Daniel Ender Germán Toro-Pérez – «Stadtplan von New York

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Daniel Ender
Germán Toro-Pérez – «Stadtplan von New York»
Kompositionsauftrag 2001
Inventario heißen drei Kompositionen von Germán Toro-Pérez, in denen – lizenziert durch den Titel – allem Anschein
nach eine zunächst vom Primat des Zusammenhangs befreite Materialsammlung vorgenommen wird: Schnittartig einander ablösende Klangtypen stehen scheinbar unvermittelt nebeneinander da, heftige Impulse reißen Räume auf, die
ruckartig wieder verlassen werden, während ein Ereignis und sein Nachhall miteinander verschwimmen. In engerem
Sinn musiksprachliche Mittel, die eine phasenweise Ausbreitung der Gedanken zulassen, werden ebenso erforscht, wie
ein «Inventar» der musique concrète entsteht: Kirchenglocken, Sprachfetzen, das Klappern oder Rasseln unbestimmter
Gegenstände stehen nebeneinander und beginnen, dem bloßen inventarischen Nebeneinander zum Hohn, miteinander
zu kommunizieren.
Die Tendenz zum Wachsen ist indessen dem Inventar inhärent: So entstand Inventario I zunächst ausschließlich
für Tonband, in Inventario II trat ein Klavier hinzu, Inventario III wurde außerdem noch durch Harfe, Schlagzeug und
Streicher ergänzt. Und da ein Inventar per definitionem nie abgeschlossen ist und immer neu geschrieben werden muss,
entstanden – als Work in progress – zwischen den Jahren 1998 und 2006 etliche Fassungen.
Von der Materialsammlung zur Materialentwicklung ist es zwar ein qualitativer Sprung, der allerdings aus einem
kleinen quantitativen Schritt erwachsen kann. Der unmittelbare Zugriff des Germán Toro-Pérez wurzelt zunächst in
einem großen Reservoir an Erfahrungen mit der Elektroakustik. Nach einer für einen Komponisten Neuer Musik eher
untypischen Sozialisation – der Komponist hat zunächst klassische Gitarre nur nach dem Gehör gelernt, ohne Noten –
betrachtet er dieses erste Musizieren noch heute als eine wichtige Erfahrung, die ihn direkt an den Klang heranführte.
«Deswegen war mir auch die Arbeit mit Elektroakustik gleich vertraut, das unmittelbare Hantieren mit dem Klang.»1
Dass die Anwendbarkeit und Verfeinerung von Mitteln keinen Widerspruch darstellen muss, zeigt Toro-Pérez’ vielseitige Verwendung von Live-Elektronik, die von autonomen Kompositionen über Improvisationsprojekte bis hin zum Film
und hier vom Experimentalvideo bis zum Spielfilm reicht.
Schnell und spontan mit Klängen zu hantieren bedeutet indessen nicht, dass diese Tätigkeit nicht durch genaue Ausarbeitung von Partituren ergänzt werden könnte. Es fällt zwar auf, dass eine Reihe von Kompositionen von Germán ToroPérez mit ihren Titeln um Skizze oder Studie kreisen, und einige Werke haben tatsächlich auch einen entsprechenden
Charakter; allerdings ergeben Tendenzen rund um die Tätigkeit des Rastrierens, des Ordnens und des Planens des kompositorischen Feldes ein ausgeprägtes Gegengewicht dazu.
So hat der Komponist im frühen Rastro für Klarinette in B (1992) Zahlenverhältnisse als grundlegendes «Raster» für
die Organisation gewählt und relativ streng angewendet, die aus dem Kontext unterschiedlicher Kulturen stammten und
allesamt auf eine Beschreibung kosmologischer Ordnungen abzielten: die Stufentheorie des Ptolemäus, eine Beschreibung
von Dante, der die Struktur des Paradieses aus der Struktur der Planeten ableitet, sowie eine Lehre aus dem Tantra, das
den Weg zur Erleuchtung in Phasen beschreibt, die wiederum jenen der Planeten entsprechen – das sämtlich idente Zahlenmaterial wurde aus diesen Quellen abgeleitet.2 Dieses Stück ist zwar das einzige, in dem Toro-Pérez dergestalt vorgegangen ist, doch spielen solch proportionale Erwägungen auch weiterhin eine Rolle.
