Sinnesleistungen bei Tieren

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Kantonsschule Kreuzlingen
Klaus Hensler
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Sinnesleistungen bei Tieren
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Akkommodation ..............................................................................................
Die Entwicklung zum Linsenauge .................................................................
Das Auge der Vögel ......................................................................................
Besonderheiten bei Vögeln ...........................................................................
Die Augen von Oberflächenfischen ................................................................
Die Augen der Tiefseefische ..........................................................................
Sehen und Tarnung bei Tintenfischen ...........................................................
Beispiele für spezielle Linsenaugen bei Nicht-Wirbeltieren (Invertebraten) ...
Linsenaugen und das Sehen der Spinnen .....................................................
Das Sehen mit Facettenaugen ......................................................................
Temperaturwahrnehmung – Beispiele ............................................................
Infrarotrezeption ............................................................................................
Chemische Sinne – Allgemeines ....................................................................
Riechen bei den Insekten ..............................................................................
Chemische Kommunikation der Insekten ......................................................
Die geruchliche Kommunikation bei Insekten ................................................
Mechanische Wahrnehmung bei Spinnen .....................................................
Das Seitenliniensystem von Fischen ..............................................................
Die Ortung von Beute anhand von Oberflächenwellen ..................................
Beispiele für die Kommunikation über den Boden (seismische Signale) .......
Elektrorezeption .............................................................................................
Kommunikation und Ortung mit elektrischen Feldern ....................................
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Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
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Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
1. Akkommodation
Zweck des dioptrischen Apparates ist es, auf der
Netzhaut ein scharfes Bild des Sehfeldes entstehen
zu lassen. Für parallele Lichtstrahlen, ausgehend
von entfernten Gegenständen, muss daher die Retina
in der Bildebene der Dioptrik liegen. Für näherliegende Gegenstände würde die Bildebene aber aus
dem Auge herauswandern. Durch eine Erhöhung der
Brennweite können auch nahe Gegenstände auf der
Retina scharf abgebildet werden, das Auge akkommodiert auf unterschiedliche Blickentfernungen.
Die Gesamtbrennweite des Auges wird variiert
durch:
• Verschieben der Linse,
• Veränderung des Krümmungsradius der Linse.
In Ruhe sind die Augen auf diejenige Sehentfernung
scharf eingestellt, die bei der Lebensweise . des
Tieres vorherrscht, bei vielen Säugetieren und beim
Menschen z.B. auf Ferne, bei Knochehfischen dagegen auf Nähe. Tiere mit kurzbrennweitigen Augen
erzielen Netzhautbilder hoher Tiefenschärfe, ihr
Akkommodationsbedarf hält sich daher in Grenzen.
Bei den einzelnen Tierklassen gibt es unterschiedliche Akkommodationsmechanismen (Abb.
9.24):
Die Augen der primitiven Rundmäuler,
Cyclostomen, sind in Ruhe auf Nähe eingestellt. Bei
Fernakkommodation drücken die Tiere mit einem
Corneamuskel die Hornhaut nach hinten und schieben so die Linse näher an die Retina heran.
Die Selachier dagegen haben als Raubfische
Augen, die in Ruhe auf Ferne eingestellt sind. Durch
die Kontraktion eines Ziliarringmuskels, der die
Linse an ihrem Platz hält, wird die Linse nach vorne
gedrückt und so auf Nähe fokussiert.
Knochenfische akkommodieren auf Ferne mit
Hilfe des Musculus retractor lentis, der die Linse zur
Retina hin und etwas nach unten zieht. Damit wird
eigentlich nur die ventrale Retinahälfte fern-akkommodiert, die das obere Sehfeld abbildet. Fische
haben· meist Kugellinsen und damit keine definierte
optische Achse, so dass Licht aus allen Richtungen
des Sehfeldes gleich gut abgebildet wird.
Schildkröten, Schlangen, Echsen Vögel haben
Augen, die in Ruhe auf Ferne eingestellt sind. Sie
akkommodieren auf Nähe, indem sie die Linse mit
den Ziliarmuskeln nach vorne drücken und dabei so
verformen, dass sich der Krümmungsradius der
Linsenvorderfläche verkleinert.
Das in Ruhe auf Ferne eingestellte Auge der
Säuger hat einen grossen Linsen-Krümmungsradius
durch die straff gespannten Zonulafasern, welche
die Linsenflächen flach halten. Kontrahiert sich der
Ziliarmuskel, wird die Linse entsprechend ihrer
natürlichen Elastizität runder, d.h. der Linsenradius
wird kleiner und das Auge akkommodiert auf die
Nähe.
Schliesslich gibt es noch durch Schrägstellungen
der Netzhaut die Möglichkeit, einen Teil der Retina
permanent auf Ferne, den anderen auf die Nähe
fokussiert zu halten. Bei Säugetieren haben
Weidetiere, wie z.B. das Pferd, eine schräggestellte
Retina, so dass deren obere Hälfte einen weiten und
die untere einen kurzen Abstand zur Linse hat.
Damit wird die Weidefläche nahfokussiert auf der
dorsalen Retinahälfte abgebildet und das Sehfeld
über dem Horizont fernfokussiert auf der ventralen.
Im Prinzip entspricht das einer Verlaufsbrille für
Altersweitsichtige.
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Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
2. Die Entwicklung zum Linsenauge
Unter dem evolutiven Druck zum Bildsehen organisieren sich bei den meisten Tieren die Photorezeptoren zu
einer Retina. Diese zunächst epidermalen, photosensitiven Rezeptorenraster brauchen optische Abbildungsmechanismen, um eine passable räumliche Bildauflösung zu erreichen (Abb. 9.8). Photorezeptorflächen
senken sich zu einer Grube ein (Grubenaugen), verengen sich zu einer Lochkamera, verschliessen sich mit
einer hyalinen Epithelschicht zu einem Blasenauge und
bilden schliesslich in der Blase noch eine Linse aus
(Linsenaugen) (Abb. 9.9).
In der Evolution des abbildenden Systems war die
Entstehung der Linse ein wichtiger Fortschritt. Bei den
Tintenfischen ist z.B. das Retinabild in der linsenlosen
Lochkamera des Nautilus sechsmal dunkler als das im
Linsenauge anderer Tintenfische. Je enger die Öffnung
für eine bessere räumliche Auflösung gemacht wird,
desto lichtschwächer wird das Auge. Linsen liefern dagegen gute räumliche Auflösung bei hoher Lichtstärke.
Die Linsen vieler Wassertiere sind Kugellinsen, die
den Durchmesser der Beugungsscheibchen minimieren.
In der Regel liefert die Kugelform allein kein scharfes
Retinabild, weil ihre Brennweite für den kurzen
Abstand zur Retina zu lang ist. Dieses Problem löst die
inhomogene Linse mit einem von der Linsenmitte zum
Rand hin kontinuierlich absinkenden Brechungsindex
von ca. 1,52 auf 1,4. Dieser Linsentyp, 1877 bei
Fischen von Matthiessen entdeckt, vermindert die
sphärische Aberration und wirft scharfe Bilder auf die
Retina. Nach der “Matthiessen-Regel” entspricht die
Brennweite solcher Linsen etwa dem 2,5-fachen
Linsenradius. Die “Matthiessen-Linsen” liefern bei
guter Lichtstärke eine hohe räumliche Auflösung. Dieser Linsentyp entstand wenigstens siebenmal unabhängig voneinander bei Fischen, Tintenfischen, Anneliden
und vier verschiedenen marinen Gastropodengruppen.
Landtiere mit Linsenaugen können die Cornea zur
Lichtbrechung einsetzen. Etwa 2/3 der Brechkraft
kommt von der Cornea, und die Linse dient in erster
Linie zur Brennweitenanpassung (Akkommodation).
Die sphärische Aberration solcher Cornea-LinsenSysteme kann auf drei Wegen korrigiert werden:
•
•
Die Brechungsindices der Cornea verlaufen inhomogen, ähnlich wie bei einer Matthiessen-Linse.
Solche Augen haben eine Hauptachse exzellenter
räumlicher Auflösung und eine schlechter auflösende Peripherie. Nach diesem Prinzip sind die Augen
des Menschen und von Tieren mit ausgeprägtem
fovealern Sehen gebaut.
Die Cornea bleibt unkorrigiert, und die Linse übernimmt diese Aufgabe. Dies ergibt eine akzeptable
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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räumliche Auflösung über ein weites Gesichtsfeld
(z.B. das Auge der Ratten).
Eine zusätzliche konkave Linse auf der Retinaoberfläche direkt vor der Fovea vergrössert das Bild
durch eine bis zu 50%ige Brennweitenverlängerung.
So unterschiedliche Tiere wie Adler und
Springspinnen sollen eine solche negative Linse
haben. Beide müssen aus grosser Entfernung eine
zur eigenen Körpergrösse relativ kleine Beute
detektieren und präzise lokalisieren können.
Tiere, die sowohl im Wasser als auch in der Luft gut sehen wollen, müssen sich etwas einfallen lassen. Pinguine und Seehunde haben plane Corneae, die wie Fensterscheiben wirken. Die ganze Brechkraft kommt von
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der Linse. Tauchvögel verformen ihre Linsen, womit sie
die Brennweite in einem weiten Bereich von ca. 80
Dioptrien akkommodieren können. Beim Tauchen zieht
der Ziliarmuskel die Linse nach vorne, so dass sie durch
den starren Irisring hindurchgedrückt wird und damit
einen kleinen Krümmungsradius, also eine hohe
Brechkraft, erhält.
Stammesgeschichtlich interessant ist das Material, aus
dem die glasklaren Linsen bestehen. Es handelt sich um
ca. 10 hochkonzentrierte, lösliche Proteine, die
Kristalline. Diese ähneln den stammesgeschichtlich
sehr alten heat-shockProteinen. Neben den Kristallinen
bestehen die Linsen der Wirbeltiere bis zu 40% aus
Proteinen, die in anderen Geweben als Enzyme eingesetzt werden.
Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
3. Das Auge der Vögel
Mit Ausnahme der Nachtraubvögel und einiger
weniger anderer Arten sind Vögel tagaktive Tiere.
Dementsprechend dominiert das Sehen die
Sensorik. Die Vogelaugen sind die relativ grössten
unter den Wirbeltieren und nehmen ca. 50% des
Kopfvolumens in Anspruch, im Gegensatz zu nur
5% beim Menschen (Abb. 9.29 a). Kleine Eulen
(Strix aluco) haben ein Auge, dessen optische Achse
4,5 mm länger ist als die des Menschenauges. Da bei
Vögeln auch die Pupillen relativ weiter als bei
Säugern sind, schneller reagieren und einen grösseren Dynamikbereich haben (bei Tauben kann die
Pupille innerhalb von 1–2 s auf maximal 1/9 verengt
werden), entsteht auf der Vogelretina ein lichtstarkes
und sehr scharfes Bild.
Singvögel und andere Vögel, die eine weite
Umgebung nach Raubfeinden absuchen, haben flache Augen mit verkürzter optischer Achse (Abb.
9.29b). Dies entspricht einem Weitwinkelsystem mit
grosser Tiefenschärfe und geringer räumlicher
Auflösung. Raubvögel dagegen haben kugelige bis
elongierte Augen mit hoher räumlicher Auflösung.
Eulen und andere Nachtraubvögel besitzen typische,
grosse Nachtaugen mit weiter Cornea und Pupille
und grossen Kugellinsen, die hohe Lichtstärke bei
guter räumlicher Auflösung liefern.
Die grossen, seitlich stehenden Vogelaugen ergeben ein weites, hauptsächlich monokulares Sehfeld,
das nahezu 360° umfassen kann. Nach vorne entsteht ein schmales binokulares Feld, das je nach
Lebensweise durch nach vorne gestellte Augen oder
durch Augenbewegungen erweitert sein kann (Abb.
9.30). Reiher und Störche haben für ihre gezielten
Schnabelhiebe ein binokulares Sehfeld von ca. 25°.
Bei Eulen, die bei Nacht auf die Stereopsis (s. S.
440) für die Entfernungsbestimmung zur Beute
angewiesen sind, überlappen die Sehfelder beider
Augen um nahezu 50° auf Kosten eines blinden,
nach hinten gerichteten Sektors von 160° (Abb.
9.31). Das frontale, binokulare Sehfeld kontrolliert
die Eigenbewegungen der Vögel und spielt deshalb
unabhängig von seiner Ausdehnung für das
Verhalten eine grosse Rolle.
Vögel sehen den grössten Teil der Umgebung
monokular und können die beiden Augen getrennt
auf verschiedene Entfernungen akkommodieren.
Die Augen können auch unabhängig voneinander
bewegt werden, so dass z.B. ein Star mit einem
Auge die Schnabelumgebung am Boden und mit
dem anderen den Himmel kontrollieren kann. Der
Sektor des Umfeldes, den Vögel in ihrem Sehfeld
betrachten, hängt mit der Ernährungsweise zusammen. Vögel, die mit dem Schnabel gezielt auf die
Beute zustossen, erfassen optisch das frontale
Umfeld vom Zenith bis zu den Zehen, wobei ein
meridianes Band binokular gesehen wird.
Raubvögel, die ihre Beute mit ihren Klauen greifen,
haben ein breites, binokulares Frontal-Sehfeld, das
aber nahe Bereiche, z.B. den eigenen Schnabel,
nicht mehr erfasst. Vögel, welche wie die Schnepfe
die Beute unterm Laub ohne Sichtkontrolle suchen,
können ebenfalls ihren eigenen, langen Schnabel
nicht sehen. Durch eine entsprechende
Augenstellung im Kopf ist das Sehfeld der Schnepfe
nach oben gedreht und erfasst monokular das
gesamte Luftfeld vorne und hinten über den ganzen
360°-Umfang (Abb. 9.30).
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren – Augen
4. Besonderheiten bei Vögeln
Doppelte Fovea bei Vögeln
Die meisten Vögel haben eine höhere Photorezeptorendichte als die Säuger und der Mensch.
Der Anteil der Rezeptortypen hängt von der Lebensweise ab und schwankt von einem Stäbchen/
Zapfen-Verhältnis von 89: 11 bei Eulen bis 11: 89
bei Schwalben. Unter den Zapfen kann der Anteil
der Doppelzapfen (s. S. 467) bis zu 50% betragen.
Während Säuger zwei bis drei verschiedene Farbzapfen haben, sind es bei Vögeln vier bis fünf.
Die meisten Vögel haben zwei Foveae, eine temporale für das binokulare und eine zentrale für das
monokulare Sehen (Abb. 9.31). Die temporale ist
besonders ausgeprägt bei den Raubvögeln, die ihre
Beute von Bäumen aus oder aus der Luft schlagen.
Eulen, für die das binokulare Sehen für die
Entfernungsbestimmung bei Nacht besonders wichtig ist, haben nur eine temporale, binokulare Fovea.
Beim Flug fliesst das Sehfeld kontinuierlich von
temporal nach nasal über die Retina, so dass das
Bild
der
Umgebung
mit
wachsender
Fluggeschwindigkeit immer rascher über die
Netzhaut wandert. Um im Flug nicht nur eine verwischte Umgebung zu sehen, ist die zeitliche
Flimmer-Verschmelzungs frequenz bei Vögeln mit
mehr als 100 Hz wesentlich höher als bei Säugern
(ca. 40-60 Hz). Ein Falke kann selbst im Sturzflug
mit einer Geschwindigkeit von 67 m/s einzelne
Objekte räumlich klar auflösen.
Das Sehsystem der Vögel ist vor allem auf neuronaler Ebene weit weniger untersucht als das der
Säuger, obwohl bei dieser Tierklasse durch das
Fliegen dem Sehen bei der zeitlichen und räumlichen Auflösung und generell beim Farbensehen
besondere Leistungen abverlangt werden.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Das Sehen bei Wasservögeln
Wasservögel müssen über und unter Wasser gut
sehen können. Beim Eintauchen ins Wasser verliert
aber die Cornea einen Grossteil ihrer Brechkraft.
Einige Arten, wie z.B. die Pinguine, verringern diesen raschen Brechkraftwechsel dadurch, dass sie die
Cornea nahezu plan machen. In Luft trägt damit die
Cornea wenig zur Gesamtbrechkraft des Auges bei,
und in beiden Medien wirkt sie eher wie eine
Fensterscheibe. Viele Tauchvögel kontrahieren beim
Eintauchen ins Wasser den breiten Ziliarmuskel,
wodurch die weiche Linse durch die Pupille nach
vorne gedrückt wird und eine stärkere Krümmung
erhält. Damit lässt sich in weniger als einer Sekunde
die Brechkraft der Linse erhöhen.
Ein besonderes Problem haben Reiher zu lösen,
die ins Wasser schauend mit ihrem Schnabel gezielt
eine Beute unter Wasser treffen müssen. Durch die
Lichtbrechung an der Wasser-/Luftgrenze wird ein
Objekt im Wasser an einer scheinbaren und nicht an
seiner realen Position gesehen, wie Abb.9.32 zeigt.
Für den Reiher ergibt sich ab einem bestimmten
Augenabstand zur Beute im Wasser ein linearer Zusammenhang zwischen gesehener und realer Objektposition:
reale Objekttiefe = 1,4 . scheinbare Objekttiefe -1,7
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Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
5. Die Augen von Oberflächenfischen
Anableps, das Vierauge
Wenn ein Fischauge an die Luft kommt, wird es
durch die zusätzliche Brechkraft der Cornea extrem
kurzsichtig. Das ist ein Problem für solche Fische,
die sich dicht an der Wasseroberfläche halten und
dort optisch nach Beute suchen. Das Vierauge,
Anableps anableps, lebt im Brackwasser der
Neotropen und ernährt sich vorwiegend von
Insekten der Wasseroberfläche (Abb.9.28). Mit der
oberen Augenhälfte schaut der Fisch direkt über den
Wasserspiegel, während die untere im Wasser bleibt
und nach unten schaut. Durch horizontale Irislappen
wird verhindert, dass Streulicht von der
Wasseroberfläche das Luftsehen stört. Dadurch wird
die Pupille zweigeteilt, wodurch der Eindruck von
jederseits zwei Augen entsteht. Die der Luft ausgesetzte Corneahälfte ist nur flach gekrümmt, erzeugt
also wenig Brechkraft. Die ovale Linse kehrt dem
Licht von der Wasseroberfläche ihre flache, dem Wasser ihre stark gekrümmte Seite zu. Durch die unterschiedlichen Krümmungsradii von Linse und Cornea
entsteht für den dioptrischen Apparat über und unter
Wasser eine ähnliche Brechkraft von 172 Dioptrien für
das dorsale und 180 Dioptrien für das ventrale Auge.
Die den Bereich über dem Wasserspiegel abbildende,
ventrale Retina enthält doppelt so viele Zapfen wie die
dorsale und erfährt eine geringere neuronale Konvergenz (5–12 Ganglienzellen pro 100 µm gegenüber
3–7 Ganglienzellen pro 100 µm in der dorsalen Retinahälfte).
Andere Fischarten, die zeitweise über dem
Wasser leben, z.B. Fische, die einen Teil des Tages
in Felsnischen der Spritzzone zubringen, haben die
Cornea zu Fensterscheiben abgeflacht. Die Cornea
erzeugt keine Brechkraft mehr und dient nur noch
zum Schutz des Auges. Fliegende Fische, die sich
auf der Flucht aus dem Wasser katapultieren und
weite Strecken in der Luft segeln können, haben
Corneae, die wie dreiseitige Pyramiden geformt sind
(Abb. 9.28c). Die Vorderseite schaut nach vorne
oben, die Hinterseite überwacht den hinteren
Luftraum gegen Raubvögel und die Unterseite der
Cornea schaut nach unten auf das Wasser. Alle drei
Flächen erzeugen auf der Retina ein passabel fokussiertes Bild.
Abb. 9.28c Die dreiseitige Pyramidenform der Corenea
bei fliegenden Fischen
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Die Stielaugen des Sandfisches
Wenn genügend Helligkeit zur Verfügung steht,
kann man das Problem höchster räumlicher
Auflösung im optischen Zielgebiet bei maximalem
Sehfeld auch ganz anders lösen. Der ca. 5 cm lange
Sandfisch Limnichthytes fasciatus lebt im gut durchleuchteten Flachwasser, gräbt sich in den Sand ein,
so dass nur die nach oben stehenden Augen herausschauen. Wie ein Chamäleon kann dieser Fisch die
Augen unabhängig voneinander in jede beliebige
Richtung drehen (Abb. 9.27). Hat der Fisch eine
geeignete Beute erspäht, schiesst er aus dem Sand
hervor, reisst aus ca. 20 cm Entfernung sein grosses
Maul auf und zieht mit dem Wassersog die Beute
herein. Für diese gezielte Saugaktion braucht der
Fisch eine genaue optische Entfernungsbestimmung. Diese Genauigkeit erreicht der Fisch durch
ein teleskopartiges Zweilinsensystem für die foveal
abgebildete Vorausrichtung (Abb. 9.27). Gegen alle
Regel bei Fischen ist die Linse nicht kugelig,
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sondern oval geformt, und die verdickte Cornea
bildet eine zusätzliche Cornealinse aus mit einer
Brechkraft von 200 Dioptrien. Zusammen mit der
Linsenbrechkraft (500 Dioptrien) entsteht für die
Hauptachse des Auges auf der Fovea ein vergrössertes Bild hoher Ortsfrequenz. Mit Cornealinse und
ovaler Linse funktioniert das Auge sowohl als
Zielfernrohr für foveales Hinschauen als auch als
optisch gut korrigiertes Weitwinkelsystem, das den
gesamten übrigen Sehbereich erfasst.
