Allgemeines Verwaltungsrecht

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Allgemeines Verwaltungsrecht
Prof. Dr. Felix Uhlmann
Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsetzungslehre
AVR 3
Universität Zürich
Allgemeines Verwaltungsrecht
FS 2015
Prof. Dr. Felix Uhlmann
FS 2015
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§5
Verwaltungsrecht – Privatrecht
Öffentliches Recht
Subordinationstheorie
Staat
Privatrecht
Staat
Privater
Privater
Interessenstheorie
Funktionstheorie
Allgemeines Verwaltungsrecht
FS 2015
• Wahrnehmung
vorwiegend öffentlicher
Interessen
• Erfüllung öffentlicher
Aufgaben
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• Wahrnehmung
vorwiegend
privater Interessen
• Keine Erfüllung
öffentlicher Aufgaben
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Verwaltungsrecht – Privatrecht
§5
Modale Theorie und Methodenpluralismus
BGE 138 II 134 ff. (Zertifizierungsstelle Gruyère AOC)
"4.5.1 Le critère modal implique d'examiner si la violation d'une
norme a des effets de droit privé ou de droit public pour en
déterminer la nature juridique. […]"
"4.6 En conclusion, l'analyse des différents critères montre, en
l'espèce, que celui de l'intérêt penche légèrement en faveur du
droit public […], tandis que ceux de la fonction et de la
subordination […] n'apparaissent, en eux-mêmes, pas
déterminants pour qualifier les rapports juridiques […] Au final, le
critère modal […] est le plus approprié pour déterminer la nature
juridique de tels rapports, en ce sens que, lorsque la certification
se présente comme une obligation pour commercialiser un produit,
elle doit être considérée comme relevant du droit public dès lors
que le fondement légal de cette obligation réside, comme en
l'espèce, dans une norme de droit public […]"
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Verwaltungsrecht – Privatrecht (Beispiele)
§5
Was (Norm, Rechtsbeziehung, Tätigkeit des Gemeinwesens,
Organisationseinheit) würden Sie in folgenden Beispielen
dem Privatrecht, was dem öffentlichen Recht zuordnen?
Nach welchen Kriterien? Mit welchen Konsequenzen?
-
§ 238 des Zürcher Baugesetzes
"Bauten, Anlagen und Umschwung sind für sich und in ihrem
Zusammenhang mit der baulichen und landschaftlichen Umgebung
im ganzen und in ihren einzelnen Teilen so zu gestalten, dass eine
befriedigende Gesamtwirkung erreicht wird; diese Anforderung gilt
auch für Materialien und Farben."
-
Warnung des BAG betreffend den Verzehr von Vacherin
Mont d'Or? ( §§ 30-32)
-
Rechtsnatur der Swisscom AG? ( § 22)
-
Aushängen von Plakaten im Bahnhof Zürich (vgl. BGE 138 I
274 ff.;  § 22, §§ 33-34)?
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Verwaltungsrecht – Privatrecht (Übernahme)
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§5
5
Verwaltungsrecht – Privatrecht (Übernahme)
§5
BGE 138 I 113 ff., 120 f. E. 6.5
"Zusammenfassend ergibt sich somit, dass die fristlose Entlassung im
öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnis für die kündigende Partei mit
höheren Risiken verbunden ist als im Privatrecht, und zwar einerseits
wegen den formellen Anforderungen an eine rechtmässige fristlose
Entlassung und anderseits wegen den Folgen einer formell oder
materiell widerrechtlichen fristlosen Entlassung für den Arbeitgeber
und damit die öffentliche Hand. Daraus folgt, dass dem öffentlichrechtlichen Arbeitgeber eine längere Reaktionszeit zuzubilligen ist,
damit er die Verfahrensvorschriften einhalten und den die Kündigung
begründenden Sachverhalt abklären und nachweisen kann, bevor er
die Kündigung ausspricht. […] Während im Zivilrecht eine fristlose
Kündigung in der Regel innert weniger Arbeitstage auszusprechen ist
und eine längere Frist nur zugestanden wird, sofern praktische
Erfordernisse des Alltags- und Wirtschaftslebens dies als berechtigt
erscheinen lassen, vermögen im öffentlichen Personalrecht weitere
sachliche Gründe (z.B. rechtliches Gehör, Verfahrensvorschriften) ein
längeres Zuwarten zu rechtfertigen […]"
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Zeitlicher und räumlicher Geltungsbereich
§6
des Verwaltungsrechts
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Zeitlicher Geltungsbereich
§6
Intertemporales Recht (Grundfragen)
a) Anwendbares Recht auf laufende Verfahren
b) Anwendung neuen Rechts auf bereits eingetretene
Sachverhalte (Rückwirkung)
