Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 1 VO EINFÜHRUNG IN DIE KLINISCHE PSYCHOLOGIE, PSYCHOTHERAPIE & GESUNDHEITSPSYCHOLOGIE GELESEN VON U. BAUMANN ® WS 04/05 CONCEPT, TEXT & TEXTREVISION © JO Post skriptum: Kein Anspruch auf Vollständigkeit und Tippselfehler - Freiheit ;-) Bezug auf: U. Baumann & M. Perrez (Hrsg.), Lehrbuch: Klinische Psychologie – Psychotherapie, 2. überarbeitete Aufl., Hans Huber Verlag, 1998 1 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 2 Kapitel 1 Grundbegriffe – Einleitung 1. Begriff Klinische Psychologie 1.1 Definitionen, Positionen Klinische Psychologie ist die Teildisziplin der Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und den psychischen Aspekten somatischer Störungen/ Krankheiten befasst. Dazu gehören folgende Themen Ätiologie/Bedingungsanalyse Klassifikation Epidemiologie Diagnostik Intervention (Prävention, Rehabilitation, Psychotherapie, Gesundheitsversorgung, Evaluation) Im deutschsprachigen Raum verfasste Hellpach das Lehrbuch „Klinische Psychologie“, verstand aber unter Klinischer Psychologie die Psychologie somatischer Krankheiten. Schraml betonte als erster, dass die Klinische Psychologie viel breiter zu konzipieren ist als die gängige Meinung Klinische Psychologie sei die Psychologie in der Klinik. Klinische Psychologie ≠ Psychologie der Klinik Im amero - anglikanischen Sprachgebrauch wird die Klinische Psychologie synonym mit Abnormal psychology verwendet. 2 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 3 1.2 Störung und Störungsart (psychisch, somatisch) 1.2.1 Störung Bei Krankheit werden teilweise Einheiten mit spezifischen Symptomen und Verlaufsmustern, sowie dazugehörende biologische Prozesse impliziert. Bei gestörten psychischen Phänomenen ist dieser Tatbestand teilweise strittig, auch sind manchmal andere Konzepte besser, deshalb wird der offenere Begriff Störung verwendet. 1.2.2 Störungsart (psychisch, somatisch) Zum Bereich Klinische Psychologie werden großteils psychische Störungen subsumiert, aber auch psychische Begleitphänomene somatischer Krankheiten z.B.: Dialysepatienten Durch die Abhängigkeit von der Dialysemaschine, aufgrund somatischer Dysfunktionen, können psychische Störungen wie z.B.: Depressionen auftauchen). Verschiedene Datenebenen zum Verständnis des Menschen biologisch/somatische Datenebene soziale Datenebene psychische Datenebene ökonomische Datenebene Diese Datenebenen sind untereinander verknüpft, Psychophysiologie oder Psychosomatik schon andeuten. wie die Begriffe Aufgrund der oben erläuterten Position ist ein multimodales Vorgehen bei der Ätiologie/Bedingungsanalyse und Intervention sehr wichtig. So müssen z.B.: somatische Erkrankungen von einer psychischen & somatischen Datenebene betrachtet werden, vice versa für psychische Störungen. →eine Reduktion auf die biologische Ebene ist abzulehnen 3 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 4 1.3 Klinische Psychologie & Nachbargebiete Verhaltensmedizin Medizinische Psychologie Klinische Neuropsychologie Gesundheitspsychologie Public Health interdisziplinär bio- psycho- soziales Konzept für Gesundheits- & Krankheitsprobleme Erkenntnisse der verhaltens- und biomedizinischen Forschung sollen bei Gesundheitsund Krankheitsproblemen in Prävention, Intervention und Rehabilitation zur Anwendung kommen eher ein Wissenschaftsprogramm Erkenntnisse und Methoden der Psychologie werden auf die Medizin angewandt Im Vordergrund steht die Situation des Patienten und die Interaktion ärztliches Personal & Patient Wie wirken sich Lesionen auf das Erleben und Verhalten aus? Psychiatrie Förderung & Erhaltung der Gesundheit Verhütung von Krankheiten Bestimmung von Risikoverhalten Verbesserung der medizinischen Versorgung Weite Definition: + pädagogischer Beitrag, Behandlung von Krankheiten, Diagnose/ Ursachenbestimmung und Rehabilitation Interdisziplinär Verbesserung der Gesundheit mittels gemeindebezogener Maßnahmen bzw. durch Beeinflussung des Gesundheitssystems Von der Makroebene Teilgebiet der Medizin, das sich mit psychischen Krankheiten befasst Psychiatrie Schwerpunkt: Klinische Psychologie Biologisch – somatische Schwerpunkt: Datenebene Psychische Datenebene 4 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 5 1.4 Klinische Psychologie & Psychotherapie Aus der Sicht der Klinischen Psychologie ist die Psychotherapie ein Teilgebiet der Klinischen Psychologie. Fachwissenschaftlich aber ist die Psychotherapie ein Spezialfall der klinisch – psychologischen Intervention. Die klinisch – psychologische Intervention ist nicht durch die Ätiologie der Störung oder durch einen Zielbereich charakterisiert, sondern durch ihre Methoden, die in der Verhalten und Erleben (psychischen Datenebene) ansetzen. Der traditionelle Psychotherapiebegriff beschreibt die Teilmenge der klinischpsychologischen Interventionen, die auf die Therapie gestörter Funktionsmuster und gestörter interpersoneller Systeme ausgerichtet ist. Das Naheverhältnis zur Psychologie wird aus berufspolitischen Gründen von der Medizin bestritten, da: Behandlung von Krankheiten ist Aufgabe der Medizin Da Psychotherapie Krankheitsbehandlung ist, gehört sie zur Medizin Doch auch tiefenpsychologisch oder humanistisch orientierte Psychologen & Psychotherapeuten bestreiten ein Nahverhältnis der Klinischen Psychologie mit der Psychotherapie und wollen die Psychotherapie als eigene Disziplin begründen, die von der Psychologie, der Philosophie, der Medizin und der Theologie gespeist wird. Berufspolitisch wichtig Krankenkassen zahlen nur für eine Psychotherapie, nicht aber für eine klinisch – psychologische Intervention. Deshalb wird aus berufspolitischen Gründen der Bereich Klinische Psychologie immer mehr auf die Psychotherapie ausgedehnt (aber auch um den Fortschritt und die Qualität im Sinne von Qualitätsmanagement – und sicherung zu gewährleisten. 2. Geschichte der Klinischen Psychologie Wesentlicher Punkt war das von Wundt gegründete Institut für experimentelle Psychologie in Leipzig, wo er und Kollegen und Studierende die Klinische Psychologie begründeten. Ein amerikanischer Schüler Wundts, Ligthner Witmer, prägte später den Begriff Klinische Psychologie und begründet in Amerika die erste Psychologische Klinik, die aus heutiger Sicht eher eine Erziehungsberatungsstelle war, wo Kinder mit Leistungsproblemen untersucht und behandelt wurden. 5 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 6 E. Kraepelin versuchte in Deutschland experimentelle Ansätze der Psychologie auf psychiatrische Fragestellungen anzuwenden, was zu wesentlichen Impulsen in der Klinischen Psychologie führte. Auch Freud gilt im deutschsprachigen Raum als wesentlicher Impulsgeber für die Klinische Psychologie, wobei Kraepelin die empirische Klinische Psychologie und Freud ein hermeneutisches Wissenschaftsverständnis repräsentierten. Bis weit in die erste Hälfte des 20.Jhrts. hatte die Klinische Psychologie nur eine geringe Bedeutung und wurde indirekt durch die Psychodiagnostik, Erziehungsberatung & Psychologische Intervention vertreten. 3. Struktur der Klinischen Psychologie 3.1 Störungsübergreifende Aspekte Verschiedene Problemfelder der Klinischen Psychologie finden sich bei unterschiedlichen Störungen, dadurch bietet sich hier eine Strukturierung an, die unabhängig von Störungsgruppen ist (wie z.B.: Ätiologie, Diagnostik etc.). →Man arbeitet eher allgemeine Gesichtspunkte heraus, negiert aber die differentiellen Aspekte nicht. 3.2 Störungsbezogene Aspekte Stehen psychische Störungen im Vordergrund, werden Einheiten gemäß ICD/DSM verwendet, bei somatischen Krankheiten finden wir eine Unterteilung in Hauptgebiete der Medizin (wie z.B.: Gynäkologie, Ontologie etc.). → Hier werden verschiedene Gesichtspunkte wie Klassifikation, Diagnose, Intervention etc. auf eine Störung bezogen. 3.3 Verschiedene Auflösungsgrade Störungen sollten nicht nur durch Diagnose oder Symptomen strukturiert werden, es sollte auch das Wissen aus anderen Gebieten der Psychologie einfließen. Daher können Störungen mit unterschiedlichem Auflösungsgrad betrachtet werden, wobei eine inter – oder intrapersonelle Perspektive eingenommen werden kann. 3.3.1 interpersonell: Störungen bei Systemen, die einen unterschiedlichen Auflösungsgrad besitzen (Paar, Familie, Schule …) 6 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 7 3.3.2 intrapersonell: Störungen bei psychischen Funktionen und Funktionsmuster Den geringsten Auflösungsgrad besitzen Störungen von einzelnen psychischen Funktionen des Menschen (Lernen, Wahrnehmung etc.). Eine komplexere Auflösung besitzen Störungen von Funktionsmustern. Dabei spricht man entweder von einer Störung bei unterschiedlichen Funktionsmustern oder von mehreren Störungen bei einem komplexen Funktionsmuster. Kapitel 2 Psychische Gesundheit, Psychische Krankheit, Psychische Störung 1. Krankheit, Kranksein, Krankenrolle Sobald ein Verhalten soweit von der Norm abweicht, dass es als nicht mehr „normal“ betrachtet werden kann, benutzt man den Begriff Krankheit, um diesen Sachverhalt zu kennzeichnen. → Krankheit bezeichnet beobachtbare Veränderung im Wohlbefinden, im Verhalten oder in der Leistungsfähigkeit einer Person, die normalerweise nicht zu erwarten sind. Kranksein = erlebter Zustand, aufgrund der Krankheit Krankheit = Veränderung der Person 1.1 Auswirkungen der Krankheit Man erkrankt an einer Krankheit und erlebt die Krankheit als Kranksein. Doch die Krankheit wird nicht nur subjektiv erlebt, sondern auch von anderen, da ich ein verändertes Verhalten (Krankheitsverhalten) an den Tag lege. Ab nun ist es ein soziales Phänomen und ich bin von einigen sozialen Regeln befreit, dafür treten aber andere in Kraft (sich schonen, im Bett bleiben etc.) – nach Talcott Parsons nimmt das Individuum eine Krankenrolle ein 7 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 8 Krankheit Kranksein (Erleben der Krankheit) Krankheitsverhalten Krankenrolle lllll Wie oben angedeutet kann der Begriff Krankheit also von mehreren Perspektiven betrachtet werden (vice versa mit Gesundheit) Biologisch Veränderter Zustand des Körpers, der Person oder seiner Teile Erleben von Beeinträchtigung/Unwohlsein Psychischer Aspekt Biologischer Aspekt Krankheit Zugeschriebene Rolle mit besonderen Erwartungen & Privilegien Sozialer Aspekt 2. Der allgemeine Krankheitsbegriff als Modell Der Begriff „Krankheit“ bezeichnet ein theoretisches Konstrukt/Denkmodell oder Paradigma, das dazu dient auffällige und unerklärbare Veränderungen beim Menschen zu erfassen und (scheinbar) zu erklären. Dabei wird folgende Verursachungskette angenommen: Ursache – Defekt – Erscheinungsbild – Folgen bzw. Krankheitsursache – Krankheit – Kranksein - Krankenrolle In der Forschung dient das allgemeine Krankheitsmodell zur Hypothesenbildung und zur Erklärung erklärungsbedürftiger Abweichungen. 8 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 9 In der Praxis bietet das allgemeine Krankheitsmodell die Möglichkeit Forschungsergebnisse direkt zu nutzen (Arzt kann aufgrund der Symptomatik die Beschwerden/Auffälligkeiten des Patienten einer gewissen Krankheitseinheit zuordnen). Das hat zur Folge, dass der Arzt auf eine bestehende Klassifikation zurückgreifen kann und nicht immer eine neue Einordnung vornehmen muss. Des Weiteren hat der Krankheitsbegriff auch eine gesellschaftliche Komponente, da er auf die Gesellschaft einwirkt – so werden bestimmte Berufsgruppen und Institutionen mit der Versorgung & Behandlung beauftragt bzw. legitimiert. 3. Die Anwendung des Krankheitsmodells Zu Beginn eines Urteils – und Bewertungsprozesses, der zu einer Diagnose führt, hat man nur Hinweise, dass eine Krankheit vorliegt. Diese Hinweise erhalte ich durch die Beobachtung eines Verhaltens, dass als abweichend bewertet wird. Daraus entsteht eine Vermutung die überprüft werden muss. Beobachtung eines Verhaltens Hinweise auf eine Krankheit Bewertung Überprüfung a) Beobachtung Damit man das Krankheitsmodell anwenden kann, müssen Abweichungen erst beobachtet werden. Dabei muss der Zustand oder das Verhalten als „anders als“ auffallen, dabei handelt es sich meist um eine Abweichung vom vorigen Zustand/Verhalten (intraindividuelle Abweichung in der Zeit), es kann aber auch ein vorgegebener „abweichender“ Zustand vorhanden sein (z.B.: Erbkrankheit, genetischer Defekt...) b) Bewertung 9 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 10 Wie schon erwähnt reicht es noch nicht aus, von der Norm abzuweichen – Diese Abweichung muss als nicht mehr im Spielraum des „natürlichen/normalen“ betrachtet werden - die Abweichung muss bemerkt werden. Um Abweichungen erkennen/ bewerten zu können verwendet man verschiedene Normen Statistische Norm Hier werden Durchschnittswerte herangezogen, dies ist aber nicht immer passend: z.B.: Karies – eine Person die noch nie in ihrem Leben Karies hatte, wäre im Vergleich zur Population abnormal. Aber im Prinzip ist die Mehrheit abnormal, sie weicht streng genommen von der Gesundheit ab. Funktionale Normen Für einzelne Krankheiten und Symptome werden funktionale Normen (z.B.: Blutdruck) definiert. Diese funktionalen Normen bewerten Zustände in Hinblick auf ihre Funktion und Folgen (ist dieser Zustand funktional oder dysfunktional etc.) für übergeordnete Zustände. Diese funktionellen Normen werden durch gesellschaftlich legitimierte Berufsgruppen oder Experten festgelegt. Idealnormen Allgemeingültig postulierte philosophisch – weltanschaulich begründete Zustände der „Vollkommenheit“. Beispiel für Idealnormen wäre die Unantastbarkeit des Lebens. Soziale Normen Soziale Normen wurden aus dem sozialen Zusammenspiel entworfen und steuern unsere soziale Interaktion. Man kann psychische Störungen oder Krankheiten auch als Abweichung von der sozialen Norm verstehen, wobei man dann kritisieren kann, dass eine Behandlung eigentlich eine Anpassung an den „Sozialen Mittelwert“ ist. subjektive Norm Vergleichspunkt sind hier die Möglichkeiten und die Leistungsfähigkeit des Individuums in seinem gesunden Zustand. Wie aus diesen Normen ersichtlich ist, gibt es je nach Perspektive unterschiedliche Konstruktionen von „Normalität“. Bei der Beurteilung des Zustandes einer Person auf eine etwaige psychische Störung, wirken immer die verschiedenen Normen & Regeln ein. So können manche als abnorm beurteilte Zustände durchaus toleriert werden, solange sie nicht eine zweite Schwelle überschreiten, die impliziert dass die Person änderungsbedürftig ist. 10 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 11 Dies lässt sich folgt abbilden: Normal Tolerierbare Abweichung Änderungsbedürftige Abweichung Ab wann ist ein Zustand/Verhalten änderungsbedürftig? …. Wenn die Symptome die berufliche Leistungsfähigkeit, die üblichen sozialen Aktivitäten oder die sozialen Beziehungen beeinträchtigen oder ausgeprägtes Leiden verursachen... © Klassifikationssystem ICD & DSM →Beeinträchtigung somatischer und/oder psychischer Fähigkeiten durch NichtKönnen (nicht durch nicht-wollen). c) Überprüfung Eine abnorme bzw. änderungsbedürftige Veränderung im Zustand oder Verhalten einer Person legt die Vermutung nahe, dass es sich um eine Krankheit handelt. Mit Hilfe von objektiven Befunden (Röntgenbild etc.) wird versucht dies zu erhärten. Wenn, wie es bei psychischen Störungen oft der Fall ist, objektive Befunde fehlen, verlagert sich das Gewicht auf die „Beobachtung einer Abweichung“ - hier allem auf die Bewertung „abnorm und änderungsbedürftig“. Diese beiden Kriteria besitzen besonders für die Interpretation „pathologisch“ und damit verbunden das Krankheitsmodell ein erhebliches Gewicht. Da die Bewertung sehr wichtig ist, wird das Krankheitsmodell sehr offen gehalten, um es dem Wertewandel und Erkenntnisgewinn durch Ausdehnung (Nikotinsucht, Spielsucht,...) bzw. Rücknahme (Bewertung der Homosexualität als nicht krank etc.) anzupassen. 4. Definition von Krankheit und Gesundheit 4.1 Krankheit und Gesundheit Der Begriff Krankheit kann unter vielen Aspekten betrachtet werden: wissenschaftlich ökonomisch-sozial (damit verknüpft sind Leistungen und Erwartungen) juristischer (Festlegung wer krank ist und wer sich damit beschäftigen darf) klinischer (andere Handlungsschemen) 11 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 12 sozialer (man ist netter zu Kranken) anthropologischer (Leid, Tod,... als existentielle Begriffe) Begriff. Im Prinzip ist eine Abgrenzung des Krankheitsbegriffes im Bereich der Forschung nicht gerade förderlich, da gerade die Offenheit des Krankheitsmodells dieses so flexibel und anwendbar macht. Da Krankheit an sich durch die Flexibilität dieses Konstruktes per se nicht definierbar ist, wird dieser Begriff meist über verschiedene Krankheiten/Störungen definiert Krank sind diejenigen die vom Arzt als krank definiert werden. Bezüglich der Gesundheit gibt es keinen einschlägigen Gesundheitsbegriff, und es ist analog zur Krankheit auch keine Definition durch verschiedene Gesundheitszustände möglich, man könnte den Begriff Gesundheit aber wie folgt eingrenzen/definieren: Gesundheit ist die Abwesenheit jeglicher Krankheit © good old Jahoda. 