Wenn in Stadtplan von New York. Musik nach Adolf Wölfli für fünfzehn Instrumente (2001)3 zunächst kleinste Gesten
isoliert auftreten, dann wiederholt werden, wenn sich dies modulartig fortsetzt und die Gesten sich zu nervöser, absurd
insektenhafter Bewegung steigern, ist damit ein Prinzip der Fortspinnung realisiert, das noch an solche mathematische
Ordnungen gemahnt, wenn es auch scheinbar chaotische und komplexere Prozesse sind, die sich hier abspielen. Indem
sich in diesem Stück kleine Elemente weiterentwickeln, mehrfach ansetzen, um im Sande zu verlaufen, spiegeln sich für
den Komponisten Elemente aus den Bildern von Adolf Wölfli in dieser Syntax: «Es gibt Sequenzen, Grundelemente, die
sich wiederholen, sie sind aber nicht geordnet, verändern sich in einer bestimmten Richtung: Eisenbahnwaggons, Brückenbögen, geometrische Figuren. Sequenzen haben mich in Wölflis Bildern am meisten interessiert.»4
Die kleinen Elemente, die sich bei Germán Toro-Pérez in Anlehnung an Adolf Wölfli nun aneinanderreihen, sind wie bei
den Bildern in der Wiederholung verändert und bilden eine Art modifizierendes Sampling, das Toro-Pérez das erste Mal bei
diesem Stück angewendet hat. Denn es handelt sich jeweils um komplette Module von einigen Takten, die nicht nur eine
bestimmte Rhythmik, Motivik und Harmonik aufweisen, sondern auch fertig instrumentiert sind. Bilden solche Module
also – analog zu Wölflis Grundelementen – die kleinsten syntaktischen Einheiten und zugleich die kleinsten Formteile,
1 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 5.7.2007.
2 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 5.7.2007.
3 Bei der Uraufführung im November 2001 sah sich der Komponist zum Hinweis veranlasst, dass die Komposition in keinerlei Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 stehe. Eine Woche vor diesem Datum abgeschlossen, war sie durch ihren Titel damals belastet, aber nicht dazu gedacht gewesen,
das Thema 9/11 «opportunistisch auszureizen» (Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 8.5.2007).
4 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 8.5.2007.
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werden sie also als Ganze einem Sampling unterzogen. Wie bei elektroakustischen Techniken können sie einer Wucherung unterworfen werden, die in Stadtplan von New York allerdings nirgendwo hinführt, auch wenn sie sich unermüdlich
fortspinnen. «Aus Fragmenten, allesamt aus der Urzelle entwickelt, eine Einheit zu entwickeln, dann wieder von vorne
zu beginnen, ist der Grundgedanke des Stücks. Darin war Wölfli wie Sisyphos, er musste stets der Leere entgegenwirken,
seine Existenz Schritt für Schritt aufbauen, imaginieren. Das gibt uns auch ein Bild davon, was Kunst leisten kann – nicht
im psychologischen Sinne, sondern so, dass man versucht, die eigene Welt als Erfahrung zu erweitern.»5
Mit seiner Wucherung, die nirgendwo hinführt, unternimmt Stadtplan von New York nun eine Verschränkung zwischen
der Kleingliedrigkeit und der Form des Ganzen. Wenn zwei Drittel des Stücks schnell und der letzte Abschnitt langsam
sind, wiederholt letzterer im Grunde – nach einer Kadenz des Klaviers als Bindeglied zwischen den beiden Großteilen –
epilogartig die innere, selbstreflexive Struktur des ersten.
Dieses Vorgehen hat für Germán Toro-Pérez durchaus Modellcharakter: Auch in Untitled 2002. Musik für siebzehn Blasinstrumente, Akkordeon und Schlagzeug (2002) gibt es beispielsweise eine vergleichbare zweiteilige Form mit motorischen
Sequenzen im ersten und verlangsamten Strukturen im zweiten Teil.6
Stadtplan von New York ist indessen nicht das einzige Stück des Komponisten, das auf einer visuellen Vorlage beruht.
In seinem Rothko II für Flöte, Oboe, Klarinette, Bassklarinette, Altsaxofon, Trompete und Live-Elektronik (2000-03) war
er allerdings sehr bemüht, eine Übersetzung einer bestimmten Vorlage zu vermeiden und vielmehr formale Archetypen
und Grundelemente aus den Bildern des New Yorker Malers Mark Rothko zu destillieren: «Viele meiner Stücke stellen
den Versuch dar, eine Ordnung zu beobachten und damit zu arbeiten; sie als Ausgangspunkt zu nehmen. In diesem Fall
war es die Räumlichkeit der großformatigen Bilder: Hier entsteht Raum als ein Gefühl von Tiefe, wenn sich die Ebenen
Vordergrund und Hintergrund voneinander abheben.»7
Die Räumlichkeit des Klanges gestaltet Germán Toro-Pérez hier vor allem durch eine Gegenüberstellung verschiedener
Klangflächen und durch ein Spiel mit Vordergrund und Hintergrund, mit Verdecken und Freiliegen zwischen den Ebenen.