c) Vorwirkung
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Echte und unechte Rückwirkung
Dauersachverhalt
Inkrafttreten
Einzelsachverhalt
Inkrafttreten
Dauersachverhalt
§6
echt
echt
unecht
Inkrafttreten
• Dauersachverhalt: z.B. Aufenthalt fremder Staatsangehöriger
in der Schweiz, Führerschein
• Einzelsachverhalt: z.B Schaden i.S.d. Staatshaftungsrechts
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Rückwirkung
§6
Faustregeln
1. Echte Rückwirkung: Anwendung neuen Rechts auf einen
Sachverhalt, der sich abschliessend vor dem Inkrafttreten
des neuen Rechts verwirklicht hat
 Grundsätzlich unzulässig, sofern belastend
2. Unechte Rückwirkung: Anwendung neuen Rechts auf
einen Dauersachverhalt
 Grundsätzlich zulässig, Vertrauensschutz vorbehalten
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Zulässigkeit der Rückwirkung
§6
Echte (und belastende) Rückwirkung ist ausnahmsweise
zulässig, wenn …
a)
b)
c)
d)
e)
ausdrücklich angeordnet (≈ Legalitätsprinzip)
zeitlich mässig (≈ Verhältnismässigkeitsprinzip)
triftige Gründe (≈ Öffentliches Interesse)
keine stossenden Rechtsungleichheiten (selbstverständlich)
kein Eingriff in wohlerworbene Rechte (selbstverständlich)
Unechte (und belastende) Rückwirkung ist
ausnahmsweise unzulässig, wenn
a) ein Eingriff in wohlerworbene Rechte vorliegt,
b) berechtigtes Vertrauen (Art. 9 BV) verletzt wird, oder
c) der Anspruch auf eine angemessene Übergangsregelung verletzt
wird
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Rückwirkung – Beispiele
§6
1. Die Prüfungsanforderungen werden während Ihrem
Studium erhöht
2. Nach Abschluss einer Weiterbildung sieht das neue
Personalgesetz eine deutliche grosszügigere Unterstützung durch den Kanton vor.
3. Die sog. Erbschaftssteuerreform (Volksinitiative)
sieht vor, dass Erbschaften und Schenkungen ab CHF
2 Mio. erfasst und mit 20% besteuert werden sollen,
dies ab dem 1.1.2012; über die Initiative wird im Juni
2015 abgestimmt.
4. Sie sind seit langem stolzer Besitzer eines Kampfhundes. Nach einem neuen Gesetz müssen sie innert
sechs Monaten eine Hundehalterprüfung absolvieren
sowie eine Versicherung und einen Leumundsausweis
vorlegen.
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Rückwirkung – Problembereiche
§6
1. Definition des offenen / abgeschlossenen Sachverhalts ( Bsp. 4)?
2. Rückwirkung und Verfahrensrecht?
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Rückwirkung – Problembereiche
§6
3. Übergangsregelung?
Am 4. Juli 2002 erliess der Bundesrat gestützt auf Art. 55a KVG einen
Zulassungsstopp für Ärzte (siehe dazu z.B. BGE 130 I 126 ff.). Art. 5
dieser Verordnung bestimmte in der ursprünglichen Fassung zum
Übergangsrecht:
"Leistungserbringer, welche vor der Einschränkung der Zulassung zur
Tätigkeit zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung in den
Kantonen ein Gesuch um eine Berufsausübungsbewilligung nach
kantonalem Recht gestellt haben, fallen nicht unter die Einschränkung
gemäss dieser Verordnung."
Eine Agentur meldete:
„Eine Ärzteflut kündigt sich an: Von Anfang Jahr bis zur Bekanntgabe des
Zulassungsstopps durch den Bundesrat am 3. Juli wurden rund 2000
Gesuche um Bewilligung einer Praxis eingereicht. Normalerweise sind es
400 bis 500 Gesuche pro Jahr. Alleine zwischen dem 10. Juni, dem Tag, als
die Pläne für einen Zulassungsstopp publik wurden, und dem Inkrafttreten
des Stopps am 3. Juli seien mehr als 1500 Gesuche eingegangen, sagte
Peter Marbet, Präsident des Krankenkassenverbands Santésuisse, auf
Anfrage.“
Was hätte der Bundesrat intertemporalrechtlich vorkehren können, um
Verwaltungsrecht
derAllgemeines
zu erwartenden
Gesuchszunahme
zuvorzukommen?
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Anwendung von neuem Recht auf hängige Verfahren
§6
Einfluss der Rechtsänderung
Verwaltungsverfahren
Gesuch
Verwaltungsinstanz
Vorgesetzte Behörde
Verwaltungsgericht
•
Was spricht für die Anwendung von altem Recht?
 Vertrauensschutz
•
Was spricht für die Anwendung von neuem Recht?
 Rasche Wirksamkeit des neuen Rechts
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Bundesgericht
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Anwendung von neuem Recht auf hängige Verfahren
§6
• Regelung im Gesetz erforderlich und sinnvoll
• Ohne spezielle Regelung: Recht im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Entscheides (ev. der Gesuchseinreichung).