4.2 Kranksein und Gesundsein Man kann krank sein und sich gesund fühlen (z.B.: unbemerkter Tumor) oder ich kann mich krank fühlen obwohl ich gesund bin. Somit werden objektive Krankheit/Gesundheit und subjektives Kranksein/Gesundsein meist als zwei unabhängige Dimensionen gesehen ( dimensionaler Ansatz). Es wird versucht den Begriff Gesundheit einzugrenzen, so konnte Jahoda in der Literatur 6 Kriterien psychischer Gesundheit extrahieren: (1) Positive Einstellung zur eigenen Person (2) Wachstum und Selbstverwirklichung (3) Integrierte Persönlichkeit (4) Autonomie, Selbstständigkeit (5) Adäquate Realitätswahrnehmung (6) Kompetenz in der Bewältigung der Anforderungen der Umwelt Becker unterscheidet aufgrund von Fragebogenuntersuchungen 3 Hauptkomponenten (1) Seelisch – körperliches Wohlbefinden (2) Selbstaktualisierung ( Autonomie Expansivität) (3) Selbst – und Fremdbezogene Wertschätzung → Die WHO versteht unter Gesundheit nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern auch körperliches, geistliches und soziales Wohlbefinden. 12 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 13 Anhand dieser Versuche zeigt sich, dass in die Definition von Gesundheit auch sozio – kulturelle Bewertungen eingehen, die nicht konstant sind. Weiters kann man hier nicht von einem Durchschnittszustand sprechen, sondern nur von einem Idealbild. Zwischen den Extrempolen „Idealzustand des psychischen Gesundseins“ und „psychisches Kranksein“ liegt wahrscheinlich eine fließende „Grauzone der Normalität“ (typologischer Ansatz zur Definition von Krankheit und Gesundheit: Extreme sind definierbar, der Zwischenraum nicht) Gesundheit Gesundsein N O R M A L B E R E I C H Krankheit Kranksein 4.3 Rolle des Kranken und Rolle des Gesunden Von einem Menschen ohne Hinweise auf Beeinträchtigung wird erwartet, dass er seine normale Rolle zu erfüllen vermag. Die Rolle des Gesunden wird aber erst dann explizit zugesprochen, wenn die Person auch als sportlich und ausgeglichen gilt. Analog zur stigmatisierenden Wirkung der Zusprechung einer Krankenrolle kann auch die Rolle des Gesunden Rückwirkungen haben (Erwartung hoher Leistung und Belastbarkeit). 4.4 Krankheitsursachen und Gesundheitsursachen Eine Person ist nur dann vollständig geheilt, wenn auch die individuellen Krankheitsursachen beseitigt sind. Doch lässt sich die Krankheit nicht nur als unmittelbare Folge von Krankheitsursachen sehen, da Krankheit bzw. Gesundheit im Rahmen gesundheitsfördernder/protektiver (gutes Immunsystem etc.) und krankheitsfördernder/ vulnerabilisierender (Viren, Stress etc.) Faktoren zu sehen ist. Dabei spielen die Merkmale der Psyche, des Körpers, der ökologischen, ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen eine Rolle. G E S13 U N Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 14 Vulnerabilisierende Faktoren Protektive Faktoren 3. Kapitel Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Klassifikation, Ätiologie und Diagnostik 1. Einleitung Wissenschaftstheorie handelt vorrangig von den Zielen wissenschaftlicher Forschung, dabei versucht sie Zielzustände in allgemeiner Form möglichst präzise zu beschreiben und Kriterien bereitzustellen, inwieweit sich eine Forschungsdisziplin diesen Zielen angenähert hat. 2. Klassifikation Klassifizieren ist in der Klinischen Psychologie zentral. Typische Klassifikationen in der Klinischen Psychologie: Einheiten Klassen krank vs. gesund gestört vs. normal behandelt vs. unbehandelt Personen belastend vs. nicht belastend künstlich vs. natürlich in vitro vs. in vivo Situationen auslösend vs. aufrechterhaltend positiver vs. negativer Verstärker Reize abweichend vs. normal respondent vs. operant Reaktionen Elemente Diagnostische Instrumente 14 der Einteilung nach Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 15 Brickenkamp (1996) Therapeutische Verfahren Elemente der Einteilung nach Benesch (1995) Behandlungseffekte Hauptwirkung erwünscht vs. unerwünscht Besserung vs. keine Veränderung vs. Verschlechterung Psychische Störungen Elemente des DSM –IV oder der ICD – 10 Die hier oben erwähnten Klassenbegriffe stellen Bausteine oder Werkzeuge dar, die in der Klinischen Psychologie verwendet werden, um: (1) Im Bereich der Klinischen Psychologie als Wissenschaft Theorien zu formulieren. (2) Im Bereich der Klinischen Psychologie als Technologie therapeutische Handlungsregeln zu formulieren. Klinische Psychologie Technologie Wissenschaft (therapeutische Handlungsregeln) Der Wissenschaftstheoretiker (Theorieentwicklung) versteht Klassifikation als Strategie zur wissenschaftlichen Begriffsbildung, die zu einem System von Klassenbegriffen 15 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 16 führt, dem Klassifikationssystem. Im Rahmen der Identifikation (= Zuordnung einer Einheit zu einer Klasse), wird festgelegt ob eine Einheit zu einer Klasse gehört. Ein wesentlicher Schritt bei der Bildung von Klassenbegriffen ist die Bedeutungsfestlegung. Die Bedeutung setzt sich dabei aus der Extension (= Begriffsumfang) und der Intension (Begriffsinhalt) zusammen. Extension = Anzahl der Einheiten (wie Situationen, psychische Störungen) die unter einen Begriff fallen. Intension = Anzahl der Eigenschaften, die eine Einheit besitzen muss, um zu einer Extension zu gehören →Alle interessanten Klassenbegriffe in der Klinischen Psychologie sind in ihrer Extension offen, dadurch können die Begriffsumfänge nur über die Begriffsinhalte bestimmt werden. 2.1 Festlegung der Intension Im Bereich der Klinischen Psychologie ist als eine Variante der wissenschaftlichen Begriffsbildung die Explikation zu nennen. Ihr liegen die bekanntesten Klassifikationssysteme für psychische Störungen zugrunde. Was versteht man nun unter Explikation? Unter Explikation wird die Transformierung eines gegebenen, unexakten Begriffes (= Explikandum) in ein exaktes Konzept (= Explikat) verstanden. Explikation Unexakter Begriff = Explikandum Transformation Exaktes Konzept = Explikat 16 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 17 Welche Bedingungen muss ein Begriff erfüllen, um als adäquates Explikat für ein gegebenes Explikandum zu gelten? (1) Ähnlichkeit mit dem Explikandum Das Explikat muss in den meisten Fällen in denen das Explikandum angewendet wurde, anwendbar sein. Eine vollständige Deckung ist nicht erforderlich. (2) Exaktheit Für die Explikata werden nur Begriffe, für die präzise Gebrauchsregeln und Anwendungsvorschriften vorhanden sind, zugelassen. (3) Fruchtbarkeit Auf der Grundlage des Explikats müssen allgemeine Aussagen formuliert und bewährt werden können, sowie Beziehungen deutlich werden, die allein auf Grundlage des Explikandum nicht sichtbar waren. (4) Einfachheit Einfachheit bezieht sich auf Begriffsfestlegungen, Annahmen und Regeln, die den Begriff mit anderen in Beziehung bringen. In der Klinischen Psychologie gibt es in der Regel für ein Explikandum mehrere Explikate, die miteinander konkurrieren und unterschiedliche Aspekte des Explikandum zur Geltung bringen. z.B.: Begriff der psychischen Störung Im Grunde genommen ist der Begriff psychische Störung ein unexakter und vager Begriff – Was ist eine psychische Störung? (Versuch das mal zu erklären! ) Dabei kann das Bemühen um eine Klassifikation psychischer Störungen als Explikationsversuch gesehen werden, innerhalb dessen eine Differenzierung und Bedeutungsfestlegung versucht wird. So wird z.B. im DSM – IV der Begriff der psychischen Störungen als hierarchisches Gefüge von Klassenbegriffen expliziert: Psychische Störung Persönlichkeitsstörung 17 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 18 Zwanghafte Der oben skizzierte Klassenbegriff wird durch diagnostische Kriterien intensional Persönlichkeitsstörung festgelegt. Durch diese Explikation kann der unexakte Begriff der psychischen Störung in einen exakten Begriff übergeführt werden. Das ist aber nur der Fall, wenn die in den diagnostischen Kriterien vorkommenden Begrifflichkeiten exakt bestimmt sind. In den Kriterien des DSM – IV wird auf Begrifflichkeiten Bezug genommen, die zwar der Beobachtungssprache näher sind als die Explikanda, bei denen es sich selbst aber um Dispositionsbegriffe (z.B.: Patient X ist depressiv) handelt. Diese Dispositionsbegriffe werden durch Anführen von Beispielen in ihrer Bedeutung bestimmt (z.B.: Perfektionismus, Rigidität als Kriterien für zwanghafte Persönlichkeitsstörung). → Da es im DSM –IV aber keine präzisen Gebrauchsregeln für die Verwendung dieser Begriffe gibt, ist die Bedingung der Exaktheit des Explikats nicht voll erreicht. Bei den Elementen des ICD – 10 und des DSM – IV handelt es sich um pragmatische bzw. sozial konstruierte Begriffe, deren Bedeutung auf bestimmte Personengruppen und Zeitpunkte zu relativieren ist. Deshalb werden die Explikationen von bestimmten in ihrer personellen Zusammensetzung wechselnden Expertengruppen vorgenommen und laufend weiterentwickelt. Diese konstruierten Klassenbegriffe können als Konstrukte aufgefasst werden und dabei kann der Versuch des Nachweises der Fruchtbarkeit der Explikate als Konstruktvalidierung begriffen werden. 3. Ätiologie Ätiologie = Lehre von den Ursachen psychischer Störungen. In der Ätiologie geht es um die Beantwortung folgender Fragen (1) Wie entstehen psychische Störungen? (2) Wodurch werden sie ausgelöst? (3) Wodurch werden sie aufrechterhalten? Aus wissenschaftstheoretischer Sicht werden die hier gestellten Fragen so verstanden: Aufgrund von welchen Ursachen (Antezedensbedingungen) und welchen Gesetzesannahmen ist es der Fall, dass eine bestimmte psychische Störung entstanden ist, ausgelöst wurde bzw. aufrechterhalten wird? 18 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 19 3.1 Deduktiv – nomologische Erklärungen Erklärungen können qualitativ unterschiedlich sein, deshalb formulierten Hempel & Oppenheim Bedingungen, denen korrekte Erklärungen genügen müssen (die so genannten Adäquatheitsbedingungen). Adäquatheitsbedingungen B(1) Das Argument das vom Explanans zum Explanandum führt, muss logisch korrekt sein B(2) Das Explanans muss mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten (oder einen Satz aus dem ein allgemeines Gesetz ableitbar ist) B(3) Das Explanans muss empirischen Gehalt besitzen B(4) Die Sätze, aus denen das Explanans besteht, müssen gut bewährt sein Struktur G1; G2 … Bestandteile Explanans A1, A2, … Explanans E… Explanandum Allgemeine Gesetze, theoretische Annahmen Sätze, die beschreiben Hypothesen oder Antezedensbedingungen Deutet an, das E logisch aus G1, G2 … und A1, A2 … folgt, es symbolisiert den Argumentationsschritt Ist die Beschreibung des zu erklärenden Ereignisses Bsp. für eine deduktiv – nomologische Erklärung G1: Wenn auf ein Verhalten eine positive Verstärkung folgt, erhöht sich die Chance auf Wiederholung des Verhaltens A1: Auf das aggressive Verhalten von Peter erfolgt Zuwendung der Mutter A2: Die Zuwendung der Mutter ist ein positiver Verstärker für Peter 19 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 20 E: Peter ist oft aggressiv Das H – O – Modell der deduktiv – nomologischen Erklärungen ist ein Idealmodell. Dadurch ist es schwer innerhalb der Klinischen Psychologie Erklärungsargumente zu finden, die diesem Modell genügen. Das Erklärungsmodell und die ihm zugeordneten Adäquatheitsbedingungen geben aber die formalen Charakteristika der Zielzustände psychologischer Forschung vor. 3.2 Dispositionelle Erklärungen Dispositionen = Situationsbezogene Bereitschaften und Tendenzen zu abweichenden Verhalten Bei der Beantwortung der Frage, warum bei einer bestimmten Person eine psychische Störung vorliegt, ist auch die Frage interessant, welche Bedingungen diese Störung auslösen bzw. aufrechterhalten. Im Rahmen von dispositionellen Erklärungen wird abweichendes/gestörtes Verhalten einer Person dadurch erklärt, dass ihr bestimmte Dispositionen zugeschrieben werden. Dispositionsbegriffe bezeichnen Dispositionen und werden durch hinreichende und/oder notwendige Symptomsätze (Manifestationsgesetze) in ihrer Bedeutung bestimmt. Wenn es zu einem bestimmten Dispositionsbegriff nur einen hinreichenden bzw. notwendigen Symptomsatz gibt, hat dieser definitorischen Charakter, existieren hingegen mehrere Manifestationsgesetze, spricht man von empirischen Gesetzmäßigkeiten. Bei den Explanans einer dispositionellen Erklärung kommen auch Gesetzesaussagen vor, in denen meist auf bestimmte Situationen, Verhaltensweisen, die vom Dispositionsträger in bestimmten Situation zu erwarten sind, eingegangen wird. G: In sozialen Situationen treten bei Personen, die zu starker Selbstabwertung neigen, Ängste und Durchsetzungsschwierigkeiten auf A1: Der Patient neigt zu starker Selbstabwertung A2: Der Patient befindet sich in einer sozialen Situation E: Bei den Patienten treten Ängste und Durchsetzungsschwierigkeiten auf G = Manifestationsgesetz A1 = Aussage, in der dem Patienten eine Disposition zugeschrieben wird A2 = Aussage, die auf den situativen Kontext Bezug nimmt, unter denen die In E beschriebenen Probleme auftauchen 20 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 21 E = beschriebenes Problem In der Klinischen Psychologie setzen die Symptomsätze oft die Dispositionsbegriffe mit anderen Dispositionsbegriffen in Verbindung. Dies ist auch bei den Klassifikationssystemen für psychische Störungen der Fall, die ja aus einer Hierarchie von Dispositionsbegriffen bestehen. Es stellt sich dabei die Frage ob es innerhalb eines solchen Systems Dispositionsbegriffe gibt, die durch Manifestationsgesetze mit Situations – Verhaltens – Erwartungen in Verbindung gebracht werden können. Dispositionsbegriffe Manifestationsgesetze Situations – Verhaltens – Erwartungen Ist dies nicht der Fall, „hängen die Systeme in der Luft“, ist dies unzureichend der Fall „stehen sie auf dünnen Beinen“. Da Begriffe wie psychische Störungen selbst Dispositionsbegriffe sind, wird in der Klinischen Psychologie das Vorliegen eines Symptoms bei einer Person, oft durch die Zuschreibung einer psychischen Störung als Disposition erklärt (Achtung vor zirkulären Begründungen). 3.3 Historisch – genetische Erklärungen Innerhalb der Klinischen Psychologie ist es nicht nur von Interesse wie gewissen Dispositionen entstanden sind, sondern auch, wie sie erworben wurden und sich entwickelten. Dabei reicht es nicht aus die Entwicklungsschritte zu beschreiben, sondern es muss auch die Frage nach dem „Warum“ gestellt werden. Bei historisch – genetischen Erklärungen handelt es sich um eine Kette einzelner Erklärungsargumente, bei denen das Explanandum eines Erklärungsargumentes im Antezedens des nächsten vorhanden ist. Dieses Antezedens umfasst mehrere Informationen, ohne die der Übergang zum nächsten Explanandum unmöglich wäre. So ist es möglich die Entstehung von Störungen zu erklären, die sich nach gewissen Gesetzmäßigkeiten vollziehen, aber in ihrem Verlauf und ihrer Eigenart von Umgebungsbedingungen abhängt, die selbst unerklärt bleiben. 21 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 22 4. Diagnostik In einem wissenschaftstheoretischen Zusammenhang kann die Diagnostik 3 Zwecken dienen (1) Zuordnung einer Person oder Einheit zu einer Klasse eines Klassifikationssystems (2) Erklärung der Probleme und Schwierigkeiten die sich in einem konkreten Einzelfall stellen (3) Vorbereitung einer therapeutischen Entscheidung Eine Diagnose stellt aus wissenschaftstheoretischem Blickwinkel den Versuch da, eine adäquate wissenschaftliche Erklärung für ein Explanandum zu finden, indem die Schwierigkeiten und Probleme, die sich im konkreten Einzelfall aufwerfen, beschrieben werden. Dabei bilden die Antezedensbedingungen die Diagnose. 6. Kapitel Klassifikation 1. Methodische Bemerkungen Klassifikationen dienen dazu, die übergeordneten Einheiten zuzuordnen. Übergeordnete Einheiten A B C D 22 Vielfalt der Einzelerscheinungen Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 23 Einzelerscheinung X Klassifikation ist aber auch die Zuordnung eines Elementes, Klassenzugehörigkeit unbekannt ist, zu einer vorgegebenen Klasse. dessen Klassen A B C D Element mit unbekannter Klassenzugehörigkeit Klassifikationen ≈ Grundprinzipien der Wissenschaft sind, da sie Gesetzmäßigkeiten ermöglichen. → In der klinischen Psychologie: Merkmals – und Personenklassifikationen. 