen zum produzieren, auf die
sich ihre Ansprüche richten.“ (89)
Hinter seiner Theorie steht ein bestimmtes Bild vom Menschen, der sich auf Kooperation mit
anderen einlässt. Menschen sind in unterschiedlichsten Kontexten situiert, sie unterscheiden
sich voneinander auf vielfältige Weise, oft aus zufälligen Umständen: etwas was die „soziale
Klasse der Herkunft“ anbelangt, hinsichtlich ihrer „angeborenen Begabungen“ oder der
Wechselfälle des Lebens. (96) Auf solche Ungleichheiten hat eine Gesellschaft zu antworten.
Jenseits aller Unterschiede aber erkennt Rawls fundamentale Gleichheit unter den freien
Personen. Er schreibt ihnen zwei Vermögen zu, die sie qua Menschsein haben: die Anlage zu
einem Gerechtigkeitssinn sowie die „Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen,
[sie] zu vertreten, zu revidieren und rational durchzusetzen.“ (44)
Für letzteres brauchen sie bestimmte Güter, die ihnen erst ermöglichen, ein gutes Leben zu
leben, egal, was sie dafür im einzelnen halten. In diesem Zusammenhang entwickelt Rawls
eine Liste von Grundgütern. Das sind „Dinge, welche die Bürger als freie und gleiche, ein
ganzes Leben führende Personen benötigen“. Die Liste der Grundgüter ist also im
Zusammenhang mit einer politischen Konzeption der Person als freies und gleiches Wesen
das in kooperativen Zusammenhängen steht, zu verstehen.
Diese Grundgüter sind die folgenden (Rawls 2001, 100-101):
1) Grundrechte und Grundfreiheiten
15
Siehe zu diesen Theorien nur Kersting 1994.
10
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2) Freiheit des Ortswechsels und der Berufswahl (Mobilität)
3) Macht und Privilegien von Ämtern und Positionen
4) Einkommen und Vermögen im Sinne von Allzweckmitteln (mit Tauschwert)
5) Soziale Basis der Selbstachtung im Sinne jener Aspekte grundlegender Institutionen, die
normalerweise unentbehrlich sind, damit die Bürger als Personen ein prägnantes
Selbstwertgefühl entfalten können und in der Lage sind, ihre Ziele mit Selbstvertrauen zu
fördern.
Zu diesen Institutionen gehört etwa auch die „Familie“ als jener Primärbereich, in dem jene
Haltungen und Gewissheiten allererst vermittelt werden. Familie kann nach Rawls durchaus
nichttraditional gefasst sein. Heterosexualität und Monogamie sind für ihn keine notwendigen
Kriterien – der alte Rawls hat sich in einer Fußnote sogar ein klares Bekenntnis abgerungen:
„Wie man sieht, ist mit dieser Feststellung angedeutet, in welcher Weise die Konzeption der
Gerechtigkeit als Fairness mit der Frage der Rechte und Pflichten von Schwulen und
Lesbierinnen umgeht. Sofern diese Rechte und Pflichten mit einem geordneten Familienleben
und der Erziehung der Kinder in Einklang stehen, ist ceteris paribus gar nichts dagegen
einzuwenden.“ (251)
Nachdem wir nun all diese Informationen gesammelt haben: was eine Gesellschaft ist, wie
Menschen darin situiert sind, was Menschen unterscheidet und was ihnen gemeinsam ist,
können wir nun die Frage stellen, wie es dazu kommt, dass eine solche Gesellschaft auch fair
ist. Wie stellt sich Rawls eine faire Gesellschaft vor, oder, wie er selbst schreibt, eine
„wohlgeordnete Gesellschaft“? Eine solche Gesellschaft zeichnet sich für ihn dadurch aus,
dass ihre Grundstruktur mit den (mittels der Methode des „Schleiers des Nichtwissens“
generierten) zwei Prinzipien der Gerechtigkeit in Einklang steht (Rawls 2001, 78):
1) Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System
gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
2) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens
müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer
Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten
begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).
Das erste Prinzip geht dem zweiten Prinzip vor. Es betrifft überdies die wesentlichen
Verfassungselemente, gehört nach Rawls also zu jenen fundamentalen Normen, die als
höchstes Recht den Staat organisieren sollen. Es etabliert ein „gerechtes konstitutionelles
11
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Staatswesen“ (85). Dabei geht es (auch) um Fragen des Erwerbs und der Ausübung
politischer Macht. Das zweite Prinzip sorgt demgegenüber für die Einrichtung von
Hintergrundinstitutionen der sozialen und ökonomischen Gerechtigkeit in der Form, die den
als freie und gleiche Personen gesehenen Bürgern am angemessensten ist.“ (85)
Sphären der Gerechtigkeit (Walzer)
Als zweiten Theoretiker möchte ich in diesem Zusammenhang Michael Walzer feststellen.