Die Sandfische bestimmen die Entfernung zur
Beute mit nur einem Auge. Ein besonderer Muskel
kontrolliert den Krümmungsradius der Cornea.
Damit kann ihre Brechkraft rasch verändert und die
Optik auf unterschiedliche Sichtweiten fokussiert
werden. Die Entfernung wird also aus der
Scharfeinstellung der Optik und nicht, wie bei
Säugern, aus binokulärer Triangulation ermittelt.
Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
6. Die Augen der Tiefseefische
Für Tiere, die im Wasser leben, fällt die Cornea als
lichtbrechende Fläche aus, weil ihr Brechungsindex
sich kaum von dem des Wassers unterscheidet. Die
Augenlinse liefert daher bei Fischen die ganze
Brechkraft. Fischaugen zeichnen sich durch grosse
Kugellinsen mit inhomogenen Brechungsindices
(Matthiessen-Linse) aus, die über das ganze Sehfeld
eine sphärisch gut korrigierte Abbildung hoher
Helligkeit liefern.
Die Netzhaut der Fische setzt sich aus Stäbchen,
Zapfen und häufig noch aus Doppelzapfen zusammen, die ein differenziertes Farbensehen ermöglichen (s. S. 465).
Fische haben vielfältige Adaptationsmöglichkeiten. Sie verfügen unter anderem über eine
umfangreiche Retinomotorik, indem entsprechend
der Hintergrundshelligkeit Pigmentgranula in den
Pigmentzellen wandern und Sehzellen durch
Myoide (Abb. 9.26) in das Pigmentepithel zurükkgezogen werden können.
Erstaunlich viele Fische leben in Meerestiefen,
in die kein Lichtstrahl oder nur noch spärliches
Sonnenlicht vordringt. Die dunkle Welt solcher
Fische ist optisch nicht oder nur noch schwach
strukturiert. In der dunklen Tiefseewelt vermögen
sie allenfalls kaum kontrastierende Umrisse und farbige Punkte zu sehen, die von den Leuchtorganen
stammen, mit denen viele Tiefseeorganismen ausgestattet sind. In dieser zweidimensional erscheinenden, dunklen Sehwelt entsteht für räuberische
Fische, die ihre Beute punktgenau lokalisieren müssen, ein Problem bei der Entfernungseinschätzung,
weil wichtige Entfernungsmerkmale der Sehwelt
wie relative Grösse, Teilverdeckung usw. fehlen.
Tiefseefische brauchten daher lichtstarke, räumlich
gut auflösende Augen (grosse Brennweite) mit
einem binokularen Sehfeld, um aus der Augapfelkonvergenz die Entfernung des angepeilten
Objekts bestimmen zu können. Solche Augen müssten so gross sein, dass sie im Kopf nicht mehr vernünftig unterzubringen sind. Mit der Entwicklung
von Tubulusaugen (Abb. 9.25) haben sich die
Tiefseefische insofern geholfen, als sie wenigstens
für einen schmalen Voraussektor des Sehfeldes
Binokularität mit einer grossen Brennweite verwirklicht haben. Dieses schmale binokulare Zielfeld
wird auf der kleinen Hauptretina am Boden des
Augentubulus fokussiert abgebildet. Das gesamte
übrige Sehfeld wird von einer seitlich weit umgreif
enden Cornea, in die oft ein transparentes
Sklerasegment einbezogen ist, und der grossen
Kugellinse im vorderen Drittel des Augentubulus
erfasst und auf einer linsennahen akzessorischen
Retina abgebildet. Diese Abbildung ist unscharf
Und dient lediglich der optischen Überwachung der
Umgebung. Dies ist der Preis, der für die
Zielgenauigkeit in Vorausrichtung zu bezahlen ist.
Die Netzhaut der Tubulusaugen ist in vielfältiger
Weise an das spärliche Licht in der Tiefsee angepasst. Die Retinae bestehen fast nur aus Stäbchen
mit sehr langen und dicht an dicht gepackten
Aussengliedern und einem Sehpigment, das maximal im Blau bei 470–480 nm absorbiert. Bei einigen
Arten sind die Aussenglieder der Stäbchen in bis zu
sieben Lagen übereinandergeschichtet .
Schliesslich reflektiert ein Tapetum lucidum
Restlicht auf die Retina zurück. Bei Knochenfischen, z.B., lagert sich reflektierendes Material in
die retinalen Pigmentzellen ein. Die Dichte der
Ganglienzellen bestimmt die räumliche Auflösung
des Auges. Sie ist im binokularen Sehfeld der
Hauptretina 60-mal grösser als im peripheren. Beim
Beilbauchfisch Argyropelecus, einem Räuber, der in
50–800 m Tiefe lebt, wurde eine maximale räumliche Auflösung von 6,6’ berechnet. Damit kann der
Fisch zwei Punkte in 6 m Entfernung noch auflösen,
wenn sie nur 1,13 cm voneinander entfernt liegen.
Das Bestreben, trotz eingeengtem Sehfeld im
Tubulusauge das gesamte Umfeld optisch beobachten zu können, hat nicht nur zu Nebenretinae,
sondern bei einigen Fischen auch zur Entwicklung
von Divertikelretinae und sogar Divertikelaugen
geführt (Abb.9.25).
Können Tiefseefische auch Farben sehen? Es gibt in
der Regel wenige Zapfen, die stets im binokularen
Retinafeld zu finden sind. Die Anzahl der
Sehpigmenttypen schwankt bei Tiefseefischen von
einem bis fünf. Eine Tiefseefischart hat z.B. in der
Hauptretina zwei Sehpigmente mit Amax bei 507 und
445 nm, und in der Nebenretina drei mit Amax bei
503, 479 und 443 nm. Eine Fischart (Malacosteus
spec.) trägt direkt unter den Augen ein Leuchtorgan,
mit dem sie wie mit einem Scheinwerfer den Boden
nach Krebsen absucht. Das Leuchtorgan strahlt ein
Rot ab, das von Krebspanzern gut reflektiert wird,
und die Fischretina besitzt ein Sehpigment, das
maximal im Rotbereich absorbiert. Die Netzhaut ist
noch von einem rotreflektierenden Tapetum hinterlegt. Bei der Vielzahl farbig leuchtender
Biolumineszenzen in der Tiefsee ist Farbtüchtigkeit
sicherlich von Vorteil, es gibt jedoch keine verlässlichen Untersuchungen hierzu.
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Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
7. Sehen und Tarnung bei Tintenfischen
Die räuberischen und schnellschwimmenden
Tintenfische sind auf besonders gute Sehleistungen
angewiesen. Ihr entwicklungsgeschichtlich ganz
anders entstandenes Auge als das der Wirbeltiere
weist zu diesem die funktionell vollkommensten
Konvergenzen auf (Abb.9.15b). Unter anderem
kann, wie bei Säugern, der Augapfel durch äussere
Muskeln in einer Augenhöhle gedreht, die an einem
Ziliarkörper aufgehängte Linse zur Scharfeinstellung des Retinabildes vor und zurückgeschoben
und die Pupille durch einen Ringmuskel rasch zu
einem schmalen Schlitz verengt werden.
Embryonal entsteht das Auge aus einer Einstülpung des Ektoderms. An der Berührungsstelle
zwischen eingesunkener Augenblase und dem
Epithel bildet sich aus beiden Epithelien die Linse.
Aus drei weiteren Ektodermfaltungen entstehen die
Iris mit der Pupillenöffnung, die Cornea und die
Augenlider. In der Retina werden die dicht an dicht
gepackten rhabdomerischen Sehzellen (20000
Rhabdomere/mm2) durch Stützzellen, die eine innere und eine basale plane Membrana limitans unterhalb der Rhabdomere bilden, in einer streng geometrischen Ordnung gehalten, wobei die gegenständigen Rhabdomere der Sehzellen sich zu einem rechtwinkligen Schachbrettmuster der lichtsensiblen
Mikrovilli zusammenfügen (Abb. 9.15c). Der
Augapfel steht unter einem hohen Binnendruck, der
von
einer
mechanisch
festen,
äusseren
Bindegewebsschicht, der Sklera, aufgefangen wird.
Zur Adaptation an unterschiedliche Helligkeiten
tragen Pigmentwanderungen und eine Retinomotorik bei. In den Seh- und Stützzellen ist
Pigmentgranula eingelagert, die bei hellem Licht
linsenwärts wandert und so die einzelnen Sehzellen
optisch abschirmt. Ausserdem kontrahieren sich die
Sehzellen und ziehen sich in diese Pigmentschicht
zurück. Die nervös gesteuerte Pupille kann auf
rasche Helligkeitsänderungen reagieren. Ähnlich
wie beim Menschen spiegelt die Pupillenweite aber
auch Erregungszustände wider, so weitet sich die
Pupille der Tintenfische bei Schreckreaktionen.
Durch Linsenverschiebungen kann das Tintenfischauge Gegenstände aus verschiedener Entfernung auf der Retina scharf abbilden. Bei Fernakkommodation zieht die Kontraktion des Ziliarmuskels die Linse etwas zurück und bei Nahakkomodation kontrahieren sich äussere Augenmuskeln am Sklerarand. Sie flachen damit den
Augapfel ab und schieben durch den erhöhten
Binnendruck die Linse etwas von der Retina weg.
Octopus kann aus Entternungen von ca. 2–4 m
Entfernungsunterschiede von nur 5 cm im Simultanvergleich zwischen linkem und rechtem Auge
erkennen. Es wird vermutet, dass die Tiere die
Entfernung dem Akkommodationsgrad entnehmen,
was bedeuten würde, dass Linsenverschiebungen
von 10 µm registriert werden.
Die rechtwinklige Anordnung der Mikrovilli und
damit der Rhodopsinmoleküle in der Retina liess die
Vermutung aufkommen, Tintenfische könnten polarisiertes Licht erkennen. Einige Verhaltenstests mit
verschiedenen Tintenfischarten haben gezeigt, dass
sie Muster polarisierten Lichts differenzieren können. Auch im Wasser ist das Licht, das von Objekten
wie Fischen, Pflanzen, Krebsen etc. reflektiert wird,
zu unterschiedlichen Graden polarisiert. Während
sich die Farbigkeit von Objekten wegen der
Blaufilterwirkung des Wassers mit der Wassertiefe
ändert, bleibt das reflektierte Polarisationsmuster
unverändert. Es könnte sich daher gut zur
Objektunterscheidung in tieferen Meeresschichten
eignen. . Eindeutige Beweise für die Objektunterscheidung und die optische Kommunikation mit
polarisiertem Licht fehlen jedoch bislang.
Die Sehleistungen sind in zahlreichen Verhaltenstests vor allem bei Octopus untersucht worden.
Dieser Tintenfisch baut sich in 10–40 m Meerestiefe
auf felsigem Grund eine Art Burg oder versteckt
sich im Fels oder im Sand und wartet als
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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Wegelagerer auf vorbeischwimmende Beute. Dabei
camoufliert er sich durch Farbanpassungen der Haut
sehr genau in seiner Umgebung. Unter der
Epidermis sitzen schwarze, gelbe und rotorange
Chromatophoren, an denen neuronal gesteuerte
Muskelfasern ansetzen (Abb. 9.17 a, b). Tintenfische
können sich mit diesen neuro motorisch gesteuerten
Chromatophoren einerseits perfekt an Helligkeit,
Farbtönung und die optische Struktur der
Umgebung anpassen, andererseits aber auch in
Sekundenschnelle
auffällige
komplexe
Hautzeichnungen erzeugen, die in Wellen über den
Körper hinweglaufen und den Tintenfisch optisch
herausheben. Diese Farb- und Musterwellen setzen
die Tiere als Kommunikationsmittel in unterschiedlichen Verhaltenszusammenhängen bei der Jagd,
Abwehr, allgemeiner Erregung oder bei
Werbespielen zwischen den Geschlechtern ein.
Die Steuerung der nahezu perfekten Anpassung
an die optische Struktur der Umgebung ist bis heute
ein Rätsel geblieben.
Oktopus, der sich in Struktur und Farbe an seine Umgebung
angepasst hat.
Baby Oktopus, mit schwarzen und orangen Chromatophoren,
18
Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
8. Beispiele für spezielle Linsenaugen bei Nicht-Wirbeltieren (Invertebraten)
Pilgermuscheln (Pecten)
Mollusken (Weichtiere) haben die unterschiedlichsten Lebensweisen entwickelt. Entsprechend weit
gefächert reicht das Spektrum des Sehens von diffuser Lichtempfindlichkeit an den Mantelrändern und
Siphonen bei Muscheln bis zu den leistungsstarken,
bildsehenden Linsenaugen der Tintenfische. Die
erstaunliche Vielfalt der Augen bei der kleinen Zahl
untersuchter Arten lässt den Erfindungsreichtum
erahnen, mit der dieser Tierstamm seine Lebensräume erobert hat.
Zu Berühmtheit brachte es Pecten (Abb. 9.14),
die zu den Kamm- und Pilgermuscheln gehört. Bei
Beschattung – ihr ärgster Feind sind Seesterne –graben sich die Muscheln in den Sand ein oder schnellen sich durch Rückstoss (impulsartiges Schliessen
der Schalen) über beachtliche Entfernungen aus der
Gefahrenzone. Am Mantelrand sitzen zwischen den
Tentakeln ca. 60 Linsenaugen mit jeweils Cornea,
Pupille und Linse (Abb. 9.14a). Das Auge besitzt
eine doppelte Retina, eine distale aus ziliären und
eine proximale aus rhabdomerischen Photorezeptoren (Abb. 9.14b). Die Linse hat eine Brennweite
von 1500 µm, dem steht ein Augendurchmesser von
nur 1000 µm gegenüber. Somit kann auf der Retina
keine optisch scharfe Abbildung entstehen. Pecten
löst dieses Problem durch eine Spiegeloptik.
Hinter der doppelten Retina ist aus Guaninplättchen und, mit dunklen Pigmentzellen hinterlegt,
eine spiegelnde Argentea aufgebaut. Sie wirkt als
Lamellenspiegel: Aufeinandergeschichtete Filme
mit einer optischen Dicke (reale Dicke ·
Brechungsindex) von einem Viertel der Wellenlänge
(A) des einfallenden Lichts reflektieren etwa 8% des
Lichts. Setzt man mehrere solcher Filme in A/4
Schichten und A/4 Abständen übereinander, so kann
man eine nahezu 100%ige kohärente Reflexion
erzielen, allerdings nur für die Wellenlänge, die der
Schichtdicke und den Schichtabständen entspricht.
Schichtspiegel werden in der Teleskoptechnik als
hochpolierte Metallspiegel exzellenter Güte eingesetzt. Ein solcher Lamellenspiegel stellt die
Argentea von Pecten dar. Die Wellenlängenabhängigkeit soll dadurch kompensiert sein, dass die
Schichtdicke und die Schichtabstände sich systematisch ändern, so dass letztlich wieder das ganze
Spektrum, also weisses Licht, reflektiert wird. Die
Argentea hat einen Radius von 410 µm, die
Brennweite des Spiegels beträgt also 205 µm (bei
Hohlspiegeln ist f = r/2). Er erzeugt in der Ebene der
distalen Retina ein scharfes, inverses Bild, wie
mikroskopische Bildaufnahmen gezeigt haben. Die
Linse selbst ist nur mehr für eine Korrektur der
sphärischen Aberration des Spiegels notwendig.
Pecten besitzt also 60 gute Linsenaugen, jedes
mit einer doppelten Retina und zwei getrennten
Sehnerven ausgestattet, und jedes Auge verfügt über
ein Sehfeld von 100°. Wieso Pecten in einem Biotop
und bei einer Lebensweise, bei der andere
Organismen mit einem Paar einfachen Augen auskommen, diese Information 60fach, und dabei auch
noch doppelt benötigt, und wie diese sich überlappenden Sehinformationen aus den 60 Augen zu
einem kohärenten neuronalen Bild der Umgebung
zusammengefügt werden, wären lohnenswerte
Fragen für eine vergleichende Neurobiologie.
Oben: Schalen von Pilgermuscheln
Unten: Augenreihen entlang der Schalenränder.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
Wie augenlose Schlangensterne sehen
Echinodermen haben keine Augen; man schrieb
ihnen bisher einen diffusen Hautlichtsinn zu. Ophiocomiden, langarmige kleine Schlangensterne, leben
im tropischen Flachwasser. Um den Raubdruck von
Fischen zu mindern, verstecken sich die Tiere tagsüber in Fels- und Geröllspalten. Es gibt Schlangensterne, die auf Licht kaum reagieren und andere, die
lichtempfindlich sind. Diese Arten meiden Licht und
suchen den Schatten und dunkle Spalten auf.
Schlangensterne schützen die Armgelenke mit
dorsalen Armschilden, die aus maschenartigen
Kalkspatkristallen (Stereomen) bestehen. Betrachtet
man die Kalkschilde unter dem Mikroskop, so sieht
man zwischen beiden Schlangensterngruppen einen
feinen Strukturunterschied: während die Kalkoberfläche bei lichtunempfindlichen Arten die Struktur
von Eierkartons hat, besteht sie bei einer lichtsensiblen Art (Ophiocoma wendti) aus einem Raster von
40–50 µm weiten Halbkugeln, welche die typische
Struktur von Doppellinsen aufweisen (Abb. 9.8b,c).
Im Experiment zeigt sich, dass jede dieser Kalkspatkugeln wie eine Mikrolinse wirkt und Licht auf
Nervenfasern fokussiert, die längs der Arme genau
in der Brennebene der Kalklinsen verlaufen. Neurophysiologische Versuche haben gezeigt dass diese
Nervenfasern lichtempfindlich sind, wenngleich der
direkte Nachweis von Photopigmenten in den
Nervenbündeln noch aussteht.
Der Öffnungswinkel der Mikrolinsen beträgt
etwa 10°, so dass jede Linse der gewölbten Schildoberfläche in eine andere Richtung schaut. Optisch
verhält sich jeder dorsale Armschild wie ein flach
gewölbtes Facettenauge. Da die Schlangensterne auf
jedem Arm mehrere dorsale Armschilde tragen und
die fünf Arme beweglich sind, können sie ihre
gesamte Umgebung optisch gut erfassen und aktiv
in unterschiedliche Richtungen schauen.
Im hellen Tageslicht bedecken Fortsätze von
Chromatophoren die Linsen und adaptieren somit
die Lichtempfindlichkeit der dorsalen Armschilde.
Die Schlangensterne sehen daher bei Tag einheitlich
braun aus. Bei Nacht ziehen sich die Chromatophoren zurück, und das Tier erscheint grau-schwarz
gebändert. Dieser Adaptationsmechanismus und die
optische Präzision der Mikrolinsen aus Kalkspat
belegen, dass bei diesen Schlangensternen von einem primitiven Hautlichtsinn keine Rede sein kann.
Das Beispiel der Linsenflächen auf den Armschilden von Schlangensternen zeigt eindrucksvoll,
wie in der Evolution durch eine einzige, kleine
Änderung, hier durch den Einbau der kugelförmigen
Kalkspatkristalle, eine Skelett- und Schutzstruktur
eine zusätzliche und gänzlich andere Funktion
bekommen kann.
20
Sinnesleistungen bei Tieren – optisch
9. Linsenaugen und das Sehen der Spinnen
Obwohl die Vorfahren der Spinnen noch ein Paar
Facettenaugen und ein Paar Ocelli (Linsenaugen)
hatten, besitzen die rezenten Spinnen nur noch
Linsenaugen, ein Paar nach vorne schauende
Hauptaugen, mit denen die Beute im Nahfeld lokalisiert und fixiert wird, und zwei bis drei Paar
Nebenaugen, die zur Detektion und zur allgemeinen Orientierung nahezu das gesamte Umfeld erfassen (Abb.9.19a,b). Die vorderen Nebenaugen (antero-lateral) schauen nach vorne unten, die posteromedianen nach oben und die postero-lateralen seitlich und nach hinten. Bei den tagaktiven
Springspinnen (Salticidae), die ihre Beute gezielt
anspringen, dominieren die Hauptaugen, während
bei den Nachtjägern (Dinopidae) und den
Wolfsspinnen (Lycosidae), die herumschweifend
jagen, die nach hinten bzw. zur Seite schauenden
Nebenaugen besonders gross sind. Die Retina der
Nebenaugen ist mit einem mehrschichtigen
Tapetum aus Guaninkristallen (Dicke pro Schicht
100 nm) hinterlegt, das als farbselektiver
Interferenzspiegel vor allem grün reflektiert. Mit
den Nebenaugen entdeckt die Spinne in einem weiten Sehfeld Beute, die sich bewegt. Die Spinne dreht
sich, bis das Objekt von den Hauptaugen erfasst
wird, die den Sehgegenstand identifizieren und
lokalisieren.
Spinnen sind kleine Tiere, und entsprechend
klein fallen die Linsenaugen aus. Daraus entsteht ein
Problem, weil die Lichtempfindlichkeit und das
räumliche Auflösungsvermögen von der Augengrösse abhängen.
Wenn ein Auge hohe räumliche Auflösung
braucht (grössere Brennweite, kleiner Rezeptorabstand), muss es Lichtempfindlichkeit aufgeben
und umgekehrt. Beides zusammen ist nur mit
grossen Augen zu haben.
Je nach Jagd- und Lebensweise sind die Augen
der Spinnen auf eine der beiden Sehfunktionen optimiert. Das zeigt sich schon in der Netzhautstruktur.