1.1 Merkmalsklassifikationen vs. Personenklassifikation Merkmalsklassifikation: Man bemüht sich aufgrund von Symptom – oder Merkmalskonfigurationen höhere Einheiten zu definieren – man bildet Syndrome. Personenklassifikation: Verwendung von Diagnosen und die Personenklassifikationen sind durch hinreichende Bedingungen charakterisiert – stellen also Typen dar. Typen sind geometrische Schwerpunkte in einem Merkmalsraum, wobei es zwischen den Typen keine eindeutige Abgrenzung gibt. 23 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 24 2. Klassifikationssysteme für Personen mit psychischen Störungen 2.1 Allgemeine Gesichtspunkte Innerhalb des klinischen Sektors wird eine Vielzahl von Klassifikationssystemen verwendet, daraus folgte die Forderung nach einem polydiagnostischen Ansatz, der simultan die wichtigsten Systeme berücksichtigt. Derzeit dominieren bezüglich psychischer Störungen international aber 2 Klassifikationssysteme a) ICD (International Classification of Diseases) b) DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) 2.1.2 Für DSM und ICD relevante Begriffe (1) Komorbidität Unter Komorbidität versteht man das Auftreten verschiedener psychischer Störungen bei einer Person, wobei diese psychischen Störungen gleichzeitig oder auf der Zeitachse verschoben auftreten können. Sind diese psychischen Störungen auch von somatischen Erkrankungen begleitet, spricht man von Multimorbidität. (2) Multiaxialität Unter Multiaxialität versteht man die Beschreibung einer Person mit Hilfe mehrerer Achsen, wobei jede Achse durch einen spezifischen Inhalt charakterisiert ist. Multiaxiale Systeme beinhalten meist mehrere unterschiedliche Aspekte, die 24 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 25 teilweise additiv und nicht theoretisch begründet, zusammengefügt wurden. Diese Multiaxialität ermöglicht eine differenziertere Personenbeschreibung. (3) Operationale Diagnostik Eine Diagnose wird durch einen Kriterienkatalog (Ein - & Ausschlusskriterien) mit Verknüpfungsregeln für die Kriterien definiert. Struktur der Kriterien a) Symptom/e muss/müssen vorhanden sein b) Symptom/e dürfen nicht vorhanden sein c) Von den Symptomen müssen mindestens X vorhanden sein Plus eventuell: Zeit – und Verlaufskriterien bessere Interrater – Reliabilität, durch operative Diagnostik :Die Kriterien der operativen Diagnostik stellen letztendlich Konventionen dar, die nicht zu homogenen und inhaltlich sinnvollen Gruppen führen müssen. In Deutsch: Die Reliabilität (= die Beziehung zwischen dem wahren Wert und dem beobachteten Wert) ist gewährleistet, aber nicht die Validität (= inhaltliche Gültigkeit). Vielzahl von Symptomkriterien meist nicht definiert – Interpretationsspielraum!! 2.1.2 Fehlerquellen im diagnostischen Prozess Durch folgende Fehlerquellen wird die Übereinstimmung der Beurteiler/innen (Interrater – Reliabilität, Objektivität) reduziert (1) Patienten – bzw. Subjektvarianz 25 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 26 Der Patient kann sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichen Krankheitszuständen befinden (vgl. Bipolare Störung: Heute manisch, morgen depressiv) Langzeitperspektive (2) Situationsvarianz Patienten können zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Störungsausprägungen haben Kurzzeitige Patientenvarianz (3) Informationsvarianz Aufgrund unterschiedlicher Informationen über kranke Personen, können verschiedene Untersucher/innen zu unterschiedlichen Diagnosen kommen. Informationsvarianz kommt auch dadurch zustande, dass sich die Untersucher/innen in ihrer Exploration unterscheiden. (4) Beobachtungsvarianz verschiedene Untersucher/innen werten die erhobene Information verschieden aus (z.B.: A gewichtet die Information schwerer als B es tun würde) ≈ Auswertungsobjektivität bei einem Test (5) Kriterienvarianz Da verschiedene diagnostische Untersucher/innen Entscheidung verschiedene heranziehen, Kriterien kommen sie für ihre auch zu unterschiedlichen Entscheidungen. Kriterienvarianz kann aber auch durch nicht präzise definierte Diagnosen entstehen ≈ Interpretationsobjektivität bei einem Test Bei der Patienten – und Situationsvarianz handelt es sich um wahre Varianzquellen, die nicht zu Lasten Diagnosesystems gehen. 26 der Untersucher/innen oder des Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 27 2.2 ICD - Klassifikationssystem der WHO Im ICD – 9 sind die psychischen Störungen in 4 Teilbereiche unterteilt 1. Organische Psychosen 2. andere Psychosen 3. Neurosen, Persönlichkeitsstörungen (Psychopathien) und andere nichtpsychotische Störungen 4. Oligophrenien (Schwachsinn) Jeder dieser Teilbereiche ist in Hauptkategorien unterteilt, die durch 3 Ziffern gekennzeichnet sind. Die vierte Ziffer erlaubt die Bezeichnung von Unterkategorien. z.B.: 300 = Neurosen 300.3 = Zwangsneuros Steckbrief ICD – 10 (1) Unterteilt in 21 Kapitel (I – XXI) (2) Zusätzlich werden alle Krankheiten in verschiedene Bereiche untergliedert (A – Z) (3) Kapitel V enthält psychische Störungen und umfasst nur den Bereich F 27 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 28 Der ICD – 10, kann unter besonderer Berücksichtigung von Teil V (F) folgendermaßen zusammengefasst werden a) Ziel der Klassifikation (auch bei DSM): Gesundheitsstatistik, Forschung, Kommunikation b) Geltungsbereiche: alle Krankheiten c) Klassenlogik (auch bei DSM): Typen (Diagnosen) d) Klasseneigenschaften (auch bei DSM): Komorbidität zugelassen e) Klassifikationseinheiten (auch bei DSM): uneinheitlich (Ätiologie, Verlauf, Syndromatik, Schweregrad), atheoretisch, deskriptiv. f) Datenquellen (auch bei DSM): Nutzung aller Datenquellen g) Vorgehen bei Gewinnung der Einheiten: klinisch – kombinatorisch, basierend auf Konventionen in Abstimmung mit Mitgliedsländern der WHO h) Definition der Einheiten: (hier: psychische Störungen): Glossar und Kriterienkatalog i) Zuordnungsregeln: (hier: psychische Störungen): zum Teil implizite, zum Teil explizite Regeln j) Formale Genauigkeit (auch bei DSM): (hier: psychische Störungen): durch internationale Studien mehrfach überprüft Im Teil V werden die psychischen Störungen in 10 Hauptgruppen (F0-9) unterteilt, wobei jede psychische Störung mit dem Buchstaben F und vier bis fünf Ziffern codiert wird (Fab.cd bzw. Fab.cde) Wenn man kennzeichnen will, dass neben einer somatischen Krankheit auch psychische Faktoren eine Rolle spielen, ist zusätzlich zur somatischen Kodierung die Kategorie F54 (psychologische Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten) zu verwenden. 28 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 29 Kodierungslogik des ICD - 10 Code Klassifikationsebene Bedeutung F einstellig Hinweis auf psychische Störung Fa Zweistellig: Umfasst Hauptkategorie zusammengehörig Fab Dreistellig: Beispiel verschiedene, als F4: betrachtete Neurotische-, Belastungs- Störungen und somatoforme Störungen Einzelne Störungseinheiten F40: Phobische Störungen Kategorie Spezifikationen Fab.c ----------------- u.a. aufgrund F32.0: Vierstellig: inhaltlicher Gestaltung (z.B.: Art leichte depressive Episode Subkategorie der Phobie oder Schweregrad F40.0: Agoraphobie F40.00: Fab.cd Fünfstellig: Spezifikationen u.a. aufgrund von Agoraphobie Zusatzspezifikationen Verlauf, somatischer Panikstörung Syndromatik, inhaltlicher F40.01: Gestaltung Agoraphobie ohne mit Panikstörung F14.241: Wird Fab.cde nur bei Sechsstellig: Störungsgruppen Zusatzspezifikation Abhängigkeitssyndrom, 29 einigen Abhängigkeitssyndrom von (z.B.: Kokain, bei gegenwärtigen bipolare Substanzgebrauch, mit Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 30 Affektstörung) zur körperlichen Symptomen Zusatzspezifikation verwendet Unterschiedlichen Versionen des ICD – 10 V (F) (1) Klinisch – diagnostische Leitlinien a) Für die klinische Praxis konzipiert b) Jede Störungseinheit ist mit dem jeweiligen Code und dem Text (Glossar) detailliert beschrieben. (2) Forschungskriterien a) jede Störungseinheit ist mit einem Kriterienkatalog beschrieben b) präzisere Richtlinien (3) Leitfaden zur Diagnostik und Therapie in der Primärversorgung In Bearbeitung für ICD-11 sind 3 Achsen: Achse Beschreibung Achse I psychische Störungen (inkl. Persönlichkeitsstörungen) und somatische Störungen/Erkrankungen soziale Funktionseinschränkungen Achse II (Globaleinschätzung und Subskalen wie z.B.: familiäre oder berufliche Funktionsfähigkeit) Umgebungs- – und situationsabhängige Achse III Einflüsse/Probleme der Lebensführung und Lebensbewältigung 30 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 31 Unterschiede des ICD – 10 zu ICD – 9 1. operationale Diagnostik wird verwendet 2. Kategorienzahl wurde vergrößert 3. Verwendung des Begriffes Störung statt Krankheit 4. Versuch der Zusammenfassung von Störungen mit ähnlichen Erscheinungsbild (deskriptive Kategorienbildung) 5. Verzicht auf den Begriff „Neurose“ als Diagnoseeinheit ( der Begriff „neurotisch“ wird aber weiter deskriptiv verwendet) 6. Bereitstellung von Untersuchungsverfahren 2.3 DSM – Klassifikationssystem der American Psychiatric Association DSM IV wurde aufgrund von Expertenberichten und umfangreichen Feldstudien entworfen. Der DSM ist in 17 Hauptgruppen unterteilt, wobei jede Hauptgruppe weitere Einheiten (Störungen) enthält. Die einzelnen Einheiten sind in der Form eines systematisierten, kurzgefassten Lehrbuchtextes beschrieben, der folgende Punkte umfasst (1) Diagnostische Merkmale (allgemeine Beschreibung des Störungsbildes) (2) Subtypen und/oder Zusatzcodierungen (3) Codierungsregeln (4) Zugehörige Merkmale & Störungen (5) Besondere kulturelle – Alters – und Geschlechtsmerkmale 31 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 32 (6) Prävalenz (7) Verlauf (8) Familiäre Verteilungsmuster (9) Differentialdiagnos Unterschiede zum ICD – 10 Unterscheidungspunkt DSM - IV ICD - 10 Geltungsbereich Nur psychische Störungen Alle Krankheiten Gewinnung der Einheit Stärkere Orientierung an der klinisch – kombinatorisch, basierend empirischen Forschung auf Konventionen in Abstimmung mit Mitgliedsländern der WHO DSM IV mit ICD – 10 Berücksichtigt weniger, dass die vergleichbar, da die Symptomatik zu Beeinträchtigungen in Definition der Einheiten operationale Diagnostik unterschiedlichen Funktionsbereichen verwendet wird führen muss Explizite Zuordnungsregeln Implizite & explizite Zuordnungsregeln Zuordnungsregeln Entscheidungsbäume Autorenschaft APA WHO Anzahl der Versionen eine mehrere Darstellung Lehrbuchtext Allgemeine Beschreibung (Glossar + Kriterienkatalog) 32 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 33 Achsen des DSM IV Achse I: Klinische Störungen, andere klinisch relevante Probleme (Zustände, die nicht einer psychischen Störung zuzuschreiben sind, aber Anlass zur Beobachtung oder Behandlung geben) Achse II: Persönlichkeitsstörungen, geistige Behinderungen (in der Kategorie Störungen, die gewöhnlich erst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder Adoleszenz diagnostiziert werden) Achse III: Medizinische Krankheitsfaktoren (somatische Krankheiten) Achse IV: Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme (Kritik: Coping wird nicht erfasst) Achse V: Globale Erfassung des Funktionsniveaus Die Achsen I – III beinhalten die offiziellen DSM Diagnosen, während die Achsen IV und V Ergänzungen darstellen, die für spezielle klinische und Forschungszwecke verwendet werden. 2.4 Untersuchungsverfahren (1) Checklisten enthalten eine Zusammenstellung relevanter Kriterien (meist in Symptomform) Informationsgewinnung ist offen und erfolgt in Form eines freien Interviews ≠ Regeln zur Datengewinnung arbeiten mit Entscheidungsbäumen, mit denen man Diagnosen stellen kann 33 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 34 (2) Strukturiertes Interview Ablauf, Inhalt und Formulierung der Fragen festgelegt, dadurch wird die Informationsvarianz reduziert Auswertung bezüglich Diagnosen ist festgelegt Entscheidung ob ein Symptom die Kriterien erfüllt, basiert auf der vorhandenen Information und auf dem Urteil des Untersuchers (3) Standardisierte Verfahren explizite Vorgabe, wie die Antwort des Patienten zu bewerten ist ≠ klinische Erfahrung notwendig zur Durchführung Für Forschungsprojekte werden heute strukturierte und standardisierte Verfahren eingesetzt. 2.5 Bewertung von Diagnosesystemen bei psychischen Störungen (1) Phänomenologische Kritik Diagnosen stellen Vergröberungen da, die der Individualität nicht gerecht werden (2) Verhaltenstherapeutische Kritik Diagnosen ergeben keinen Behandlungsplan und haben deshalb nur wenig Nutzen für die Praxis Individualität wird zu wenig berücksichtigt, deshalb ist der Zusammenhang zwischen Diagnose und Intervention nur wage (heute wenig vertreten) (3) Sozialpsychologische Kritik Diagnosen führen zu Stigmatisierungen und erschweren so die Rehabilitation 34 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 35 Trifft aber nur begrenzt zu, da Betroffene eher aufgrund der Hospitalisierung und des Störungscharakters diskriminiert werden (4) Methodische Kritik Diagnosen sind wenig reliabel und deshalb wenig brauchbar Heutzutage wurden die besprochenen Varianzquellen (Informationsvarianz etc.) durch die operationale Diagnostik und durch die standardisierten und strukturierten Untersuchungsverfahren reduziert Reliabilität ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Gültigkeit von Diagnosen (so kann Diagnose X reliabel gestellt sein, aber eventuell keine sinnvolle, „valide“ Störungseinheit sein) Reliabilität von Diagnosen lässt sich überprüfen durch a) Interraterreliabilität Hier wird die Übereinstimmung unterschiedlicher Beurteiler meist mittels Videoaufnahme geprüft, bei denen den Beurteilern/innen eine Videoaufnahme eines Experteninterviews vorgelegt wird, und eine Diagnose erstellt werden muss. Zur Auswertung werden verschiedene Koeffizienten wie z.B. der Kappa – Koeffizient (bezieht Randwahrscheinlichkeiten mit ein) verwendet. Man erhält durch den Vergleich Durchführungsobjektivität der Datengewinnung (also eine Kontrolle durch der 2 Beurteiler die Informations- und Situationsvarianz) b) Stabilität (Re- Testmethode) Übereinstimmung zwischen 2 Beurteilern zu 2 verschiedenen Zeitpunkten wird gemessen. Dabei müssen die Zeitabstände doch relativ kurz sein (max. 1 Tag), da sonst die Situationsvarianz mit einfließt. (5) Inhaltliche Kritik („Validität“) 35 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 36 a) Bei Diagnosen ist die Gültigkeit nicht in Form eines Validitätskoeffizienten berechenbar, da sie keine Tests sind. Diagnosen stellen vielmehr eine Sammlung von Konstruktsystemen dar, die nur in einer umfassenden Theoriediskussion bewertet werden können. b) Eine Diagnose X ist nur dann inhaltlich sinnvoll (gültig), wenn sich mit ihr bezüglich Syndromatik und/oder Verlauf und/oder Ätiologie und/oder Therapie präzise Aussagen verbinden lassen. Deshalb können Diagnosen nicht als Ganzes, sondern nur einzelne Diagnosen aufgrund der Forschung kritisiert bzw. relativiert werden c) Diagnosen stellen oft Konventionen von Expertengremien da, was forschungsmäßig fraglich ist. d) Diagnosen homogenisieren, was vielleicht heterogen ist. e) Diagnosesysteme wie ICD oder DSM haben teilweise bezüglich der Einheiten einen relativ großen Auflösungsgrad, wobei aber offen bleibt, ob tatsächlich Unterschiede vorhanden sind f) Zusammenhang zwischen Diagnose und Intervention ist wage, aber es sind noch keine besseren Lösungen vorhanden. (6) Persönlichkeitspsychologische Kritik Die heutigen Diagnosesysteme favorisieren den typologischen Ansatz (Personenklassifikation) und vernachlässigen dimensionale Konzepte (Merkmalsklassifikation), obwohl sich dimensionale Ansätze in der Persönlichkeitsforschung als fruchtbarer erwiesen haben. (7) Berufspolitische Kritik Diagnosen dienen der Umschreibung des Zuständigkeitsbereiches der Medizin und sind daher für andere Berufsgruppen problematisch. 3. Merkmalsklassifikation 36 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 37 In der Klinischen Psychologie werden Typologische Ansätze und Eigenschaftsansätze verwendet. Studien belegen, das Fremdbeurteilungsverfahren in der Regel besser zwischen (klinischen) Gruppen differenzieren und änderungssensitiver sind als Selbstbeurteilungsverfahren. 