Neue Arzneimittel: Vareniclin

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2. Jahrgang, April 2008, 74-84
- - - Rubrik Neue Arzneimittel - - -
Neue Arzneimittel:
Vareniclin
Nicotinsucht und
Belohnungssystem
Klinische Wirksamkeit und
Pharmakokinetik
Nicotinerge Acetylcholinrezeptoren im ZNS
Sicherheit und Verträglichkeit
und pharmazeutische Beratung
Vareniclin
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Vareniclin (Champix®)
Prof. Dr. Georg Kojda
Fachpharmakologe DGPT, Fachapotheker für Arzneimittelinformation
Institut für Pharmakologie und klinische Pharmakologie
Universitätsklinikum, Heinrich-Heine-Universität
Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf
[email protected]
Lektorat:
Dr. med. Christian Lange-Asschenfeldt, Leitender Oberarzt Gerontopsychiatrie,
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität,
Rheinische Kliniken
Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum
Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier*:
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html
Es handelt sich um einen Rubrik-Fortbildungsfragebogen,
d.h. dieser Fragenbogen enthält Fragen zu mehreren Beiträgen im FORTE-PHARM
Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber : Photoprof , Lizenz : Fotolia
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84
Vareniclin
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Abstract
Nicotine, the active principle of tobacco,
is a strong inducer of addiction as is
heroine and cocaine. Addicition to nicotine develops quickly and even guided
attemps to quit smoking are rarely succesful. Only 10 % of smokers remain
abstinent without smoking cessation
aids. If relapse prevention is supported
by drugs such as nicotine and bupropione this rate increases to 20 %.
Varenicline is a specific ligand at a subpopulation of central nicotinergic acetylcholine-rezeptors (nAchR), the α4ß2nAchR. These receptors are involved in
the development and persistence of nicotine addiciton. Nicotine elicits a longlasting activation of such receptors which
results in desensitization and upregulation. Varenicline is a partial agonist which
stimulates α4ß2 nAchR and thereby reduces craving. In addition, its high affinity
prevents binding of nicotine. This activity
reduces the effects of nicotine and helps
to prevent a relapse. To date, varenicline
is the most effective smoking cessation
aid. Clinical trials have shown an approximately 3-fold increase of abstinence
rates compared to placebo and about
1,5-fold higher rates compared to
bupropion and nicotine. The most frequent side effect occurring in 30 % of
users is nausea. Abnormal dreams and
constipation are less frequent. In view of
the possibility of neuropsychiatric symptoms such as changes in behavior, agitation, depressed mood, suicidal ideation
and suicidal behavior, varenicline must
be used cautiously and any therapeutic
regimen requires active survey and chaperonage by health care professionals.
Abstrakt
Nicotin, der Hauptinhaltsstoff von Tabak,
zählt zu den starken Suchtinduktoren,
wie Heroin oder Kokain, d.h. die Sucht
entwickelt sich rasch und ist schwer zu
therapieren. Bisherige Erfahrungen nach
einem Jahr zeigen Erfolgsquoten von
etwa 10 % Abstinenz bei kaltem Entzug
und etwa 20 % Abstinenz bei pharmakologisch unterstützter Rückfallprävention
mit Nicotinpräparaten und Bupropion.
Vareniclin ist ein spezifischer Ligand an
einer Subpopulation zentral lokalisierter
nicotinerger
Acetylcholin-Rezeptoren
(nAchR), den α4ß2 nAchR. Dieser Rezeptor ist an der Entstehung und Unterhaltung der Nicotinsucht beteiligt. Nicotin
bewirkt eine dauerhafte Stimulation, die
letztlich in einer Desensibilisierung und
Hochregulation der Rezeptoren mündet.