Die Retinae bestehen aus etwa 1000–10 000 rhabdomerischen Sehzellen,
Wie schon erwähnt, ist hohe räumliche Auflösung mit guter Lichtempfindlichkeit nur mit grossen
Augen zu haben. Die teleskopartigen Hauptaugen
der Springspinnen sind eigentlich solche grossen
Augen, die aus Platzmangel in dem kleinen Prosoma
auf ein schmales Segment mit einem engbegrenzten
0
Blickwinkel von nur 4–5 reduziert wurden
(Abb.9.19b). Zum Ausgleich für diesen Sehfeldverlust kann die schmale, hantelförmige Retina
durch sechs Muskeln bewegt werden und damit
interessierende Objekte im vorderen Blickfeld der
beiden anterolateralen Augen durch horizontale und
vertikale Retinabewegungen optisch abtasten.
Portia erreicht seine perfekte räumliche
Auflösung durch schmale Sehzellen mit einem
Durchmesser von nur 1,4 µm und einer Brennweite
von 2 mm, obwohl die Linse selbst nur eine
Brennweite von 1,27 mm aufweist. Vor der Retina
gibt es jedoch noch eine lichtbrechende, konkave
Fläche, die als zweite, negative Linse die Brennweite verlängert. Nach diesem Prinzip, mit einer
positiven und einer räumlich davon getrennten negativen Linse, werden auch die Telelinsen für
Photoapparate gebaut.
Je nach Grösse der Hauptaugen bei verschiedenen Arten liegt die maximale räumliche Auflösung
zwischen 2,3 und 5,6’. Arten, die im Wald leben,
erreichen in den Hauptaugen nur noch Auflösungen
von 5,8–17’, aber eine höhere Empfindlichkeit.
Das Verhalten der Springspinnen ist weitgehend
visuell gesteuert. Die lateralen Nebenaugen dienen
als Bewegungsdetektoren in einem weiten Sehraum.
Die vorderen Nebenaugen kontrollieren das
Jagdverhalten, wobei die beiden Hauptaugen innerhalb des Sehfelds der vorderen Nebenaugen das
Nahfeld bedienen. Sie leisten die Objektunterscheidung und steuern die Zupackmanöver. Bewegt
sich etwas irgendwo im Gesamtsehfeld, so orientiert
sich die Spinne auf das Objekt zu, wenn es sich
schnell bewegt und nicht doppelt so gross wie die
Spinne selbst ist. Sich schnell nähernde Objekte
lösen Flucht aus. Die Hauptaugen verfolgen (trakking) das Objekt, die Jagd wird jedoch von den vorderen Nebenaugen aus gesteuert, die nach vorne ein
binokulares Sehfeld bilden. Das Objekt wird im
binokularen Sehfeld gehalten und die Entfernung
zur Spinne bestimmt. Erst im Nahfeld wird mit Hilfe
der Abtastbewegungen der Retinae in den
Hauptaugen das Objekt identifiziert und als potentielle Beute, oder aber als Partner klassifiziert.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren – Augen
10. Das Sehen mit Facettenaugen
Sowohl so grosse Tiere wie Elefanten als auch so
kleine wie Spinnen kommen mit einem Linsenauge
zurecht. Wieso gibt es dann bei Arthropoden ein
ganz anders gebautes Auge, das zusammengesetzte
Facettenauge, das aus vielen gleichartigen Einzelaugen, den Ommatidien, besteht? Kleine Tiere
haben ein Problem, weil die wichtigsten Leistungsparameter des Auges, hohe Lichtempfindlichkeit und
gute räumliche Auflösung, mit der Grösse des Auges
korrelieren. Bei kleinen Linsenaugen wird die
Augengrösse genauso wie bei Facettenaugen weitgehend von der Länge der Sehrezeptoren bestimmt
(Abb. 9.101d). Bei gleicher Leistungsfähigkeit muss
das Linsenauge durch eine kleine Linse das gesamte Sehfeld erfassen, mit dem Ergebnis, dass nur das
mittlere Sehfeld scharf gesehen wird, die seitlichen
Gebiete aber, wegen der unumgänglichen Abbildungsfehler an den Rändern einer Linse, weniger
scharf sein werden. Dieses Problem haben Facettenaugen nicht, weil sie das gesamte Sehfeld mit einem
Satz von Einzelaugen abbilden, mit einer Vielzahl
von Linsen gleicher Qualität also, die das periphere Sehfeld genauso gut darstellen wie seine Mitte.
Das Facettenauge liefert bei gleich kleiner Augengrösse das bessere Gesamtbild als das Linsenauge.
(Spinnen mit ihren Ein-Linsen-Augen lösten das
Problem, indem sie mehrere Augenpaare in unterschiedliche Richtungen schauen lassen)
Nur für kleine Augen ist das Facettenauge eine
gute Lösung. Aufgrund ihrer Grösse sind die Linsenaugen der Wirbeltiere erheblich leistungsfähiger.
Das menschliche Auge erreicht z.B. eine räumliche
Auflösung von 10–2 Winkelgraden, eine Fliege aber
nur von 2°. Die schlechtere Sehschärfe kleiner Tiere
bleibt allerdings bedeutungslos, weil kleine Tiere
nur einen engen Aktionsraum abbilden müssen und
daher kleine Objekte in relativer Nähe genauso gut
auflösen wie grosse Tiere mit ihrem viel grösseren
Aktionsradius entferntere, grössere Gegenstände.
Ommatidien
Die Facettenaugen bestehen aus gleichartigen
Einzelelementen, den Ommatidien (Abb. 9.101b).
Jedes Ommatidium hat einen eigenen dioptrischen
Apparat. Er besteht aus einer cuticulären, extrazellulären Cornealinse mit hohem Brechungsindex von
ca. 1,5 und aus einem von vier Zellen gebildeten
Kristallkegel. Der Kristallkegel kann als Linsenzylinder ausgebildet sein, der den Strahlengang
modifiziert, oder optisch homogen sein und lediglich
als Glaskörper wirken (Abb. 9.104). Jedes Ommatidium enthält kreisförmig angeordnet meist 7–9
(maximal 12) langgestreckte Retinulazellen, deren
rhodopsinhaltige Rhabdomere nahe der Längsachse
des Ommatidiums angeordnet sind. Die Gesamtheit
dieser Rhabdomere bezeichnet man als Rhabdom.
Bei den meisten Insekten liegen die Rhabdomere so
eng aneinander, dass sie funktionell einen gemeinsa
men Lichtleiter, das fusionierte Rhabdom, bilden.
Bei Crustaceen sind die Rhabdomere sogar ineinandergeschachtelt. Der gemeinsame Lichtleiter führt
jedoch nicht zu einer gemeinsamen Erregungsbildung. Jede Retinulazelle erzeugt ihre eigene Erregung und leitet sie über ihr Axon ins ZNS. Da die
Rhabdomere Rhodopsine unterschiedlicher Absorptionsspektren enthalten, ermöglicht schon das
Einzelommatidium eine Farbanalyse.
Jedes Ommatidium wird optisch von seinen
Nachbarn durch Pigmentgranula in den Retinulazellen und durch drei Typen von Pigmentzellen
abgeschirmt.
Augentypen
Die in ein Ommatidium einfallenden Lichtstrahlen
bilden auf das distale Ende des lichtleitenden Rhabdoms einen Lichtpunkt ab, und die Gesamtheit der
Ommatidienausgänge stellt eine konvexe Retina dar,
die ein aufrechtes Bild liefert. Die Körnigkeit dieses
Gesamtbildes hängt von der Anzahl von Ommatidien und deren Winkel zueinander, dem Interommatidienwinkel ab (Abb. 9.101c). Die Anzahl der
Ommatidien korreliert mit der Grösse des Tieres und
hängt von den Anforderungen an das Sehen im Verhalten ab. Bei Libellen bilden bis zu 30000 Ommatidien ein Facettenauge; die sich optisch orientierenden Bienen und Wespen rastern ihre Umgebung mit
4000–5000, Ameisen mit maximal 1200 Ommatidien. Bei intraspezifischem Polymorphismus wächst
die Ommatidienzahl mit der Körpergrösse: kleine
Ameisen, die Innendienste im Nest leisten, kommen
mit 600 Ommatidien aus, während ihre grösseren
Nestgenossen, die zur Futtersuche ausschwärmen,
doppelt so viele besitzen.
Wie beim Linsenauge müssen auch beim
Facettenauge zwei sich widersprechende Leistungsanforderungen, Sehschärfe und Empfindlichkeit, gegeneinander abgewogen werden. Hohe Lichtausbeute verlangt einen breiten Öffnungswinkel (∆r in
Abb. 9.101c). Er gibt den Lichteinfallswinkel relativ
zur Ommatidienachse an, bei der die Empfindlichkeit des Rhabdoms auf 50% gesunken ist. Grosse
Corneadurchmesser und viel Rhodopsin, also dicke
Rhabdome, erhöhen die Sehkraft. Das bringt weite
Interommatidienwinkel ∆F und damit eine schlechte räumliche Auflösung mit sich. ∆F hängt vom
Facettendurchmesser und dem Augenradius ab:
∆F = D/R
D: Corneadurchmesser,
R: Augenradius (Abb. 9.101c).
Ein hochauflösendes Facettenauge verlangt also
möglichst lange (R) und schmale (D) Ommatidien,
was deren Lichtempfindlichkeit schmälert.
Allerdings ist der Verschlankung der Ommatidien
zugunsten der Sehschärfe aus zwei Gründen eine
absolute Grenze gesetzt:
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Abb. 9.101 a–d. Das Facettenauge der Insekten. a Schematisches Blockbild
eines Facettenauges mit gleichförmigen Ommatidien. b Der Aufbau eines
Ommatidiums im Längsschnitt. Darunter: Die Anordnung der Retinulazellen
eines nicht fusionierten Rhabdoms im Querschnitt. c Die wichtigsten optischen
Eigenschaften eines Facettenauges. d Der Vergleich zwischen Facettenauge und
Linsenauge ungefähr gleicher Grösse. Von rechts stellt der Halbkreis ein
Facetten-, von links ein Linsenauge dar mit gemeinsamer Rezeptorzone (dunkelblau). Was das Linsenauge mit einer einzigen kleinen Linse abbildet, bildet
das Facettenauge mit vielen Linsen ab. a Aus Czihak 1981, b nach Gardiner
1972, d nach Kirschfeld 1976.
• Jeder Lichtpunkt wird durch die Linsen als
Beugungsscheibchen abgebildet, dessen Durchmesser zunimmt, wenn der Corneadurchmesser
verringert wird. Die optisch mögliche Grenze ist
etwa bei einem Corneadurchmesser von 0,5°
erreicht. Im Mittel betragen die Interommatidienwinkel 1–3° (0,7° bei Libellen, bis 7° bei
bestimmten Käfern), und die Rhabdome sind
durchschnittlich 100 µm lang. Bei dieser Länge
werden beim Absorptionsmaximum des
Sehfarbstoffs etwa 50% der einfallenden
Lichtquanten absorbiert, 100% würden erst bei
einer Länge von 1 mm erreicht.
24
• Wie schon betont, sind die Rhabdome Lichtwellenleiter, je dünner diese Lichtleiter sind,
desto mehr Lichtenergie fliesst nicht im Leiter,
sondern ausserhalb des lichtabsorbierenden
Rhabdoms. Um diesem Effekt zu entgehen, sollten die Rhabdome nicht dünner als 1 µm sein.
Tatsächlich beträgt der Rhabdomquerschnitt nie
weniger als 2–3 µm; was auch dem der
Aussenglieder von Stäbchen und Zapfen entspricht.
Sinnesleistungen bei Tieren – Temperatur
11. Temperaturwahrnehmung – Beispiele
Allgemeines
Temperaturrezeptoren bei Wirbeltieren
Alle Lebensvorgänge sind temperaturabhängig.
Temperatursensoren vermitteln Informationen über
die eigene Körperwärme und die Aussentemperaturen. Wirbeltiere besitzen auf der Haut und im
Körperinnern (z.B. in Wänden von Blutgefässen)
Kälte- und Wärmerezeptoren, die auf entsprechende
Abweichungen von einer Indifferenztemperatur
(z.B. bei menschlicher Haut ca. 30 °C) mit erhöhten
Entladungsraten antworten. Bei den Temperaturrezeptoren
handelt
sich
um
freie
Nervenendigungen, die auf der Haut unmittelbar
unter oder in der Epidermis kleine rezeptive Felder
bilden. Ihr Arbeitsbereich liegt zwischen 5–10 °C
und 45 °C. Bei Arthropoden sitzen die Kälte- und
Wärmesensoren als einzelne Sinneszellen, verschwistert mit einem Hygro-, Mechano- oder
Geruchsrezeptor, in der Basis porenloser Sensillen.
Schon Einzeller können anhand von Temperaturgradienten einen für sie günstigen
Temperaturbereich aufsuchen (Thermotaxis).
Parasitische Nematoden finden warmblütige Wirte
u.a. durch Wärmegradienten von nur 0,02 °C/cm.
Infektiöse Stadien des Hunde-Hakenwurms
(Ancylostoma canium) richten ihre Vorderenden auf
und bewegen sie suchend hin und her, wenn sie
durch Bodenvibrationen erregt werden. Sie heften
sich an Hundehaaren fest und wandern entlang des
Wärmegradienten zur Haut, die sie durchbohren, um
schliesslich in der Darmschleimhaut Blut zu schmarotzen.
Kälte- und Wärmerezeptoren der Wirbeltiere kodieren nicht die absolute Temperatur, sondern negative
bzw. positive Abweichungen von der art-bzw. organspezifischen Soll- oder Indifferenztemperatur, die
zentralnervös kontrolliert werden kann. Die
Rezeptoren sind spontan aktiv, antworten auf
Temperaturänderungen phasisch mit hoher
Empfindlichkeit und adaptieren rasch und lang
anhaltend.
So, wie die Netzhaut lokale Helligkeitsänderungen durch On- und Off-Kanäle kodiert, werden Temperaturänderungen sowohl von Kälte- als
auch Wärmerezeptoren rezipiert (Abb. 3.2). Solche
push-pull-Systeme erhöhen die Empfindlichkeit für
kleine Reizänderungen.
Das interne, thermische Rauschen in Thermorezeptoren ist mit 10–6 °C extrem niedrig, was eine
hohe Empfindlichkeit zulässt. Temperaturänderungen von nur 0,1 °C (Mensch) können wahrgenommen werden.
Da Wärme im Cytoplasma langsam diffundiert
und Thermorezeptoren oft einige 100 µm unter der
Körperoberfläche liegen, verläuft Thermorezeption
langsam.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren– Temperatur
Käfer, die auf Waldbrände spezialisiert sind
Unter den Prachtkäfern gibt es eine Gattung,
Melanophila, die von Waldbränden aus einem
Umkreis von bis zu 50 km angezogen werden. Diese
Käfer brauchen Waldbrände, weil sich ihre Engerlinge nur in frisch angebranntem Holz entwickeln
können. Die Käfer werden nicht durch den Brandgeruch oder Feuerschein zum Waldbrand geführt,
sondern durch ein Paar kleiner Gruben, die im
Coxaring des mittleren Beinpaares liegen. In der
Grube sitzen 50–100 Sensillen, deren jeweiliges
Dendritenende ähnlich wie bei campaniformen
Sensillen in die Basis einer Cuticulaschale eingeklemmt ist (Abb. 3.5). In die Cuticulaschale hängt
an einem Stiel eine Endocuticulakugel, die Infrarot
im Wellenbereich von 2500–4000 nm sehr schnell
absorbiert. Dies ist der Wellenbereich, der bei
Waldbränden abgestrahlt wird. Reizt man die Grubenorgane mit Infrarot solcher Wellenlängen, so
genügt schon eine Intensität von 60 µW/cm2 um eine
Verhaltensreaktion auszulösen. Phasenkorrelierte
neuronale Antworten der Sensillen auf kurze
Infrarotimpulse erhält man mit Wiederholfrequen-
26
zen bis zu 100 Hz. Experimente ergaben jedoch,
dass die Sensillen auch auf mechanische Deformationen reagieren.
Daraus wurde geschlossen, dass die Grubenorgane der Käfer als Infrarot-Wärme-Mechanotransformer arbeiten: Erreicht die Infrarotstrahlung
eines Waldbrands das Grubenorgan, so werden die
Endocuticulakugeln in Bruchteilen von Sekunden
erwärmt und dehnen sich aus. Sie wölben damit die
sie umfassende Cuticulaschale aus, die nun ihrerseits, wie bei campaniformen Sensillen, auf den
dazwischengeklemmten Dendriten drückt. Der
unmittelbare adäquate Reiz für die Transduktion ist
also nicht Infrarot sondern der mechanische Druck
der Cuticulaschale.
Die Existenz von Käfern! die für ihre Fortpflanzung auf verbranntes Holz angewiesen sind,
beweist, dass es auch in prähistorischer Zeit genügend Waldbrände gab. Worin allerdings der
Selektionsvorteil einer solchen ausgefallenen
Spezialisierung liegen soll, ist schwer auszumachen.
Sinnesleistungen bei Tieren– Temperatur
12. Infrarotrezeption
In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde am
American Museum of Natural History in New York
beobachtet, dass Schlangen, die zwischen Nase und
Auge ein Grubenorgan besitzen, eingeschaltete
Glühbirnen ansteuerten, während sie ausgeschaltete
ignorierten. Dieses Verhalten verschwand, wenn
man das Grubenorgan abdeckte. Blinde Schlangen
konnten eine punktförmige Wärmequelle, z.B. einen
Lötkolben, auf 5° genau lokalisieren. Es stellte sich
heraus, dass diese Grubenorgane Infrarotrezeptoren
enthalten. Etwa 10% der Schlangenarten, die
Crotaliden (Grubenottern) und einige Boiden, besitzen ein solches Infrarotorgan. Die Grubenorgane der
Schlangen bilden die räumlichen Verteilungsmuster
der Infrarotstrahlung ihrer Umgebung auf einer dünnen Membran ab und wandeln sie in entsprechende
lokale Temperaturerhöhungen dieser Membran um
(Abb. 3.3). Dieses “Temperaturbild” wird von freien
Nervenendigungen in der Membran rezipiert.
Durch eine pupillenartige, kleine Öffnung funktioniert das Grubenorgan wie eine Lochkamera für
Infrarot. Die Membran, die Infrarotstrahlung in
Wärme wandelt, ist nur 10–15 µm dünn, ca. 30 mm2
gross und in der mit Luft gefüllten Grube so aufgehängt, dass sie von der Körperwärme isoliert bleibt.
Etwa 3500 Nervenfasern versorgen diese Membran.
Jeder Nerv deckt ein Feld von etwa 40 µm
Durchmesser ab, mit wenig Überlappung zu benachbarten Neuronen. Man kann sich das Ganze als eine
Fläche vorstellen, die mit 60 ¥ 60 Temperaturdetektoren bestückt ist. Durch die Richtcharakteristik der Grubenöffnung erfasst ein Neuron einen
Einfallswinkel von 45–60°.
Die dünne Membran wird wegen ihrer geringen
thermischen Masse schnell durch Infrarotstrahlung
erwärmt. Temperaturänderungen der Membran von
nur 0,003 °C in 100 ms werden detektiert. Durch ein
dichtes Blutkapillarnetz wird die Membranwärme
rasch abgeführt, so dass keine Infrarot-Nachbilder
entstehen können.
Nach jüngsten Untersuchungen beruht die
Temperaturempfindlichkeit der Nervenendigungen
im Grubenorgan auf einer sehr hohen Konzentration
von Mitochondrien, die als Ca++-Speicher dienen.
Durch die Mitochondriendichte enthalten die Nervenendigungen eine hohe Proteinkonzentration von
ca. 80%. Proteine absorbieren Infrarot und erhöhen
die Temperatur in den Endigungen. Dabei fliessen
aus dem Mitochondrien-Speicher in das Cytoplasma
vermehrt Ca++-Ionen, die Ca++-abhängige Ionenkanäle öffnen und so die Membran depolarisieren.
Die Nervenfasern sind spontanaktiv und antworten auf Infrarot phasisch, beim Einschalten mit einer
Erhöhung und beim Ausschalten mit einem Absinken der Feuerrate gegenüber der Spontanaktivität. Sie kodieren daher Temperaturänderungen, weshalb bevorzugt bewegte Objekte detektiert werden.
Entsprechend dieser bimodalen Innervation findet man im Tectum Neurone, die innerhalb ihres
rezeptiven Feldes sowohl auf Infrarot als auch auf
einen Sehreiz ansprechen. Die Infrarot und
Seheingänge sind auf dem Tectum unterschiedlich
miteinander verknüpft. Folgende Neuronklassen
wurden gefunden (Abb. 3.4):
• and-Neurone antworten maximal, wenn beide
Eingänge aktiviert sind (sichtbare, warmblütige
Beutetiere).
• or-Neurone antworten, wenn einer der beiden
Eingänge aktiv ist.
• visual-enhanced Infrarotneurone antworten auf
eine sichtbare Beute nur, wenn sie warmblütig
ist.
• infrared-enhanced Sehneurone: keine Antwort
auf Infrarotreiz alleine.
• visual-depressed Infrarotneurone antworten gut
auf versteckte Wärmequellen.
• infrared-depressed Sehneurone antworten gut
auf sichtbare, kalte Beute, z.B. auf einen Frosch.
Mit diesem Satz infrarot/optischer neuronaler Filter
und dem feinen vomeronasalen Geruchssinn können
Schlangen auch versteckte Beute zu jeder Tageszeit
erfolgreich aufspüren und lokalisieren.