7. Klinisch – psychologische Diagnostik: Allgemeine Gesichtspunkte 1. Funktion der klinisch –psychologischen Diagnostik Funktionen der klinisch – psychologischen Diagnostik (© Perrez): (1) Beschreibung (2) Klassifikation (3) Erklärung (4) Prognose (5) Evaluation Diese Funktionen können sich auf Personen und interpersonelle Systeme beziehen. Ad1) Beschreibung Sie ist der Ausgangspunkt für die anderen Funktionen, da die Probleme oder Störung(en) einer Person oder eines interpersonellen Systems in ihrer Art und Ausprägung erfasst werden. Bei der Beschreibung muss man zwischen der Beschreibung des Ist – Zustandes und der Beschreibung von Veränderung unterscheiden. 37 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 38 Ad2) Klassifikation Zuordnung zu Klassifikationssystemen mittels expliziter oder impliziter Regeln. Nicht nur auf die Zuordnung von Patienten zu diagnostischen Einheiten beschränkt (z.B.: Zuordnung zu Interventionen) Ad3) Erklärung Diagnostik versucht zur Erklärung beizutragen indem sie die dazu notwendigen Daten so umfassend und präzise wie möglich bereitstellt. Ad4) Prognose Diagnostik trägt zur Vorhersage von Verläufen psychischer Störungen bei (mit oder ohne Intervention). Die Diagnostik von Prädiktorvariablen erfordert ein komplexes Forschungsdesign. Ad5) Evaluation Bewertungen in der Veränderungsmessungen. Interventionsforschung Indikationsaussagen (unter basieren meist Randbedingung auf x ist Intervention y sinnvoll) stellen dabei bewertete Veränderungsaussagen dar. 2. Diagnostische Konzepte 2.1 Der diagnostische Prozess – Diagnostik als Problemlöseprozess Ziel des diagnostischen Prozesses ist es, psychologische Fragestellungen zu beantworten und im Rahmen des Problemlöseprozesses Entscheidungsgrundlagen bereit zu stellen. Ergebnisse von diagnostischen Untersuchungen Hypothesencharakter und sind deshalb untrennbar Berufserfahrung und persönlicher Erfahrung verknüpft. 2.2 Eigenschaftsdiagnostik 38 haben immer mit Fachwissen, Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 39 Die traditionelle Persönlichkeitsdiagnostik stellt eine Eigenschaftsdiagnostik dar – sie will das Verhalten aufgrund von Persönlichkeitseigenschaften (Traits) vorhersagen. Testantworten werden formal durch die Faktorenanalyse mit den Konstrukten verknüpft. 2.3 Verhaltensdiagnostik 2.3.1 Grundlagen der Verhaltensdiagnostik Die Verhaltensdiagnostik strebt – ausgehend von einer genauen Analyse des Problems und dessen Auftrittsbedingungen – Hinweise zur Entstehung, Erklärung und Aufrechterhaltung eines Verhaltens sowie dessen Änderungsmöglichkeiten an. Bei der Verhaltensanalyse werden hauptsächlich Heuristiken verwendet, die weniger nach Kriterien inhaltlichen Güte, sondern nach Kriterien der Brauchbarkeit beurteilt werden. Die Analyse eines kritischen Verhaltens kann auf mehreren Ebenen erfolgen (1) Situative Verhaltensanalyse auf der horizontalen Ebene Bei der horizontalen Analyse eines IST – Zustandes steht die Suche nach einem funktionalen Zusammenhang auf der Ebene der vorhergehenden, begleitenden und nachfolgenden Bedingung im Vordergrund (problematische Verhalten als Funktion der vorhergehenden und nachfolgenden Bedingungen) IST - Zustand A priori Bedingung Derzeitige Bedingung 39 A posteriori Bedingung Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 40 (2) Vertikale Verhaltensanalyse, Plananalyse Hier wird untersucht, welche übergeordneten Pläne, Ziele und davon abgeleitete Regeln bestimmte Verhaltensweisen auslösen. Dabei schließt man entweder von Verhaltensweisen auf Pläne und Ziele (bottom up) oder von Plänen und Zielen auf Verhaltensweisen (top down). Ziele und Pläne Top down bottom up Verhaltensweisen (3) Analyse von Systembedingungen Hier wird nach der Struktur und Dynamik von Systemen, Identifikation von systemstabilisierenden Regeln und Regelkonflikten aufgrund unterschiedlicher Normzugehörigkeit gefragt. Hohe Leistungsanforderung im Beruf Enge Bindung an Herkunftsfamilie Essstörung Gesellschaftliche Faktoren 40 Vernachlässigte Sozialkontakte Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 41 2.4 Verknüpfung von Eigenschaftsdiagnostik und Verhaltensdiagnostik Die klinisch – psychologische Diagnostik muss, um ausreichend differenzieren zu können, sich an einem interaktiven Persönlichkeitsmodell orientieren. Verhaltens und Eigenschaftsdiagnostik müssen miteinander verknüpft werden. Konzeptuell sind dabei die Diagnosesysteme dem Eigenschaftsansatz zuzuordnen. Diese Diagnosesysteme können die Reliabilität und Objektivität der Verhaltensanalyse erhöhen, wobei die Verhaltensanalyse prinzipiell zur Hypothesenüberprüfung und individuellen Anpassung der störungsspezifischen Therapie dient. Die Hypothesenbildung wird erleichtert, wenn man schon zu Anfang auf gut ausgearbeitete und empirisch gesicherte Störungstheorien zurückgreifen kann. 3. Veränderungsmessung Die Erfassung von Veränderungen ist für die klinisch – psychologische Diagnostik von großer Bedeutung. Dabei können mehrere Problembereiche unterschieden werden: (1) Allgemeine Rahmenbedingungen (2) Messtheoretische Fragen (3) Erhebungstechnologie Ad1) Allgemeine Rahmenbedingungen Von den allgemeinen Rahmenbedingungen hängt die Beurteilung der Veränderung ab. Dabei sind vor allem Gedächtnisprozesse (z.B.: Bei Selbstbeurteilung wichtig, da dadurch die Fehlervarianz steigt) und Veränderung der Beurteilungskriterien (den Urteilskategorien wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliches Gewicht zugeteilt so hat man z.B. zu Beginn der Therapie andere Zielpräferenzen als am Ende) wichtig. 41 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 42 Ad2) Messtheoretische Fragen Die klassische Messtheorie ist kein adäquates Verfahren zur Veränderungsmessung (Reliabilität von Differenzwerten, Korrelation von Ausgangswert mit Differenzwert und Konstrukt, Konstruktkonstanz etc. sind nicht ausreichend gelöst). Zum anderen werden in der klassischen Messtheorie die Kennwerte nur für einen Zeitpunkt berechnet, für eine Veränderungsmessung wäre aber eine Analyse mehrerer Zeitpunkte nötig. Ad3) Erhebungstechnologie Hierzu gibt es 4 Formen 1) Indirekte Veränderungsmessung Bildung von Differenzen von Statusbeurteilungen. 2) Direkte Veränderungsmessung Direkt Einschätzung von Veränderungen bei einem Messpunkt (z.B.: besserschlechter). 3) Beurteilung von Therapiezielverwirklichung Es werden Veränderungen von einem Ausgangszustand (Therapiebeginn) zu einem Zielzustand (Therapieende) beurteilt. Am weitesten verbreitet hier: Goal attainment scaling. 4) Beurteilung des (psychopathologischen) Status nach einem Zeitintervall bezüglich des Normbereiches 4. Multimodalität als Grundprinzip der Diagnostik Multimodalität bedeutet, dass ein multivariates Vorgehen gewählt wird, bei welchem innerhalb einzelner Kategorien variiert wird. Bezüglich der Multimodalität sind folgende Kategorien zu unterscheiden: (1) Datenebenen (Grundkategorien organischer Merkmale) (2) Datenquellen (Informationsgeberin) (3) Untersuchungsverfahren 42 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 43 (4) Konstrukte/Funktionsbereiche ( Einheiten innerhalb einzelner Datenebenen bzw. über Datenebenen hinweg) 4.1 Datenebenen Zur Erfassung menschlichen Erlebens und Verhaltens werden mehrere Datenebenen differenziert 1. biologische/somatische Ebene oft unterteilt in biochemische, neurophysiologische und psychophysiologische Ebene im Vordergrund stehen physische Vorgänge die chemisch oder physikalisch erfassbar sind 2. psychische/psychologische Ebene Fokus auf individuelles Erleben und Verhalten (inkl. Leistung) 3. soziale Ebene Fokus auf interindividuelle Systeme (soziale Rahmenbedingungen) 4. ökologische Ebene materielle Rahmenbedingungen 4.2 Datenquellen 43 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 44 (1) die befragte Person selbst Da sie eine Selbstbeobachtung abgibt (2) andere Personen Therapeuten, Bezugspersonen, geschulte BeurteilerInnen machen eine Fremdbeobachtung in Form einer Fremdbeurteilung/Verhaltensbeobachtung. Auch institutionell anfallende Daten (z.B.: Zahl der Krankenhaustage) zählen zur Fremdbeobachtung. (3) apparative Verfahren, Verfahren der Leistungs- & Intelligenzdiagnostik mittels Papier/Bleistift Sie erbringen Funktions- und Leistungskennwerte der Zielperson, sind aber keine Selbstbeobachtung, sondern eine eigene Datenquelle. In der klinisch - psychologischen Diagnostik gilt großes Interesse der Relation zwischen Selbstbeobachtungs- und Fremdbeobachtungsverfahren. Dazu ist zu sagen, dass der Unterschied zwischen Selbst– und Fremdbeobachtungsverfahren nicht allzu groß ist, sie korrelieren in der Depressionsdiagnostik mit r = .4 bis r = .6. Bei Selbstbeobachtungs- und Fremdbeobachtungsverfahren ist zu Berücksichtigen, dass es sich hierbei um Aussagebereichen unterschiedliche Beurteilungen handelt, über die die mit unterschiedlichen gleiche wissenschaftliche Daseinsberechtigung verfügen. 4.3 Untersuchungsverfahren 4.3.1 Psychologische Tests und andere Formen der Datengewinnung Um ein diagnostisches Urteil fällen zu können, gibt es unterschiedliche Wege der Datengewinnung, besonders stringent dabei ist der psychologische Test. Tests sind folgendermaßen charakterisiert 44 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 45 Standardisiert bezüglich Durchführung, Auswertung und Interpretation Gewinn einer Verhaltensstichprobe und Schluss auf Eigenschaften Quantifizierung (Messung der Merkmale) Gütekriterien wie Objektivität, Reliabilität und Validität etc. liegen vor Psychologische Tests können vorliegen in Form von: a) Selbst– oder Fremdbeurteilung (Ratings) b) Projektiven Verfahren c) Leistungsdiagnostik In der Praxis stellt jedoch das diagnostische Interview das häufigste Verfahren da. Das diagnostische Interview erfüllt neben der Informationserhebung auch Funktionen der Beratung und Therapie. Eine weitere Form ist die Verhaltensbeobachtung, bei der das Spontanverhalten, das Verhalten unter experimentellen Bedingungen (z.B.: Rollenspiel) oder das Verhalten in der Realität beobachtet wird. 4.3.2 Individualdiagnostik vs. Diagnostik interpersoneller Systeme Die meisten Tests, besonders psychologische Tests, sind für die Individualdiagnostik konzipiert. 4.3.3 Datenerfassung im natürlichen Umfeld: Felddiagnostik Ermöglicht die direkte Registrierung komplexer Verhaltensmuster. Sehr erfolgreich! Löst aber reaktive Effekte aus. 4.4 Konstrukte Mit Hilfe einer komplexen Erfassung der Wirksamkeit durch Variation der Konstrukte werden in der Therapie neben der Zielwirkung auch die Nebenwirkungen gemessen. Bei den Konstrukten handelt es sich um multimodale Konstrukte, sie berücksichtigen mehrere Datenebenen. Es werden spezifische (z.B.: Neurotizismus) oder globale Konstrukte (z.B.: soziale Anpassung) verwendet. 45 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 46 4.5 Problematik der Multimodalität Multimodales Vorgehen erhöht die Komplexität und führt zu Interpretationsproblemen. Diese Interpretationsprobleme entstehen dadurch, dass mehrere Datenmodalitäten (Datenebenen, Datenquellen, Untersuchungsmethoden) in ihren Ergebnissen pro Zeitpunkt oder im Verlauf übereinstimmen/nicht übereinstimmen können. Primär a) Grad der Übereinstimmung bei einem Untersuchungszeitpunkt: Konkordanz/Diskordanz der Daten b) Grad der Übereinstimmung bei mehreren Untersuchungszeitpunkten: Synchronizität/Desynchronizität der Verlaufskurve Übereinstimmung/Nichtübereinstimmung können wahre Sachverhalte, aber auch Scheinzusammenhänge repräsentieren. Vorraussetzung für eine inhaltliche Interpretation ist ein gemeinsamer Bezugsrahmen. Dabei führt in einer Entscheidungssituation die Nichtübereinstimmung unterschiedlicher Datenmodalitäten zu Schwierigkeiten. Hier stellt sich die Frage welche Modalität (Datenebenen, Datenquellen, Untersuchungsmethoden) bei Widersprüchen den Ausschlag geben soll. Ein univariates Vorgehen ist hier nicht sinnvoll, da die Komplexität des zu untersuchenden Phänomens zu stark reduziert würde, doch können folgende Gesichtspunkte zur Lösung beitragen: (1) Das Verfahren hypothesen- bzw. theoriengeleitet wählen (2) Stärker darlegen, in welcher Relation Untersuchungsverfahren und Konstrukt stehen 46 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 47 (3) Methodenstudien im Sinne der Multitrait – Multimethod – Analyse durchführen, um Zusammenhänge empirisch erklären zu können Wenn man also verschiedene Modalitäten heranzieht, muss man diese auch integrieren, dabei können Widersprüche oder Passendes in Hinblick auf einen Zeitpunkt oder eine Zeitachse diskutiert werden. Bsp. für eine multimodale Untersuchung: Funktionsbereiche Kognitiv - subjektiv Behavioral - motorisch Psychophysiologisch Möglichkeiten 1 2 + + + + + - 3 + + 4 + + 5 + 6 + - 7 + - 8 - Wenn ich 3 Funktionsbereiche habe, können die Daten auf eine „Störung“ hinweisen oder nicht (+ „gestört“ oder – „nicht gestört“). Wenn ich in jedem der Funktionsbereiche + oder – habe, ergibt es 8 Möglichkeiten: 2 – 7 sind problematisch, da sie diskordant (= nicht übereinstimmend) sind 1 & 8 sind kordant. Mögliche Gründe für Widersprüche In Bezug auf einen Zeitpunkt (1) Verschiedene Erfolgsauffassungen (2) Unterschiedliche Wahrnehmung In Bezug auf Zeitverlauf 47 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 48 (1) Verschiedene Datenquellen (2) Konzentration auf verschiedene Aspekte Widersprüche sind aufzuklären! Diskordanz/Kordanz kann auch mit Korrelationen thematisiert werden. Kordanz: r ≈ .9 bis 1, oder r ≈ -.9 bis -1 Diskordanz: r = 0 8. Epidemiologie Epidemiologie = Untersuchung der Verteilung und Determinanten der Krankheitshäufigkeit beim Menschen; Mit Hilfe demographischer, soziale und Umweltfaktoren etc. zur Hilfe gezogen sowie andere Disziplinen wie Soziologie, Mathematik, Demographie etc. 1. Aufgaben der Epidemiologie a) Feststellung der Krankheitsverteilung über Raum und Zeit in Abhängigkeit von Umwelt, Persönlichkeit und Organismus. Vorraussetzung für die Erkennung einer Krankheitshäufung in Raum und Zeit ist die vollständige Erfassung aller Fälle in einer definierten Zeitspanne und Population/räumlich definiertes Gebiet. Dabei kann die Verteilung der Krankheit über Raum und Zeit Hinweise auf mögliche Krankheitsursachen liefern. 48 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 49 b) Untersuchung von Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen (Vervollständigung des klinischen Bildes) Weitgehend wurde die Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen nur in Krankenhäusern beobachtet – das erzeugte ein eindimensionales Bild. Mit Hilfe der Epidemiologie wird eine vollständige Erfassung aller Fälle angestrebt um auch eine vollständige Aussage über Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen machen zu können. c) Prüfung von Hypothesen über kausale Beziehungen zwischen Umweltfaktoren und Krankheit Hauptbeitrag der Epidemiologie sollte auf der Entwicklung und Überprüfung von Hypothesen liegen, die sich auf spezifische Faktoren beziehen, die eine bestimmte Krankheit in einer definierten Bevölkerungsgruppe beeinflussen. d) Ermittlung individueller Krankheitsrisiken 2. Forschungsdesigns 2.1 Deskriptive, analytische, experimentelle Epidemiologie und psychiatrische Ökologie deskriptive Epidemiologie untersucht die Krankheitsverteilung in einer definierten Bevölkerung und in geographisch, biologisch und soziologisch abgegrenzten Gruppen. Wichtig für Planung und Evaluation von Gesundheitseinrichtungen 49 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 50 analytische Epidemiologie erforscht mit gezielten Hypothesen Zusammenhänge und Determinanten von Krankheiten. Mit experimentellen Studien wird der Zusammenhang mit Risikofaktoren untersucht. Experimentelle Epidemiologie bedient sich experimenteller Studien, in denen Einflussgrößen manipuliert werden. Psychiatrische Ökologie will die Beziehung zwischen geographisch definierten Umweltvariablen (= Gebietsmerkmale) und psychiatrischer Morbidität und ihrer Verteilungsprozesse in Gebieten und Bevölkerungen analysieren. Transkulturelle Epidemiologie ist ätiologisch orientiert und will die Beziehung und Determinanten zwischen Kultur und psychischen Störungen analysieren. Wenn man z.B. in einer einzigen Kultur eine spezifische Störung findet wahrscheinlich kulturabhängig Wenn eine Störung in einer Kultur mehr und in einer anderen Kultur weniger stark ausgeprägt ist unter anderem kulturabhängig 2.2 Epidemiologische Messvariablen 2.2.1 Krankheitsmaße a) Prävalenz Prävalenz = Gesamtzahl aller Krankheitsfälle, die in einer bestimmten Population zu einem gewissen Zeitpunkt (Punkt-) oder über eine gewisse Zeitspanne (Streckenprävalenz) vorhanden sind. Innerhalb der Streckenprävalenz unterscheidet man auch zwischen der Erfassung von Krankheitsfällen oder der Patientenanzahl (Unterschied wenn eine Person öfters krank war). 