Walzer meint, dass die Rawls’sche Theorie zu abstrakt und abgehoben ist, um für das
„wirkliche Leben“ und „reale Staaten“ relevant sein zu können. Um eine solche
Anknüpfungsfähigkeit der Theorie an die Praxis zu gewährleisten, unterscheidet Walzer
verschiedene „Sphären“ der Gerechtigkeit. Wie unterscheiden sich die Sphären der
Gerechtigkeit von Rawls’ „Institutionen einer gerechten Grundstruktur“ und wie verhält sich
Walzers Theorie zur Rawls’schen Konzeption von „Grundgütern“?
Zunächst nochmals zum zentralen Vorwurf, den Walzer Rawls macht: Rawls’ Theorie sei
übermäßig abstrakt; sie vernachlässige die konkreten Gerechtigkeitsvorstellungen, wie sie
sich entwickelt haben im Zusammenhang mit jenen Gütern, die in der Gesellschaft zur
Verteilung gelangen. Darüber komme bei Rawls der Begriff der Gemeinschaft zu kurz; er sei
inadäquat, wie auch sein Personenbegriff, der die Menschen als zu flexibel sehe und zu stark
von den Nöten und Sorgen des Alltags, ihrem starken Identitätsgefühl abstrahiere. Zudem sei
Rawls’ Begriff der Gesellschaft zu wenig differenziert – er vernachlässige die Trennung der
Gesellschaft in unterschiedliche Sphären, in welchen je bestimmte Güter zur Verteilung
gelangen. Die Verteilungskriterien für diese Güter seien nicht abstrakt zu bestimmen, sondern
nur geschichtlich-konkret. Mit der Vielfalt der Güter und der Sphären, innerhalb derer sie
verteilt werden, ergebe sich auch ein Pluralismus der Kriterien und Verfahren der Verteilung.
Die Sphären, von denen hier die Rede ist, sind etwa folgende: Mitgliedschaft in Verbänden,
Sicherheit und Wohlfahrt, Geld und Waren, politische Ämter, Harte Arbeit, Freizeit, Bildung,
Verwandtschaft und Liebe, Divine Grace.
Von dieser Diagnose gelangt Walzer zu seiner Konzeption der Gerechtigkeit. Güter dürfen in
den Sphären, denen sie zugehören, nur nach jenen Kriterien verteilt werden, welche sich
historisch für ihre Verteilung als angemessen herauskristallisiert haben. Kein Gut darf somit
aus dem „falschen Grund“ verteilt werden. Er fasst diese Vorgabe in die Formel des „offenen
Distributionsprinzips“: „Kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer
und Frauen, die im Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und allein deshalb verteilt
werden, weil sie dieses Y besitzen.“
12
Holzleithner
Recht und Soziale Gerechtigkeit
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Auf diese Weise versucht Walzer, abstraktes und konkretes zu verbinden und eine tyrannische
Überschreitung der Sphärengrenzen zu verhindern. Besonders befürchtet er eine „Tyrannei“
des Geldes, dass also das Geld als Kriterium alle anderen, genuinen Verteilungskriterien in
den einzelnen Sphären verdrängt.16
Die Rolle von Rechtsprinzipien (Alexy, Dworkin)
Welche Relevanz haben die hier vorgestellten Prinzipien der Gerechtigkeit? Ist es das eine,
über solche Prinzipien zu schwadronieren, das andere aber, von Recht zu reden? Wie haben
Recht und Rechtsprinzipien, die Gerechtigkeit gewährleisten sollen, „wirklich“ miteinander
zu tun, wie sind sie, gegebenenfalls, miteinander vernäht?
Rechtsprinzipien können im Recht selbst verankert sein, sie können aus dem Recht
erschlossen17 werden oder sie dienen zur Anleitung der Interpretation von Recht wie das
Prinzip der Verhältnismäßigkeit: Es gebietet etwa, dass die Beschränkung von Grundrechten
durch rechtliche Maßnahmen nur dann zulässig ist, wenn solche Maßnahme durch das
öffentliche Interesse geboten sind. Die dabei aufgewendeten Mittel sollen an sich tauglich und
auch adäquat sein, um die Beeinträchtigung des öffentlichen Interesses hintan zu halten.
Prinzipien wie jene der Verhältnismäßigkeit verhindern einen allzu freihändigen Umgang mit
politischen Zielen, welche mit Grundrechten kollidieren können. Ihre Legitimität ist gegen
Grundrechte abzuwägen.