Vareniclin ist ein partieller Agonist. Es
stimuliert einerseits den α4ß2 nAchR und
dämpft dadurch die Entzugserscheinungen. Andererseits verhindert die hohe
Affinität die Bindung von Nicotin an α4ß2
nAchR, was die Nicotinwirkungen vermindert und dadurch einem Rückfall entgegenwirkt. Vareniclin ist derzeit die
wirksamste pharmakologische Unterstützung
der
Rückfallprävention
nach
Rauchstopp. Die klinische Prüfung ergab
eine etwa 3-fach bessere Wirksamkeit
gegenüber Placebo und eine etwa 1,5fach bessere Wirksamkeit gegenüber
Bupropion und Nicotin. Bei ca. 30 % der
Behandelten löst Vareniclin milde Übelkeit aus. Abnorme Träume und Obstipation sind seltener. Die Möglichkeit neuropsychiatrischer Nebenwirkungen wie
Zunahme aggressiven Verhaltens oder
andere Verhaltensveränderungen sowie
depressive Verstimmung oder Suizidgedanken erfordern eine vorsichtige Anwendung und eine aktive Begleitung der
Therapie durch Arzt und Apotheker.
Einleitung
Zigaretten sind die am häufigsten konsumierten
Suchtmittel
überhaupt
(Weblinks 1-3). Ihr Dauergebrauch ist
vor allem mit einem erhöhten Risiko für
Herz- und Gefäßerkrankungen und einem erhöhten Risiko von Bronchialkarzinomen verbunden. Etwa die Hälfte aller
Raucher verstirbt vorzeitig an Erkrankungen, die sich auf den Zigarettenkonsum zurückführen lassen. Der Hauptinhalts- und gleichzeitig auch Suchtstoff
des Tabaks, das Nicotin, induziert bei
Dauergebrauch u.a. enzephalografisch
nachweisbare Veränderungen der Hirnaktivität (1). Daran beteiligt sind wesentliche Bestandteile des Belohnungssystems. Das Belohnungssystem wird
u.a. durch Stimulation nicotinerger Rezeptoren im ventralen Tegmentum angeregt (Abb. 1). Die dadurch erhöhte Feuerungsrate der Neuronen führt zu einer
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Abb. 1: Hirnregionen (grün), die durch
Nicotin beeinflusst werden. Nicotin stimuliert wesentliche Bestandteile des Belonungssystems (Abb. nach Weblink 4).
tor-down-Regulation“. So ist bekannt,
dass der dauerhaft erhöhte Sympathikustonus bei Herzinsuffizienz zu einer
Herunterregulation
von
ß1-Adrenozeptoren führt (2). Eine ähnliche Herunterregulation von ß2-Adrenozeptoren hat
sich
nach
Dauertherapie
mit
ß2Adrenozeptor-Agonisten wie Fenoterol
zeigen lassen (2). Im Fall von Nicotin ist
dies anders (Abb. 2-3). So konnte in
mehreren Untersuchungen an Tier und
Mensch gezeigt werden, dass die pulsatile Dauerexposition mit Nicotin, beispielsweise durch Rauchen, die Dichte
nicotinerger Rezeptoren nicht reduziert
sondern deutlich erhöht (3).
vermehrten Freisetzung von Dopamin im
Nucleus accumbens und zu entsprechenden Projektionen in den präfrontalen
Cortex und das limbische System. Darüber hinaus kommt es auch zur vermehrten Freisetzung von Katecholaminen und einer Toleranzentwicklung. Vor
allem die zu Beginn oft als positiv erlebten zentralnervösen Effekte von Nicotin
lassen bei Dauergebrauch rasch nach.
Daran beteiligt ist eine Veränderung der
Dichte und der Sensitivität der zentralen
Rezeptoren für Nicotin.
Placebo
Nicotin
Abb. 3: Durch Autoradiographie nachweisbare Hochregulation nicotinerger
Rezeptoren im präfrontalen cerebralen
Cortex bei Rauchern und Nichtrauchern.
Je dunkler die Färbung, umso höher ist
die Rezeptorendichte (Abb. nach (3)).
Abb. 2: Tierexperimentell nachweisbare
Hochregulation nicotinerger Rezeptoren
in verschiedenen Schichten im Gehirn
nach oraler Gabe von Nicotin. Je heller
(gelber) die Färbung, umso höher ist die
Rezeptorendichte (Abb. nach Weblink 4).
In vielen Geweben bewirkt die Dauerstimulation von Rezeptoren eine Verminderung von deren Dichte, also eine „Rezep-
Diese Hochregulation nicotinerger Rezeptoren erscheint auf den ersten Blick paradox. Es ist jedoch bekannt, dass die
Dauerstimulation durch Nicotin durch
seine hohe intrinsische Aktivität und,
verglichen mit Acetylcholin, lange Wirkdauer ebenfalls zu einer Desensibilisierung nicotinerger Rezeptoren führt (4).