Es gibt zehn kurze Abschnitte, die als Miniaturen gestaltet sind und zunächst wie ein Katalog von Klangtypen anmuten,
wenn etwa schrille Multiphonics der Oboe das übrige Klangbild verdecken, während die Elektronik einen Resonanzraum
bildet und ebenfalls in das Spiel mit den Ebenen eingeschaltet wird. Während der Miniaturenzyklus Rothko in zweimal
fünf Teile in variierender Besetzung zerfällt, der erste und letzte Teil einen Rahmen bilden und sich rund um sein Zentrum
zahlreiche Entsprechungen finden lassen, sind die einzelnen Teile in sich eher statisch gehalten und ermöglichen die Konzentration auf eine momenthafte Klanglichkeit, die einmal nur aus Farbe, Register oder Dynamik besteht.
Wenn hier gerade aus der Beschränkung ein letztlich farbiges Resultat erwächst, so wuchern die Werke von Germán
Toro-Pérez zuweilen scheinbar ohne Grenzen, ergeben sich zyklisch angelegte Werke oft erst im Lauf der Arbeit an einem
Stück oder wachsen einzelne Werke wie die Fünf Studien nach Italo Calvino für Flöte, Klarinette und Klavier (2001) zu
Kristallisationspunkten aus, auf die etliche Stücke danach wieder zurückkommen und andere Wege beschreiten.
Dass diese Wege zuweilen auch deutlich verschieden klingen können, erinnert unterdessen an jene parallelen Lebensentwürfe und Wirklichkeiten beim Schriftsteller Fernando Pessoa, in denen der Komponist eine Grundeigenschaft der
Moderne erblickt: «Pessoa ist einer jener Künstler für mich, der den Unterschied der modernen Welt zu früher klar macht:
Ein geschlossenes Weltbild gibt es nicht mehr, da ist es ungemein befreiend, wenn jemand die Möglichkeiten, jemand
anderer zu sein, künstlerisch auslebt.»8
Immer wieder hat sich Germán Toro-Pérez auf Pessoa und dessen Spiel mit verschiedenen Identitäten und Heteronymen bezogen, etwa in Drama em Gente für Kammerensemble und sechs Stimmen (1992/93), wo er die unterschiedlichen
vom Dichter imaginierten Personen als Lebensentwürfe begriff: «Die Musik wurde als eine Art Bühne für die Personen des
pessoaschen Dramas konzipiert.»9
Immer wieder ist es indessen die Auseinandersetzung mit außermusikalischen künstlerischen Kosmen, in denen Germán Toro-Pérez Gestaltungsprinzipien entdeckt, die er für seine eigene Arbeit fruchtbar zu machen sucht. Ein großer
Werkkomplex, der sich aus dem Entwurf eines (noch nicht ausgeführten) abendfüllenden Musiktheaters entwickelt hat
und nach dem gleichnamigen Roman des mexikanischen Schriftstellers Juan Rulfo benannt sein soll, gründet auf dem
Projekt Pedro Páramo für sechs Schauspieler, Sopran, Alt, gemischten Chor, großes Ensemble, Elektronik und Videoprojektionen. Titelfigur des Romans ist ein Großgrundbesitzer, der seine Umgebung rücksichtslos beherrscht. Erzähler ist
Juan Preciado, dessen Stimme neben jener einer Bettlerin aus dem Grab heraus erklingt: Alles ist vergangen, existiert nur
in der Erinnerung; es handelt sich um eine «Sprache der Einsamkeit, ein ständiges Sich-Erinnern.»10
5 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 8.5.2007.
6 Vgl. Ursula Strubinsky, Germán Toro-Pérez, Untitled 2002, Programmbuch Klangspuren Schwaz 2002, S. 110-111.
7 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 8.5.2007.
8 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 5.7.2007.