50 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 51 → Prävalenzdaten werden auch von der Lebenserwartung & Krankheitsdauer beeinflusst. b) Inzidenz Inzidens = Häufigkeit des Neuauftretens einer Krankheit innerhalb eines bestimmten Zeitraumes, unabhängig davon, ob die Erkrankung am Ende der Zeitperiode noch besteht. Prävalenz – und Inzidensraten können unterschiedlich gewonnen werden a) Erfassung über Behandlungseinrichtungen im Rahmen Inanspruchnahmeraten (= administrative/behandelte Prävalenz/Inzidens) von b) Erfassung im Rahmen einer Feldstudie (=wahre Prävalenz/Inzidens) 2.2.2 abhängige Variablen a) Falldefinition Falldefinition Dimensionaler Ansatz Kategorialer Ansatz Merkmale und Symptome werden als Analyseeinheit verwendet. Dabei werden Merkmale und Symptome unter der Annahme gradueller Unterschiede auf ihr Ausmaß und ihre Häufigkeit untersucht. Der medizinischen Tradition gemäß, werden kategoriale Unterschiede zwischen „Fällen“ und „Nichtfällen“ angenommen und in Bezug auf ihre Fallhäufigkeit analysiert Bezüglich der Epidemiologie ist eine exakte Falldefinition unerlässlich, sprich: Welche Merkmale müssen vorhanden sein bzw. dürfen nicht vorhanden sein, um einen Fall als negativ oder positiv identifizieren zu können? 51 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 52 b) Fallidentifikation In früheren Studien erfolgte die Fallidentifikation im klinischen Interview, wo der Psychiater den Probanden nach der Vorgeschichte und den Krankheitserscheinungen befragte und darauf unkontrolliert die jeweils gültigen Diagnoseklassifikationen anwendete. Bei stabilen und gut definierten Diagnosen (z.B.: Schizophrenie) funktionierte das erstaunlich gut, bei Persönlichkeitsstörungen oder neurotischen Erkrankungen, wo die Übergänge fließend sind, funktionierte dies jedoch nicht zufrieden stellend. Lösung: Verwendung standardisierter Interviews zur Diagnostik von ICD-10 bzw. DSM-IV Störungen. 2.2.3 Unabhängige Variablen Bezüglich der Interpretation epidemiologischer Hypothesen ist es fundamental zu unterscheiden, ob es sich bei den unabhängigen Variablen um geographisch definierbare Umweltfaktoren oder um Populationsmerkmale handelt. Gebietsmerkmale Soziographische Daten können mit der abhängigen Variable psychische Störung in Verbindung gebracht werden. Es können keine Krankheitsursachen ermittelt werden – so kann nicht gesagt werden, dass Angehörige der Unterschicht häufiger an psychischen Störungen leiden, als Angehörige der Mittel – bzw. Oberschicht. (nur Angabe von Korrelationen, keine Kausalbeziehungen) Dies entspreche einem ökologischen Fehlschluss. Soziodemographische Variablen (Geschlecht, Alter, Familienstand etc.) 52 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 53 Sind immer in epidemiologischen Studien zu berücksichtigen, da viele Erkrankungen von diesen Variablen abhängen. Über die globalen soziodemographischen Daten hinweg, ist es nötig die Umstände zu spezifizieren, die das Risiko für die Entstehung bestimmter Erkrankungen erhöhen/erniedrigen. Durch die additive Annahme vermittelnder sozialpsychologischer Faktoren und Persönlichkeitsfaktoren wurde es möglich prüfbare Modelle zu entwickeln, die z.B. das überhöhte Auftreten von psychischen Störungen in der Unterschicht möglicherweise erkläre könnten: 2.2.4 Studie von Hollingshead und Redlich über den Zusammenhang zwischen soziale Schicht und psychische Störungen Hollingshead und Redlich kamen zu folgendem Ergebnis: In der Unterschicht wurden allgemein mehr psychische Störungen festgestellt, in der Oberschicht überwogen dabei die neurotischen Störungen, in der Unterschicht eher die psychotischen. Diese Ungleichverteilung der Psychosen/Neurosen könnte aus der Erhebungsmethode (behandelte Prävalenz) resultieren: vielleicht sind auch in der Unterschicht die Neurosen stärker vertreten, werden allerdings nicht so oft behandelt, da Personen aus der Unterschicht sich nur dann in Behandlung begeben, wenn (unter diesem Schichtaspekt) kein normales Leben mehr möglich ist (ist bei Psychosen normalerweise der Fall). Doch wodurch lässt sich die allgemeine stärkere Belastung der Unterschicht durch psychische Störungen erklären? Hollinghead und Redlich fanden 2 mögliche Gründe 1. In der Unterschicht herrschen mehr Stressoren (z.B.: Arbeitslosigkeit) vor, gleichzeitig liegt aber auch ein 53 Defizit an persönlichen (z.B.: Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 54 Bewältigungsstrategien) und sozialen (z.B.: Freunde, soziales Netzwerk) Ressourcen vor 2. Die Drifthypothese: Personen aus der Oberschicht, die an psychischen Störungen erkranken, erleiden einen sozialen Abstieg und landen in der Unterschicht 3. Epidemiologische Projektdesigns 3.1 Querschnittstudie Querschnittsstudie = einmalige Untersuchung einer geographisch definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt Mit einer Querschnittsstudie erhält man eine Momentaufnahme über den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Im Vergleich zu Querschnittsstudien haben Longitudionalstudien folgende Vorteile 1. Beziehung zwischen einem Merkmal und einer Krankheit lässt sich in eine zeitliche Ordnung bringen (Voraussetzung für das Erkennen kausaler Beziehungen!) 2. Durch die Longitudionalstudien wird eine genaue Bestimmung der Inzidenz, des natürlichen Verlaufs und Ausgangs der Krankheit möglich. 3.2 Fallkontrollstudie Bei einer Fallkontrollstudie (z.B.: Depressive vs. Nichtdepressive) wird von einer Gruppe von Personen mit einer bestimmten Krankheit ausgegangen, die mit einer Gruppe „Gesunder“ (Kontrollgruppe) verglichen wird. Dabei sollte die Stichprobe 54 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 55 möglichst die Population repräsentieren, um die Fehlermöglichkeit zu minimieren und die Aussagekraft zu maximieren. 3.3 Interventionsstudien (z.B.: Immunisierung und darauf folgende Beobachtung) Ermöglicht die Ursache – Wirkungsbeziehungen zu untersuchen. Hierzu wird der kausale Faktor bei weitgehend gleich bleibenden Untersuchungsbedingungen modifiziert (ethische Probleme bei nicht Behandlung eines Krankheitsfaktors). 4. Datenerfassung in der Epidemiologie 4.1 Primärerhebung Bei der Primärerhebung werden die Daten durch den/die Forscher selbst erhoben, Datenerheber und Datennützer sind ein und dieselbe Person. Vorteile: überprüfbare & erschöpfende Erhebung durch kontrollierte Erheber und standardisierte Meßmethoden in einem einheitlichen Setting Aufgrund von Kosten oder bei der Erhebung seltener Krankheiten erfolgt oft ein 2stufiges Vorgehen: 1. Mit Hilfe eines Screeningverfahrens werden Personen mit einem Krankheitsverdacht ausgewählt (hohe Sensibilität, aber niedrige Spezifität Erhebung aller Fälle und einiger nicht – Fälle) 2. Eingehende Untersuchung, um den Verdacht zu erhärten 4.2 Sekundärdaten Bei Sekundärdaten sind Datenerheber und Datennützer ≠ ein und dieselbe Person. 4.3 Versorgungsebenen Inanspruchsnahmeuntersuchungen psychiatrischer und anderer 55 Dienste 0,6% Statistiken aufgrund von Krankenhäuser, ambulante Dienste, die aber keine wirklich Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 56 Bevölkerungsbezogene kumulative Fallregister 1,7% Hier werden die Kontakte mit allen psychiatrischen Einrichtungen innerhalb & außerhalb des Untersuchungsgebietes registriert, die eine geographisch definierte Bevölkerung versorgen. Erhebung über Patienten der Hausärzte 23% (erkannt 14%) Nur wenige begeben sich sofort in psychiatrische Behandlung, viele nehmen zuerst den Weg zum Hausarzt. Eine Stichprobe aus der Klientel ist sehr repräsentativ. Feldstudien 25% 5. Hier geben Patienten (möglicherweise Unfreiwillig) in einem natürlichen Setting über ihr psychisches Wohlbefinden Auskunft. Epidemiologie Störungen Sie sind mit einem psychischer sehr großen Aufwand verbunden, auch ist hier die Fallidentifikation erschwert. 5.1 Häufigkeit Versorgungsebenen psychischer Störungen auf verschiedenen Im Laufe der Zeit kam es auch zu Änderungen in der Häufigkeit der psychischen Störungen: 1. Scheinbare Häufigkeitsänderungen Verursacht durch Arzt, verbesserte Diagnosemöglichkeiten, die Gesellschaft (veränderte Grenzen der Zuschreibung von „krank“, erhöhte Toleranz) und den Patienten (verändertes Hilfesuchverhalten und Problemdefinition) 2. Wirkliche Häufigkeitsveränderungen Altersabhängig (Alterszusammensetzung führt zu veränderter Risikobevölkerung, veränderte Lebenserwartung) und altersunabhängig (Verhaltens- und Umweltfaktoren verändern Erkrankungsrisiken, verbesserte Therapien senken Prävalenz und Inzidenz) 56 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 57 6. Praktische Bedeutung der epidemiologischen Forschung a) Entwicklung von Methoden der Prävention, Behandlung und Rehabilitation und Prüfung ihrer Wirksamkeit und Risiken (Therapieforschung) b) Evaluation von Einrichtungen und Systemen der Versorgung psychisch Kranker, die der organisatorischen Umsetzung bewährter Therapie – und Rehabilitationsverfahren dienen, besonders im Hinblick auf Wirksamkeit und Kosten (Versorgungsforschung) 9. Ätiologie/Bedingungsanalyse: methodische Gesichtspunkte 1. Begriffe Prävention, Therapie oder Rehabilitation wären ohne Ätiologie nur begrenzt möglich. Bei den meisten psychischen Störungen muss man von einem Ursachenbündel bzw. Ursachenkette ausgehen – die so genannte Multikausalität. Wenn auch bei Störungen nur eine Ursache bekannt ist (z.B.: Chromosomenanomalie), sind doch für den aktuellen Zustand der Person eine Kette von Bedingungen verantwortlich, die auf der Chromosomenanomalie aufbauen. Da psychische Störungen sehr komplex sind, wird hier ein differenzierter Ursachenbegriff benötigt. Deshalb spricht man nicht von der Ursache/Ätiologie einer Störung, sondern von deren Bedingungen. Bezüglich der Multikausalität, können sich die auslösenden Faktoren auf einer oder mehreren Datenebene bewegen: Psychisch: Kognitives Defizit 57 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 58 Sozial: Partnerkonflikt Biologisch: Dopaminerge Dysfunktion Ökologisch: Wohnverhältnisse → multikausale, multimodale Modelle sind anzunehmen. Durch das Prinzip der Komorbidität wird die Ursachenfrage noch komplexer, da hier die Relation zwischen verschiedenen durchlaufenen Störungen berücksichtigt wird. Bsp. für Komorbidität: Schizophrenie und Drogenmissbrauch Medikamentenmissbrauch. oder Angststörung und 2. Störungsverlauf und seine Bedingungen 2.1 Phasenunterteilung Um den Ursachenbegriff zu präzisieren, erwies es sich als sinnvoll, den Störungsverlauf in 4 aufeinander folgende Phasen zu unterteilen und für jede Phase Bedingungsfaktoren mit unterschiedlicher Funktion zu definieren. 58 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 59 Phase Potentielle, die beeinflussende Faktoren Altersbereich Biolog. Faktoren: Genetische Faktoren Geburt, Psycholog. Faktoren: Inakzeptanz der Mutterrolle Soziale Faktoren: Partnerschaftskonflikte Ökol. Faktoren: Radioaktive Belastung 1. Prä – und perinatale Phase Vor der Geburt 2. Sozialisations-, Entwicklungsphase Frühe Kindheit Kindheit (bis Adoleszenz) 3. Phase vor Ausbruch Störung (Prodomalphase) der 4. Phase nach Störung der - Ausbruch Phase Biolog. Faktoren: Infektionen Psycholog. Faktoren: Kognitive Defizite Soziale Faktoren: Ungenügende Interaktion mit der Bindungsperson Biolog. Faktoren: Drogenkonsum Psycholog. Faktoren: Arbeitsüberlastung Soziale Faktoren: Partnerverlust Ökol. Faktoren: Lärmbelastung - Biolog. Faktoren: Inadäquate Medikamentation Psycholog. Faktoren: Coping - Defizite Soziale Faktoren: Konflikte Ökol. Faktoren: Inadäquate Wohnverhältnisse 59 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 60 Phase 1 & 2 Das hier erworbene Erkrankungsrisiko wird meist mit dem Begriff Vulnerabilität (= Erkrankungsrisiko bezüglich einer spezifischen Störung) umschrieben. Ob nun eine Störung zustande kommt, hängt zusätzlich von den auslösenden Faktoren ab. So wird bei einer geringen Vulnerabilität eine massivere Auslösebedingung nötig, als bei einer hohen Vulnerabilität (vgl. die folgende Figur). Faktoren der Phase 1 & 2 (teilweise auch 3) werden als Akquisitationsbedingungen (Aneignungsbedingungen) bezeichnet. Akquisitationsbedingungen sind für die primäre Prävention wichtig, da ihre Kenntnis die gezielte Verringerung/Unterbindung störungsfördernder Bedingungen ermöglicht. Auslösende(r) Faktor(en) Grad der Vulnerabilität Erkrankung Personen die trotz vorhandener vulnerabilisierender Faktoren keine Störung entwickeln, sind resilient. Die Resilienz sollte aber nicht als Gegenteil zur Vulnerabilität gesehen werden, vielmehr sollte man eine orthogonale Sicht (zwei verschiedene Aspekte) einnehmen. Marker = Indikator für eine Störung Trait – Marker = Merkmale, die vor dem Ausbruch einer Störung auftreten, und so die Vulnerabilität messbar machen State – Marker = Indikatoren, die nur während einer Störungsepisode gemessen werden können und Vorhersagen für den weiteren Verlauf ermöglichen Phase 3 (Vorfeld der Störung) Bei vielen Störungen, sowie einzelnen Personen sind oft fließende Übergänge zwischen den Phasen 2 & 3 des Störungsverlaufes anzunehmen. Hier wird die Frage nach den Auslösern gestellt. Das ist jedoch schwer zu beantworten. z.B.: so kann eine erhöhte Zahl von life – time – events aus a) einer erhöhten Belastung b) einer anbahnenden Störung c) Wahrnehmungsverzerrung resultieren. 60 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 61 Phase 4 (Verlauf nach Störungsausbruch) Hier wird nach den Bedingungen gefragt, die die Störung aufrechterhalten. Faktoren der Phase 4 werden als Performanzbedingungen (aufrechterhaltende Bedingungen) bezeichnet. Performanzbedingungen sind für die Therapie von Bedeutung. 2.2 Vulnerabilisierende vs. protektive Faktoren Nur durch die Analyse der Dynamik vulnerabilisierender und protektiver Faktoren kann eine umfassende Bedingungsanalyse erfolgen. Dieses Zusammenspiel ist für alle 4 Phasen von Bedeutung. Vulnerabilisierende bzw. protektive Faktoren können internal oder external lokalisiert sein und den verschiedenen Datenebenen zugeordnet werden. Manche Faktoren werden je nach Vorzeichen als vulnerabilisierend oder protektiv betrachtet (z.B.: zuwenig Sozialkontakt ist vulnerabilisierend, viel Sozialkontakt jedoch protektiv). Vulnerabilisierende bzw. protektive Faktoren werden primär bezüglich der Pathogenese diskutiert. 2.3 Verlaufsformen Für psychische Störungen können unterschiedliche Verlaufsformen aufgestellt werden, die einzeln oder in Kombination die psychische Störung charakterisieren. (1) Episode Eine Episode entspricht einer einzelnen Manifestation einer Störung Eine Episode ist durch das Auftreten einer Störung mit Mindestausprägung und Mindestdauer gekennzeichnet a) Paroxysmaler Verlauf (z.B.: Bei Panikattacken) Punktueller, anfallsartiger Verlauf einer Störungsepisode Innerhalb von Minuten wird der Spitzenwert erreicht, wobei aber innerhalb von Minuten bis Stunden wieder der Ausgangswert erreicht wird Wert Zeitachse 61 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 62 b) Chronischer, kontinuierlicher Verlauf Die Störungsepisode bleibt über einen längeren Zeitraum mit einer Mindestausprägung bestehen Wenn man den Verlauf einer Episode betrachtet, können der Verlauf oder einzelne Abschnitte a) stabil (≠ Veränderung) b) progredient (sich verschlechternd) c) fluktuierend ( Der Ausprägungsgrad der Störung wechselt) sein. Wenn man bei einer einzelnen vorhandenen Störung, die möglichen Endzustände einer Episode betrachtet, können folgende Varianten unterschieden werden. 1. Heilung, Genese Es wird das gleiche Niveau wie vor Ausbruch der Störung erreicht, wobei die Störung innerhalb eines definierten Mindestbereiches nicht mehr auftritt. Die vor dem Ausbruch vorhandene Persönlichkeitsstruktur wird mit prämorbider Persönlichkeit umschrieben. 2. Vollremission Es sind keine Zeichen oder Symptome der Störung mehr vorhanden, wobei aber offen ist, ob die Störung noch einmal auftritt. Vorstufe der Heilung. 3. Teilremission Es liegen noch einzelne Symptome oder Zeichen vor, die aber nicht das Störungskriterium erfüllen. Teilremission kann zur Vollremission oder erneuter Erkrankung führen 4. Chronifizierung Die Störung bleibt über längere (Störungskriterien werden erfüllt) Zeit hinweg auf Mindestniveau 5. Persönlichkeitsveränderung nach Abklingen der Störung wird das ursprüngliche Persönlichkeitsniveau nicht mehr erreicht postmorbide Persönlichkeit 62 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 63 6. Tod Bei psychischen Störungen besteht ein erhöhtes Sterberisiko aufgrund der Unfall - & Suizidgefahr Treten mindestens 2 Episoden auf, spricht man von einem episodischen, phasenhaften oder rezidivierenden (Rezidiv: Rückfall) Verlauf. Dabei kann es sich um unterschiedliche oder gleiche Störungsbilder handeln. 