Dies lässt vermuten, dass die Hochregulation nicotinerger Rezeptoren eine Kompensation für die Desensibilisierung darstellt.
Insgesamt steigen durch die zentral erregenden Effekte von Nicotin auch bei
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Nicotinabhängigkeit die Aufmerksamkeit
und die Konzentrationsfähigkeit an. Die
genannten Wirkungen sind jedoch auch
verantwortlich für das rasche Auftreten
und die Unterhaltung einer Sucht, die
sowohl durch eine physische als auch
durch eine psychische Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Während die physische
Abhängigkeit schnell überwunden werden kann, führt die psychische Abhängigkeit auch noch nach monatelangem
Rauchstopp zum Rückfall. Vereinfacht
dargestellt führt Nicotinabusus also zu
einer profunden Desensibilisierung des
Belohnungssystems. Die endogene Stimulation von Neuronen des ventralen
Tegmentums durch Acetylcholin reicht
dann nicht mehr aus, das System normal
zu aktivieren. Als Folge treten Entzugserscheinungen auf, die auf der verminderten Freisetzung von Dopamin im Nucleus accumbens beruhen. Hierzu zählen
auch das „Craving“ (Verlangen, auch
Suchtdruck), Stimmungsschwankungen,
Agressivität, Nervosität und depressive
Episoden (Abb. 4).
gem Rauchen eintritt. Ob hieran die veränderte Dichte und Empfindlichkeit nictoninerger Rezeptoren im Gehirn beteiligt sind ist nicht bekannt. Es ist auch
nicht bekannt, ob sich die in Abb. 2-3
dargestellten Veränderungen nach chronischem Nicotinabusus durch Rauchstopp
wieder zurückbilden.
Nicotinerge Acetylcholinrezeptoren
Grundsätzlich sind nicotinerge Acetylcholinrezeptoren (nAchR) ligandengesteuerte Ionenkanäle, die aus je 5 Untereinheiten bestehen. Die Diversität der Untereinheiten und die unterschiedliche Zusammensetzung zu einem funktionellen
Rezeptor führt zu einer Vielfalt verschiedener nAchR (Tab. 1).
Nicotinerge Acetylcholinrezeptoren
Typ
NN
Gewebe/
Untereinheiten
Vegetative Ganglien/
α3ß4
NM
Neuromuskuläre Endplatte/
α1ß1γδ
NZNS
Zentrales Nervensystem
α2-10, ß1-4
Tab. 1: Übersicht zu den verschiedenen
Formen nicotinerger Acetylcholinrezeptoren (nAchR).
Abb. 4: Schematische Darstellung der
Verarmung von Dopamin im Nucleus
accumbens, die durch die Desensibilisierung nicotinerger Acetylcholin-Rezeptoren im ventralen Tegmentum zustande
kommt und wesentlich für das „Craving“
(Verlangen, auch Suchtdruck) verantwortlich ist (Abb. nach Weblink 4).
Grundsätzlich muss davon ausgegangen
werden, dass neuronale Mechanismen
existieren, die eine Art Gedächtnis für
die Nicotinwirkung darstellen, denn
selbst nach längerem Rauchstopp erfährt
ein ehemaliger Raucher die typische Belohnungsreaktion, während diese bei
einem Nichtraucher erst nach mehrmali-
Wie in Abb. 5 dargestellt, sind am α4ß2
nAchR die Bindungsdomänen für Acetylcholin an den Nahtstellen zwischen den
Untereinheiten α4 und ß2 lokalisiert (5).
Auch wenn die Stöchiometrie der Untereinheiten nicht letztlich geklärt ist, wird
davon ausgegangen, dass der native
Rezeptor aus zwei α4- und drei ß2Untereinheiten besteht und somit auch
als (α4)2(ß2)3-nAchR bezeichnet wird (6).
Dennoch konnte unter bestimmten Bedingungen auch die Existenz eines
(α4)3(ß2)2-nAchR gezeigt werden. Allerdings ist bei dieser Zusammensetzung
der Untereinheiten die Sensitivität gegenüber Acetylcholin vermindert und die
Leitfähigkeit von Ca++ erhöht (6).