9 Germán Toro-Pérez, Drama em Gente, Programmbuch Hörgänge 2002, S. 71.
10 Germán Toro-Pérez, «Rulfo/voces»; Juan Rulfo: Sprache, Einsamkeit und Erinnerung, Katalog Wien Modern 2006, S. 157-159, hier S. 159.
Aus einer geplanten Zwischenmusik für eine Verwandlungsszene hat Germán Toro-Pérez nun nicht nur einen Einzelsatz, sondern einen gesamten Zyklus für Streichtrio und Live-Elektronik entwickelt. Das zunächst als Teil der konzipierten
Oper entstandene Rulfo/voces III: vacío el cielo azul für Viola und Live-Elektronik (2004) gibt durch das raunende Soloinstrument und die Resonanz der Elektronik sowohl die ursprüngliche Stimmung als auch das Gesamtkonzept des Zyklus
gut wieder. Da auch im Roman die meisten Texte Monologe sind, kreist die gesamte Musik der fünf Sätze, die zweimal das
gesamte Trio und jedes der drei Instrumente je einmal erklingen lassen, um Einzelstimmen. Selbst wenn das ganze Trio
spielt, tut es das fast immer nur einstimmig, wenn eine einzige Linie auf drei Instrumente aufgeteilt wird und allenfalls
etwas zerfranst. Diese Monodie, eine Art sprechender Gesang der Einzelstimmen, bildet den zentralen Gedanken für das
Stück. Währenddessen finden die «Stimmen» der Instrumente bis auf eine Ausnahme Widerhall durch die Elektronik:
Diese isoliert Frequenzen aus den Obertonspektren der Streicher, engt sie leise sirrend ein oder weitet sie zu Klangräumen
aus. Während die drei Instrumente in den beiden vollständig besetzten Trio-Sätzen ein gemeinsames Klangband ergeben,
eine gemeinsame, einstimmig wirkende Linie bilden, ergeben in der Schicht der Live-Elektronik, die sich naturgemäß von
Aufführung zu Aufführung verändert, Bordun- und Resonanzklänge einen Raum der enger und weiter werden kann, «als
würde sich der Raum selbst jedes Mal neu erfinden»11 und, ähnlich wie bei Alvin Lucier, immer andere Frequenzen und
Klangfarben freilegen.
In der Beschränkung auf ein Soloinstrument ist die Elektronik zuweilen auch eine virtuelle Ergänzung des Instrumentes, wenn sie gewissermaßen dazu dienen kann, «fehlende Saiten zu ergänzen.»12 Flächige Liegeklänge geben auch
hier Raum, an dialogartigen Stellen ergibt sich auch Polyphonie oder sogar Züge des Konzertanten, wenn sich die virtuose­
Präsenz des Soloinstrumentes vor dem Hintergrund der langsamen, gallertartigen Begleitung entfaltet. Auch hier ergibt
das Spiel mit den Frequenzen ein beständiges Ausdehnen und Wieder-Zusammenziehen des Klangraumes.
Das Violin-Stück Rulfo/voces II (2005/06) besitzt insofern Ausnahmecharakter, als es als einziges des Zyklus mit rein
akustischen Mitteln ohne elektronische Verfremdung oder Ergänzung das Auslangen findet. Insofern ist es als einziges ein
echter Monolog, doch gerade hier entfaltet sich immanente Mehrstimmigkeit: in zweistimmigem Spiel oder in Scheinpolyphonie, wenn sich den sich in die Höhe schraubenden Gesten, die in hohe Flageoletts münden, Pizzicati im tiefen Bereich
oder das Klopfen auf das Holz des Korpus entgegenstellen. Somit bildet dieses Stück sicherlich den subjektivsten Teil,
denn hier wird die Resonanz nicht künstlich erzeugt, sondern dem Instrument selbst abgerungen und wieder so etwas wie
ein virtueller Klangraum aus den hohen Obertönen erzeugt.
Das Raunen der Instrumente und das leise oder massige Dröhnen der Elektronik führt zu größter Plastizität und Drastik des Geschehens, gibt ihm gleichsam theatralische Präsenz – inmitten eines dramatisch verwobenen Kataloges von
Klangtypen.
Textauszug aus: Daniel Ender: Der Wert des Schöpferischen. Der Erste Bank
Kompositionsauftrag 1989–2007. 18 Porträtskizzen und ein Essay. Sonderzahl Verlag 2007.
© Daniel Ender, alle Rechte vorbehalten.
11 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 5.7.2007.
12 Germán Toro-Pérez im Gespräch mit dem Autor, 5.7.2007.
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