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Sinnesleistungen bei Tieren – chemisch
13. Chemische Sinne – Allgemeines
Das Leben beruht auf biochemischen Prozessen. In
jeder Zelle laufen vielfältige Reaktionen von Enzymketten ab, in denen Moleküle miteinander kommunizieren. Jede Zelle ist daher sensibel für ein
Spektrum von Molekülen, die ihren Stoffwechsel
und ihre Strukturen beeinflussen. Schon Einzeller
und frühe Metazoen haben daraus ein allgemeines
chemisches Umweltsensorium entwickelt, mit dem
sie im Wasser bestimmte Substanzen erkennen können. Mit der wachsenden Fähigkeit, auf wechselnde
Umgebungsbedingungen flexibel und differenziert
reagieren zu können, entwickelt sich bei den höheren Metazoen der nach aussen gerichtete chemische
Sinn zu zwei getrennten Modalitäten:
• dem Schmecken, das im direkten Kontakt
Nahrung überprüft,
• dem Riechen, das vor allem bei den Landtieren
für die Fernwahrnehmung und Orientierung
grosse Bedeutung gewinnt.
Diese chemischen Sinne unterscheiden sich durch:
• unterschiedliche Sinneszellen und -organe,
• die Empfindlichkeit für unterschiedliche Stoffe,
• ihre Funktion:
Geruchsstoffe sind lipophile, flüchtige Stoffe mit
einem Molekulargewicht von 26–300 Da. Sie dienen
der Identifizierung und Lokalisierung von Nahrungsquellen, von Sozialpartnern oder Fressfeinden.
Chemische Kommunikation spielt bei vielen sozialen Tieren, besonders bei kolonienbildenden
Insekten für die Sozialstruktur und die Orientierung
eine tragende Rolle.
Geschmacksstoffe sind meist hydrophile Substanzen in wässriger Lösung. Sie dienen der Verträglichkeitsprüfung der Nahrung. Schmecken erfüllt
eine zwar lebenswichtige, aber begrenzte Funktion.
Bei Wassertieren lässt sich Geruchs- und
Geschmacksfunktion nicht immer klar trennen.
Riechen
Natürlich vorkommende Düfte bestehen in der
Regel aus einem Gemisch. So setzt sich z.B. Jasminduft aus 21 Komponenten zusammen, wovon nur 3
jasminspezifisch sind (Abb. 4.1). Der Geruchseindruck hängt nicht nur von der Art der beteiligten
Stoffe ab, sondern auch vom Mengenverhältnis und
der Konzentration. Gerüche, die in geringen Konzentrationen als angenehm empfunden werden, können in hohen Konzentrationen widerlich riechen,
z.B. Moschusduft. Viele Tiere und der Mensch strömen artspezifische und individuelle Düfte aus, die
den Duftsender eindeutig identifizieren.
Das Riechorgan der Wirbeltiere ist die Nase
(Abb. 4.2). Bei Fischen gibt es zwischen Maulspitze
und Augen paarige Riechgruben, die passiv von der
Wasserströmung durchspült werden, die bei Kiemen- und Mundbewegungen entsteht. Wasser führt
im Vergleich zu Luft wenig Duftstoff mit sich.
Mit dem Übergang zum Landleben wurde die
Nase auch zum Atemweg, und die geruchsbeladene
Luft umspült dadurch mit jedem Atemzug das mit
einer Schleimschicht feucht gehaltene Riechepithel
in der Nasenhöhle. Bis heute hat sich eine nicht klar
definierte Einteilung der Tierwelt gehalten:
Makrosmaten sind Arten, wie die meisten Säugetiere, die hochsensibel und differenziert Gerüche
erkennen und identifizieren können. Bei den Säugetieren breiten sich im hinteren Teil des zwischen
den Augenhöhlen ausgeweiteten Nasenraums auf
reich gefalteten Knochenlamellen, den Turbinalia,
grosse Riechepithelflächen aus (Abb. 4.2). So bestehen z.B. die langen Schnauzenschädel von Hunden
hauptsächlich aus Nasenhöhlen.
Mikrosmaten können für bestimmte Duftstoffe
empfindlich sein, aber ihre Geruchspalette ist viel
kleiner und ihre Nase spricht für viele Duftstoffe
erst bei höheren Konzentrationen an. das gilt für die
meisten Fische und bei den Säugetieren z.B. für
Primaten und den Menschen.
Arthropoden haben haar- und kegelförmige Riechsensillen auf exponierten Körperteilen, meist auf
den Antennen. Die Kutikula vieler Riechhaare ist
mit Poren durchlöchert, durch welche Duftstoffe zu
den Sinneszellen gelangen können.
Die neuronalen Strukturen, die Gerüche verarbeiten, weisen bei Wirbeltieren und Wirbellosen
auffallende Gemeinsamkeiten auf:
Viele Wirbeltiere und Wirbellose haben jeweils
zwei getrennte Riechsysteme, ein allgemeines, das
für ein unbegrenztes Spektrum von Gerüchen zuständig ist, ein spezifisches, das hochempfindlich
und spezifisch auf einige wenige Geruchsstoffe der
eigenen Spezies, auf Pheromone, reagiert. Diese
“Sexnase” dient u.a. der Lokalisierung von Sexualpartnern und der Stimulierung des Sexualverhaltens.
Schon einmalige Geruchseindrücke können bei
Insekten und Wirbeltieren lang anhaltend, oft
lebenslang, im Gedächtnis gespeichert und mit speziellen Verhaltensweisen assoziiert werden.
Geschmack
Die Geschmackssensorik dient der chemischen
Kontrolle der Nahrung. Im süddeutschen und
schweizerischen Sprachraum bezieht sich das Wort
“schmecken” nicht nur auf den Geschmack, sondern
auch auf Gerüche. Diese begriffliche Ungenauigkeit
trifft präzise die Wahrnehmungsrealität, weil der
Wohlgeschmack einer Speise aus dem Zusammenspiel von Geschmacks- und Geruchseindrücken entsteht. Auch mechanische Informationen über Konsistenz, Grösse und Lage der Speise im Mundraum
gehen in die Bewertung ein.
Geschmackssinnesorgane finden sich häufig im
Mundbereich. Bei kleinen Insekten oft auch auf den
Tarsen der Beine, die ständig den Untergrund nach
Fressbarem überprüfen können, aber auch am
Legestachel von Insekten, die ihre Eier in Nahrungsquellen für die schlüpfenden Raupen ablegen.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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Fische, denen gelöste Geschmacksstoffe durch
das Wasser über den ganzen Körper zugeführt werden, haben zusätzlich Geschmackssinneszellen auf
Barteln am Maul und auf der Körperhaut.
Es gibt 4 Geschmacksqualitäten, aber bei vielen
Tieren gibt es noch eine zusätzliche für Wasser.
• Süss signalisiert den Gehalt an Zucker und zukkerähnlichen Kohlehydraten.
• Salzig sind Kationen, vor allem Na+, aber auch
Anionen tragen zur Salzempfindung bei.
• Sauer entspricht der H+-Ionenkonzentration,
wobei bei organischen Säuren auch das Anion
den Sauergeschmack beeinflusst.
• Bitter schmecken viele sekundäre Pflanzenstoffe, wie Alkaloide, Glykoside, Diterpene usw.
Generell reagieren Geschmackssinneszellen um
Zehnerpotenzen weniger empfindlich als Riechzellen. Die Schwelle für Bitterstoffe ist am niedrigsten, da viele dieser Stoffe für Tiere giftig sind
(Tabelle). Besonders hoch ist die Schwelle für süsse
Substanzen, bei denen weniger die Qualität “süss”
als vielmehr auf hohen Zuckergehalt geprüft wird.
Fische reagieren sehr empfindlich auf Aminosäuren.
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Sinnesleistungen bei Tieren – chemisch
14. Riechen bei den Insekten
Die meisten Insekten tragen auf ihren Antennen bis
zu zigtausend von Riechsensillen und reagieren
schon auf geringste Duftkonzentrationen. Einige
Insektenarten, vor allem unter den Schmetterlingen,
fächern ihre Antennen auf (Abb. 4.6 a) und fischen
mit dem engen Netz des Antennenfächers Duftmoleküle aus dem Luftstrom. Die Maschenweite des
Fächers ist so gewählt, dass unter natürlichen Luftstrombedingungen eine maximale Zahl von
Molekülen an den Antennenhaaren hängen bleibt.
Die haarförmigen Sensillen enthalten zilienartige
Dendriten von 1–3 Riechneuronen (Abb. 4.6, 4.7);
bei plattenförmigen Sensillen können es bis zu 30
Neurone sein. Die Dendriten sind von einer K+-reichen Lymphe umspült. Die Cuticula der Sensillen
wird von zahllosen Poren durchlöchert, von denen
Tubuli die Duftstoffe auf die Dendritenmembranen
führen. Enzyme in der Sensillenlymphe bauen Duftstoffe rasch ab und begrenzen damit die Reizzeit.
Ein Riechhaar kann auf verschiedene Duftstoffe
gegensätzlich reagieren. So löst z.B. bei einem
Totengräber-Käfer Aasgeruch an Geruchssensillen
ein depolarisierendes Rezeptorpotential aus.
Propionsäure führt jedoch beim gleichen Sensillum
zu einer hemmenden Hyperpolarisation (Abb.4.7).
Der gleiche Duftstoff kann bei einem Riechneuron
Erregung, beim anderen Hemmung auslösen.
Generell nimmt der Anteil eng abgestimmter
Sensillen zu, je mehr eine Spezies zum Nahrungsspezialisten geworden ist.
Neben den vorherrschenden Generalisten unter
den Riechzellen gibt es auch Nahrungs-Spezialisten,
die vorwiegend oder sogar ausschliesslich auf
Geruchskomponenten artspezifischer Futterpflanzen
bzw. Beute reagieren. Rüsselkäfer, die unter der
Borke von Nadelbäumen minieren, haben z.B.
neben Generalisten auch Sensillen, die nur auf spezifische Duftstoffe von Nadelbäumen, die Pinene,
antworten (Abb.4.8b). Die Sensilla coeloconica der
Heuschrecken antworten bevorzugt auf spezifische
Gras-Duftkomponenten, das sind 6-kettige
Karbonsäuren, bzw. die entsprechenden Aldehyde
und Alkohole (Abb. 4.8 a).
Auch bei der Eiablage helfen spezifische
Geruchssensillen den Weibchen, die richtigen
Futterpflanzen für das Gelege zu finden, von denen
sich später die schlüpfenden Raupen ernähren. Ist
eine Pflanze schon von Raupen dicht besetzt, so verhindern sie durch einen spezifischen Geruch die
Eiablage weiterer Weibchen. Die Raupen selbst prüfen Pflanzen ebenfalls geruchlich mit je drei
Riechsensillen und insgesamt 32 Riechzellen auf
ihren kurzen, dreigliedrigen Antennen.
Im Gegensatz zu solchen Nahrungsspezialisten
besuchen Nektar- und Pollen-sammelnde Insekten
die Blüten unterschiedlichster Pflanzen. Bienen
erinnern eine ergiebige Nektartracht u. a. durch
deren Geruch. Im Laufe eines Sommers müssen
Sammlerinnen viele verschiedene Gerüche identifizieren und sich einprägen.
Die Unterscheidung der Blütendüfte beginnt in
den Glomeruli der Antennenloben. Bei der
Honigbiene gelang es, einen Teil der 160 Glomeruli
zu identifizieren. Im Experiment erzeugten die meisten Gerüche Erregungsmuster, die aus vielen
schwach und einigen stark aktivierten Glomeruli
bestehen. Jeder Geruch erregt eine spezifische
Kombination von Glomeruli (Abb. 4.9). Dieser multiglomeruläre Kombinationskode gewährleistet, dass
die Düfte unterschiedlicher Blütentrachten sicher
erkannt und im Gedächtnis gespeichert werden können.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren – chemisch
15. Chemische Kommunikation der Insekten
Das spezifische Pheromon-Riechsystem der
Insekten fand das besondere Interesse der
Biologen. Der Begriff Pheromon wurde 1959 von
Karlsson geprägt, als im Labor von A. Butenandt
der Lockstoff des Seidenspinnerweibchens,
Bombykol (Hexadecadienol) identifiziert wurde.
Pheromone bezeichnen Duftstoffe, die Tiere zur
arteigenen Kommunikation ausströmen. Schon im
19. Jahrhundert hatte der Schweizer Arzt August
Forel beobachtet, dass ein leerer Käfig, in dem er
Seidenspinnerweibchen gehalten hatte, mit magischer Kraft die Männchen anzog. Die Weibchen
vieler, vor allem nachtaktiver Schmetterlinge erzeugen in subkutikulären Drüsen, den Sacculi, LockPheromone. Diese Sacculi sind umgewandelte
Intersegmentalmembranen, die ausgestülpt werden
können.
Viele geruchliche Kommunikationsstoffe sind
unverzweigte, ungesättigte Alkohole, Aldehyde und
Säuren mit Kettenlängen bis zu 20 C. Manche Arten
benutzen auch Epoxide und Alkaloidderivate (Abb.
4.10).
Für die Intensität der Chemotaxis sind drei
Faktoren massgebend:
• Im Experiment wirkt nur intermittierende
Reizung, bei kontinuierlichem Duftstrom rührt
sich das Insekt nicht vom Fleck. Bei
Schmetterlingen sind Reizpulse im Zeitabstand
von ca. 0,6 s am wirksamsten. Dies korreliert mit
der natürlichen Reizsituation, da die vom
Luftstrom mitgenommenen Düfte in diskontinuierlichen Molekülpaketen windababwärts getragen werden andererseits adaptieren Riechzellen
bei Dauerreizung sehr rasch.
• Die Pheromonkonzentration korreliert nicht
immer linear mit der Suchreaktion. Oft wirkt
eine niedrige Konzentration stimulierender als
eine hohe (Abb.4.12b).
• Die Qualität des Lockstoffes. Die Weibchen
senden Lockdüfte aus, die meist aus einem
Gemisch von 2–7 Pheromonen bestehen, z.B.
beim Seidenspinner aus Bombykol und
Bombykal. Nicht nur von der Art, sondern auch
vom Mischungsverhältnis der Moleküle hängt
ab, wie sehr der Duft das Männchen stimuliert.
Die Weibchen des Schwammspinners (Lymantra
dispar) und des Nonnenspinners (L. monacha)
locken mit dem gleichen Pheromon disparlure,
das in optisch rechts und links drehenden Isomeren vorkommt. Beim Nonnenspinner beträgt
das Mischungsverhältnis 90% links- zu 10%
rechtsdrehendem disparlure, während das Weibchen des Schwammspinners nur rechtsdrehendes
Pheromon abgibt. Dieser Unterschied reicht, um
jeweils nur das arteigene Männchen anzulocken.
Pheromonrezeptoren der Insekten
Die Pheromonrezeptoren erreichen die höchstmögliche molekulare Spezifität. Sie antworten nur auf
eine einzige Molekülart maximal und unterscheiden
auch zwischen Enantiomeren, also spiegelbildlichen
Molekülen. Die Rezeptormoleküle auf der Riechdendritenmembran sind allerdings noch nicht identifiziert worden.
Beim Seidenspinnermännchen antwortet eines
der beiden Riechneurone in einem Sensillum trichodeum nur auf Bombykol (A-Zelle), das andere (BZelle) nur auf Bombykal (Abb. 4.11 b). Die Rezeptoren binden von den vier möglichen Isomeren des
Hexadecadiens die vom Weibchen erzeugte transcis-Form am besten. Für die anderen Isomere ist die
Erregungsschwelle um 3 Zehnerpotenzen höher. Bei
Manduca sexta reagiert die A-Zelle nur auf 10-12Hexadecadienal und die B-Zelle nur auf das andere
Pheromon des Weibchens, 10-12-14-Hexadecatrienal.
Da die Duftdrüsen der Weibchen nur geringe
Mengen von 0,1–1 µg des Pheromons enthalten, enthält auch der Luftstrom nur geringste Mengen von
Pheromonmolekülen. Beim Seidenspinner genügt
z.B. ein Treffer von einem Bombykolmolekül, um in
der A-Zelle ein Aktionspotenzial auszulösen, und
das chemotaktische Suchverhalten wird initiiert,
wenn wenigstens 200 Bombykolriechzellen simultan aktiv sind.
Exkurs
Wird im Experiment ein Schmetterlingsmännchen
1 s lang von einem Luftstrom mit 1000 Pheromonmolekülen/cm3 und einer Windgeschwindigkeit von
60 cm/s angeblasen, so löst dies einen Suchflug
windaufwärts aus. Das Männchen tastet chemisch
mit einem Zick-Zack-Kurs die Geruchsfahne ab,
kehrt immer wieder in den Luftstrom höchster
Duftmoleküldiehte zurück und findet so das
Weibchen (Abb. 4.11a). Durch diese Chemotaxis
oder Anemotaxis kann ein Männchen aus 1 km
Entfernung in 12 min ein Weibchen finden.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren – chemisch
16. Die geruchliche Kommunikation bei Insekten
Ameisenstaaten.
Die Cuticula ist bei sozialen Insekten ein hochreguliertes Informationsorgan, über welches verschiedene chemische Botschaften gesendet werden können.
Chemische Kommunikation ist hochgradig differenziert. Als Beispiel seien einige Kommunikationswege bei Ameisen beschrieben, die diesbezüglich
am besten untersucht sind.
Ameisen kommunizieren über Duftstoffe sowohl
innerhalb einer Kolonie als auch zwischen Kolonien
derselben oder anderer Arten. Sie benutzen Duftspuren, um zu Nahrungsquellen und wieder nach
Hause zu finden, und spezifische Pheromone veranlassen Ameisen, Futter an Artgenossen abzugeben.
Das dichte Netz chemischer Kommunikationswege
macht es für andere Insektenarten lohnend, sich als
Signalschmarotzer in das Kommunikationssystem
der Ameisen einzuschleichen und deren soziale
Leistungen zum eigenen Vorteil umzulenken.
Ameisen sind “wandelnde Duftstoff-Batterien”
mit mehr als 10 verschiedenen Drüsen, die chemische Signalstoffe produzieren. Die Drüsen produzieren in der Regel nicht nur einen Duftstoff, sondern
eine Mischung von Substanzen (Abb. 4.14). Die
Pheromone werden in Speichern in Mengen von nur
0,1 bis ca. 3 µg vorgehalten. Die Pheromon-Rezeptoren sind oft hochspezifisch. So reagiert die Blattschneiderameise auf das optisch rechtsdrehende
Alarmpheromon 100- bis 200-mal empfindlicher
als auf das linksdrehende. Am empfindlichsten wird
auf Spursubstanzen reagiert, die den Weg zu einer
Nahrungsquelle und zurück zur Kolonie markieren
und nur in geringsten Mengen abgegeben werden:
Eine Arbeiterin von Blattschneiderameisen enthält
nur 0,3–3,3 ng Spurpheromon. Es wurde errechnet,
dass 1 µg der Spursubstanz eine Blattschneiderameisenkolonne dreimal um die Welt führen könnte.
Die ausgelöste Verhaltensweise hängt oft von der
Pheromon-Konzentration ab. So löst das Alarmpheromon der Blattschneiderameise in geringer Konzentration eine Attraktion, aber in hoher einen Alarm bis
hin zur Panik und Angriffsbereitschaft aus.
Die Mischungen von Pheromonen identifizieren
eine Art oft genauer als morphologische Merkmale.
So sind z.B. die europäischen Ameisenarten
Tetramorium ‘caespitum und Tetramorium impurum
morphologisch kaum zu trennen. Die Dufourdrüse
von Tetramorium caespitum produziert unverzweigte C13–C17 Kohlenhydrat-Ketten (KH-Ketten) mit
einer Mischung von Pentodekanen. Dagegen produziert die Dufourdrüse von Tetramorium impurum
hauptsächlich Pentodekane und ein Terpenoid.
Verschiedene Mischungen von Pheromonen ergeben verschiedene Botschaften. Oft wird die Botschaft einer Substanz von vielen Arten verstanden.
Erst die Ergänzung durch weitere Substanzen ergibt
eine artspezifisch codierte Botschaft. Undekan,z.B.,
ist das Alarmpheromon bei den meisten FormicinaeArten, doch die Zumischung anderer KH-Ketten ver-
Abb. 4.14a, b Pheromone bei Ameisen. a Zwei der wichtigsten
Pheromondrüsen bei Ameisen (Acanthomyops claviger), die
Mandibel- und die Dufour-Drüse und ihre Pheromongemische.
Undekan ist der eigentliche Spurstoff, die anderen Komponenten der
Dufourdrüse sind Modulatoren. b Als chemische Spur wirkt bei der
Ameise Tetramorium caespitum eine spezifische Mischung zweier
Pyrrazine am besten. Zum Vergleich die Spurwirkung des vom Tier
aus der Giftdrüse abgegebenen Pyrrazingemischs (blaue Säule).
Nach Hölldobler u. Wilson 1990
leiht der chemischen Botschaft Artspezifität. Eine
hohe Anzahl von Modulationen ist durch solche
Mischungsverhältnisse denkbar. So haben Kolonien
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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derselben Art unterschiedliche Koloniendüfte, an
denen die Zugehörigkeit einer artgleichen Ameise zu
einer anderen Kolonie sofort erkannt werden kann.
