Doppeldiagnose Psychose und Lernbehinderung

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Doppeldiagnose Psychose und Lernbehinderung
Herzogsägmühle, 15.05.14
Dr. med. Christian Schanze
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
MA: Pädagogik, Psychologie und Soziologie
Curriculum: Medizin für Menschen mit geistiger und
mehrfacher Behinderungen
Autismus-Diagnostik
Landsberg am Lech
68,3%
2,25%
15,85%
2
1
15,85%

1
2,25%
2
Intelligenzminderung bzw.
Intelligenzstörung
 = Standardabweichung
Normalverteilungskurve der Intelligenz
•
Neuropsychologische Teilleistungsstörungen ohne
Intelligenzminderung 
•
Dissoziierte Intelligenz  F74
•
Lernbehinderung (F81.9)
IQ
70-84
•
leichte Intelligenzminderung (F70)
IQ
50-69
•
mittelgradige Intelligenzminderung (F71)
IQ
35-49
•
schwere Intelligenzminderung (F72)
IQ
20-34
•
schwerste Intelligenzminderung (F73)
IQ
< 20
ICD-11  Unterteilung der IM entfällt vermutlich, da keine valide Testung
möglich!
Lernbehinderung
ICD-10 F 81.9
nicht näher bezeichnete Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten
• Intelligenzquotient zwischen 70 und 84
• Begriff  60er Jahren
• Definition: lang andauerndes, schwerwiegendes und
umfängliches Schulversagen (Kanter)
1. Leistungsrückstand mehr als 2-3 Schuljahre
2. mehrere Unterrichtsfächer sind betroffen
3. über mehrere Jahre andauernd
4. nicht Folge unzureichender Bildungsangebote
• ICD-10  Kapitel F81:
umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
F81.9
• z.B. Lese- und Rechtschreibstörung, nur Rechtschreibstörung,
Rechenstörung, kombinierte Störung
Geistige Behinderung und Heilung
Johann Jakob Guggenbühl, Interlaken
• J.J. Guggenbühl: Heilung des Kretinismus durch Höhenluft,
Reinlichkeit, Diät, medizinische Behandlung, aber auch
durch die richtige Erziehung ist möglich.
•  Bildungsfähigkeit
• Schule in Interlaken
Arbeit als
Therapeutikum
z.B.
• Frankfurter
Kastenhospital 1785
• Landkommunen in
Belgien
• Kretinen- und
Rettungsanstalten
(1838 Wildberg-Nagold, 1848 Stetten,
1852 Ecksberg, 1854 Neuendettelsau,
1863 Schönbrunn, 1869 Wagner`sche
Anstalten Dillingen, 1884 Ursberg)
Euthanasie-Erlass, T4-Aktion,
„grauen Busse“ (Reichs-Transportgesellschaft),
ca. 200 000 Menschen ermordet
Kloster Blankenburg
Enthospitalisierung von ca. 300 Menschen mit IM
und chronisch psychisch Kranke, 1981
• Enthospitalisierung
• Bericht der Enquête-Komission
zur Lage der Psychiatrie in Deutschland, 1975
• Enthospitalisierung (in der BRD ca. 17 000 Menschen mit IM
in der Psychiatrie dauerhospitalsiert; ca. 9000 in der DDR)
Spezialabteilungen für Menschen mit geistiger Behinderung und
psychischen Störungen in Deutschland
© C. Schanze 2007
WHO in ICD-10
Kapitel F 7
Psychische Störungen treten bei Menschen
mit Intelligenzminderung
3-4 mal häufiger auf als in der
Normalbevölkerung
Prävalenzrate von psychischen
Auffälligkeiten bei Menschen mit
Intelligenzminderung
psychische Störung
100%
80%
60%
deutlich auffälliges
Verhalten
auffälliges Verhalten
40%
20%
unauffälliges Verhalten
0%
Deb et al. 2001, Myrbakk u. Teltzschner 2008; Cooper at al. 2008, Bakken et al. 2010
Prävalenz psychischer Störungen
Normalbevölkerung und Menschen mit IM im Vergleich
Psychische Störung (ICD‐10)
Prävalenz in der Normalbevölkerung1 [ %]
Prävalenz bei Menschen mit Intelligenzminderung2‐7 [ %]
Psychische Störungen allgemein
22,13
10–60 (davon 20‐40% Verhaltensstörungen ICD‐
10 F7x.1) Demenz vom Alzheimer‐Typ (F00.x)
2
11–24
Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis (F2x.x)
0,4–0,8
3–4
Depression (F32.x)
2
1,3–3,7
Bipolare affektive Störung (F31.x)
1
4
Zwangsstörungen (F41.x)
1
1–3,5
Persönlichkeitsstörung (F6x.x)
10–13
22–27
1Möller 2003; 2Deb et al. 2001; 3National Institute of Mental Health 2005; 4Strydom et. al. 2007; 5Myrbakk u. Teltzschner 2008; 6Cooper at al. 2008, 7Bakken et al. 2010
Vulnerabilitätskonzept
• Vulnerabilität = Verletzbarkeit
• Alter psychiatrischer Begriff;
Synonym oder ergänzend zum Begriff der
Krankheitsdisposition
• Durch Zubin und Spring reaktualisiert (1977);
Risikofaktoren/Prädiktoren für schizophrene
Psychosen (siehe heute K.Klosterkötter)
• Geeignetes Erklärungsmodell psychischer
Störungen allgemein (v.a. geistig Behinderte).