Die Bindung von Acetylcholin und/oder
Nicotin führt zu einer Konformationsänderung des (α4)2(ß2)3-nAchR mit konse-
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kutiver starker Erhöhung der Leitfähigkeit für Na+ und Ca++. Ingesamt wurde
über ein Na+/Ca++-Verhältnis von 0,51,0 berichtet (5). Durch den Einstrom
der Kationen durch die Zellmembran der
Neuronen kommt es hauptsächlich zu
einer Depolarisation der Membran, einer
vermehrten Freisetzung von anderen
Neurotransmittern sowie zur Steuerung
der Expression neuronal wichtiger Proteine. Neben der direkten Leitfähigkeit für
Ca++ durch den α4ß2 nAchR wird dieses
Kation auch durch spannungsabhängige
Ca++-Kanäle, die durch die Depolarisation nach Stimulation durch Acetylcholin
aktiviert werden, in das Neuron geleitet.
Welcher der jeweiligen Effekt im Vordergrund steht hängt auch von der Lokalisation innerhalb des neuronalen Netzwerkes ab.
(Tab. 2). Dabei spielt der α4ß2 nAchR
auch für die Entstehung und Unterhaltung einer Nicotinabhängigkeit eine
wichtige Rolle (5,7). So ist dieser Rezeptor bei Nicotinabhängigkeit deutlich
hochreguliert (Abb. 2-3) (6).
Erkrankungen mit Beteiligung
α4ß2-nicotinerger
Acetylcholinrezeptoren
Lokalisation
Erkrankung
Frontaler Cortex,
Hippocamus
Epilepsie
Cortex,
Hippocamus
Morbus Alzheimer
Hippocamus
Schizophrenie,
Angstpsychosen
Thalamus, RapheKern, Rückenmark
Schmerz
Ventrales Tegmentum, Nucleus accumbens
Nicotinabhängigkeit
Substantia nigra,
Corpus striatum
Morbus Parkinson
Tab. 2: Übersicht zur Beteiligung des
α4ß2 nAchR an Erkrankungen des zentralen Nervensystems (nach (5)).
Abb. 5: Schematische Darstellung des
nicotinergen
heteropentameren
α4ß2
Acetylcholin-Rezeptors. Gezeigt sind die
heteropentamere Struktur sowie die Aktivierung durch gleichzeitige Besetzung
beider Bindestellen bei Anwesenheit von
Nicotin. Nicht dargestellt ist die Leitfähigkeit für Ca++.
Der α4ß2 nAchR kann
1) postsynaptisch (induziert bzw.
verstärkt Feuerung des Neurons)
2) präsynaptisch (moduliert Freisetzung
von
Neurotransmittern,
auch als Autorezeptor)
3) präterminal (moduliert Reizleitung
und Feuerungsrate)
lokalisiert sein, kommt in sehr vielen
verschiedenen Strukturen des Gehirns
vor und ist auch an der Entstehung und
Unterhaltung von Erkrankungen beteiligt
Wirkungsmechanismus
Vareniclin ist ein spezifischer Ligand an
einer Subpopulation nicotinerger Acetylcholin-Rezeptoren (nAchR), den α4ß2
nAchR. Vareniclin verhält sich dabei als
partieller Agonist. Wie in Abb. 6 dargestellt, ist der partielle Agonismus gekennzeichnet durch eine Begrenzung der
intrinsischen Aktivität, d.h. der Fähigkeit
den Rezeptor zu stimulieren. Dies bedeutet, dass Vareniclin zwar mit hoher Affinität an den α4ß2 nAchR bindet, aber nur
einen Teil der Wirkung auslösen kann,
die ein voller Agonist auslösen würde.
Verfügt der partielle Agonist über eine
hohe Affinität, kann er auch nicht so
leicht aus seiner Bindung verdrängt werden. Auf diese Weise wird verhindert,
dass ein voller Agonist, wie beispielswei-
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se Nicotin, an den Rezeptor bindet und
seine Wirkung entfaltet. Insofern kann
ein Partialagonist auch als Antagonist
wirken.