Die Komplexität der ausgelösten Verhaltensweisen zeigt sich am Beispiel einer afrikanische Myrmiciden-Art, die in der Nähe einer Beute einen
Tropfen aus der Giftdrüse absetzt. Der Tropfen enthält verschiedene Pheromone:
• b-Pinene in dem Tropfen locken weiträumig
Nestgenossen an
• Limonene lösen in der Nähe des Tropfens kreisendes Verhalten aus, so dass sich die Arbeiter
gleichförmig um die Beute verteilen.
• Ein drittes Pheromon löst schliesslich den
Angriff auf die Beute aus.
Das bislang komplexeste chemische Kommunikationssystem wurde bei Weberameisen gefunden:
• Rekrutierung zu neuen Futterquellen durch eine
Geruchsspur, die Wegweiserameisen aus der
Rektaldrüse legen.
• Rekrutierung auf ein neues Territorium durch
andere Pheromone, die ebenfalls aus der Rektaldrüse stammen.
• Emigration zu einem neuen Platz unter Führung
spezifischer Geruchsspuren aus der Rektaldrüse.
• Rekrutierung zu Eindringlingen durch eine
Duftspur aus der Sternaldrüse.
• Rekrutierung zu entfernten Eindringlingen durch
spezifische Duftspuren aus der Rektaldrüse.
Sklaventreiberameisen sprühen über das Nest, das
sie versklaven wollen, Säuren aus der Dufourdrüse.
Dies lockt weitere Koloniegenossen an und alarmiert gleichzeitig die Arbeiterinnen des überfallenen Nestes so stark, dass sie in Panik auseinander
rennen und die Verteidigung aufgeben.
Diese Vielfalt chemischer Kommunikation im
Ameisenstaat, bei der verschiedene Pheromone in
verschiedenen Mischungsverhältnissen ganz unterDuftcamouflage bei Wespen
Aus der chemischen Kommunikation sozialer
Insekten versuchen oft andere Arten Profit zu schlagen. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die
Papierwespe Polistes atrimandibularis, die weder
Arbeiterinnen hat noch ein Nest bauen kann und
daher obligatorisch am Nest und der Arbeiterschaft
von Polistes biglumis parasitiert. Wie gelingt es der
Nest usurpierenden Königin, die aggressiven
Nestbesitzer in wenigen Tagen so zu besänftigen,
dass die parasitierende Königin in Ruhe ihre Eier ins
fremde Nest legen und ihre Brut von den fremden
Arbeiterinnen aufziehen lassen kann? Beide Arten
kennzeichnen sich geruchlich durch ca. 80 verschiedene Kohlehydratketten der Cuticula mit
Kettenlängen von C23 bis C37. Die parasitierende Art
gibt ein Geruchsbouquet mit vielen ungesättigten,
der Gastgeber ausschliesslich mit gesättigten
Kohlehydraten ab. Unmittelbar nachdem eine
Parasitenkönigin ein Nest besetzt hat, verlieren sich
ihre spezifischen ungesättigten Pheromone und in
relativ kurzer Zeit sind die Geruchs-Kennkarten der
Gast- und Parasitenkönigin ununterscheidbar. Gegen
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schiedliche Verhaltensweisen auslösen, wirft Fragen
nach der neuronalen Verarbeitung auf. Wird dieses
umfangreiche
Kommunikationssystem
von
Pheromonen z.B. ebenfalls nur vom spezifischen
olfaktorischen System, den Makroglomeruli betreut?
Bei Honigbienen unterdrückt das z.B. das‘ Pheromon “Königinnensubstanz” die Entstehung eines
fruchtbaren Weibchen bei den Arbeiterinnen, die
keine Makroglomeruli besitzen. Wenn unterschiedliche Mischungen von Substanzen unterschiedliche
Botschaften bedeuten, wie wird die Abgabe der
Mischungsverhältnisse kontrolliert? Hier ist ein weites Forschungsfeld für neuroethologen.
In einer Ameisen-Kolonie gibt es etwa 10 bis 20
verschiedene chemische Signale. Tabellarisch seien
die wichtigsten chemischen Kommunikationswege
zusammengefasst (Tabelle 4.1).
Tabelle 4.1. Chemische Kommunikationswege in Ameisenkolonien
(aus Hölldobler u. Wilson 1990)
A. Von Arbeiterin zu Arbeiterin
1. Koloniengeruch
2. Kastengeruch
3. Körperattraktionspheromon für gegenseitige Körperpflege
4. Futterabgabe, teilweise chemisch induziert
5. Spursubstanzen, lockt Nestgenossen zu Futterquellen zu
6. Hilferufesubstanzen aus Dufour-Drüse holen Kolonie
genossen herbei
7. Alarmsubstanz aus Kopfdrüse
8. Oleinsäure und Oleate lösen das Wegschaffen toter
Ameisen aus (Nekrophorverhalten)
B: Von Königin zur Arbeiterin
9. Königin-Erkennungspheromon
C: Von Königin zu Königin
10. Inhibitionspheromon, das Flügelabstossung bei jungfräulichen Königinnen verhindert
D: Von Arbeiterin zur Brut
11. Futterabgabe
12. Giftabgabe durch Winken mit aufgestelltem Abdomen,
Abwehr von Mikroorganismen
E: Von Brut zur Arbeiterin
13. Erkennungspheromone, zeigen den Entwicklungsstand der
Brut an: Ei, mehrere Larvenstadien, Puppe, Schlüpfen
Ende des Sommers verlässt die Wirts-Königin das
Nest, während die parasitierende im Nest bleibt und
von den “Fremdarbeitern” ihre eigene Brut zusammen mit der eigenen Brut der gastgebenden Kolonie
aufziehen lässt. Die Naturgeschichte sozialer
Insekten bietet viele andere Beispiele der raffinierten
Informationspiraterie und des Informationsbetrugs.
Sinnesleistungen bei Tieren – mechanisch
17. Mechanische Wahrnehmung bei Spinnen
Arthropoden stecken in einem harten und starren
Panzer aus Chitin. Mechanische Aussenreize mussen den Rezeptoren daher durch Cuticulastrukturen
zugeführt werden. Entsprechende Mechanosensillen
sind in unterschiedliche Funktionszusammenhänge
eingebaut, und entsprechend verschiedenartig sind
die reizkoppelnden und -filternden Cuticulastrukturen gestaltet. Die filiformen oder Fadensensillen
reagieren hochempfindlich auf Strömungen des
Mediums, bei Arthropoden also meist auf Luftbewegung. Bei Arachniden heissen diese Sensillen
Trichobothrien, weil die Fäden aus einem Cuticulabecher (griech.: bóthrion = Grube) entspringen.
Trichobothrien
Arachniden tragen Trichobothrien auf den Beinen
und Pedipalpen. Die mittelamerikanische nachtaktive Jagdspinne Cupiennius salei z.B., die auf Blättern sitzend Insekten auflauert, besitzt auf jedem
Bein ca. 100 Trichobothrien, die grösste bislang bei
irgendeiner Spinne festgestellte Zahl. Die feinen
(Ø = 5–15 µm) Fäden ragen nur 100–1500 µm aus
der Cuticulafläche heraus. Sie sind durch eine dünne
Membran so in die Cuticula eingelenkt, dass sie sich
durch geringste Luftbewegungen auslenken lassen.
Die Erregungsschwelle liegt bei Luftgeschwindigkeiten kleiner als 1 mm/s oder 6 cm/min und nimmt
mit wachsender Fadenlänge ab. Der Becherrand
begrenzt den Auslenkungswinkel auf etwa 24–30°.
Entsprechend ihrer Masse (Dichte 1,1 g/mm3),
ihrem Reibungswiderstand gegen Luft und der
Torsionskräfte im Gelenk haben die Sensillen eine
bestimmte Resonanzfrequenz. Trichobothrien können Luftvibrationen bis etwa 600 Hz folgen, wie sie
z.B. fliegende Insekten erzeugen. Niedere Frequenzen werden umso besser übertragen, je länger die
Fadenhaare sind. Über die Haarlänge wird die
Schwingungsempfindlichkeit an den für die Lebensweise wichtigen Frequenzbereich anpasst.
Lange Trichobothrien lassen sich nahezu gleich
gut in alle Richtungen auslenken. Lediglich unter
den kurzen gibt es Richtungsselektivität.
Basis und unterer Teil von Trichobothrien.
Die Jagdspinne Cupiennius.
Die Kraft wird von den Luftpartikeln auf das
Haar viskös übertragen, d.h. die Reibung der Luftpartikel am Haarschaft nimmt das Haar mit. Feine
Fiederungen am Haar befördern diese Kraftübertragung durch Reibung. Das Amplitudenverhältnis
Haarauslenkung/Luftpartikelbewegung beträgt bei
den meisten Trichobothrien 0,5–1. Es gibt auch einzelne Trichobothrien, bei denen die Haarauslenkung
grösser ist als die Luftpartikelbewegung. Die Haarauslenkung korreliert mit der Luftpartikelgeschwindigkeit, auch Schallschnelle genannt, und mit der
Schallbeschleunigung. Die Schallschnelle nimmt
mit der Entfernung rasch ab und ist daher nur im
Nahfeld detektierbar, realistischerweise in einem
Umkreis von ca. 30 cm. Bezogen auf die geringe
Körpergrösse einer Spinne ist dies ein ausreichender
sensorisch erfasster Raum, er entspräche beim
Menschen einem Radius von 60 m.
Mit diesen Hunderten von Vibrationssensoren,
die durch unterschiedliche Haarlängen insgesamt
einen weiten Bereich von Luftschwingungsstärken
und -frequenzen rezipieren, kann die Jagdspinne
Cupiennius Beute detektieren. Die Spinne kann
sogar fliegende Insekten aus der Luft fangen. Eine
summende Fliege wird noch aus 30 cm Entfernung
entdeckt (Abb. 5.19), und ihre Flügelschläge lösen
sogar noch aus 70 cm Entfernung Haarauslenkungen aus. Auf den Blättern herumlaufende Insekten, die Hauptnahrung dieser Spinnen, erzeugen in
der Nähe Luftströmungen, die von Trichobothrien
detektierbar sind und der angreifenden Spinne die
Orientierung zur Beute hin erleichtern. Aber auch
nah vorbeifliegende Insekten können Jagdspinnen
entdecken und aus der Luft greifen.
Spaltsinnesorgane
Laufende Beute wird jedoch von Spinnen meist
durch Substratvibrationen entdeckt. Pflanzenblätter
übertragen Vibrationssignale in einem grossen
Frequenzbereich mit geringer Dämpfung.
Sensoren für Substratvibrationen sind die Spaltsinnesorgane (Abb. 5.21), die auf den Spinnen-
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beinen in der Nähe von Gelenken sitzen. Die Spaltsinnesorgane reagieren schon auf Schwingungsamplituden der Tarsen von 1 bis 10 nm. Wenn mehrere, bis über 20 Spaltsinnesorgane parallel ausgerichtet zu einem gemeinsamen Organ, dem lyriformen Organ, zusammengefasst sind (Abb. 5.21),
erhöht sich die Vibrationsempfindlichkeit. Einzelne
Spaltsinnesorgane können auf unterschiedliche
Frequenzen abgestimmt sein.
Die acht Spinnenbeine sitzen auf dem Substrat
wie Fühler, die das Umfeld in einem Kreis von 360°
abtasten. Bei der Jagdspinne Cupiennius hat dieser
Abtastkreis einen Durchmesser von 10 cm, was zu
deutlichen Amplituden- und Zeitunterschieden zwischen diagonal positionierten Beinen führt. Das am
stärksten bzw. als erstes vibrierende Bein zeigt der
Spinne die Richtung zur Reizquelle an. Netzspinnen
0
können sich auf 3–4 genau zur Vibrationsstelle hin
38
ausrichten. Die Signale enthalten offensichtlich
auch Entfernungsinformationen.
Spinnen nutzen mit Hilfe der Spaltsinnesorgane
die Blätter als Informationsquelle zur Detektion und
groben Lokalisierung von Beute, aber auch zur
Kommunikation durch Klopfsignale. Spinnen müssen daher den Frequenzgehalt von Substratvibrationen unterscheiden können: Durch Wind
erzeugte Blattvibrationen werden von den Sensoren
nicht rezipiert. Vibrationen laufender Beute, z.B.
Schaben, enthalten hohe Frequenzen (600 Hz) und
sind breitbandig. Es gibt Insekten, die beim Laufen
so schwache und niederfrequente Vibrationen auslösen, dass die Spinnen sie nicht entdecken. Auch gibt
es Insekten, die sich so “vorsichtig” bewegen, dass
sie von Spinnen nicht entdeckt werden und als
Kleptoparasiten im Spinnennetz leben. Sie schleichen sich an die Beute der Spinne heran und schneiden sie vorsichtig aus dem Netz heraus.
Schliesslich benutzen Spinnen, z.B. die
Jagdspinne Cupiennius, Substratvibrationen zur
Werbekommunikation zwischen Männchen und
Weibchen (Abb. 5.22). Das Männchen “ruft” mit
Klopfsignalen, sobald es auf eine Pheromonspur
eines Weibchens trifft. Die Klopfantwort führt das
Männchen aus bis zu 1,5 m Entfernung zum
Weibchen hin. Die Männchen klopfen eine Salve
von Silben, während das Weibchen nur mit einem
Silbensignal antwortet. Die Silbenlänge entscheidet
u.a., ob das Weibchen auf das Werben des
Männchens eingeht.
Sinnesleistungen bei Tieren – mechanisch
18. Das Seitenliniensystem von Fischen
Wasser ist ein dichtes Medium. Es leitet mechanische Signale daher über weite Strecken. Jede Bewegung im Wasser erzeugt Strömungen und Druckwellen. Bei Fischen und bei ständig im Wasser lebenden Amphibienarten nimmt das Seitenliniensystem
Wasserbewegungen relativ zum Körper wahr. Das
Seitenliniensystem besteht aus
• Kanälen, die in die Haut versenkt und über Poren
mit dem Aussenwasser verbunden sind (Abb. 6.1),
• aus Neuromasten, die in Reihen angeordnet frei
auf der Haut stehen (Abb. 6.2).
Fische besitzen sowohl Seitenlinien als auch freie
Neuromasten, wobei der jeweilige Anteil von der Lebensweise abhängt. Bei Fischen, die vorwiegend in
ruhigen Gewässern stehen überwiegen Neuromasten.
Fische, die ständig schwimmen oder in schnell fliessenden Gewässern leben, haben dagegen Kanäle, die
sich in der Kopfregion verzweigen und als lange
Seitenlinie beidseitig entlang des Rumpfes bis zum
Schwanz ziehen. Schwarmfische, wie Heringe und
Sardinen, verkürzen das Kanalsystem zugunsten
eines reich verzweigten Kanalnetzes am Kopf.
Die Sinneszellen des Seitenliniensystems sind die
Haarzellen. Zusammen mit Stützzellen bilden mehrere Haarzellen ein längliches Polster, aus dem nur
die 0,5–5 µm langen 40–50 Stereozilien jeder
Haarzelle und das bis zu 40 µm lange Kinozilium
herausragen (Abb. 6.2b). Alle Zilien eines Sinnespolsters sind in einer Gallertfahne, der Cupula, zu
einem einheitlichen, reizaufnehmenden Organ, dem
Neuromasten, zusammenfasst. Die Polarität der Zilien ist so angeordnet, dass die Haarzellen nur auf
Bewegungen in Längsrichtung der Cupula ansprechen: ein Teil der Haarzellen auf Wasserbewegungen, die vom Kopf her kommen, der andere auf
die Gegenbewegung vom Schwanz her.
Die Nervenfasern feuern im Ruhezustand mit
einer regelmässigen Spontanaktivität, die durch die
Auslenkung der Cupula richtungsabhängig moduliert
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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wird. Die Differenz zwischen Körper- und Wasserbewegung lenkt die Cupula aus. Die Cupula hat ein
spezifisches Gewicht von 1,0, stellt dem Wasserstrom also kaum Trägheits-Widerstand entgegen. Die
Cupula wird vielmehr durch visköse Reibungskräfte
von der Wasserbewegung mitgenommen. Die
Erregung korreliert mit der Geschwindigkeit der
Wasserbewegung. Dies gilt vor allem für kleine Cupulae und langsame, niederfrequente Reize von bis
zu einigen 10 Hz. Bei höheren Reizfrequenzen und
langen Cupulae gewinnen bei der Reizankopplung
Trägheitsmomente das Übergewicht, womit der Reiz
durch die Beschleunigung der Wasserbewegung
zustande kommt. Dies trifft auf die Kanalorgane zu.
Das viskös gekoppelte System ist sehr empfindlich. Schon eine relative Wasserbewegung um 0,1
µm bzw. eine Verschiebung der Cupula um ca. 2 nm
führt zu einer Erregung. Während die freien Neuromasten unmittelbar der Wasserströmung ausgesetzt
sind, werden Kanalorgane nur gereizt, wenn sich das
Wasser im Kanal relativ zur Kanalwand bewegt. Solche Bewegungen des Kanalwassers entstehen durch
lokale Druckdifferenzen über benachbarten Kanalporen. Deshalb stehen die Kanalorgane in der Mitte
zwischen zwei Porenöffnungen. Die Kanäle erzeugen eine enge Richtungsspezifität, denn nur Wasserbewegungen ±8° in Längsrichtung der Kanäle führen
zu Cupulaverschiebungen. Durch eine entsprechende
gerichtete Anordnung der Kanäle in der Kopfregion
können Fische sehr genaue Richtungsinformationen
über Bewegungsquellen im Wasser erhalten.
Aufgrund der Anordnung der Neuromasten und
Kanäle über den ganzen Kopf und entlang des
Rumpfes bildet das Seitenliniensystem die Verteilung lokaler relativer Wasserbewegungen bzw. die
Verteilung der Druckgradienten über den ganzen
Körper ab. Die Haut als Ganzes wirkt als omnidirektionaler Wasserbewegungs-Sensor.
Alles, was sich im Wasser bewegt, die Schwimmbewegungen von kleinen Krebsen ebenso wie die periodischen Flossenbewegungen von Nachbarfischen,
erzeugt einen inkompressiblen Wasserfluss unmittelbar an der Reizquelle und eine Wasserdruckwelle. Da
der Wasserfluss mit 1/λ3 (λ: Wellenlänge des Reizes)
mit dem Abstand von der Reizquelle abnimmt, steht
diese Information nur in nächster Nähe zur Verfügung. Druckwellen nehmen aber nur mit 1/λ ab, reichen also weiter. Die Detektionsreichweite des Seitenliniensystems ist daher begrenzt auf einen Radius,
der sich nur bis zur 3–5-fachen Fischlänge erstreckt.
Warum verstecken Fische, die in ständiger Wasserbewegung leben, ihre Bewegungsdetektoren in Ka-
40
nälen? Die Kanäle wirken als Frequenzfilter, die niederfrequente Reize, z.B. Brandungswellen, herausfiltern. Wasser wirkt generell als Tiefpassfilter, daher
kennzeichnen niedere Frequenzen ferne Reizquellen,
die für den Fisch weniger interessant sind. Solch niederfrequentes Hintergrundsrauschen wird durch die
Kanäle weggefiltert. Freistehende Neuromasten antworten am besten auf niederfrequente Reize zwischen
10 und 60 Hz, Kanalorgane dagegen erst ab 50 Hz bis
mehrere hundert Hz. Je nach Lebensweise der Fische
können die Kanäle unterschiedlich gestaltet sein und
damit unterschiedlich stark als Hochpassfilter wirken
(Abb. 6.4). Die Kanalorgane variieren in
• der Weite des Kanals (0,1–7 mm) und der
Elastizität der Kanalwand,
• der Zahl, Weite und Verteilung der Kanalporen,
• der Grösse und Form der Cupulae.
Je enger der Kanal und je starrer die Kanalwand,
desto mehr wirkt der Kanal als Hochpassfilter. Bei
sehr weiten Kanälen stehen die Sinnespolster oft quer
im Kanal und die grosse Cupula füllt den ganzen
Kanalquerschnitt aus. Fische mit weiten Kanälen
leben bevorzugt sedentär im unbewegten Wasser.
Weite Kanäle haben Barsche, die am Boden leben
und nachtaktiv sind, während Fische mit engen Kanälen in schnell fliessenden Gewässern zu finden sind
und oft bei Tag visuell gesteuert ihre Beute suchen.
Das Seitenliniensystem funktioniert im Nahfeld
einer Reizquelle, optimal im Umkreis von 1 bis 1,5
Fischlängen. Fische, aber auch andere Wassertiere,
setzen das Seitenliniensystem bei der Nahorientierung überall dort ein, wo die optischen Informationen
nicht mehr ausreichen. Arktische Fische, die lange
Perioden im Dunkel unter dicken Eisschichten leben,
können mit ihren Seitenlinien Amphipoden lokalisieren (Abb. 6.6). Bei Fischen, die in grossen Schwärmen schwimmen, liefert das Seitenliniensystem
Informationen über den Abstand zu benachbarten
Fischen und deren Schwimmweise und Richtung.
Viele Fische stellen sich in die Strömung und halten
schwimmend ihre Position. Diese rheotaktische
Reaktion wird u.a. von den freien Neuromasten auf
der Fischhaut gesteuert, die am besten auf langsame
Strömungen von 3–9 m/s antworten.
Fische erzeugen durch ihre Flossenbewegungen
um sich herum ein Flussfeld, das von Gegenständen
in der Nähe reflektiert wird. Aus solchen reflektierten Stauwellen-Störungen im selbst erzeugten Feld
können Fische Informationen über Gegenstände in
der Nähe erhalten. Blinde Höhlenfische nutzen diese
Möglichkeit zur aktiven mechanischen Ortung aus.