Vulnerabilitätskonzept
Auf der Basis des jeweiligen
soziokulturellen Kontextes mit
spezifischen:
• sozialen Ressourcen
• Wertesystemen
• medizinisch-pädagogischen Versorgungsstrukturen
Psychosoziale
Einflüsse
Biologisch-genetische
Einflüsse
•
•
•
Vererbung
Genmutationen
(spontan, vererbt),
Chromosomenanomalien
(strukturell, numerisch)
prä-, peri-, postnatale
Schädigungen
Moderatorvariablen
Vulnerabilität
veränderbar durch:
• Kompetenz, Coping
• Gestaltung des sozialen
Umfelds
individuelle Resilienz
(Widerstandsfähigkeit)
wirken
ineinander
•
•
•
•
•
führen zu …
prämorbider Vulnerabilität
mit individueller Beeinflussung der:
• Informationsverarbeitung
• Ich-Stärke
• internalisierten Bezugssysteme
frühkindliche Traumatisierung
familiäre Kommunikationsstile
Erwerb von Assoziations-und
Bewertungssystemen
Erlernen von Kompetenzen
Erlernen von Copingstrategien
(Bewältigungsstrategien)
Moderatorvariablen
Vulnerabilität
veränderbar durch:
• Kompetenz, Coping
• Gestaltung des sozialen
Umfelds
individuelle Resilienz
(Widerstandsfähigkeit)
Psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit
Intelligenzminderung und fachliche
„Zuständigkeiten“
psychische Störung
80%
60%
40%
20%
0%
Psychiatrie, Psychologie &
Heil‐/Pädagogik, Psychologie, 100%
deutlich auffälliges
Verhalten
auffälliges Verhalten
unauffälliges Verhalten
Deb et al. 2001, Myrbakk u. Teltzschner 2008; Cooper at al. 2008, Bakken et al. 2010
Diagnostisches Vorgehen
„Drei-Schritte-Diagnostik“
(bio-psycho-soziales Assessment)
1. Hinweise auf das Bestehen einer körperlichen
Erkrankung
2. Psychosoziale Belastungsfaktoren im sozialen
Umfeld
3. Hinweis auf das Bestehen eines psychiatrischen
Störungsbildes
Checklisten und Dokumentationsbögen zur Diagnostik 
www.kilcher.de/schanze; www.fobi-net.de
Methodologische und inhaltliche
Probleme in der Diagnostik bei
Menschen mit Intelligenzminderung
Psychiatrisch-diagnostische Besonderheiten bei
Menschen mit geistiger und Lernbehinderung
(klientbezogen)
• Beeinträchtigte Introspektionsfähigkeit
• Beeinträchtigte körperliche Selbstwahrnehmung
• Vermindertes sprachliches Ausdrucksvermögen
• Vermindertes Sprachverständnis
• Mangelndes biographisches Wissen
• Behinderungstypische, „normale“ Abwandlungen von
üblicherweise diagnostisch relevanten
Verhaltensweisen
• Erhöhte Basisrate auffälligen Verhaltens
• Veränderung der Ausdrucksform „üblicher“
psychiatrischer Symptome
Phänomen
Definition
Intellectual distortion (Sovener, 1986)
Konkretes Denken und inadäquate Kommunikation führen zu einer
unzureichenden Darstellung des Befindens des Patienten (z.
B. Verwechslung der Begriffe Wut und Angst).
Cognitive disintegration (Sovener, 1986)
Bizarres Verhalten als Reaktion auf geringe Stressfaktoren im
sozialen Umfeld wird als psychiatrische Störung fehlgedeutet.
Baseline exaggeration (Sovener, 1986)
Das Hinzukommen einer psychischen Störung (z. B. Depression)
verstärkt vorbestehende Verhaltensauffälligkeiten (z. B.
selbstverletzendes Verhalten).
Passing (Edgerton, 1967)
Menschen mit Intelligenzminderung versuchen ihre Behinderung zu
verstecken um als möglichst normal eingeschätzt zu werden
(z. B. Verständnis signalisieren ohne wirklich verstanden zu
haben).
Underreporting
Verminderte Introspektions- und Selbstwahrnehmungskompetenz,
eingeschränktes Sprachverständnis und Ausdrucksvermögen
bedingen eine verminderte Mitteilung psychopathologisch
relevanter Symptome.
Diagnostic overshadowing
Zuschreibung des psychopathologischen Verhaltens zur
Intelligenzminderung
Eingeschränkte Anwendbarkeit
internationaler Klassifikationssysteme
für psychiatrische Störungen (ICD
10/DSM IV)
Einschränkung der inhaltlichen Kompatibilität von
Entscheidungskriterien und Diagnosen bei Menschen mit
Intelligenzminderung (z. B. kann bei nicht sprachkompetenten
Menschen mit IM die Diagnose einer paranoidhalluzinatorischen Schizophrenie gestellt werden?)
Umgang mit Menschen mit
psychischen Störungen
• Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten verbessern
(dialogischer Diskurs)
• Milieugestaltung
• Kompetenz und Coping
• Wertschätzung (Validation)
•  Empowerment
• Bei Lernbehinderung  hohes Autonomiebedürfnis
• Psychische Krisen sind Ausnahmesituationen 
Pädagogik und Konsequenz treten in den Hintergrund
• Ausnahme von der Regel: Persönlichkeitsstörungen!
• Management (z.B. auch Krisenpläne)
• Realitätsbezug, Affektive Öffnung (z.B. Wahn)
• Ist Stressreduktion und Strukturierung immer richtig?
(Unterscheide: akute und chronische Störung und
phasenhaften Verlauf)
Therapeutische Strategie bei Menschen mit
psychischen Störungen und
Intelligenzminderung
Unterstimulation
Überstimulation
?
Antriebsstörungen,
Apathie
Psychische
Dekompensation
Therapeutische und Assistenzstrategie bei
Menschen mit psychischen Störungen und
Intelligenzminderung
Persönliche
Assistenz und
Milieutherapie 
Empowerment
Psychotherapie
Psychopharmaka
!
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