Andererseits kann Vareniclin die Wirkung
von Nicotin deutlich abschwächen, bzw.
in Gegenwart von Vareniclin lässt sich im
Tierexperiment kein zusätzlicher Effekt
von Nicotin auf die Freisetzung von Dopamin nachweisen. Dies bedeutet, dass
Vareniclin einen Teil der Wirkungsstärke
von Nicotin erreicht und auf diese Weise
die
Entzugserscheinungen
dämpfen
kann. Bei gleichzeitigem Rauchen kann
das Nicotin jedoch nun nicht mehr an die
bereits von Vareniclin besetzten α4ß2Rezeptoren binden und damit auch seine
Wirkung nicht mehr entfalten. Dadurch
werden die positiv erlebten Effekte des
Rauchens unterbunden (7).
Pharmakokinetik
Abb. 6: Unterschied zwischen vollen
Agonisten wie Acetylcholin und Nicotin
und dem Partialagonisten Vareniclin.
Infolge des partiellen Agonismus sind die
Effekte von Vareniclin biphasisch und
abhängig von der Konzentration des Liganden Nicotin. Im Allgemeinen wirken
partielle Agonisten trotz hoher Affinität
nur mäßig agonistisch. Wie in Abb. 7
dargestellt, wird mit Vareniclin eine geringere Stimulation der Freisetzung von
Dopamin im Nucleus accumbens erreicht
als mit Nicotin.
Vareniclin wird nach oraler Gabe praktisch vollständig resorbiert und erreicht
nach 3-4 Stunden maximale Plasmakonzentrationen. Nahrungsaufnahme oder
Tageszeit beeinflussen dies nicht. Nach
ca. 4 Tagen ist ein „Steady-state“ erreicht. Die Plasmaproteinbindung liegt
bei < 20 %. Vareniclin zeigt bei einem
Verteilungsvolumen von ca. 415 l eine
Penetration in die Gewebe einschließlich
Gehirn. Vareniclin wird nur geringfügig
metabolisiert und zu 92 % unverändert
renal eliminiert. Neben der glomerulären
Filtration spielt auch die aktive Sekretion
über den organischen Kationentransporter OCT2 eine Rolle. Die Eliminationshalbwertszeit beträgt etwa 24 Stunden
(gesamter Abschnitt nach (8)).
Klinische Wirksamkeit
Abb. 7: Tierexperimenteller Nachweis
des partialagonistischen Wirkprinzips von
Vareniclin, welches zwar weniger stark
wirksam ist als Nicotin, jedoch die Wirkung von Nicotin deutlich reduziert (nach
(7)).
Vareniclin ist in mehreren randomisierten
doppelblinden Studien gegen Placebo
und gegen Bupropion klinisch geprüft
worden. Zwei dreiarmige Studien verglichen je 3 Monate Behandlung mit Vareniclin, Bupropion und Placebo (n=1483
und 1413, Auswertung nach 9-12 und 952 Wochen) (9,10) und eine Studie zur
Erhaltungstherapie über 24 Wochen gegen Placebo (n=2416) (11).
In den beiden Studien, die Vareniclin mit
Bupropion und Placebo verglichen, zeigten sich für alle untersuchten Zeitpunkte
signifikant höhere Abstinenzraten gegenüber Placebo. Die entsprechenden
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Odds-Ratios zeigen allerdings, dass der
Effekt mit zunehmender Studiendauer
geringer wird. Während Vareniclin nach
9-12 Wochen noch 3,85-fach besser
wirksam war als Placebo, zeigte die kumulative Auswertung nach 13-24 Wochen eine 2,47-fach und nach 13-52 Wochen eine 1,35-fach bessere Wirkung
gegen Placebo (Weblink 5). Dieses Phänomen läßt sich bei jeder Studie zur
pharmakologischen
Rückfallprävention
bei Rauchstopp beobachten. Wie in Abb.
8 mittels prozentualer Abstinenzraten
dargestellt, gilt dies auch für die Behandlung mit Bupropion und die Placebogruppe. Die Daten beruhen auf einer „intention-to-treat“-Analyse, d.h. jeder einmal
randomisierte Studienteilnehmer wurde
in die Auswertung aufgenommen, ob er
die Therapie nun erhalten hatte oder
nicht.