Neues Recht nur nach Interessenabwägung: Anwendung
neues Recht gewichtiger als Vertrauensschutz?
• Vorbehalte / Faustregeln:
– Kein Verstoss gegen Treu und Glauben
– Verfahrensvorschriften in der Regel sofort anwendbar
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Anwendung von neuem Recht auf hängige Verfahren
§6
BGE 127 II 306, 315 f., E. 7c
"Nun ist die Rechtmässigkeit eines Verwaltungsakts grundsätzlich
nach der Rechtslage zur Zeit seines Erlasses zu beurteilen. Bei der
Prüfung der Frage, ob die für eine Baute oder Anlage erteilte Bewilligung oder deren Änderung bundesrechtmässig sei, ist daher
vom Rechtszustand auszugehen, der im Zeitpunkt der Verfügung
galt. Im Laufe des Beschwerdeverfahrens eingetretene Rechtsänderungen sind an sich unbeachtlich, es sei denn, zwingende
Gründe sprächen für die Berücksichtigung des neuen Rechts. Das
trifft nach bundesgerichtlicher Praxis vor allem dann zu, wenn
Vorschriften um der öffentlichen Ordnung willen oder zur Durchsetzung erheblicher öffentlicher Interessen erlassen worden und
daher auch in hängigen Verfahren sofort anwendbar sind. Im Weiteren führte es zu nichts, eine Bewilligung oder deren Änderung
aufzuheben, weil sie dem alten Recht widerspricht, während sie
nach neuem Recht auf Gesuch hin oder von Amtes wegen zu
erteilen bzw. zu verfügen wäre …"
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Anwendung von neuem Recht auf hängige Verfahren
§6
Was bedeutet die Initiative
für hängige Baugesuche?
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Vorwirkung
§6
Grundsätze
1. Vorwirkung des neuen Rechts ist grundsätzlich unzulässig
(Recht, das noch nicht in Kraft ist, darf nicht angewendet
werden.)
2. Negative Vorwirkung ist ausnahmsweise zulässig, sofern
– eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage im geltenden
Recht besteht, und
– die Voraussetzungen für eine echte Rückwirkung
erfüllt sind
3. Neues Recht kann zur Auslegung von heute anwendbarem
Recht herangezogen werden ("Vorberücksichtigung")
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Vorwirkung (Beispiel)
§6
BGE 136 I 142 ff.
"Am 26. Februar 2009 publizierte der Gemeinderat Samnaun
(Parlament) den bereinigten Entwurf "Förderung des Erst- und
Einschränkung
des
Zweitwohnungsbaus
(Gesetzesentwurf)".
Dieser sieht in Art. 14 eine Lenkungsabgabe von Fr. 700.- pro m2
Bruttogeschossfläche
für
nicht
touristisch
bewirtschaftete
Zweitwohnungen vor. […] Nach Publikation des Gesetzesentwurfs
ersuchte die Gemeinde die Bauherrschaften, welche bereits
Baugesuche eingereicht hatten, zu erklären, ob sie sich der
vorgesehenen neuen Regelung betreffend die Förderung des Erstund Einschränkung des Zweitwohnungsbaus vorläufig unterstellen
wollten. Werde dies abgelehnt, so könnten die Baugesuche erst
weiter behandelt werden, wenn über das Schicksal der
Gesetzesvorlage definitiv Klarheit herrsche."
Wie ist dieser Sachverhalt rechtlich zu beurteilen?
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Örtlicher Geltungsbereich (Beispiel)
§6
Verkehrsregelverletzung im Ausland
X., wohnhaft im Kanton St. Gallen, wurde am 24. Juli 2005 auf einer
deutschen Autobahn mit 161 km/h geblitzt. Erlaubt wären 120 km/h
gewesen. Die zuständige deutsche Behörde verurteilte X. am 4.
Oktober 2005 zu einer Busse von 100 Euro und ordnete ein
einmonatiges Fahrverbot für den Raum Deutschland an.
Nachdem das Strassenverkehrsamt St. Gallen im Januar 2006 Kenntnis
vom Fahrverbot erhalten hatte, entzog es X. mit Verfügung vom 14.
März 2006 den Führerausweis wegen Überschreitens der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 41 km/h in Anwendung von
Art. 32 Abs. 2 SVG und Art. 4a Abs. 1 lit. d VRV
(Verkehrsregelnverordnung) i.V.m. Art. 16c Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit.
a SVG für die Dauer von drei Monaten.
War der Führerausweisentzug durch das Strassenverkehrsamt St.
Gallen rechtmässig (vgl. BGE 133 II 331 ff.)?
Vgl. für die neue Rechtslage seit 1. September 2008: Art. 16cbis SVG.
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Zugehörige Unterlagen
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