Sinnesleistungen bei Tieren – mechanisch
19. Die Ortung von Beute anhand von Oberflächenwellen
Eine Wasseroberfläche verhält sich aufgrund der van
der WaaI’schen Kräfte wie eine elastische Membran.
Oberflächenwellen entstehen durch scherende
Windkräfte, durch die Anziehungskräfte zwischen
Mond und Erde (Gezeiten), aber auch lokal durch
herabfallende Objekte und Bewohner des Wasserspiegels. Da Wasser nicht komprimierbar, reibungsarm und homogen ist, pflanzen sich Oberflächenwellen kaum in die Wassertiefe fort.
Es gibt eine Reihe von Fischen, Amphibien, Insekten und Spinnen, die Wasseroberflächen bejagen.
Während vom Wind erzeugte Wellenfronten eine
Frequenz von etwa 1,4 Hz aufweisen und 10 Hz nie
übersteigen, produzieren auf dem Wasser zappelnde
Insekten kurze und längeranhaltende (10–60 s) konzentrische Wellen im Frequenzbereich von 5–100 Hz
mit Amplituden von 2–80 µm. Diese Oberflächenwellen breiten sich mit frequenzabhängiger Geschwindigkeit aus: bis 13 Hz nimmt die Geschwindigkeit auf 23,1 cm/s ab und steigt für höhere
Frequenzen wieder kontinuierlich an (z.B. 140 Hz,
v = 40,37 cm/s; Abb. 6.8a). Fällt also ein Insekt auf
das Wasser, so entsteht ein Klickartiger Wellenimpuls, der sich konzentrisch als frequenzabwärtsmoduliertes Signal ausbreitet, weil die hohen Frequenzen mit höherer Geschwindigkeit wandern. Gleichzeitig wirkt die Wasseroberfläche als Tiefpassfilter, da
bei der Ausbreitung die Amplituden mit steigender
Frequenz rapide abnehmen. Der Frequenzgehalt einer
Oberflächenwelle birgt also Informationen über den
Abstand zum Wellenmittelpunkt.
Es gibt Fische, die ihr Seitenliniensystem auf die
Detektion und Ortung von Oberflächenwellen spezialisiert haben. Ein Modellfisch hierfür ist
Aplocheilus spec. Dieser Fisch steht so an der
Wasseroberfläche, dass sein abgeflachter Kopf mit
dem Wasserspiegel abschliesst. Die Seitenlinien auf
der planen Kopffläche sind kurze Kanalstücke, die
im rechten Winkel zueinander angeordnet sind.
Bewegt sich ein Insekt auf der Wasserfläche, so
schwimmen diese Fische aus bis zu 50 cm Entfernung gezielt auf das Insekt zu und versuchen es zu
schnappen. Ihre Kopfseitenlinien reagieren auf hohe
Frequenzen besonders gut, bei Aplocheilus beträgt
die Schwelle für 100–140 Hz nur 20 nm und bei
Pantodon für 150 Hz sogar nur 0,7 nm. Die Fische
entnehmen den Wellen genaue Informationen über
Richtung und Entfernung des Wellenmittelpunktes.
Ausschaltversuche haben gezeigt, dass die Fische die
Richtung aus Phasen- und lntensitätsdifferenzen zwischen entsprechenden Kopfkanälen der linken und
rechten Seite ermitteln. Reduziert man das Seitenliniensystem des Kopfes auf einen Neuromasten,
werden die Fische desorientiert. Verhaltensversuche
mit künstlich erzeugten Oberflächenwellen definierten Frequenzgehalts haben gezeigt, dass die Fische
die Entfernung zum Wellenmittelpunkt aus dem
Frequenzgehalt entnehmen (Abb. 6.8c). Reizt man
Fische mit einem frequenzmodulierten Signal, das
einer Welle aus 15 cm Entfernung entspricht, so
schwimmen sie über die in 7 cm Entfernung liegende Reizquelle hinaus (Abb. 6.8 c). Die Fische können
Frequenzen von Wellen auf 1,5–2 Hz genau auflösen.
Der Krümmungsradius wird als zusätzliches
Kriterium herangezogen. Sie errechnen den Krümmungsradius aus der unterschiedlichen Ankunftszeit
einer Welle an den verschiedenen Neuromasten des
Kopfes. Diese Messmethode setzt allerdings eine
neuronale Zeitauflösung im µs-Bereich voraus. Da
sie die Entfernung auch mit einem einzigen Seitenlinienorgan richtig abschätzen, ist die Bestimmung
des Krümmungsradius für die Distanzbestimmung
nicht notwendig.
Oberflächenwellen können auch zur Kommunikation benutzt werden. Bei Gefahr ,,ruft“ z.B. das
Männchen des Kampffisches Betta spiendens seine
Jungen zu sich, indem es sich schräg an die
Wasseroberfläche hängt und mit der Brustflosse zitternde Bewegungen macht, welche Oberflächenwellen auslösen. Im Umkreis von 40 cm schwimmen
alle Jungfische zu ihm hin. Man kann das Verhalten
auch mit einer künstlichen Reizquelle von 8–10 Hz
und einer Amplitude von 13 µm auslösen und innerhalb einer Minute alle Fische um die Reizquelle versammeln.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Sinnesleistungen bei Tieren – mechanisch
20. Beispiele für die Kommunikation über den Boden (seismische Signale)
Amphibien
Wenn Frösche im Ufergebüsch rufen, erzeugen sie
manchmal nicht nur Luftschall, sondern auch Vibrationen im Boden, die entstehen, wenn die sich aufblähende Schallblase fast explosionsartig auf dem
Boden aufschlägt. Diese Bodenvibrationen werden
als seismische Reize oder Substratschall bezeichnet.
Der mittelamerikanische Weisslippenfrosch (Lepto
dactylus albilabris) sitzt halb im Schlamm und
erzeugt bei seinen Werbe- und Angriffsrufen niederfrequenten Bodenschall (Spitzenfrequenz ca. 50 Hz),
der sich mit ca. 100 m/s flächig ausbreitet und in 1 m
Entfernung noch eine Beschleunigung von 2·10–3 g
aufweist (Abb. 5.39). Sacculus-Nervenfasern ant-
Säugetiere
Säugetiere, die in unterirdischen Gängen oder auf
Sanddünen leben, trommeln mit den Hinterbeinen,
um zu kommunizieren (Abb. 5.40a). Der grosse,
blinde Kap-Blessmull (Georhychus capensis;
Gewicht 180–360 g) lebt einzeln in bis zu 130 m langen Gangsystemen. Zu Nachbarn halten die Tiere
beim Graben ihrer Gänge ca. 1 m Abstand. Diese
Einzelgänger kommunizieren beim Werben um ein
worten auf solchenBodenschall besonders empfind
lich (Schwelle für 10–80 Hz bei 10–6 g. Aber auch
niederfrequent abgestimmte Hörnervenfasern aus der
Amphibienpapille mit besten Frequenzen <500 Hz
reagieren auf seismische Reize.
Substratschall nutzen Froschmännchen u.a. um
sich beim Werbechor mit ihren Rufen in die Rufpausen einzuklinken. Bei einem malayischen Baumfrosch (Polypedores) sitzen die Weibchen auf Schilfstengeln und Blättern und trommeln mit den Zehen
ihrer Hinterbeine. Diese Substratsignale locken
Männchen, die auf benachbarten Halmen sitzen, zur
Kopulation an.
W
e
i
b
chen durch Fusstrommeln. Die Sequenzen solcher
Bodenschallsignale sind nicht nur geschlechtsspezifisch, sondern auch individuell unterschiedlich
und könnten den Sender zu erkennen geben.
Die Ohren der blinden Mullarten sind an den
niederfrequenten Bereich des Bodenschalls angepasst. Der Malleus des Mittelohres ist mächtig und
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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wiegt z.B. bei Emeritalpa 45 mg, ist also um mehr
als 17 mg schwerer als der des ungleich grösseren
Menschen. Der Graumull (Crypromys) bildet auf der
Basilarmembran des Innenohrs das Frequenzband
von 0,6 bis 1 kHz gespreizt in einer Hörfovea ab. Die
kleinen, blinden Goldmulle (Eremitalpa granti der
Namibwüste scheinen Bodenschall zum Beutefang
zu nutzen (Abb. 5.40b). Sie gehen nachts auf den
Sanddünen auf Insektensuche, wobei sie es vor allem
auf Termiten abgesehen haben. Sie trippeln rasch
über den Sand, wobei sie immer wieder den Kopf
kurz in den Sand stecken oder streckenweise regelrecht im Sand unmittelbar unter der Oberfläche
schwimmen. Dabei steuern die blinden Tiere zielge-
44
richtet Termitenhügel an, die sie über Bodenschall
lokalisieren: wenn der Nachtwind über die meist mit
Gras bewachsenen Termitenhügel streicht, entsteht
Bodenschall, der bei 300 Hz um 30 dB stärker ist als
der Wind-erzeugte Bodenschall auf der Dünenoberfläche. Den auf den Hügeln erzeugten Bodenschall
hören die Tiere beim Sandschwimmen ab oder wenn
sie den Kopf in den Boden stecken. Er führt sie zielgerichtet aus bis zu 20 m Entfernung an die Hügel
heran. Ab etwa 1 m Entfernung vom Hügel signalisieren Bodengeräusche der Termiten, ob der Hügel
bewohnt ist oder nicht. Die Tiere nutzen also sehr
geschickt den homogenen Wüstensand als Detektionsmedium für Bodenschall, der sie mit hoher
Sinnesleistungen bei Tieren – elektrisch
21. Elektrorezeption
Zu den “Wundern der Natur” zählten seit alters her
elektrische Fische, Welsarten und Zitterrochen, die
mit besonderen, aus Muskeln oder Nerven entstandenen, elektrischen Organen Spannungspulse entladen können. Die Entladungen von bis zu 350 V
sind wirksame Abwehrwaffen, eignen sich aber
auch zum Betäuben von Beutefischen.
In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden
Fische entdeckt, die elektrische Entladungen von so
geringer Spannung abgeben, dass sie als Waffe nicht
in Frage kommen. Zum andern wusste man seit langem, dass es bei elektrischen, aber auch nicht-elektrischen Fischen in der Haut Sinnesorgane gibt –
Ampullen, Knollenorgane, Mormyromasten –,
deren Funktion unbekannt war. Ein klassischer
Verhaltensversuch löste das Rätsel: Haie, die in ihrer
Haut zahllose Ampullenorgane besitzen, können im
Sand eingegrabene, lebende Schollen entdecken und
lokalisieren. Der Hai schwimmt jedoch achtlos über
die Scholle hinweg, wenn diese in einem elektrisch
isolierenden Plastikkasten lag, der die biogenen
elektrischen Felder abschirmte. Vergrub man im
Sand anstelle der Scholle zwei geladene Elektroden,
suchte der Hai fieberhaft über diesem elektrischen
Feld nach Futter, selbst dann, wenn daneben zerhakktes Schollenfleisch aus dem Sand herausduftete.
Elektrosensitivität gibt es bei bestimmten
Gruppen von Knorpel- und Knochenfischen, bei
Neunaugen und bei aquatisch lebenden Amphibien.
Die Elektrorezeptoren haben sich stammesgeschichtlich aus den Seitenliniensystemen entwickelt.
Dafür sprechen:
• die Repräsentation der Elektrorezeptoren in den
Gehirnzentren des Seitenliniensystems,
• die Rezeptoren, die den Haarzellen der
Seitenlinienorgane gleichen.
Die Wahrnehmung elektrischer Felder wird in verschiedenen Zusammenhängen eingesetzt. Elektrische wie nicht-elektrische Fische benutzen ampulläre Rezeptoren zur Detektion und Lokalisierung lebender Objekte. Die schwachelektrischen Fische
erzeugen lange puls- oder wellenförmige Entladungsfolgen mit art- und geschlechtsspezifischen
Frequenzen von 0,1 bis 10 kHz und Feldstärken von
1 µV/cm bis 100 mV/cm. Diese schwachen Wechselfelder benutzen die Fische zur Elektroortung
und zur Kommunikation. Es gibt zwei grosse Familien schwachelektrischer Fische, die Mormyriden oder Nilhechte aus schlammreichen Flüssen
Afrikas und die Gymnotiden oder Messeraale aus
den Schwarzwasserflüssen Südamerikas.
Die meisten Mormyriden entladen pulsartige
Signale mit breitbandeigem Spektrum in unregelmässiger Folge von einigen bis 100 Hz. Viele Gymnotiden sind „wave-type“ Entlader, die kontinuiertlich sinusähnliche Signale mit schmalbandigem
Spektrum und Frequenzen von etwa 40–2000 Hz
aussenden (Abb. 7.1).
Elektrorezeptororgane
Ampullenorgane sind die stammesgeschichtlich ältesten Elektrorezeptoren, die in der Haut aller elektrosensitiven Fische vorkommen. Durch Epidermisinvagination sind sie in die Tiefe der Haut versenkt
und stehen nur über Schleim-gefüllte Kanäle mit
dem Wasser in Verbindung (Abb.7.3). Die Kanalgallerte hat einen elektrischen Widerstand von nur
25–30 Ohm·cm2, die Haut dagegen 3 kOhm·cm2. Sie
dient als Ionenpuffer, der die K+-angereicherte Ampulle gegen das Aussenmedium schützt. Die Kanalwände isolieren elektrisch gut. Mit ihrer Membrankapazität schliessen sie hochfrequente Signale kurz
(Abb. 7.3) und wirken so umso mehr als Tiefpassfilter für die Rezeptoren, je länger die Kanäle sind.
Am Grunde einer Ampulle sitzen drei oder vier
bis mehrere 100 Elektrorezeptoren von Stützzellen
umgeben so tief in der Ampullenwand, dass nur das
apikale Membranende mit dem Kanallumen Kontakt
hat. Die in die Haut eingebetteten Zellwände sind
mit den Nachbarzellen ionendicht verknüpft, so dass
nur durch die apikale Membranfläche Strom fliessen
kann. Gleichzeitig wirkt die kleine Membranfläche
als Filter, das nur auf Wechselfelder niederer
Frequenz, bis ca. 50 Hz, antwortet. Dadurch wird
das System vor Gleichspannungen des eigenen
Körpers geschützt. Externe Gleichspannungsquellen
können gleichwohl erkannt werden, wenn die Fische
sich mit ihren Elektrorezeptoren durch das externe
elektrische Feld bewegen.
Diese Struktur macht Ampullenrezeptoren zu
hochempfindlichen Spannungsdetektoren, die schon
auf Spannungsgradienten von 0,1–5 µV/cm ansprechen (Abb. 7.2). Durch die Rezeptoren fliesst ein
ständiger Ruhe-Gleichstrom, der sie tonisch aktiviert
(Abb. 7.2c). Elektrische Spannungsgradienten über
der Haut modulieren diese gleichförmige Ruheentladung je nach Polarität nach oben oder unten.
Insgesamt besteht eine hohe Empfindlichkeit für
kleinste Spannungsgradienten in beide Richtungen,
die aber rasch adaptiert (Abb. 7.2). Im Zentralnervensystem werden die Eingänge von Ampullenorganen zusammengeschaltet, wodurch die Empfindlichkeit gegenüber dem Rezeptorniveau um Zehnerpotenzen erhöht wird. In Verhaltenstests reagieren
Z.B. Haie und Rochen noch auf Spannungsgradienten von 5 nV/cm.
Das hochempfindliche Ampullensystem dient
der Elektrolokation. Alle lebenden Organismen erzeugen mit ihren Zellaktivitäten schwache,
niederfrequente elektrische Felder, auf die das
Ampullensystem anspricht. Damit lassen sich unbewegliche, im Wassergrund oder der Vegetation versteckte Tiere lokalisieren (Abb. 7.4). Die Dichte der
Ampullen in der Haut verrät, wie sehr eine Fischart
auf einen solchen Nahrungserwerb angewiesen ist.
Die empfindlichen Ampullen der Elasmobranchier
können die Vektoren des Erdmagnetfelds an den
winzigen elektrischen Strömen erkennen, welche
die Fische durch ihre eigene Bewegung im Magnetfeld induzieren.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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45
Tubulusorgane
Die schwach elektrischen Fische besitzen zusätzliche Elektrorezeptoren, die auf ihre eigenen, hochfrequenten elektrischen Entladungen abgestimmt
sind. Diese Tubulusorgane sitzen ebenfalls tief in
der Haut versenkt (Abb. 7.3). Sie sind zum Wasser
hin durch Schichten von Deckzellen abgeschlossen
und dadurch kapazitiv mit dem Wasser gekoppelt.
Tubuläre Organe wirken daher wie Hochpassfilter
und antworten nur auf hochfrequente Wechselfelder. Der Rand des Organs wirkt durch wie eine
elektroundurchlässige Umfassung, so dass die
Deckzellen unmittelbar über dem Tubulusrezeptor
wie eine elektrische Linse die Spannungsgradienten
auf das Tubulusorgan lenken.
Abb. 7.1a,b. Die elektrischen Entladungen schwach elektrischer Fische. a Formen
elektrischer Entladungen (EOD electric organ discharge) und ihre häufigsten
Frequenzen bei den unterschiedlichen Fischgruppen. b Schematische Darstellung einer
pulsförmigen (pulse-type EOD) von und einer wellenförmigen Entladung (wave-type
EOD). Rechts: Jeweils das zugehörige Frequenzspektrum. a nach Bullock u.
Heiligenberg 1986; b nach Metzner u. Viete 1996
Abb. 7.2. a Schematische Darstellung der Lage des elektrischen Organs und der Elektrorezeptoren in der Haut (Rezeptorareale) beim Mormyriden Gnathonemus petersii. b
Schema eines ampullären Elektrorezeptors, der ionendicht in die Haut eingebettet ist.
Der elektrische Widerstand der apikalen Membran ist geringer als der der basolateralen
Rezeptormembran. ‚ Der spontan aktive, afferente Nerv des Rezeptors (1) ist sehr empfindlich für Ströme, die nach innen (2, Erregung) und nach aussen (3, Hemmung) durch
den Rezeptor fliessen. Aus Eckart -Randall 1986
46
Abb. 7.3. Schematische Darstellung von Elektrorezeptortypen. Ampullenorgane gibt es
auch bei nicht-elektrischen
Fischen, Tubulusorgane bei
Gymnotiformen. Aus Bullock u.
Heiligenberg 1986 und Metzner
u. Viete 1996
Sinnesleistungen bei Tieren – elektrisch
22. Kommunikation und Ortung mit elektrischen Feldern
Kommunikation bei schwach elektrischen
Fischen
Durch die Parallelverarbeitung wichtiger Parameter
– wie Phase, ansteigende oder abnehmende Amplitude (Tubulusorgane), Gleichspannungsanteile
(Ampullenorgane) – und deren neuronale Verstärkung und Kombination in höheren Hirnzentren können die Mormyriden und Gymnotiden die Form von
elektrischen Wechselfeldern genau differenzieren.
Sie nutzen diese Fähigkeit aus, um anhand der Entladungsformen und Wiederholraten Artgenossen
von Artfremden und innerhalb der Art Individuen,
z.B. Geschlechtspartner, zu unterscheiden (Abb.
7.10). Fremdentladungen können grundsätzlich an
den entgegengesetzten Vorzeichen über Rezeptoren
der linken und rechten Körperseite erkannt werden
(Abb. 7.11). Es ergab sich, dass selbst Individuen
aufgrund des Zeitverlaufs, der relativen Amplitude
und des Spektrums identifiziert werden können.
Beim Messerfisch Eigenmannia (Gymnotide) variiert die Entladefrequenz individuell zwischen 150
und 600 Hz, wobei dominante Männchen die niedrigsten, und dominante Weibchen die höchsten Entladefrequenzen haben. Die elektrischen Signale dienen also auch der sozialen Interaktion. Bei der Balz
und Aggression zerhacken Männchen von Eigenmannia ihre kontinuierlichen Entladungen zu kurzen
Salven (chirps). Dazwischen liegen bis zu 2 s lange
Pausen mit einem Gleichspannungsfeld (Kopf negativ gegenüber Schwanz). Die chirps werden von den
Tubulusorganen, die Gleichspannungskomponente
von den Ampullenorganen kodiert (Abb. 7.11). Im
Mittelhirn finden sich Neurone, die von Tubulusund Ampullensystem Eingänge erhalten und spezi-
Abb.
7.10
Artund
Geschlechtsspezifität
der
Entladungsformen des elektrischen Organs (EOD) adulter
Individuen von zehn Mormyridenarten. Positive Entladungen
sind nach oben gerichtet. Nach Alves-Gomes 1997
Abb. 7.11 Elektrokommunikation. Für die soziale
Kommunikation sendet Eigenmannia spec. (Gymnotidae) kurze
Salven elektrischer Entladungen (chirps) aus. In den Pausen
bleibt die Spannung negativ. Während Elektrorezeptoren der linken und rechten Seite des Senders diese chirps mit gleichem
Vorzeichen rezipieren (Pfeile), nehmen die Elektrorezeptoren
eines benachbarten Fisches (blau) als Empfänger des
Fremdsignals die chirps links und rechts mit entgegengesetztem
Vorzeichen wahr (blau). Unten: Die chirps werden durch das
Tubulussystem als Hochpassfilter analysiert, während das
Ampullensystem als Tiefpassfilter die Umhüllende der chirpsSequenzen kodiert. Nach Metzner u. Viete 1996
fisch auf solche chirps antworten. Weibchen dieser
Fische laichen nur, wenn sie längere Zeit solchen
elektrischen chirps balzender Männchen ausgesetzt
waren. Aggressionsbereitschaft wird oft durch
Erhöhen der Sendefrequenz signalisiert.