3. Versuchsplanung Längsschnittstudie retrospektive Studien Querschnittstudie Zahl der Erhebungspunkte Stichprobenselektion unausgelesene Normalpopulation Risikogruppen Klinische Gruppe Abbildungsgenauigkeit (Phänomen – Untersuchung) Klinische Studien Analogstudien Zahl der untersuchten Personen Einzelfallstudien Gruppenstudien Ausmaß der Untersuchers Einflussnahme Stichprobe, Laborstudien Feldstudien des Interdependenzanalysen Dependenzanalysen Analyseform 3.1 Zahl der Erhebungspunkte Da psychische Störungen als zeitliches Geschehen zu sehen sind, bieten sich Längsschnittstudien zur Erforschung der Ätiologie an. 63 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 64 3.1.1 Längsschnittstudie a) Prospektive Längsschnittstudie Hier soll die Entstehung einer Störung unter natürlichen Bedingungen beobachtet werden. Deshalb werden Personen vor Ausbruch der Störung über einen längeren Zeitraum beobachtet. Nach Ausbruch der Störung(en) kann anhand des Vergleiches von gesunden und kranken Personen auf die Bedingungsfaktoren geschlossen werden. Kritik: Längsschnittstudien greifen nur einen Teil aus der Variablengesamtheit & Zeitachse heraus Generationeneffekt (können die Ergebnisse, die anhand von Personen des Jahrgangs 1970 – 1990 gewonnen wurden auch auf Personen des Jahrganges 2020 – 2040 angewendet werden?) b) „Fiktive Längsschnittstudie Hier werden Personen untersucht, die sich bezüglich der Dauer der Zielvariablen unterscheiden. Wenn man diese Gruppen (=Kohorten) aneinanderreiht erhält man einen fiktiven Längsschnitt. soziale Anpassung Krankheitsdauer 1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre Aus diesem fiktiven Längsschnitt werden dann Schlüsse gezogen. Kritik: Kohorten – und Zeiteffekte können zu falschen Schlussfolgerungen führen 64 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 65 c) Retrospektive Längsschnittstudie Personen berichten über vergangene Zeiten, daraus werden dann Verlaufsaussagen gewonnen Nachteil: Gedächtnisverzerrung aufgrund der Informationsverarbeitung 3.1.2 Querschnittstudien Um die Ätiologie/Bedingungsgefüge zu klären, werden oft zwei oder mehr Stichproben miteinander verglichen, die sich in einem ätiologisch wichtigen Punkt unterscheiden: In der Genetik wird das Morbiditätsrisiko für Störung X bei verschiedenen Verwandtschaftsgraden (=Stichproben) ausgehend von der Person mit der Störung X, getestet. Aufgrund genetischer Hypothesen erwartet man Gesetzmäßigkeiten zwischen Verwandtschaftsgrad und Höhe des Morbidätsrisikos. Stichprobe 1 Person mit Störung X Stichprobe 2 Stichprobe 3 Verwandte 2. Grades Verwandte 1. Grades Unter Querschnittstudien fallen auch Experimente, die eine Gruppe mit der Störung S mit einer Kontrollgruppe vergleichen Personen unterscheiden sich nicht nur in Bezug auf die Zielvariable, sondern auch in Bezug auf andere Merkmale (Schicht, Alter etc.) Nachteil: Integrationsprobleme bezüglich der Ursache – Wirkungsfrage. 65 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 66 Bei einer Gruppe mit Diagnose X (depressive Störung) kann ein beobachtbares Phänomen (z.B.: verminderte Sozialkontakte) unterschiedlich erklärt werden: (1) Symptomvariante Störung X (u.a. Störung S) S ist Teil der Störung X (Kontaktdefizit als Teil der depressive Störung) (2) Aufrechterhaltung Störung X Merkmal S Störung X → S folgt aus X (Kontaktdefizit als Folge der depressiven Störung, was unter anderem zur Aufrechterhaltung der Störung führt) (3) Ursachen/Bedingungsvariante Merkmal S Störung X → S führt – allein oder mit anderen Faktoren - zu X (Kontaktdefizit allein oder zusammen mit anderen Faktoren verursacht depressive Störung) (4) Vulnerabilitätsvariante Merkmal S Störung X 66 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 67 → S - allein oder zusammen mit anderen Faktoren - erhöht das Risiko für X (Kontaktdefizit allein oder zusammen mit anderen Faktoren stellen Vulnerabilitätsfaktoren dar) 3.2 Stichprobenselektion a) (Un)ausgelesene Stichproben der Normalpopulation b) Risikogruppen c) Klinische Gruppen 3.3 Abbildungsgenauigkeit (Phänomen – Untersuchung) Analogstudien bilden die Realität nur partiell oder vergleichsweise ab. Studien können dabei in folgenden Punkten von der Wirklichkeit abweichen: Gattung, Störungsausprägung, Untersuchungspersonen, Zeitdimensionen, Setting und Untersuchungsverfahren. Für Analogstudien werden a) Tieruntersuchungen, als Analogon für Aussagen beim Menschen b) Experimente bei gesunden Menschen c) Computersimulationen verwendet. To take with you Analogstudien ≠ Gegenpol zur klinischen Realität; Jede Forschung bildet in ihrer Untersuchung die Realität in verschiedenen Dimensionen ab, wobei je nach Dimension die Abweichung variieren kann. 3.4 Analyseformen Interdependenzanalysen stellen Zusammenhänge dar (Ko-variationen, Korrelationen) und machen keine Aussagen zur Relation Ursache - Wirkung In Dependenzanalysen werden die unabhängigen Variablen systematisch variiert und Störfaktoren ausgeschaltet. Wichtig ist hier das Experiment. Aufgrund der komplexen Sachverhalte und daraus resultierenden ethischen Gründen, sind Dependenzanalysen in der Ätiologie nicht durchführbar 67 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 68 10. Genetische Faktoren 1. Forschungsmethoden Studiendesign ohne genetischen Marker Abschätzung von Wiederholungsrisiken Abschätzung der Relevanz von familiären mit nicht – familiären Ursachenfaktoren Nosologische Differenzierung zwischen Störungen Auffinden von kosegregierenden Merkmalen und Definition der Vulnerabilitätsdimension Entdeckung prämorbider Normabweichungen familiärer Störungen Familienstudien High – Risk - Studien Differenzierung und Quantifizierung des genetischen Anteils an den familiären Faktoren Abschätzung des Einflusses der Gen – Umwelt – Interaktion Abschätzung der Relevanz spezifischer Umgebungsfaktoren Zwillingsstudien Adoptionsstudien Abschätzung des Umwelt – Anteils an familiären Faktoren Segretationsanalysen Feststellung des familiären genetischen Übertragungsmodus 3.1 Familienstudien (1) Familiäre Häufung Eine familiäre Häufung von Merkmalen der Erkrankung liegt dann vor, wenn in der Familie des Merkmalsträgers eine höhere Prävalenz als in der Familie der Kontrollpersonen vorhanden ist. Bei der Auswahl der Kontrollgruppe sollte hierbei 68 bzw. Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 69 höchst sorgfältig umgegangen werden, damit die Merkmalshäufigkeit nicht unterschätzt wird und so in der Kontrollgruppe erhöhte falsch – positiv Befunde auftreten. (2) Aussagekraft von Familienstudien Der Befund einer familiären Häufung eines Merkmals impliziert aber noch keine genetischen Ursachenfaktoren, deutet aber darauf hin. Trotz alledem sind sie in der klinischen Forschung zentral, weil: a) Validierungskriterium für die Definition von familiär gehäuften psychischen Störungen b) Erlauben Aussagen über das Ursachenverhältnis zwischen den untersuchten Krankheiten → zeigen unterschiedliche familiäre Belastungsmuster unterschiedliche ätiologische pathophysiologische Bedingungen an? (3) Was ist bei der Durchführung einer Familienstudie zu beachten? a) Reliabilität der Fallidentifikation und der Charakterisierung des Phänotyps (möglichst standardisierte Verfahren; trainierte Interviewer; möglichst alle Verwandet, dabei auch Verstorbene einbeziehen). b) Kontrollkollektiv (Kontrollgruppe möglichst parallelisieren) c) Blindbedingung (Der Untersuchende soll nicht wissen ob die gerade untersuchte Person krank ist) d) Diagnosestellung für Probanden & Angehörige (Die oben erwähnte Information und Krankengeschichte werde zusammengelegt und ein erfahrener Kliniker stellt auf dieser Basis seine Diagnose) e) Repräsentativität (Rekrutierung in einer definierten Grundgesamtheit) 3.2 Zwillingsstudien Besondere Aussagekraft, da sie auf der unterschiedlichen Übereinstimmung der genetischen Information zwischen den Zwillingspartnern (Eineiig oder Zweieiig) bei weitgehend gleichen Umweltbedingungen basiert. In Zwillingsstudien wird systematisch die genetische Varianz variiert. 69 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 70 Aussagekraft von Zwillingsstudien ist begrenzt, da: (1) Annahme der Gleichheit der Umgebungsbedingungen Sind die Umweltbedingungen von Zweieiigen Zwillingen genau so homogen wie bei Eineiigen Zwillingen? Das beginnt pränatal, wenn sich Eineiige Zwillinge eine Plazenta teilen und Zweieiige Zwillinge von zwei separaten Plazenta ernährt werden und geht bei der Frage weiter ob Eltern doch nicht bei Zweieiigen Zwillingen einen anderen Erziehungsstil als bei Eineiigen Zwillingen verfolgen. (2) Repräsentativität a) Repräsentativität bezüglich aller Zwillinge b) Repräsentativität für andere Populationen als Zwillingspopulationen → Zwillinge unterscheiden sich in ihrer pränatalen Entwicklung und Sozialisation von anderen Personen und das Zusammenleben der Zwillinge schafft eine besondere Erziehungs- und Sozialisationssituation 3.3 Adoptivstudien In Adoptivstudien werden systematisch die primären Umgebungsfaktoren variiert. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Auswahl der Adoptiveltern zufällig und unabhängig vom sozialen und Erkrankungsstatus der biologischen Eltern erfolgt Forschungsstrategien für Adoptivstudien (1) Prävalenzrate einer Erkrankung wird über Kinder verglichen, die entweder von einem Merkmalsträger wegadoptiert wurden oder von gesunden Eltern wegadoptiert wurden. Prävalenzunterschied wird als genetisch betrachtet. (2) Prävalenz der Erkrankung kann über die biologischen Eltern von erkrankten oder gesunden Personen verglichen werden. Prävalenzunterschied wird als genetisch betrachtet. (3) Erkrankungsprävalenzen können zwischen wegadoptierten (leben in einem Haushalt mit gesunden Eltern) und nicht wegadoptierten Geschwister verglichen werden. Prävalenzunterschied wird als umweltbedingt betrachtet. 70 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 71 Aussagekraft von Adoptivstudien ist begrenzt, da: (1) Selective Placement Bei Adoptionen wird oft die soziale Schicht der biologischen Eltern ausgewählt. (2) Zeitpunkt der Adoption Viele Adoptionen erfolgen erst, wenn das Kind eine Zeit lang bei den Eltern gelebt hat; dass verletzt jedoch die Unabhängigkeitsvorrausetzungen der Adoptivstudien (3) Adoption als kritisches Lebensereignis Die Adoption und die vorhergehenden (zur Adoption führenden) Ereignisse stellt ein kritisches Lebensereignis da, was eine psychische Störung auslösen kann. Ist das der Fall, geht die Repräsentativität für gleiche Störungen verloren. 3.6 Tierstudien Aufgrund übergreifender genetischer Isomorphien, lassen sich von Tierstudien hypothetische Rückschlüsse auf den Menschen machen. 14. Psychologische Faktoren: Einflüsse der Sozialisation 1. Einleitung Die Psychoanalyse und die Bindungstheorie sehen die Auslöser für psychische Störungen in der frühen Kindheit, nur der lerntheoretische Ansatz sieht mögliche Einflüsse über das ganze Leben verteilt. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben bildet eine Klammer für die verschiedenen Sozialisationsmodelle. 2. Soziale Einflüsse als Störungselemente von Entwicklungsverläufen: Das Konzept der Entwicklungsaufgaben Der psychoanalytische und der bindungstheoretische Ansatz thematisieren soziale Störungsbedingungen explizit unter der Entwicklungsperspektive und die Anfänge psychischer Störungen als Adaptationsprobleme. Entwicklung ist dabei als lebenslange Sequenz von Readaptations- oder Entwicklungsaufgaben zu verstehen. Was sind Entwicklungsaufgaben? 71 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 72 Entwicklungsaufgaben sind Aufgaben, die der Organismus bzw. die Person in einer bestimmten Lebensphase bewältigen muss. Diese Entwicklungsaufgaben können a) Sozial b) Biologisch c) Kulturell d) Innerhalb der Person bedingt sein 2.1 Biologische Entwicklungsaufgaben Sie werden als entwicklungsbedingte Disequilibria, die durch die biologische Reifung bedingt sind, verstanden (z.B.: Pubertät, sexuelle Reifung). 2.2 Soziale oder kulturelle Entwicklungsaufgaben Das sind Entwicklungsaufgaben, die von der sozialen Umwelt oder dem kulturellen System an bestimmte Lebensperioden der Person gestellt werden (z.B.: Reinlichkeit oder Einschulung). 2.3. Selbstbedingte Entwicklungsaufgaben Selbstbedingte Entwicklungsaufgaben sind Ziele die sich die Person für diesen Lebensabschnitt gesteckt hat. Des Weiteren kann man auch zwischen normativen und nicht normativen unterscheiden (Unterscheidungskriterium: soziale und/oder biologische Altersnormierung). Mit den Entwicklungsaufgaben überlappt sich teilweise das Konzept der „kritischen Lebensereignisse“, welche eine nachhaltige soziale Anpassung erfordern und so die psychischen Ressourcen der Person stark beanspruchen. Es werden auch Familienentwicklungsaufgaben unterschieden, die auf die Anforderungen an eine Familie eingehen (z.B.: erstes Kind, Austritt der Kinder aus der Familie). 72 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 73 Das Konzept der Entwicklungsaufgaben sieht die Grundlage für die Anbahnung einer psychischen Störung in einer unangemessenen Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe. 3. Störungen als Folge einer unbewältigten Triebgeschichte: Das psychoanalytische Modell 3.1 Allgemeine psychoanalytische Hypothesen zur Entstehung von Neurosen Die Psychoanalyse siedelt die Auslöser für psychische Störungen in der frühen Kindheit an. Unterscheidung zwischen allgemeinem und speziellem Krankheitsmodell. Allgemeine Krankheitsmodell Konstitution (Genetik) Trauma in der frühern Kindheit Latenz Ausbruch der Störung durch neue Aktualisierung des Traumakonfliktes Spezielles Krankheitsmodell Anwendung des allgemeinen auf spezielle Störung (was für Menschen, wann Trauma, etc.) Ursprünglich war der Begriff der Abwehr negativ behaftet, mittlerweile wird er neutral gesehen, krankhaft wird sie erst wenn sie nicht situationsadäquat ist. Ähnliches gilt für den Begriff des Coping, der mittlerweile nicht mehr rein positiv gesehen wird, da ein Bewältigungsversuch auch scheitern kann. Ihren großen Vorteil hat die Psychoanalyse immer in der (angeblichen) Bekämpfung der Ursache/Krankheit an sich gesehen, und nicht (wie sie es der Verhaltenstherapie vorwirft) in der reinen Symptombekämpfung. Symptomverschiebung Wenn ich nur Symptome bekämpfe, aber nicht die Krankheit, verschwindet das Symptom (Bettnässen) zwar, aber es tritt nach einiger Zeit ein anderes Symptom (Daumenlutschen) der Krankheit (in diesem Fall: Aufmerksamkeit erregen) auf. Symptome haben laut Psychoanalyse zwei Funktionen Primär Kompromissbildung zwischen Triebbefriedigung und realistischem Verhalten Sekundär zusätzlicher Gewinn zur Ersatzbefriedigung massive Zuwendung etc. 73 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 74 3.2 Neuere Ansätze: emotionale Entwicklung und psychische Störungen Innerhalb der Psychoanalyse wurde die psychosexuelle Entwicklung zu Gunsten einer emotionalen Theorie erweitert, die dabei von der Entwicklung menschlicher Grundbedürfnisse ausgeht. menschliche Grundbedürfnisse a) Sicherheitsbedürfnis b) Autonomiebedürfnis c) Sexuelle Bedürfnisse d) Aggressive Bedürfnisse e) Narzisstische Bedürfnisse Diese Bedürfnisse werden mit verschiedenen Entwicklungsphasen in Verbindung gebracht, die die Psychoanalyse wiederum mit der Ätiologie verknüpfte: (1) Orale Phase Das Erlebnis der Abhängigkeit wird als das prägende emotionale Ereignis der frühen Kindheit angesehen. Aufgrund dessen haben die Kinder ein hohes Sicherheitsbedürfnis, dem mit der Bereitstellung einer sicheren Umwelt Rechnung getragen werden sollte. Ist dies nicht der Fall impliziert das psychische Störungen (vgl. Bindungstheorie von Bowlby). → Bei traumatischer Erfahrung in dieser Phase entwickeln die Personen später Depression und Schizophrenie (2) Anale Phase Hier spielen laut Psychoanalyse Autonomie- & Aggressionsbedürfnisse eine wichtige Rolle für die Entwicklung. → Zwangsstörungen (3) Phallische Phase In der Neo- Psychoanalyse steht in dieser Phase die Bedrohung der körperlichen Integrität im Mittelpunkt. Die Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil stellt eine Geschlechterrollenübernahme dar, die sich im Rahmen der Triade bewegt. In diesem Prozess sind neben der Sicherheit auch Rivalität und Schuldgefühle ein Thema. →Angststörungen 74 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 75 3.3 Empirische Studien zu psychoanalytischen Hypothesen Die meisten Hypothesen konnten der empirischen Überprüfung nicht standhalten. Auch die störungstypischen Ursachen in den verschiedenen psychosexuellen Stadien stellen keine Prädiktoren für spätere „Neurosen“ oder psychotische Störungen dar – Schicksal der frühkindlichen Sexualität ist nicht der entscheidende, differentielle Faktor für spätere Störungen. 