Explizit im Recht verankerte Prinzipien sind etwa Grundrechte. Diese sind nicht bloß
verfassungsmäßig verankerte subjektive Rechte, deren Gewährleistung gerichtlich
eingemahnt werden kann. Sie sind darüber hinaus auch leitende Prinzipien für die
Gesetzgebung und in der Gesetzesprüfung. Dies ist insbesondere bei sozialen Grundrechten
von großer Bedeutung, deren Durchsetzung im Einzelnen nicht gewährleistet sein mag. Oft
sind sie bloß „soft law“, weil sie nicht in subjektive Ansprüche transformierbar, nicht
„justiziabel“ sind. Allerdings vermögen sie die Rechtssetzung anzuleiten und stellen einen
permanenten Appell an den Gesetzgeber dar, „institutionelle Garantien zu schaffen, die dazu
geeignet sind, das bestehende rechtliche Niveau sozialer Gewährleistungen zu sichern bzw.
die Rechtspolitik in Pflicht nehmen, dieses Niveau zu verbessern.“ (Luf 2003, 77)
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Wie Rawls befasst sich auch Walzer mit der Frage nach der Rolle, welche der Familie in einer Theorie
der Gerechtigkeit zukommen kann – in seinem Kapitel „Kinship and Love.“
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Rechtsgrundsatzanalogie.
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Holzleithner
Recht und Soziale Gerechtigkeit
Vortragsmanuskript 2004
Ein Rechtsprinzip legt, wird es, wie das Gleichheitsgebot, verfassungsrechtlich verankert,
über einfache Gesetzgebung und Rechtsanwendung einen weiten Weg zurück. Es ist das eine,
sich zu einem Grundsatz zu bekennen. Wenn aus dem Prinzip allerdings strenge rechtliche
Vorgaben generiert werden, dann hört sich der Spaß des Beschwörens schnell auf: Er kann
sich in den lästigen Details der Anwendung rigider Vorschriften verlieren, die der
Durchsetzung des Prinzips dienen sollen. Hehre Prinzipien können so in Normen gegossen
sein, die als schikanös wahrgenommen werden. Manchmal sind sie das auch, manchmal nicht.
Es ist wichtig, die Fairness solcher Normen zu beobachten und zu sehen, inwieweit sie
Menschen, die sie unterstützen sollen, nicht illegitime Lasten auferlegen. Anwendungsfelder,
die dies belegen, sind etwa jene der sozialen Unterstützung von Menschen, die nicht im
Arbeitsprozess stehen – Stichwort Sozialhilfe und Arbeitslosenunterstützung.
Prinzipien können in Recht umschlagen. Beispiel Defrenne 1976: Hier hatten sich die
Vertragsstaaten darauf berufen, der im EG-Vertrag festgelegte Grundsatz des gleichen
Entgelts von Männern und Frauen erschöpfe sich darin, auf die Zuständigkeit der nationalen
gesetzgebenden Gewalten zu verweisen. Das Prinzip sei eben nur ein Prinzip, und wenn man
sich nicht daran halte, dann sei das Angelegenheit des Mitgliedsstaats. Mitnichten, beschied
der Europäisch Gerichtshof den Mitgliedstaaten, jener Grundsatz sei nicht einfach nur
irgendein Grundsatz, sondern ein unmittelbar den Mitgliedstaaten gegenüber einforderbares
Recht.
Wie steht es um rechtliche Ansprüche im Lichte konfligierender Prinzipien? Richten wir aus
aktuellen Gründen den Blick auf Kalifornien. Die dortige Verfassung beinhaltet das Prinzip
der Nichtdiskriminierung u.a. aufgrund der sexuellen Orientierung. Die Definition der Ehe ist
seit 1977 jene einer Institution, in der Mann und Frau miteinander verbunden werden. Der
Bürgermeister von San Francisco ist der Meinung, dass hier das einfache Recht gegen die
verfassungsgesetzlichen Grundsätze verstößt. Er hat daher begonnen, Ehezertifikate an
gleichgeschlechtliche Paare auszuteilen. Er beruft sich dabei auf das höhere Recht. Der
Ausgang dieses Aktes einer sehr freihändigen rechtlichen Interpretation ist ungewiss.
Jedenfalls ist ein politischer Prozess in Gang gesetzt, der beträchtliche Auswirkungen auf die
„soziale Gerechtigkeit“ innerhalb der amerikanischen Gesellschaft haben wird. Er wird
zunächst bei den Gerichten liegen, diese werden womöglich die Entscheidung an die
Parlamente delegieren. Die Entscheidung wird im Namen des höchsten Rechts getroffen
werden. Fragen der Gerechtigkeit werden so oder so eine Rolle spielen.
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Holzleithner
Recht und Soziale Gerechtigkeit
Vortragsmanuskript 2004
Recht ist, wie Ronald Dworkin sagt, ein Instrument, „mit dem sich die Gesellschaft
bestimmten umfassenden Zielen näher bringen lässt“. Im Kern sind die Fragen nach diesen
Zielen Fragen der sozialen Gerechtigkeit. Sie sind Anforderungen an die Gesetzgebung
genauso wie an die rechtsanwendenden Organe. Jede geschichtlich eingelöste Verwirklichung
von Gerechtigkeit im Recht wird, darauf weist Gerhard Luf hin, immer auch und erneut zu
einem Problem der Gerechtigkeit. Es handelt sich hier um eine unaufhebbare Dialektik von
Anspruch und je kontingenter Einlösung. Dies ist im Rechtsdiskurs präsent zu halten.
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