Feldbeobachtungen an diesen nachtaktiven oder
in trüben Gewässern lebenden Fischen sind schwierig, deshalb gibt es noch keine verlässlichen Daten,
in welchem Ausmass elektrische Signale das Sozialverhalten der schwach elektrischen Fische steuern.
In jedem Fall beschränkt sich Elektrokommunikation auf den Nahbereich, bei 20 cm langen Mormyriden z.B. auf einen Umkreis von maximal 1 m.
Elektroortung bei schwach elektrischen Fischen
Wenn ein Gymnotide oder Mormyride nahe an
Gegenständen vorbeischwimmt, erzeugen deren
elektrische Eigenschaften lokale Amplituden- und
Phasenmodulationen des vom Fisch erzeugten
Wechselfelds (Abb. 7.12). Objekte mit geringerem
elektrischem Widerstand als das Wasser verdichten
das lokale elektrische Feld, solche mit höherem
Widerstand dünnen es aus.
Auf der elektrosensorischen Hautfläche werden
die Objekte mit einem schmalen antagonistischen
Umfeld abgebildet (Abb. 7.12c). Da das elektrische
Feld mit der Entfernung vom Fisch rasch abnimmt
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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Abb. 7.12a–c Elektrodetektion. a
Gegenstände verändern das vom
Fisch erzeugte elektrische Feld. Gute
elektrische Leiter, wie Tiere und
Pflanzen, verdichten Feldlinien;
schlechte Leiter, wie Steine, werden
von den Feldlinien umflossen. b
Amplitudenmodulation des elektrischen Feldes durch einen guten
(Metall) und einen schlechten Leiter
(Plastik) in Abhängigkeit von der
Entfernung (cm-Angaben). Durch
diese Modulationen wird der
Gegenstand auf der elektrosensorischen Haut repräsentiert. c Das
Elektrobild eines Gegenstandes hat
ein antagonistisches Umfeld (äusserer, negativer Ring), das den Kontrast
erhöht. Die Grösse des Elektrobildes
auf der Haut hängt von der Entfernung des Objektes ab. Nach v. d.
Emde 1999a.
eignet sich die Elektrolokation nur für die nächste
Umgebung; eine Faustregel besagt, dass die Reichweite etwa der halben Fischlänge entspricht. Ausserdem sind die Modulationen gering. Ein exzellenter
elektrischer Leiter, z.B. ein Messingstab von 11 mm
Durchmesser, erzeugt in 4 cm Entfernung von der
Fischhaut eine Amplitudenmodulation von nur 1%.
Schwachelektrische Fische explorieren daher Gegenstände, indem sie nahe daran vorbeischwimmen und
die lokalen Differenzen der Feldmodulationen neuronal auswerten (Abb. 7.12c).
Die elektrische Abbildung ist begrenzt, und die
“Elektrobilder” sind verschwommen. Die Fische setzen die Elektrolokation bei der Nahrungssuche als
Hilfsmittel ein. Mormyriden leben u.a. von Zuckmückenlarven. Solange sie ihre Beute sehen können,
dominiert bei der Suche das Auge und erst in der
Dunkelheit spielt Riechen zusammen mit Elektrolokation eine grössere Rolle.
Mit der Leitfähigkeit des Wassers nimmt die Amplitude des elektrischen Feldes rasch ab. Im Experiment konnten Fische Gegenstände nicht mehr
elektrisch lokalisieren, wenn die Leitfähigkeit des
Wassers 1 mS/cm überstieg, vermutlich weil die
Feldstärken in gut leitendem Wasser zu gering wurden. Gymnotiden sind in ihren Flüssen Wasserleitfähigkeiten von 0,1 mS/cm in der Trockenzeit,
und bis ca. 1–10 µS/cm in der Regenzeit ausgesetzt.
Die in Laborversuchen nachgewiesenen Abbildungsmöglichkeiten des elektrosensitiven Systems
sind erstaunlich differenziert. Da es jedoch nur im
unmittelbaren Nahbereich funktioniert, ist es fraglich, ob die Elektrolokation im Leben dieser Fische
eine so grosse Rolle spielt.
48
Elektroortung bei Säugetieren
Ein eindrucksvolles Beispiel für konvergente Evolution liefert die Elektrosensitivität beim Schnabeltier.
Bei Ornithorhynchus anatinus, dem australischen
Schnabeltier, wurden auf dem Hornschnabel, mit
dem das Tier das Wasser nach Kleinlebewesen (z.B.
Krebsen) durchsucht, an den Rändern Elektrorezeptoren entdeckt und in Verhaltensversuchen gezeigt,
dass das Schnabeltier Gleich- und Wechselstromquellen orten kann. Dieses Elektrorezeptionssystem
ist de novo aus dem somatosensorischen System entstanden. Die Detektionsschwellen liegen beim
Schnabeltier bei ca. 50 µV/cm. Freie Nervenendigungen in Schleimdrüsen des Schnabelrandes bilden
die Elektrorezeptoren. Jede Schleimdrüse enthält im
Schnitt 16 freie Nervenendigungen, die ringförmig
miteinander verbunden sind und so vermutlich das
Signal-/Rauschverhältnis verbessern..
Das Schnabeltier lebt in trüben Gewässern und
schliesst die Augen und die Nasenöffnungen, wenn
es unter Wasser jagt. Elektrorezeptoren liefern im
Nahbereich wahrscheinlich die wichtigsten Informationen, um Beute erfolgreich fangen zu können.
Chemische Signale: Pheromone
Kommunikation und Wegweisung mittels
chemischer Signale gibt es schon bei
Einzellern
Kommunikation über chemische Stoffe ist die evolutionsgeschichtlich älteste Form der Informationsübermittlung zwischen den Mitgliedern einer Fortpflanzungsgemeinschaft. Chemische Signale tauschen schon Bakterien und Einzeller aus. Mit der
Entfaltung der vielzelligen Organisation wurden solche Signalsubstanzen, insoweit sie Botschaften
innerhalb des vielzelligen Verbandes vermittelten,
zu Hormonen und Transmittern.
Andererseits blieb auch chemische Kommuni
kation zwischen verschiedenen vielzelligen
Verbänden über das Aussenmedium Wasser oder
Luft erhalten. Beispielsweise dienen chemische
Signale auf mehreren Ebenen der sexuellen
Fortpflanzung. Unbewegliche, mit materiellen
Resourcen vollbeladene weibliche Gameten
(Makrogameten, Eier) senden flüchtige Stoffe aus,
um die kleineren, beweglichen Gameten (Mikrogameten, Spermien) anzulocken. Man nennt solche
zwischen Gameten wirksame Sexuallockstoffe Gamone. Gamone wiederum zählen zu den Pheromonen. Zu diesen zählen auch die Sexuallockstoffe,
die ein Rendesvouz zwischen den Produzenten der
Gameten vermitteln.
Lüfte fliegen soll, sollte flüchtig sein. Flüchtig sind
niedermolekulare, lipophile (apolare oder gering
polare) Substanzen. Die Mehrzahl der bisher identifizierten Pheromone sind Fettsäuren, flüchtige
Derivate von Fettsäu ren oder KohlenwasserstoffKetten mit Doppelbindungen an dieser oder jener
Stelle.
Pheromone vermitteln Botschaften zwischen den Mitgliedern einer Art
Die Pheromone der Insekten bilden eine
wortreiche chemische Sprache
Definition: Pheromone sind Signalsubstanzen,
die von einem Individuum nach aussen abgegeben werden und bei anderen Individuen der gleichen Art spezifische, vorprogrammierte
Reaktionen auslösen.
Pheromone können
• instinktive (angeborene) Verhaltensweisen auslösen; dies tun z. B. Sexuallockstoffe, die
Männchen und Weibchen zusammenführen;
• hormonale Wirkungen haben; dies tun z.B.
Pheromone, die Fortpflanzungszyklen synchronisieren; dies tut auch die Königinsubstanz der
Honigbiene, die dafür sorgt, dass keine
Konkurrentin herangezogen wird.
• Pheromone können auch Alarmfunktion haben
und Artgenossen vor Fressfeinden warnen (z, B.
Schreckstoffe verletzter Fische).
Das erste chemisch identifizierte Pheromon mit verhaltenssteuernder Wirkung war der Sexuallockstoff
des Seidenspinners Bombyx mori (isoliert und identifiziert aus Tonnen von weiblichen Faltern durch
Adolf Butenandt und Mitarbeiter. 1959). Die
Substanz, Bombykol, zeigt in ihrer chemisch-physikalischen Struktur (Abb. 24.2) die Charakteristik
vieler solcher Signalsubstanzen. Was durch die
In Insektenstaaten (Termiten, Ameisen, Bienen) sind
derart viele chemische Signalsubstanzen im
Gebrauch, dass man von einer chemischen Sprache
sprechen kann. Einer einzigen Ameise stehen schätzungsweise an die 30 Pheromone zur Verfügung, mit
denen sie Botschaften an ihre Genossinnen übermitteln kann. Wenn man optischen und akustischen
Signalen Symbolcharakter zuschreiben kann,
warum nicht auch chemischen Signalen, die
Botschaften vermitteln wie “Folge mir”, “Hau ab”?
Zu den Pheromonen der staatenbildenden Insekten
gehören auch jene Substanzgemische, die den
besonderen Stock- bzw. Familienduft einer Kolonie
ausmachen.
Säuger: Während im Körperinneren
Hormone herrschen, haben in den sozialen und sexuellen Beziehungen der
Individuen untereinander Pheromone
das Sagen
Die Mehrzahl der Säugetiere in unseren geographischen Breiten verfolgt eine Überlebensstrategie. die
sichert, dass Junge zeitig im Frühjahr zur Welt kommen. Das Fortpflanzungsverhalten muss in die
Quelle: W. Müller (2004) Tier- und Humanphysiologie, 2. Auflage. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
Jahreszeit eingepasst werden. In seinen groben
Zügen wird der Jahreszyklus der Fortpflanzung von
der Photoperiode gesteuert. Doch auch Pheromone
sind im Spiel, wenn es um die Feinregulation und
die exakte Synchronisation geht. Häufig beobachtet
man folgende Sequenz: Die Männchen erobern sich
ein Revier und grenzen es mit Duftmarken ab.
Solche Duftstoffe dürfen nach ihrer Funktion als
Pheromone klassifiziert werden. Ein Männchen, das
sich ein Revier eingerichtet hat, verlockt mit der
besonderen Qualität seines Pheromonduftes Weibchen, in sein Revier einzuwandern (männliche
Sexuallockstoffe), Das männliche Parfum kann darüber hinaus die Damen des angeworbenen Harems
dazu bringen, zeitig Eier in den Ovarien heranreifen
zu lassen. Das follikelstimulierende Hormon FSH
vermittelt zwischen Geruchssinn und Ovar: Das stimulierte Riechorgan sendet Signale ins Zwischenhirn. dieses regt seinerseits mittels ReleasingNeurohormone die Hypophyse an. FSH in die
Blutbahn zu entlassen. Das Weibchen demonstriert
schliesslich seine Bereitschaft, es gerne mit sich
geschehen zu lassen, nicht nur mit Gebärden, sondern auch mit Wohlgerüchen, die dem Herrn ihren
Östrus anzeigen. Östrus (“Hitze, Läufigkeit”) ist
jene Phase im Sexualzyklus, in der ein Eisprung
(Freisetzung des Eis aus dem Ovar in den Eileiter)
bevorsteht oder eben gerade stattgefunden hat. 1st
schliesslich ein Junges geboren, gerät nicht nur das
Kind, sondern auch die Mutter in eine Phase der
Prägbarkeit. Der Individualduft des Kindes und der
Individualduft der Mutter werden zum bleibenden
Bindeglied zwischen Mutter und Kind.
50
Im Staat der Bienen
Bienen verdienen unser Interesse und unseren
Respekt
nicht
bloß
als
fleissige
Honigsammlerinnen. Angesichts der perfekten
Organisation eines Bienenstaates und den unwahrscheinlichen Leistungen ihrer Augen und ihres kleinen Gehirns kann man nur in ehrfürchtiges Staunen
geraten.
Als erstes wird von der Königin die künftige soziale Rolle eines neuen Mitgliedes
festgelegt. Dabei spielen chemische
Signale eine Rolle
Kurz bevor die Königin ein Ei legt, entscheidet sie
erst einmal über das genetische Geschlecht des
Nachkommen. Ein unbefruchtetes Ei wird zum
haploiden Drohn, ein befruchtetes zum genetischen
Weibchen. Doch solange sie selbst ihres Amtes waltet, gute und viele Eier produziert und das Volk noch
nicht an Platzmangel im Stock leidet, soll keines
dieser Weibchen zur Konkurrentin werden. Sie sollen sich fügen und als Arbeiterinnen den Nachwuchs
der Königin pflegen.
Die geschäftig herumkrabbelnden Arbeiterinnen
sind keine Konkurrentinnen. Sie sind irreversibel
auf ihre dienende Rolle festgelegt.
Wohl könnte es den Arbeiterinnen
einfallen,
eine
neue
große
Königinzelle (Weiselzelle) anzulegen
und darin mit ihrer Ammenmilch eine
neue Königin hochzuziehen. Damit
dies nicht geschieht, sondert die
Königin eine Königinsubstanz (queen
substance) ab: eine Kollektion von
ungesättigten Fettsäuren mit 10
Kohlenstoffatomen und einer Ketooder einer Hydroxygruppe am
Kohlenstoffatom Nr. 9.
Die Königinsubstanz ist ein
Pheromon mit hormonaler Wirkung
und zugleich eines der seltenen Pheromone, das im Empfanger nicht über
ein Geruchsorgan wirksam wird. Die
Substanz bzw. das Substanzgemisch
wird über die Mandibulardrüse ausgepresst. Die Arbeiterinnen lecken das
Sekret auf. Es verhindert in ihnen die
Auslösung eines instinktiven Verhaltensprogramms, das zur Aufzucht
einer neuen Königin führen würde.
Larven, deren Schicksal es sein
soll, Arbeiterin zu werden, bekommen
nur drei Tage lang reine “Ammenmilch”. Dann werden Pollen und
Honig zugemischt und der Gehalt an
Hexosezuckern wird von 35% auf
10% reduziert. Vermutlich werden
dem Futter auch noch Pheromone
zugemischt. So großgezogene Bienen
erheben keinen Anspruch auf den
Thron. Sie werden als Arbeiterinnen ihr ganzes
Leben damit verbringen, selbstlos den Nachwuchs
ihrer königlichen Mutter (oder Schwester) zu pflegen.
Ist die Königin zu alt, um ausreichend Königinsubstanz zu produzieren, oder ist das Volk zu
groß, so dass nicht mehr alle Arbeiterinnen ausreichend von dem drogenversetzten Trank mitbekommen, werden wach gewordene Arbeiterinnen
Königinnenzellen (Weiselzellen) anlegen. Das
geschieht auch, wenn beim Schwärmen im Frühjahr
die alte Königin mit einem großen Teil der
Arbeiterinnenschar ihre Heimat verlässt. Das zurükkbleibende Volk legt Weiselzellen an.
Künftige Königinnen werden mit purer Ammenmilch (jetzt Gelee royale genannt) aufgezogen.
Geschäftstüchtige Imker haben gutgläubige Kunden
überzeugt, teures Gelee royale verhindere Altern.
Eine junge Königin macht durch
Gesänge auf sich aufmerksam; ihre
Gefolgschaft antwortet im Chor
Aufnahmen mit moderner Tontechnik haben ein
erstaunliches Konzert für unser Ohr hörbar gemacht:
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
Bio10_Sinne_NeuweilerHeldm QX
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Eine junge Königin meldet sich mit einem besonderen Sologesang. Mittels ihrer Flugmuskulatur
erzeugt sie Vibrationen, die sich als Substratschall
über die Bienenwabe ausbreiten. Dem “Tüten” der
Königin antwortet die Arbeiterinnenschar mit
“Quaken”, Ob die Königin auch potentielle Freier
anlockt? Jedenfalls geht es bald auf den
Hochzeitsflug. Ist er erfolgreich, werden Eier produziert. Bald wird der erste eigene Nachwuchs der
Königin zu Dienste stehen.
Ein Arbeitskalender bestimmt den
Lebenslauf
Eine Arbeiterin übernimmt in den ersten 30 Tagen
ihres Lebens in geregelter Reihenfolge mehrere verschiedene Arbeitsdienste, vom Reinigungsdienst bis
zur Sammeltätigkeit im Außendienst (Abb.24.3).
Von dieser Dienstlautbahn kann im Bedarfsfall
abgewichen werden. Wenn allzuviele Sammlerinnen
der Unbill des Wetters oder Räubern zum Opfer
gefallen sind, kürzen Jungbienen den Innendienst
ab. Kommen andererseits die Ammen mit dem
Füttern der Larven nicht mehr nach, können
Sammlerinnen ihre Ammendrüsen reaktivieren und
beim Füttern behilflich sein. Vermutlich geschieht
die bedarfsorientierte Feinregulierung der
Dienstzeiten über chemische Kommunikation.
Nach dem Ableisten des Innendienstes folgt endlich der befreiende Erstflug zu den Honigtöpfen.
Man fliegt berauscht von Blume zu Blume; doch
wie findet man zurück?
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Orientierung und Tanzsprache der Bienen
Sonnenkompass, innere Uhr,
Tanzsprache: ein erster Überblick
Der aus dem Salzburgischen Land stammende, als
Professor für Zoologie in München lehrende Karl
von Frisch (Nobelpreis 1973; zusammen mit K. Lorenz und N. Tinbergen) wusste aus seinen Forschungen immer wieder Erstaunliches zu erzählen:
• Bienen können bei ihren Flügen einen bestimmten Winkel zur Sonne einhalten (Sonnenkompass; allgemein: Menotaxis = bleibende Winkeleinstellung zur Informationsquelle). Bei dieser
Winkeleinstellung kommt es vor allem auf den
Azimut an; das ist der Winkel auf dem Horizontkreis zwischen der Sonne und dem Anflugsziel. Im Bedarfsfall, wenn der Zielpunkt
beispielsweise auf einer Bergwand oder unter
dem Dachfirst liegt, kann auch ein bestimmter
Höhenwinkel eingehalten werden. Zum Rückflug kann jeder Winkel um 180° gedreht werden.
• Die Biene weiß jedoch auch, dass man nicht den
ganzen Tag den gleichen Winkel zur Sonne einhalten darf, wenn man das Ziel nicht verfehlen
will. Hat die Biene morgens eine ergiebige
Tracht gefunden, findet sie diese auch am späten
Nachmittag, selbst wenn sie mittlerweile wegen
Sturm und Regen im dunklen Stock warten musste. Sie kennt den Lauf der Sonnenbahn. Sie
“weiß” (wahrscheinlich gänzlich unbewusst),
dass die Sonne auf ihrer Kreisbahn über den
Himmel sich pro Stunde um 15° weiterbewegt.
• Um im dunklen Stock die Sonnenwanderung
entlang dem Azimut vorausberechnen zu können, braucht die Biene eine präzise innere Uhr,
Verlässt die Biene am Nachmittag wieder den
dunklen Stock, weiß sie, welchen neuen Winkel
beim Abflug sie einhalten muss, um das am
Morgen entdeckte Ziel wiederzufinden.
Einer der vielen einfallsreichen Versuche von Karl
von Frisch war folgender: Einer Biene wird nach
längerer winterlicher Hungerzeit gegen Abend eine
ergiebige Futterquelle angeboten. Sie will diese
Entdeckung unbedingt ihren Kolleginnen im Stock
mitteilen und tanzt die ganze Nacht; dabei dreht sie
synchron mit dem Stundenzeiger der Uhr ihre Tanzrichtung, so dass morgens ihre Anweisung direkt
zum Ziel führt.
Schwänzeltanz und Transposition. Die Entdeckung und Entschlüsselung der Tanzsprache durch
Karl von Frisch ist damals zu Recht als Sensation
ersten Ranges empfunden worden. Bienen haben
eine Symbolsprache, die es ihnen erlaubt, im dunklen Stock ihren Genossinnen mitzuteilen, wo eine
ergiebige Futterquelle (Tracht in der Sprache der
Imker) zu finden ist. Die Kommunikationsmittel der
Biene sind von unterschiedlichem Komplexitätsgrad, je nach erforderlicher Präzision. In der höchsten Stufe der Kommunikation, verwirklicht im
Schwänzeltanz, teilt die Biene mit, in welchem
Winkel zur Sonne man fliegen muss, um ein angepriesenes Ziel anzusteuern; dabei macht die Biene
etwas Unglaubliches: Da sie im dunklen Stock nicht
direkt auf die Sonne zeigen kann transponiert die
Biene den Winkel zur Sonne in einen Winkel zur
Schwerkraft.
• Im Verlauf ihres Schwänzeltanzes teilt die tanzende Biene auch mit, in welcher Entfernung die
angepriesene Futterquelle liegt und wie hoch der
zu erwartende Trcibstoffverbrauch ist; wie gut
sich also nach ihrem Dafürhalten ein Flug lohnt.