4. Störungen als Folge der Deprivation: Das bindungstheoretische Modell 2 wichtige Änderungen gegenüber der Psychoanalyse 1. Interaktivität: die betroffene Person ist nicht mehr allein in die Entwicklung einer Störung verwickelt 2. Dominanz der Sexualität ist nicht mehr gegeben 4.1 Aufbau von Bindung als Entwicklungsaufgabe → Bindung als eigenes Verhaltenssystem mit eigener Funktion und Organisation Bindungsverhalten = Jedes Verhalten, das geeignet ist, Nähe und das Pflegeverhalten zu organisieren Schon Säuglinge können durch lächeln oder weinen das Pflegeverhalten der Mutter aktivieren. Bindungsverhalten ist universell und tritt besonders häufig und regelmäßig bis zum 3ten Lebensjahr auf. Als angstprotektiven Faktor nimmt man die Erwartung an, dass die Bindungsperson in gefährlichen Situationen da ist. Sobald das Kind eine Sicherheitsgrundlage erworben hat, beginnt es die Umgebung zu explorieren (diese beiden „Systeme“ interagieren miteinander). Besonders wichtig ist das 5 – 6 Lebensjahr, da hier laut Bowlby Aufbau der Bindung und erste Exploration wichtige Entwicklungsaufgaben sind. 3 Typen von aufeinander aufbauenden Entwicklungsaufgaben Reproduktionsverhalten Explorationsverhalten 75 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 76 Bindungsverhalten verschiedene Bindungstypen (1) Sicher zeigt bei Trennung dass es die Eltern vermisst und schreit bei der 2ten Trennung Nach der Reunion spielt es wieder (2) Unsicher – vermeidend schreit nicht bei der Trennung und fokussiert die Aufmerksamkeit auf die Umgebung oder Spielsachen vermeidet oder ignoriert aktiv die Eltern bei der Reunion sträubt sich beim in die Arme nehmen, emotionslos (3) Unsicher – ambivalent zeigt Kummer, verhält sich aber ambivalent: sucht einerseits den Elternteil, andererseits ist es passiv oder widerspenstig bei der Reunion konzentriert sich weinend auf einen Elternteil (4) Desorientiert – desorganisiert unordentliches bzw. orientierungsloses Verhalten bei Elternanwesenheit keine eindeutige Zuordnung möglich 4.2 Hypothesen über bindungshemmende Faktoren und die Folgen der Deprivation Deprivation = Ein Kind kann nicht Wärme, Intimität & eine kontinuierliche Beziehung erhalten Dabei wird der pathogene Effekt der Deprivation durch folgende Faktoren mit bestimmt: (1) Deprivationsausmaß (2) Deprivationsgeschichte 76 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 77 (3) Der Deprivation nachfolgende Bedingungen Eine typische Reaktion von 6 Monate alten Babys bei der Trennung von der Mutter ist zunächst das Protestverhalten, das von der Kummerreaktion gefolgt wird. Sind diese Reaktionen erfolglos schwächen sie ab und treten dann periodisch wieder auf – dies entspricht einem emotionalen Rückzug (gleicht dem depressiven Verhalten). Bowlby macht aufgrund besonderer Merkmale der Bindungs- bzw. Trennungserfahrung Aussagen über differentielle Effekte hinsichtlich der Entstehung spezifischer Störungen: Entstehung von phobischen Störungen und Angststörungen Das Erlebnis des bedrohenden Verlustes disponiert zur Angst. Bei einem als unsicher erlebten Bindungsverhalten, bei drohender Trennung oder einer gestörten Interaktion mit der Bindungsfigur können Neigungen zu Phobien entstehen. Entstehung von Depression Bei der Depression erfolgte eine partielle oder weitgehende Inaktivierung des Bindungsverhaltens aufgrund eines tatsächlich eingetretenen Trennungs- bzw. Verlusterlebnisses. Vorbereitet wird diese Inaktivierung durch starke Deprivationserfahrungen (besonders durch lang andauernde Trennungserlebnisse unter ungünstigen Umständen). 4.3 Empirische Studien zu bindungstheoretischen Konzepten Empirische Fundierung ist vorhanden, doch ein Makel ist die wenig gesicherte Reliabilität der Klassifikation der Bindungsmerkmale. 4.3.1 Studien zu den Folgen von quantitativ ungenügender Interaktion Betroffen von einer quantitativ ungenügenden Interaktion sind a) Kinder mit einer nicht ausreichend vorhandenen Bindungsfigur, b) In Heimen untergebrachte Kinder, die über quantitativ ungenügende Interaktionsangebote verfügen. c) als Extremvariante: Kinder die von einer Untersorgung und Vernachlässigung betroffen sind Im Falle einer Vernachlässigung liegt neben der quantitativ unzureichenden Interaktion auch eine unzureichende qualitative Beziehung vor. Dies hat ein Defizit in der sozialen, körperlichen und kognitiven Entwicklung zur Folge. Was ist mit berufstätigen Müttern? 77 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 78 Die Folgen der Berufstätigkeit hängen u.a. von der Qualität der Betreuung,, der Bedeutung des Berufes für die Zufriedenheit der Mutter, dem ökonomischen Status der Familie und anderen Faktoren ab. Weitgehen kann die These einer quantitativ unzureichenden Interaktion durch Berufstätigkeit nicht aufrechterhalten werden. 4.3.2 Studien zu den Folgen von qualitativ gestörter Interaktion Eine qualitativ gestörte Interaktion erleben Kinder die a) abgelehnt werden b) ambivalente Zuwendung erleben c) Objekte der Angst der Eltern sind Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass zerrüttete Familienverhältnisse oder ungünstige Pflegeverhältnisse die Entwicklung von psychischen Störungen begünstigen. Der folgenreichste Ausdruck einer gestörten Interaktion ist die physische, psychische und sexuelle Kindesmisshandlung. Schädigende Folgen beruhen hier weitgehend auf einem andauernden misshandelnden Milieu, als auf einzelnen Tätigkeiten. Unmittelbare Folgen bei sexueller Kindesmisshandlung (1) Emotionale Reaktionen (2) somatische Beschwerden (3) gestörtes Sozialverhalten (4) gestörtes Sexualverhalten Langzeitfolgen bei sexueller Kindesmisshandlung (1) häufiger Typ A Bindungen (unsicher – vermeidend) (2) über 80 % gehören zum Typ D (Desorientiert – desorganisiert) (3) Depression (4) Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls (5) Verhaltensstörungen & Störung des Sexualverhaltens - & Erlebens 4.3.2 Studien zu den Folgen von Trennungserlebnissen (Diskontinuität der Interaktion) Diskontinuität = alle Arten von vorübergehenden kürzeren oder längeren sowie 78 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 79 dauerhaften Trennungen 4.3.2.1 Scheidung In unserer Kultur ist die Scheidung ein weit verbreitetes Trennungserlebnis, das für Eltern sowie Kind eine vorübergehende starke Belastung ist, welche als kritisches Lebensereignis einen hohen Adaptionsaufwand erfordert. Kinder können darauf mit Störungen (Lernstörungen, Schulangst etc.) reagieren, was sich auch in der Adoleszenz bemerkbar machen kann. Die Folgen einer Scheidung werden dabei stark durch das Familienklima vor und den Lebensverhältnissen nach der Scheidung beeinflusst. 4.3.2.2 Adoption Adoptivkinder zeigen signifikant stärkere Anpassungsprobleme als Nichtadoptierte Kinder. Das muss aber nicht aufgrund der Adoption der Fall sein, sondern kann auch mit den adoptionsspezifischen Entwicklungsaufgaben zusammenhängen. 4.3.3.3 Langzeiteffekte Langzeiteffekte der Trennung äußern sich unter anderem in Depression. So haben Frauen die ihre Mutter vor dem 11ten Lebensjahr verloren haben, ein doppelt so hohes Risiko an Depression zu erkranken. Abschließend ist zu sagen, dass bezüglich Trennung und Entstehung psychischer Störungen auch das Wechselspiel zwischen Vulnerabilisierenden & Protektiven Faktoren beachtet werden muss. Kurzfristige Trennungen haben keine Störungen zur Folge. 5. Störungen als Folge der Lerngeschichte: Lerntheoretische Modelle Lernpsychologische Ansätze thematisieren hauptsächlich psychologische Lernprozesse, die in verschiedenen Entwicklungsphasen für den Erwerb von psychischen Störungen bedeutsam sind. Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei soziale und andere Umwelteinflüsse und deren Einfluss auf Verhaltensmerkmale und Störungen – dabei wird davon ausgegangen, dass der Mensch in jedem Lebensalter durch entsprechende Umwelteinflüsse Störungen entwickeln kann. Lerntheorie und „experimentelle Neurosenforschung“ akzentuieren 3 Typen von Lernbedingungen, die die Entstehung von Störungen fördern: 79 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 80 (1) Fehlangepasstes Verhalten als Folge von Konditionierungsprozessen z.B.: Hochgeneralisierte Hundephobie aufgrund eines Bisses. Hier wurde der Erwerb des fehlangepassten Verhaltens optimal begünstigt. (2) Fehlangepasstes und desorganisiertes Verhalten als Folge der maximalen Störung von Konditionierungsprozessen Ist die Orientierung für den Organismus unmöglich oder ist die Verarbeitungskapazität durch Überreizung überlastet, wird eine adaptive Verhaltensleistung unmöglich - Das hat eine Störung zur Folge (3) Kognitive Faktoren, die das Lernen von Störungen beeinflussen 5.1 Störungen als Folge von Konditionierungsprozessen Eysenck systematisierte Störungen nach Art der Lernprozesse: (1) Störungen der ersten Art (Charakterisiert durch vorausgegangene klassische Konditionierungsprozesse) → dysthymische Störungen (phobische Störungen, Zwangsstörungen und gewisse depressive Störungen) Angststörungen. (2) Störungen der zweiten Art (Mangel an adäquaten Reaktionen, was eine Unteranpassung der Person an die soziale Umwelt zur Folge hat) →Psychopathien und alle Störungen, die durch operante Konditionierung aufrechterhalten werden. Durch den Selektionsdruck bestimmter Spezies bilden sich biologisch – evolutionär „vorbereitete“ Stimulusklassen (Spinnen, Höhlen, enge Räume etc.) was zur Ausbildung konditionierter Angstreaktionen führen kann. Charakteristika dieser konditionierten Angstreaktionen (1) Rasche Aneignung, oft schon nach der ersten Konfrontation (2) hohe Extinktionsresistenz (3) als primitive, non – kognitive Lernform interpretiert, daher durch kognitive Instruktionen wenig beeinflussbar 80 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 81 5.1.2 Operante Konditionierung 5.1.2.1 Verstärkerverlust Das Paradigma der operanten Konditionierung liefert sehr fruchtbare Hypothesen zur Erklärung der Depressionsentstehung. Depressives Verhalten unterscheidet sich von non – depressiven Verhalten durch: a) unterschiedliche Häufigkeit des Sozial – Berufs – und Freizeitverhaltens, wo deutliche Verhaltensdefizite vorhanden sind b) äußerlich durch Beschwerden und bei Meide - & Fluchtverhalten findet man Verhaltensexzesse Diesen eher quantitativen Verlust erklärt Fenster wie folgt: (1) die eingeschränkte Wahrnehmung von sich selbst und der Umgebung, reduziert die Empfänglichkeit für Verstärker (2) eingeschränktes soziales Verhaltensrepertoire (aufgrund der Lerngeschichte), macht die Person vulnerabel für Depression, da es den Zugang zu sozialen Verstärkern hemmt (3) Plötzlicher Verstärkerverlust durch Änderung in der Umwelt (Trennung, Tod etc.) Dadurch entwickelt sich eine negative Verstärkerspirale: Die Person zeigt weniger instrumentelles Verhalten, dadurch bekommt sie weniger Verstärker, was wiederum als unerwünschtes Verhalten ausgelegt wird. Durch den Wegfall der sozialen Verstärker kommt es zur Löschung der Selbstverstärkung, was wiederum das positive Selbstbild der Person beeinträchtigt. Durch das Trennungserlebnis fallen auch aktivitätsfördernde Hinweisreize weg, die die Aktivität mindern. 5.1.2.2 Bestrafung in der Erziehung Einen weiteren relevanten Risikofaktor stellt das Erleben massiver und/oder inkonsistenter und unvorhersehbarer Bestrafung dar. Ein weiterer Punkt ist, dass Strafreize an sich schädigende Folgen haben können, deswegen lernen bestrafte Kinder oft nicht unerwünschtes Verhalten zu hemmen, sondern werden zu Ängstlichkeit, Unsicherheit und oft auch zu Aggression disponiert. 5.2 Verhaltensdesorganisation als Folge von Störungen des Konditionierungsprozesses 81 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 82 Lernbedingungen, die den Konditionierungsprozess in maximaler Weise stören, sind von den vorhergehenden Bedingungen klar zu unterscheiden. Lernbedingungen, die den Konditionierungsprozess in maximaler Weise stören, wurde in der Pawlow – Schule besondere Aufmerksamkeit geschenkt, wobei neurotische Störungen als Folge (1) Einer zu starken Erregung (2) Einer zu starken Hemmung (3) Eines Konfliktes zwischen Erregungs - & Hemmungsprozessen interpretiert wurde, was zu einem Versagen des Nervensystems und einer Verhaltensdesorganisation führt. Individuelle Unterschiede werden hierbei auf unterschiedliche genetische Konstitutionen zurückgeführt. In allen Fällen wird adaptives Verhalten gestört oder verunmöglicht; neue konditionierte Reaktionen nicht mehr erlernt und bereits gelernte werden gelöscht. Zu starke Reizung bei hoher Reizintensität & zu starker Komplexität Zu starke Hemmung zu stark erschwerte Wahrnehmungsdiskrimination 5.3 Störungen als Folge von kognitiven Lernprozessen Negative Attributionstendenzen sind oft mit Depression gekoppelt. Aus der Sozialisationsperspektive interessiert, wie solche dysfunktionalen Attributionstendenzen in Abhängigkeit von sozialen Faktoren erlernt werden. Der depressionsfördernde Attributionsstil wird auch durch ungenügende Kontrollerfahrungen in der Lerngeschichte vermittelt, was zu externalen Kontrollüberzeugungen (es werden externe Faktoren, die nicht beeinflussbar sind, angenommen) und den entsprechenden Kausalattributionstendenzen führt. → erlernte Hilflosigkeit Es werden bezüglich der möglichen Kausalbeziehungen zwischen Attributionen und depressiven Störungen verschiedene Modellvarianten angenommen: (1) Das Symptom – Modell Dysfunktionale Attributionen werden als Bestandteil und nicht als Auslöser des depressiven Syndroms begriffen. 82 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 83 (2) Das Auslöser – Modell Dysfunktionale Attributionen werden als Folge eines negativen Ereignisses gesehen, die dann zu einer depressiven Störung führen (3) Das Diathese – Stress – Modell Hier wird von einem stabilen dysfunktionalen Attributionsstil ausgegangen, der einen Vulnerabilitätsfaktor darstellt (4) Das Modell der Aufrechterhaltung Dysfunktionale Attributionen sind nicht die Auslöser, sondern haben eine aufrechterhaltende Wirkung (5) Das Coping – Modell Dysfunktionale Attributionen sind depressiven Störungen verknüpft mit einer niedrigen Resistenz gegenüber 5.3.1 Modelllernen Ängstliche Mütter geben ihre Angst über Modelllernen an das Kind weiter. Trait – Angst der Kinder korreliert signifikant mit der der Eltern Die klinisch – psychologische Relevanz des Modelllernens zeigt sich auch im „Werther – Effekt“ – im ZDF wurde der Suizid eines Studenten ausgestrahlt, dadurch stieg die Suizid Frequenz deutlich an. 6. Gestörte Entwicklung –Entwicklung von Störungen Damit eine Störung durch eine gestörte Entwicklung entsteht, spielen verschiedene protektive und vulnerabilisierende Faktorenbündel eine Rolle. Pathogene Faktoren (1) Angeborene und erlernte interindividuelle Unterschiede bezüglich der Vulnerabilität (2) Geschlechtsspezifische Unterschiede (Männer bewältigen Partnertrennungen schwerer; Frauen leiden deutlich öfter an Depressionen) (3) belastende negative Lebensereignisse (teilweise kulturell standardisiert) (4) chronische negative soziale Einflüsse (teilweise kulturell standardisiert) Protektive Faktoren (1) internale Kontrollüberzeugung (2) Copingstrategien 83 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 84 (3) Berufliche und soziale Kompetenz 15. Sozialpsychologische Aspekte 1. Einführung Sozialpsychologische Prozesse tragen zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung von psychischen und körperlichen Störungen bei. Die Sozialpsychologie hat diesbezüglich Modelle entwickelt, die sich auf soziales Verhalten und soziale Interaktion soziale Kognition (Wissen, Gedanken und Vermutungen über Ereignisse in unserer Umwelt) beziehen. Obwohl die Sozialpsychologie über durchaus attraktive Modelle verfügt, für die Plausibilität und klinische Evidenz spricht, steht sie vor dem Dilemma, dass dies schwer empirisch oder experimentell nachweisbar ist. Weitere Schwierigkeiten: bei Störungen wirken gleichzeitig mehrere Faktoren hemmend oder fördernd sozialpsychologische Faktoren lassen sich nur schwer isolieren auch gut fundierte sozialpsychologische Theorien weisen bei kritischer Betrachtung erhebliche Mängel auf 1.1 Sozialpsychologische Wirkfaktoren Trotz alledem liefert die Sozialpsychologie einen wichtigen Fundus für die Klinische Psychologie. Dabei stehen folgende sozialpsychologische Wirkfaktoren mit der psychischen (Persönlichkeitsmerkmale) und körperlichen Ausstattung (spezifische körperliche Vulnerabilität/Resilienz) des Individuums in Interaktion: 1. Soziales Verhalten 84 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 85 a)Interaktion & Kommunikation b) Ausdruck von Emotionen c) Soziale Kompetenz d) Bindung & Unterstützung 2. Soziale Kognition a) Soziale Wahrnehmung b) Attribution c) Erwartungen 3. Soziale Bedingungen a) Rollen b) Status c) Lebensbedingungen d) kulturelle Einflüsse 1.2 Ebenen der Einwirkung sozialpsychologischer Wirkfaktoren Des Weiteren lassen sich verschiedene Ebenen der Einwirkung dieser sozialpsychologischen Faktoren auf psychische oder körperliche Störungen bzw. Erkrankungen annehmen: 1. die direkte Einwirkung z.B.: Einfluss sozialer Isolation auf das Verhalten (vgl. René Spitz) 2. die indirekte Einwirkung z.B.: Die Arbeitssituation, die als psychologische Reaktion Stress erzeugt und somit indirekte körperliche Symptome bedingt. 