Abb. 8: Kumulative Abstinenzraten in
den klinischen Prüfungen von Vareniclin
(A: nach (9), B: nach (10), *Abstinenz
bestätigt durch Atemluft-Kohlenmonoxid,
†
zusätzlich telefonische Rückfrage)
Auch der Vergleich mit Bupropion ergibt
eine Überlegenheit für Vareniclin. Die
kumulativen Abstinenzraten zeigten nach
9-12 Wochen eine 1,92-fach und nach 952 Wochen eine 1,46-1,77-fach bessere
Wirksamkeit als Bupropion (Weblink 5).
Folgt die Analyse dem Verlauf der Therapie, so zeigt sich nach 24 Wochen eine
signifikante Überlegenheit von Vareniclin
gegenüber Bupropion, während der Unterschied zum Zeitpunkt 52 Wochen
zwar numerisch erhalten bleibt jedoch
das Signifikanzniveau nicht mehr erreicht
(9,10).
In einer weiteren Studie wurde untersucht, ob sich die Abstinenzraten gegenüber Placebo erhöhen, wenn die ursprüngliche 3-monatige Behandlungsphase um weitere 3 Monate verlängert
wird (11). Hierzu erhielten in einer offenen Phase 1.927 Patienten Vareniclin.
Diejenigen, die nach 12 Wochen abstinent waren (n=1236, 64,1 %) wurden
dann randomisiert einer Placebo- und
einer Vareniclin-Gruppe zugeteilt und für
weitere 28 Wochen nachbeobachtet. Es
fällt auf, dass in dieser Studie deutlich
mehr Patienten die offene VareniclinBehandlung abbrachen (37,2 %) als in
den beiden kontrollierten doppelblinden
Studien
die
verblindete
VareniclinBehandlung (24,1 % in (10), 25,8 % in
(9)). Der größte Anteil der Studienabbrecher gab Nebenwirkungen an (27.9
%), während dieser Grund zum Studienabbruch in den 3-Monatsstudien von
15,5 % (9) bzw. 16,9 % (10) der Studienabbrecher genannt wurde. Als Ergebnis der Studie zeigte sich eine signifikante Verbesserung der Abstinenzrate in
der Vareniclingruppe. Dabei zeigte die
kumulative Auswertung der Abstinenzraten in den Wochen 13-52, dass Vareniclin 1,34-fach besser wirksam war als
Placebo. Dies entspricht nahezu dem
Ergebnis, welches auch nach alleiniger 3monatiger Therapie erzielt wurde, weshalb eine Verlängerung der Therapiedauer auf 6 Monate wenig sinnvoll erscheint.
Schließlich ergab eine nicht publizierte
Meta-Analyse des Herstellers im Rahmen
eines indirekten Vergleichs eine signifikante Überlegenheit von Vareniclin gegenüber der Nicotintherapie (Weblink
5), d.h. dass Vareniclin nach 12 Wochen
1,78-fach und nach 52 Wochen 1,66fach besser wirksam ist als Nicotin. Die
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Autoren des NICE-Appraisals weisen
nach eigenen Analysen jedoch darauf
hin, dass der Vareniclineffect möglicherweise überschätzt wurde und geben ein
Odds-Ratio von 1,54 an (Weblink 5).
Insgesamt ergibt die Analyse aller Studiendaten, dass Vareniclin die wirksamste pharmakologische Unterstützung der
Rückfallprävention nach Rauchstopp ist,
die derzeit zur Verfügung steht (Weblink 5). Auch eine Analyse der Cochrane
Collaboration von 2007 kommt zu dem
Schluss, dass Vareniclin etwa 3-fach
häufiger zu einer langfristigen Abstinenz
führt als Placebo (12). Es wird jedoch
angemerkt, dass die bisherigen Ergebnisse durch unabhängige Studien überprüft werden sollten, und das ein prospektiver, randomisierter Vergleich mit
Nicotin bislang fehlt. Demgegenüber
kommt das arznei-telegramm® zu dem
Schluss, dass wegen des dürftigen Nutzens und der potentiell lebensbedrohlichen Risiken von der Anwendung von
Vareniclin abzuraten ist (Weblink 6).
ten und Keyborders der Musikgruppe
“Edie Brickell & the New Bohemians”,
Jeffrey Carter Albrecht, der sich das
Rauchen abgewöhnen wollte und seit
einiger Zeit Vareniclin einnahm. In der
Nacht vom 4.09.2007 hat sich der
Musiker in betrunkenem Zustand sehr
aggressiv gegenüber seiner Freundin
verhalten und sie wiederholt mit
Schlägen und Tritten misshandelt. Der
Freundin gelingt es vorne aus dem Haus
zu flüchten, über die Hintertür wieder
hineinzukommen und ihn auszusperren.