Und dafür benutzt sie eine akustische Sprache –
wie Delphin und Mensch. Einzelne dieser aufgelisteten Leistungen betrachten wir im Folgenden
näher,
Bei nahen Zielen genügen der werbende
Rundtanz, Duftproben und Duftmarken
Fündige Suchbienen bringen eine Duftprobe mit,
um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und um
es den Genossinnen, die sie anwerben will, zu
ermöglichen, die angepriesene Futterquelle per
Geruchsinn zu identifizieren, Um die Ortung
des Ziels zu erleichtern, hat sie nicht nur eine
Duftprobe mitgebracht, sondern umgekehrt vor
ihrem Heimflug besonders ergiebige Blumen mit
einer eigenen Duftmarke versehen, Diese Marke ist
definitionsgemäß ein Pheromon; chemisch ist es der
Terpenalkohol Geraniol.
Ist die Tracht nicht mehr als 100 m weit, begnügt
sich die Heimkehrerin mit einem einfachen, werbenden Rundtanz, um weitere Sammlerinnen zu
rekrutieren. Sie dreht Kreise mit plötzlichen
Kehrtwendungen (Abb. 24.4). Die mitgebrachte
Duftprobe und die ausgebrachten Duftmarken genügen in der Regel den ausfliegenden Sammlerinnen,
die Tracht zu finden. Mitunter fliegt die Vortänzerin
auch los und geleitet persönlich nachfolgende
Sammlerinnen zur Futterquelle.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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Es gibt eine zweite Situation, bei der der Rundtanz gezeigt
wird: nach der erfolgreichen Suche einer Nisthöhle. Ein
Schwarm. der den Heimatstock verlassen hat, hängt wartend als Traube an einem BaumasI, um die neue Königin
geschart. Suchbienen schwärmcn aus, um nach einer
geeigneten Nisthöhle Ausschau zu halten, Haben sie eine
mögliche Unterkunft entdeckt. teilen sie dies, auf der
Oberfläche der Schwarm traube tanzend, anderen Bienen
mit. Diese sollen ihnen nachfliegen und den Platz ebenfalls inspizieren. Sind ausreichend viele Bienen von der
Qualität der potentiellen Nisthöhle überzeugt, regt ihr
gemeinschaftlicher lebhafter Tanz den Schwarm an, ihnen
zur neuen Heimat zu folgen.
Der Schwänzeltanz: eine komplexe
Symbolsprache, bei der Tanz und
Gesang Richtung und Entfernung einer
Tracht angeben. Zur korrekten
Interpretation der Sprache braucht man
auch noch eine Uhr
Wie kann man auf einer lotrecht hängenden Wabe
anderen mitteilen, in welcher Himmelsrichtung eine
entfernte, ergiebige Tracht zu finden ist? Wir sehen
uns erst die Grundfigur des Tanzes an.
Grundfigur des Schwänzeltanzes. Die tanzende
Biene durchläuft eine Achterfigur (Abb. 24.5).
Zuerst durchläuft sie eine gerade Strecke; dabei
schwänzelt sie mit ihrem Hinterleib (Abdomen) hin
und her. Am Ende der Gerade biegt sie ab und läuft
im Halbkreis ohne zu schwänzeln zum Startpunkt
zurück. Nun durchläuft sie die gerade Strecke ein
zweites Mal, wieder schwänzelnd. Wenn sie dann
erneut zum Startplatz zurückJäuft, wählt sie die
Gegenseite. War sie das erste Mal nach rechts abgebogen und im Uhrzeigersinn zurückgelaufen, kehrt
sie nun auf dem linken Halbkreis zurück. Bei jeder
vollen Tanzfigur wird also nur die gerade
Mittelstrecke zweimal durchlaufen und nur auf dieser Mittelgeraden wird geschwänzelt.
Direkte Richtungsangabe auf der horizontalen
Tanzfläche. Befindet sich vor dem Flugloch eine
horizontale Start- und Landebahn, kann die Biene
die Flugrichtung relativ einfach durch die
WinkelsteIlung der Mittelstrecke anzeigen. Man soll
im Flug den gleichen Winkel zur Sonne einhalten,
den die Mittelgerade der Tanzfigur vorzeichnet.
Transposition auf der vertikalen Wabe. Transposition nennt man die Umcodierung von Botschaften
in eine Symbolsprache, Die tanzende Biene transponiert die Richtung zur Sonne in eine Richtung zur
Schwerkraft. Bei jeder Tanzfigur des vertikalen
Schwänzeltanzes hat die Mittelgerade den gleichen
Winkel nun eben nicht zur unsichtbaren Sonne, sondern zur Lotrechten, Tanzrichtung nach oben heißt:
fliegt geradewegs Richtung Sonne; Tanzrichtung
nach unten heißt: fliegt geradewegs so, dass ihr die
Sonne exakt im Rücken habt. Die genaueren Regeln
sind in den Abbildungen (Abb. 24.5) erläutert.
Die Richtung der Schwerkraft wird mittels
Tasthaaren festgestellt. Wenn die Biene einen
Winkel zur Lotrechten läuft, werden die nicht von
54
Beinen gestützten, beweglich aufgehängten Körperteile (Kopf und Abdomen) gegenüber dem beingestützten Thorax abgelenkt. Diese Ablenkung wird
von Tasthaaren registriert.
Entfernungsangabe. Um eine Stelle im entfernten Gelände zu kennzeichnen, genügt eine Angabe
der Richtung nicht. Als zweites muss die Entfernung
angegeben werden. Bienen messen Entfernungen
nicht in Metern, sondern nach der Menge “Flugbenzin”, das man bis zum Zielort verbraucht. Die
Tanzbiene kalkuliert Gegenwind oder Rückenwind
mit ein. Je weniger Treibstoff gebraucht wird, um
hin-und zurück zu fliegen, desto näher, d. h. lohnender, wird das Ziel angepriesen.
Die Angaben über die Entfernung und den zu
erwartenden Kraftstoffverbrauch kann der menschliche Spion aus folgenden Beobachtungen entziffern:
• Man zählt, wie oft pro Zeiteinheit eine Biene die
Mittelstrecke durchläuft, wie oft sie also eine
vollständige Tanzfigur vorführt (Tabelle 24.1).
• Man ermittelt die Häufigkeit, mit der die
Tanzbiene beim Durchlaufen der Mittelstrecke
pro Zeiteinheit “schwänzelt”, d.h. mit dem
Abdomen hin und her wackelt.
• Man nimmt mit Mikrofon und Tonträger die
schnarrende Laute auf, die die Biene beim
Schwänzeln erzeugt.
Tabelle 24.1. Korrelation zwischen der Entfernung einer Tracht
und der Anzahl der Tanzfiguren im Zeitraum von 15 s.
n Durchläufe
10
6
4
3
Entfernung
100 m
500 m
1000 m
5000 m
Akustische Signale. Wie können die Folgebienen in
der Dunkelheit des Stockes überhaupt die Tänzerin
wahrnehmen und ihr Schritt um Schritt folgen?
Früher glaubte man, sie würden die Bewegungen
ihrer Vortänzerin ertasten. Heute ist nachgewiesen,
dass die Folgebienen ihre Vortänzerin abhören.
Während des Schwänzelns schwirrt die
Tanzbiene mit den Flügeln und erzeugt leise, niederfrequente Laute von 250 bis 300 Hz. Die
Folgebienen strecken ihre Fühler nahe an die
Schallquelle. Ihre Fühler enthalten im zweiten
Antennenglied ein Gehörorgan (Johnston-Organe).
Es funktioniert als Schallschnelle-Empfanger (s.
Kap. 19). Macht man die Tänzerin durch Verkleben
der Flügel stumm, bleibt eine entfernte Tracht ohne
Besucher. Der Bedeutungsumfang der Laute wird
noch erforscht (Kirchner u. Towne 1994).
Rückfragen und Bitten der Folgebienen. Ein Bienentanz ist keine akademische Vorlesung. Die
Nachtänzerinnen dürfen unterbrechen und nachfragen, Gelegentlich klopfen sie unter Abgabe eines
Piepstones auf die Unterlage. Das Vibrationssignal
mahnt die Tanzbiene innezuhalten und aus ihrem
Mund eine Kostprobe des gesammelten Futters herauszugeben. Die interessierten Folgebienen wissen
dann, wie der angepriesene Nektar duftet und
schmeckt.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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Die Welt mit anderen Augen sehen - Das Insektenauge
Auch der Nichtzoologe kann fasziniert sein von den
vielfältigen technischen Lösungen, die der Natur bei
der Konstruktion von Sinnesorganen eingefallen
sind, und vom Leistungsvermögen solcher Organe.
Dies gilt beispielsweise für den Sehsinn einer Biene.
Hinsichtlich des Formensehens müssten
wir radikal umdenken: Die Form muss
aus Bewegungsmustern erschlossen
werden
Wenn eine ruhende Biene mit ihren 2x5600 Miniäuglcin (Ommatidien) in die Umwelt blickt (Abb.
22.17 u. 22.18), könnte sie allenfalls ein grobes
Raster von Helligkeitspunkten oder
Farbtupfern sehen. Es gibt Hinweise
darauf, dass das ruhende Insekt in der
ruhenden Umwelt gar nichts sieht. Der
Sehnerv ist bei konstantem Umfeld nahezu stumm, und das Tierchen reagiert
nur auf bewegte Objekte. Wenn ein
Objekt sich jedoch bewegt, feuern die
Nervenfasern mit hohen Frequenzen.
Optokinetische Reaktion als Indikator
für Bewegungssehen. Man kann ein
Insekt in eine Arena setzen und eine
Wand mit senkrechten SchwarzWeißStreifen langsam um diese Arena rotieren lassen (Abb. 22.19). Das Insekt versucht, durch Drehen seines Körpers
seine optische Umwelt konstant zu halten und das Streifenmuster auf seinem
Auge zu fIxieren. Freilich ist das Insekt
am Stab eines Torsionsmeters fixiert,
sodass es sich nicht mit der Arenawand
drehen kann und die Streifen an seinen
Augen vorüberziehen. Gleichzeitig
registriert der Elektrophysiologe vom
Kopf des Insektes das Elektroretinogramm (ERG). Das ERG ist ein Summenpotential ähnlich dem EKG (s. Kap.
16). Ein ERG ist jedoch nur zu registrieren, wenn das Auge eine Bewegung
wahrnimmt. Ob man die Wendereaktion
des Insekts mit dem Torsionsmeter registriert oder ob man das ERG mit einem
Voltschreiber aufzeichnet, man kommt
zur gleichen Erkenntnis: Das miserable
räumliche Auflösungsvermögen wird
wettgemacht durch ein exzellentes zeitliches Auflösungsvermögen. Wenn
Schwarz-Weiß-Streifen am Auge vorbeiziehen, flacker t das ERG auf und ab.
Es verschmilzt erst zu einem Kontinuum, wenn die Streifen mit einer
Geschwindigkeit vorbeihuschen. bei
der wir längst keine Streifen mehr
unterscheiden können, sondern nur
noch eine öde graue Fläche sehen. Im
Kino würde eine Biene noch Einzelbilder sehen,
wenn bei uns die Bildfolgen schon längst zu kontinuierlichen Bewegungen verschmelzen. Erst bei
hohen Bildfrequenzen verschmilzt auch beim Insekt
das rhythmische ERG zu einem Kontinuum. Ein
rotierendes Schwarz-Weiß-Streifenmuster löst dann
wie eine einheitlich graue Wand keine optokinetische Wendereaktion mehr aus. Formensehen.
Insekten werten zentralnervös Hell-Dunkel-und
Farbkontraste aus, die übers Auge huschen. Die
Form wird aus der Bewegung von Konturen rekonstruiert. Was Insekten sehen, wissen wir nicht.
Jedenfalls hat die Biene nicht selten Probleme, im
Wahlversuch beim Anflug zwei Formen zu unterscheiden, die für uns sehr verschieden aussehen.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
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Manche Formen hingegen, die uns eher ähnlich vorkommen, lernt sie recht gut, im Anflug zu unterscheiden.
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Wahrnehmung von polarisiertem Licht
Bienen und Ameisen sehen am blauen Himmel ein
Polarisationsmuster; sie können daraus die
Himmelsrichtungen ablesen
Es war eine der bewundernswerten Leistungen
des Altmeisters Karl von Frisch (1886–1982)
bemerkt und nachgewiesen zu haben, dass Bienen
Sinnesfunktionen besitzen, die uns fremd sind und
an die deshalb zunächst niemand denkt. Bienen
haben einen Magnetkompass, Bienen haben einen
Sonnenkompass, Bienen haben die Fähigkeit, das
Polarisationsmuster des Lichtes am Himmel wahrzunehmen, und diese Fähigkeit ergänzt ihren
Sonnenkompass. Das Polarisationsmuster am
Himmel ist ein Muster, das sich ergibt, wenn das
Sonnenlicht an den Luftmolekülen der Erdatmosphäre gestreut wird (siehe Box). Am stärksten
gestreut wird Licht kürzer Wellenlänge, weshalb uns
der Himmel blau erscheint. Folglich tragen UV/Blau
Polarisiertes Licht
Licht als elektromagnetischer Wellenzug lässt sich
in zwei senkrecht zueinander schwingende Felder
zerlegen, in das elektrische Feld (E-Vek tor) und in
das magnetische Feld (M-oder B-Vektor). Um eine
modellmäßige Vorstellung zu gewinnen, kann man
sich entlang eines Licht strahls zwei Wellenzüge
denken, die im rechten Winkel zueinander stehen
(Abb. 22.21). Das natürliche Licht besteht aus vielen Wellenzügen, die unabhängig voneinander entstanden sind (inkohärentes Licht). Die Schwingungsrichtun gen in diesen Wellenzügen sind nicht
koor diniert und daher regellos von Wellenzug zu
Wellenzug wechselnd.
Wird die Amplitude des E-Feldes in einer Raum
richtung unterdrückt, erhält man partiell oder vollständig polarisiertes Licht. In allen Photonen sind
dann die Schwingungsrichtungen gleich. Das kann
passieren, wenn Licht an einer spie gelnden Fläche
reflektiert wird, beispielsweise auf einer Wasseroberfläche (eine vollständige Polarisierung tritt nur
beim Einfall unter einem bestimmten Winkel auf).
am stärksten zu diesem Muster bei. Die Wahrnehmung dieses Musters, kurz Polarisationssehen
genannt, ermöglicht es der Biene (und anderen
Arthropoden), die Himmelsrichtungen und den
momentanen Sonnenstand ausfindig zu machen,
auch wenn die Sonne hinter Wolken versteckt ist.
Ein Fleck blauen Himmels sollte allerdings sichtbar
sein. Bei total wolkenverhangenem Himmel fliegen
Bienen höchst ungern, trotz des Magnetkompasses,
der ihnen für eine grobe Orientierung noch bleibt.
Wenn ein Ausschnitt des Polarisationsmusters
(Abb. 22.22) an einem blauen Himmelsfleck zur
Orientierung genügt, besagt dies, dass die Biene
Kenntnis des Gesamtmusters haben muss und in der
Lage ist, das gesehene Puzzle in das irgendwie
gespeicherte Gesamtbild einzuordnen. Sie muss eine
interne Himmelskarte besitzen) die es ihr ermöglicht, nicht nur den momentanen Sonnenstand zu
Eine partielle Polarisierung geschieht aber auch
am blauen Himmelszelt dank der Reflexion und
Streuung an Luftmolekülen und feinsten Partikeln
(Tyndall-Effekt).
Das für den Laien Unerwartete ist nun, dass sich am
Himmelszelt ein makroskopisches Muster der vorherrschenden Polarisationsrichtungen einstellt (s.
Abb. 22.22). Dieses Muster ist abhängig vom
Sonnenstand. Man kann das Phänomen mit dem
Regenbogen vergleichen. Obwohl sich im Regenvorhang die Brechung des Sonnenlichts in kleinen
Wassertröpfchen vollzieht, sieht man einen riesigen
Regenbogen über den ganzen Himmel gespannt.
Und der Regenbogen verrät den Sonnenstand.
Blickt man geradeaus auf den Regenbogen, hat
man die Sonne garan tiert im Rücken. Um den
Regenbogen zu sehen, muss man Farben sehen
können, also Photorezeptoren haben, die bevorzugt
Photone eines bestimmten Fre quenzbereichs
absorbieren. Um das Polarisati onsmuster am
Himmel zu sehen, kann man Polarisationsfolien in
verschiedenen Richtungen vor das Auge halten, die
je nach der Schwingungsrichtung des elektrischen
Feldes unterschiedlich viel Licht absorbieren oder
hindurch lassen (wir sehen dann Helligkeitsmuster). Oder man baut, wie die Insekten, solche
Analysatoren ins Auge ein. Polarisationsfolien sind
im Insektenauge aus rhodopsinbestückten
Membranen hergestellt.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
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orten, sondern auch die Himmelsrichtungen richtig
zu interpretieren. Es lag nahe anzunehmen, diese
Himmelskarte sei im Gedächtnis gespeichert. Das
ist aber wohl nicht so. Wo die Karte deponiert ist,
verrät der folgende Abschnitt. Bienen und Ameisen
haben in ihrem Auge eine Himmelskarte, die sie mit
dem gesehenen Muster am Himmel vergleichen
Wenn Insekten neben Helligkeit und Farbe einen
dritten Parameter des Lichtes auswerten und dem
Gehirn mitteilen wollen, müssen sie besondere
Rezeptoren abstellen, die sich auf das
Polarisationssehen spezialisieren. Als Analysator für
die Schwingungsrichtung des Lichtes eignen sich
Photorezeptoren, deren Mikrovilli über die ganze
60
Länge des Rhabdoms
exakt parallel ausgerichtet sind. In großen
Bereichen des Insektenauges ist diese Vorbedingung nicht erfüllt.
Die Sehzellen sind um
ihre Längsachse verdrillt (twisted). In einem schmalen Feld entlang der oberen Augenregion, POL-Region
oder DRA (dorsal rim
areal genannt, sind die
Sehzellen aber nicht
verdrillt. Alle Mikrovilli einer Retinulazelle
sind gerade und alle in
die gleiche Richtung
ausgerichtet. Weil auch
die Rhodopsinmoleküle in den Membranen
der Mikrovilli alle
gleichartig ausgerichtet
sind, gewinnen die
Mikrovilli bzw. Rhabdomere (MikrovilliLängsreihen) die Eigenschaft
eines Analysators. Wie eine Polarisationsfolie absorbieren solche Mikrovilli Licht nnr einer bestimmten
Schwingungsrichtung mit maximaler Effizienz (s.
Abb. 22.21). In einem einzelnen Ommatidium sind
die Mikrovilli in zwei Richtungen ausgerichtet, die
senkrecht zueinander stehen (s. Abb. 22.17). Wenn
die eine Gruppe der Mikrovilli (Rhabdomer) Licht
mit maximaler Effizienz einfängt, absorbiert die
andere minimal. Das reicht nicht aus, um ein komplexes Muster am Himmel zu erkennen. Nun enthält
das Bienenauge jeder Körperseite 5600
Ommatidien. Die POL-Region umfasst zwar nur
2,5% davon; doch das sind immerhin 140
Ommatidien, und die haben unterschiedliche
Vorzugsrichtungen. Insgesamt sind die dorsalen
POL-Felder der Augen also Raster von
Analysatoren, welche die e-Vektoren des Himmelslichtes (Abb. 22.22) festzustellen erlauben. Sie bilden zusammen einen Apparat, mit dem sie ihren
Sonnenkompass einjustieren können. Rüdiger
Wehner fand aufgrund von Verhaltensversuchen,
dass bei Bienen und Ameisen die Vorzngsrichtungen
aller Ommatidien der POL-Region ein Muster bilden, das (in groben Zügen) das Polarisationsmuster
am Himmelszelt widerspiegelt. Linkes und rechtes
Auge sind spiegelbildlich angeordnet, und ebenso
ist der Himmel beidseitig des Himmelsmeridians
sviee:elbildlich “emustert. Wenn sich die Tierchen
drehen bis ihr augeninternes Muster sich mit dem
Himmelmuster deckt, wissen sie, dass sie die Sonne
im Rücken haben (Abb. 22.24), ebenso wie wir wissen, dass die Sonne hinter unserem Rücken steht,
wenn wir zum Regenbogen schauen. Einmal mehr
wird eine hohe Sinnesleistung dadurch erreicht, dass
Rezeptoren mit unterschiedlichen Spezialfunktionen
betraut werden und das Gehirn dann die
Einzelmeldungen auswertet und zu einern
Gesamtbild zusammensetzt. Im Gehirn wird die
Hauptarbeit verrichtet. Das kleine Gehirn ist
unglaublich leistungsfahig; denn das POL-Muster
des Himmels ist nicht ortsfest, sondern wandert mit
der Sonne von Sonnenaufgang über den Zenith bis
zum Sonnenuntergang am Himmel. Die Biene hat
ein ,Wissen’ über diesen Tagesgang, sie hat eine präzise innere Uhr und sie hat einen leistungsfahigen,
gut programmierten Computer in ihrem Gehirn. So
kann sie berechnen, wo zu jeder Tageszeit Nord und
Süd, Ost und West ist. Sie nutzt dies, um den Weg
zur der ergiebigen Blumenwiese (und zurück zum
Stock) zu finden, die sie selbst (z. B.) am Vortag entdeckt hat oder auf die sie eine Kollegin mit ihrem
Schwänzeltanz hingewiesen hat.
Quelle: G. Heldmaier, G. Neuweiler (2003) Vergleichende Tierphysiologie, Band 1. Springer Verlag
Kantonsschule Kreuzlingen, Klaus Hensler
Bio10_Sinne_NeuweilerHeldm QX
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