Nach lautstarken aber erfolglosen Versuchen wieder hineinzukommen, beginnt
er an der Hintertür des Nachbarn zu randalieren. Der verständlicherweise alarmierte Nachbar gibt nach Warnungen
einen Warnschuss durch die geschlossene Tür ab und trifft Jeffrey Carter
Albrecht versehentlich tödlich im Kopf.
Unerwünschte Wirkungen
von Vareniclin
Art
Sicherheit und Verträglichkeit
Die häufigste Nebenwirkung von Vareniclin ist Übelkeit (Tab. 3). Sie betrifft vor
Placebobereinigung, was der Behandlungssituation in der ambulanten Versorgung am nächsten kommt, knapp ein
Drittel aller Behandelten. In den meisten
Fällen wurde die Übelkeit von den Betroffenen als geringgradig eingeschätzt
(72 % der Fälle, (10)). Übelkeit von
mittlerer (23 %) oder schwerer Intensität (5 %) waren deutlich seltener (10).
In ähnlicher Weise schätzen auch Gonzales et al. die durch Vareniclin induzierte
Übelkeit ein (9). Weiterhin wird in beiden
Studien übereinstimmend beschrieben,
dass die Übelkeit mit der Zeit nachlässt
und nur wenige Patienten (2,3-2,6 %)
die Studien wegen dieser Nebenwirkung
abbrachen. Ein ähnliches Ergebnis zeigt
auch die Studie zur 6-monatigen Therapie mit Vareniclin (11).
Unter Vareniclin können auch neuropsychiatrische Symptome auftreten, die Anlass zur Sorge geben und für Aufsehen
gesorgt haben. Auslöser der intensiven
Diskussion zu diesen Nebenwirkungen
war ein kurioser Fall in den USA. Es handelt sich dabei um den Tod des Gitarris-
Verum
Placebo
28,8 %
9,1 %
Mundtrockenheit
6,2 %
4,4 %
Flatulenz
5,8 %
2,7 %
Obstipation
7,2%
2,7 %
Schlaflosigkeit
14,2 %
12,6 %
Abnorme Träume
11,7 %
4,5 %
Schlafstörungen
5,2 %
3,2 %
14,2 %
12,4 %
6,2 %
6,5 %
Übelkeit
Kopfschmerz
Schwindel
Tab. 3: Übersicht zu den verschiedenen
Nebenwirkungen von Vareniclin. Die angegebenen Zahlen geben jeweils den
Mittelwert der Angaben aus den beiden
3-armigen
randomisierten
klinischen
Studien wieder (nach (9,10)).
Ausgehend von diesem Fall wurden
weitere
Fälle
neuropsychiatrischer
Störungen gemeldet. Insbesondere werden Suizide mit der Einnahme von
Vareniclin in Verbindung gebracht. Die
U.S. Food and Drug Administration hat
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daher eine Erweiterung der offiziellen
Arzneimittelbeschreibung (in Deutschland die Fachinformation) erwirkt (Weblink 7). Darin wird darauf hingewiesen,
dass
1) Vareniclin schwerwiegende neuropsychatrische
Störungen
auslösen könnte
2) solche Störungen durch Veränderungen bei Rauchstopp verstärkt
werden könnten, und
3) bestehende
psychatrische
Erkrankungen wie Schizophrenie
oder Depressionen verstärkt werden könnten.
Ähnliche Änderungen sind auch für Europa geplant.
Es ist daher unerlässlich Patienten
und am besten auch deren nächste Angehörige vor der Einnahme von Vareniclin auf die Möglichkeit psychopathologischer Nebenwirkungen wie Zunahme
aggressiven
Verhaltens
(Gereiztheit)
oder andere Verhaltensveränderungen
sowie depressive Verstimmung oder Suizidgedanken hinzuweisen. Wichtig dabei
erscheint, dass diese Effekte durch den
Rauchstopp, der üblicherweise 1-2 Woche nach erstmaliger Einnahme erfolgt,
verstärkt werden könnten. Es erscheint
daher ebenfalls erforderlich, dass Ärzte
und Apotheker die Patienten, die Vareniclin einnehmen, nicht nur informieren,
sondern auch in besonderem Maße für
eine Beratung zur Verfügung stehen.
Idealerweise sollte diese Bereitschaft
bereits bei der Erstverordnung bzw. –
abgabe signalisiert werden.
Kontraindikationen
Vareniclin ist kontraindiziert, wenn eine
Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff
oder einen der sonstigen Arzneimittelbestandteile vorliegt.
Weiterhin weisen tierexperimentelle Ergebnisse auf reproduktionstoxische Wirkungen hin, weshalb Vareniclin nicht in
der Schwangerschaft verwendet werden sollte. Es ist nicht bekannt, ob Vareniclin in die Muttermilch übergeht. Eine
Anwendung in der Stillzeit sollte daher
aus Sicht des Autors nicht erfolgen.
Fazit
Vareniclin erzielt bessere Abstinenzquoten als Placebo, Bupropion und Nicotintherapie. Wegen bislang nicht abschließend geklärter Risiken durch selten vorkommende psychiatrische Störungen
sollte es nur bei gleichzeitiger Betreuung
durch Heilberufler (z.B. Ärzte, Apotheker, Psychologen) eingesetzt werden.
Wichtig erscheint die Einhaltung der Therapiedauer von 12 Wochen. Häufigste
Nebenwirkungen sind Übelkeit, Schlafstörungen und abnorme Träume.
Deklaration möglicher Interessenkonflikte:
Der Autor deklariert im Jahre 2007 ein genehmigtes Beraterhonorar von Pfizer Deutschland erhalten zu haben.
Hinweise:
Eine Übersicht zur den Möglichkeiten der pharmakologischen Rückfallprävention bei Rauchstopp mit dem Titel
„Beratung zur Raucherentwöhnung in Apotheken“ finden Sie unter folgendem Link
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/SerieApothekenpraxis.html
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84
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Weiterführende Weblinks
1) http://www.dkfz.de, Internetseite des Deutschen Krebsforschungszentrums,
2) http://www.rauchfrei2006.de/ Internetseite zur Aktion „Rauchfrei 2006.
3) http://www.akdae.de/35/index.html, Internetseite der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft,
Bereich Therapieempfehlungen, Tabakabhängigkeit, 1. Auflage 2001
4) http://www.thebrain.mcgill.ca, Internetseite des Kanadischen Instituts für Neurowissenschaften, mentale
Gesundheit und Abhängigkeit sowie des Kanadischen Institutes für Gesundheitsforschung mit vielen Illustrationen zum Thema, die sowohl für Anfänger, als auch für fortgeschrittene und professionelle Nutzer angelegt sind.
Dargestellt werden die einzelnen Unterthemen auf molekularer, zellulärer, neurologischer, psychologischer und
sozialer Ebene (englischsprachig)
5) http://www.nice.org.uk/nicemedia/pdf/FinalAppraisalDetermination.pdf, Beurteilung von Vareniclin durch das
National Institute for Health and Clinical Excellence, „NICE - Final appraisal determination – Varenicline for
smoking cessation“ (englischsprachig)
6) http://www.arznei-telegramm.de, Internetseite des arznei-telegramm®: arznei-telegramm® Arzneimitteldatenbank
7) http://www.fda.gov/cder/drug/InfoSheets/HCP/vareniclineHCP.htm , eine Internetseite der U.S. Food and
Drug Administration (FDA) mit Informationen zu Vareniclin für Heilberufler (englischsprachig)
Literatur
1.
Kojda G, D Hafner, M Behne, M Wilhelm: Pharmakologie Toxikologie Systematisch. Bremen, London, Boston,
UNI-MED AG, 2002, pp 1-987
2.
Dzimiri N. Regulation of beta-adrenoceptor signaling in cardiac function and disease. Pharmacol Rev 1999;51:465501.
3.
Perry DC, Davila-Garcia MI, Stockmeier CA, Kellar KJ. Increased nicotinic receptors in brains from smokers:
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Impressum:
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/impressum.html
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2008;2:74-84
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