3. Moderator – Variablen z.B.: S – O – R Schema, hier ist der Organismus (O) die Moderator Variable 4. Zusatzbedingungen z.B.: Die familiäre Interaktion bei bestehender Vulnerabilität, die einen Rückfall der Schizophrenie bewirkt. 85 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 86 5. aufrechterhaltende Bedingung z.B.: mangelnde soziale Kompetenz die verhindert das eine depressive Person neue Kontakte knüpft 6. Wechselwirkung Eine Wechselwirkung zwischen organischen oder psychologischen Defiziten, die zur Manifestation psychischer oder körperlicher Störungen führt. 1.3 Ursache - Wirkung Bei jedem Zusammenhang zwischen sozialpsychologischen Wirkfaktoren und psychischen oder körperlichen Störungen, ist sehr kritisch die Ursache – Wirkungs – Frage zu klären. z.B.: verändertes Kommunikationsverhalten Ein verändertes Kommunikationsverhalten kann a) Folge einer depressiven Störung sein b) Ausdruck der depressiven Störung sein c) aufgrund negativer Erfahrungen mit Personen während dieser Störung zustande kommen Don`t forget: Korrelationen sagen nichts über das Ursache – Wirkungsverhältnis aus!! 1.4 Spezifische vs. Allgemeine Wirksamkeit Spezifische Modelle sind eher selten. Es werden eher allgemeine Modelle wie Attributionstheorien genützt. Sozialpsychologische Prozesse sind meist nicht die alleinige Ursache für Störungen, sondern eine Wirkkomponente. 2. Soziales Verhalten und Interaktion Zahlreiche Störungen, vor allem psychische Störungen, sind am veränderten Sozialverhalten erkennbar. Störungen der Kommunikation spielen in unterschiedlicher Weise für klinisch relevante Symptome/Syndrome eine Rolle: 86 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 87 (1) Sie treten als Symptom oder als Teil eines Syndroms in Erscheinung (z.B.: Stottern) (2) Sie sind die Ursache für andere Symptome (3) Sie sind Begleiterscheinungen, Ausdruck oder Folge anderer Störungen Eine eindeutige Differenzierung ist aber nicht möglich, denn so kann das nonverbale Verhalten der depressiven Person andere zu vermehrter Zuneigung veranlassen oder einen Rückzug bewirken. Dies hat wiederum Einfluss auf die depressive Symptomatik. Ursache und Wirkung stehen also in einem Wechselspiel zueinander. 2.1 Instrumentalität des Verhaltens Instrumentalität des Verhaltens = ich bewirke mit meinem Verhalten eine gewisse Verhaltensweise einer/mehrerer Person(en). z.B.: Depressives Verhalten Zuerst ruft das depressive Verhalten positive Reaktionen hervor – es erfolgt vermehrte Zuwendung. Das führt aber zu keiner Reziprozität, da das Verhalten des/der Depressiven nur vom eigenen, internalen Zustand moderiert wird. Das löst einen Rückzug des Sozialpartners aus, was durch die depressive Person nicht flexibel beantwortet/aufgehalten werden kann. Wie man sieht, trägt die spezifische Art der Interaktion, sprich die fehlende Reziprozität zu einer Ausbildung depressiven Verhaltens und später zu dessen Aufrechterhaltung bei. 2.2 Ökonomische Modelle der Interaktion „Motto“ dieser Modelle: „Ich gebe dir was, wenn und damit du mir was gibst“ - Der Mensch wird also als ökonomisch denkendes Wesen dargestellt (homo oeconomicus). Im Sinne der Austauscht – Theorien, wird davon ausgegangen, dass Individuen im Rahmen ihres sozialen Verhaltens danach streben, den eigenen Nutzen zu maximieren. Die Individuen gehen also nach dem Maximierungsprinzip vor, sprich möglichst hohe Belohnung für möglichst wenig Aufwand. Dabei kommt innerhalb von sozialen Beziehungen die Reziprozität ins Spiel (Ich belohne dich, wenn du mich belohnst; Wie du mir, so Ich dir ). z.B.: depressives Verhalten Da das Individuum zu wenig Feedback gibt, erhält es auch wenig Feedback. Aus beiden Modellen (Ökonomisches und Verhaltensinstrumentelles) folgt: eine Zielgerichtetheit des Verhaltens 87 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 88 eine Störung ist kein isoliertes Ereignis oder ein zeitlich stabiler Zustand, sonder entwickelt sich. Diese Entwicklung ist in einem Zeitablauf sozialer Interaktion eingebettet. Diese Modelle folgen nicht einem Ursache – Wirkungsschema (hier Ursache, da Wirkung), sondern sehen im Ablauf verschiedene Komponenten der Störung, die wiederum die Interaktion moderieren 2.3 Soziale Kompetenz Modelle der sozialen Kompetenz beziehen sich auf angemessenes und effektives Sozialverhalten und sind anwendungsorientiert. Soziale Kompetenz = Leistung der psychischen Funktionen inklusive des verbalen und nonverbalen Verhaltens in Bezug auf soziale Situationen Soziale Kompetenz wird oft mit motorischen Fähigkeiten verglichen 1. Motivation (Pläne und Ziele) 4. Wahrnehmung (Ist – Soll – Vergleich) Übersetzung 3. Es werden Veränderungen in der Umwelt bewirkt 2. Motorische Reaktionen (soziale Fertigkeiten) Durch den Ist – Soll – Vergleich, werden Modifikationen in der Übersetzung oder in der Motivation durchgeführt. Dabei können Störungen auf verschiedenen Ebenen vorkommen und somit Störungen auf anderen Ebenen verursachen. Das Bewältigen von sozialen Situationen fordert spezifische Fähigkeiten a) Kontakt zu Beginn des Gespräches herstellen b) Zuhören und Feedback geben 88 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 89 c) Eingehen auf den anderen mit Signalen zum Weiterführen der Äußerung oder zum Sprecherwechsel d) Grüßen & Verabschieden e) Äußern von Einstellungen Alles das ist bei Personen mit psychischen Störungen (Schizophrene, Depressive und bei verschiedenen neurotischen Störungen) nur mangelhaft vorhanden. 2.4 Kommunikation von Emotionen 1. Kontrolle des emotionalen Ausdrucks Eine starke Kontrolle des emotionalen Ausdrucks geht mit verstärkter Aktivierung physiologischer Prozesse einher, was bei einer Chronifizierung zu somatischen Erkrankungen führen könnte. 2. Wirkung von emotionaler Kommunikation Welche Auswirkungen haben emotionale Mitteilungen auf einen Erkrankten? Hierzu gibt es 2 Theorien a) die Doppel – Bindungs – Theorie (double bind theory) In schizophrenen Familien treten häufig Situationen auf, in denen auf der Inhaltsebene und der Beziehungsebene inkonsistente Botschaften gesendet werden (ist aber empirisch nicht eindeutig bewiesen) b) das Konzept der ausgedrückten Emotionen (expressed emotions/EE) Sie wollen nicht die Ursache der Schizophrenie erklären, sondern einen Rückfall vorhersagen, expressed emotions bedeutet dabei, dass sich die Angehörigen negativ über den Patienten äußern. Hierbei wird aber nicht erfasst, ob Angehörige sich direkt gegenüber dem Patienten negativ äußern, sondern wie häufig ein Angehöriger über den Patienten „kritische Kommentare“, „feindselige Äußerungen“ und „emotionale Überbeteiligung“ (emotional overinvolment) äußert. Dies geschieht nur gegenüber dem Interviewer, welcher nur den Sprechinhalt und die Stimmlage berücksichtigt. Bei > 6 negativen Äußerungen wird die Person als High EE eingestuft, was bei nicht Einhaltung der Medikamentation, mit hoher Wahrscheinlichkeit einen schizophrenen Rückfall zur Folge hat. Die Ergebnisse sprechen hierbei für diese Theorie und lassen sich auch auf depressive Personen anwenden. Beiden Ansätzen ist gemein, dass negative emotionale Mitteilungen der Angehörigen zu Schizophrenie oder zu einem Rückfall nachvorhergehender Schizophreniee führen können. 89 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 90 3. Soziale Kognition Soziale Kognition = Denkinhalte, die sich auf soziale Gegebenheiten beziehen bzw. durch soziale Einflüsse verändert werden. In der Sozialpsychologie werden darunter soziale Wahrnehmung, Einstellungen und Werthaltungen sowie Attribution subsumiert. Wesentliche Kennzeichen der sozialen Wahrnehmung sind die Selektion (Auswahl der Sinnesreize) und die Inferenz (Schlussfolgerung, aufgrund von beobachteten Verhalten). 3.1 Labeling - Etikettierung Ist die Selektivität unserer Wahrnehmung dafür verantwortlich, dass wir Verhalten als gestört oder abweichend ansehen? Nach der Labeling Theorie kann ein erheblicher Teil der Krankheiten auf eine gesellschaftliche Etikettierung des Individuums zurückgeführt werden. So ist der Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt nach diesem Ansatz mit einer Stigmatisierung verbunden, die zu einer Verfestigung der Abweichung führt bzw. für den größten Teil des abweichenden Verhaltens verantwortlich ist. Der Labeling Ansatz stützt sich weitgehend auf Szasz, der das rein medizinische Krankheitsmodell der Psychiatrie kritisiert. Nach Szasz ist die Normalität des Verhaltens nicht durch einen medizinisch – physiologischen Zustand, sondern durch psychosoziale, ethische Normen definiert. Demnach sind psychische Störungen, nicht als Krankheiten, sondern als Lebensprobleme zu sehen. Abnormitäten interpretiert Szasz als fehlgeschlagenes Anpassungsverhalten an die Gesellschaft. Labeling – Theoretiker unterscheiden zwischen primärer und sekundärer Devianz (= Etikett der Abweichung): Primäre Devianz führt dazu, dass die Gesellschaft das Individuum mit einem Etikett versieht. Sekundäre Devianz wird durch die abweichende Rolle hervorgerufen, die das Individuum laut Gesellschaft zu spielen hat. 90 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 91 Der Labeling Ansatz bietet aber keine Erklärung für das Zustandekommen von abweichendem Verhalten. 3.1.1 Rosenthal - Effekt Rosenthal ließ 8 Pseudopatienten mit „Stimmen hören“ als Symptom in 12 Psychiatrischen Kliniken einweisen. Die Diagnose war in 11 Fällen Schizophrenie. Was führte dazu? Rosenthal nimmt an, dass Kliniken Situationen generieren, in welchen Verhalten nur zu leicht als fehlerhaft interpretiert werden kann. Rosenthal kommt zum Schluss, dass man nicht zwischen Krank und Gesund differenzieren kann. In weiteren Untersuchungen wurde in Kliniken angekündigt, das hier Pseudopatienten eingeschleust wurden, wobei in den Kliniken 10% Pseudopatienten entdeckt wurden – nur: es gab keine Pseudopatienten 3.1.2 Kritische Betrachtungen bezüglich der Labeling Theorien Empirische Untersuchungen konnten die starken kausalen Effekte bei der Entstehung der Devianz nicht eindeutig belegen Diese Effekte lassen sich für psychische Störungen, Alkoholismus und Delinquenz nicht nachweisen – es wurden eher gegenteilige Effekte nachgewiesen Nicht die Rolle am Rande der Gesellschaft, sondern das Verhalten des Individuums führt zur Devianz Wird eine psychische Störung oder körperliche Behinderung durch eine Institution etikettiert führt das zu einer institutionellen Behandlung, hat also eher positive Effekte (Anmerkung: ja von Institutioneller Sicht, aber die Etikettierung hat ja weitreichendere gesellschaftliche Folgen, wie der Kampf um Anerkennung der eigenen Person – Schlagwort phantom normalcy) Abweichende Verhaltensmuster und vermindertes Selbstwertgefühl, tritt schon vor der Etikettierung durch Institutionen auf - sie sind also nicht die Folge der Etikettierung, sondern treten schon vorher auf Eine Etikettierung allein reicht nicht ganz aus, um eine Verhaltensänderung zu bewirken, es ist offensichtlich auch eine direkte Interaktion der Beteiligten von 91 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 92 Nöten, die das Verhalten des anderen im Sinne einer Selbsterfüllenden Prophezeiung beeinflusst. 3.1.3 Bedeutung der Labeling Theorie Sie lenkte das Augenmerk auf die Bedeutung der sozialen Wahrnehmung bei devianten Verhalten. Bei der Diagnostik spielen diese Prozesse mit Sicherheit eine wichtige Rolle. Sie zeigte das Problem der sozialen Bewertung von psychopathologischen und diagnostischen Kategorien auf 3.2 Einstellungen Einstellungen beeinflussen wesentlich Störungen, bei denen ohne Verhaltensänderung eine Verschlechterung des körperlichen Zustandes oder eine Chronifizierung zu erwarten ist (z.B.: Rauchen). Hier spielen auch die kognitive Dissonanz oder die Reaktanz (die wahrgenommen Einschränkung der individuellen Freiheit und die Tendenz diese Freiheit wieder her zustellen) eine Rolle. 3.3 Attributionstheorie – Ursachenzuschreibung Attribution = Vorgang bei dem eigenem oder fremden Handeln bestimmte Ursachen oder Gründe zugeschrieben werden. Verhaltenstherapeutische und hier vor allem kognitive Therapierichtungen gehen davon aus, dass negative oder irrationale Gedanken die Ursache für negative emotionale Zustände und dysfunktionale Verhaltensweisen sind. Attributionen haben auch Auswirkungen auf Therapieform und Krankheitsmodelle: Attribuiert man die Ursachen eher auf die Person (internal) oder auf die Umwelt (external)? Besonders das Depressionsmodell der „gelernten Hilflosigkeit“ beruht auf attributionstheoretischen Annahmen: Gelernte Hilflosigkeit beruht demnach auf motivationalen, emotionalen und kognitiven Lerndefiziten, die aufgrund negativer Erfahrungen in unkontrollierbaren (= Kontingenz zwischen dem eigenem Verhalten und dem Ergebnis in einer Situation fehlt) Situationen entstehen. Dies hat auch einen Einfluss auf zukünftige Kontingenzen, wobei Attributionen eine Schlüsselrolle spielen: Erfahrung, dass eine Situation unkontrollierbar Attribution ist Attribution 92 Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Kontingenzen Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 93 Ob sich die „Hilflosigkeits- Symptome“ generalisieren/chronifizieren hängt von der Art der Kausal – Attribution ab. So tendieren Depressive dazu, negative Ereignisse auf internale, globale und stabile Faktoren, Erfolge hingegen external, spezifisch und instabil zu attribuieren. Kritik Kognitive Modelle erfüllen nicht ausreichend die Bedingungen ätiologischer Modelle (kann z.B.: die Spontanremission nicht erklären) Depressionen klingen meist nach 6 Monaten ab, laut Attributionstheorie müssten die negativen Attributionsstile zu einer Chronifizierung führen. 3.4 Sozial – kognitive Lerntheorien Wesentliche Bestandteile Sozial – kognitive Lerntheorien sind die Selbstwahrnehmung und die Erwartung bezüglich zukünftiger Ereignisse. Mit dem Modell der Sozial – kognitiven Lerntheorien lassen sich vor allem Vermeidungsverhalten, Soziale Phobien, sozialer Rückzug und Verhaltensdefizite verstehen. Ergebniserwartung (© Bandura) = gewünschten Effekt haben wird Wissen, dass ein bestimmtes Verhalten den Wirksamkeitserwartung (© Bandura) = Grad der Gewissheit, mit der man sich selbst in der Lage sieht ein Verhalten durchzuführen Ergebniserwartung und Wirksamkeitserwartung müssen eine gewisse Höhe erreicht haben, damit eine Handlung oder ein Verhalten gezeigt wird. Ergebniserwartung + Sicheres, angemessenes Verhalten + Wirksamkeitserwartung 93 Sozialer Aktivismus, Protest, Beschwerde Milieu Änderung - Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 94 Selbst – Abwertung Verzweiflung - Resignation Apathie Eine Veränderung der Ergebniserwartung kann durch Modelllernen, Instruktion etc. erreicht werden, es findet also ein Wissenserwerb statt. Die Wirksamkeitserwartung läst sich hingegen nur durch eigenes, gegebenenfalls von außen unterstütztes Handeln verändern. 4. Folgerungen zur Wirkweise sozialpsychologischer Faktoren Für keines der Modelle kann eine direkte Ursache – Wirkungsbeziehung in Bezug auf psychische Störungen nachgewiesen werden. Sozialpsychologische Faktoren wirken selten direkt als Hauptursache auf eine Störung ein. Sie wirken meist im Zusammenspiel mit anderen Faktoren indirekt, moderierend oder zusätzlich aufrechterhaltend. Sozialpsychologische Prozesse tragen ohne Zweifel zur Aufrechterhaltung von Störungen und zum positiven/negativen Verlauf von Störungen bei. 16. Soziologische Aspekte 1. Soziologische Perspektiven zu Gesundheit und Krankheit 1.1 Gesundheits – und Krankheitsverhalten Krankheitsverhalten kann als Prozess verstanden werden, der sich in verschiedene heuristische Stufe der Entscheidungsbildung untergliedern lässt: (1) Symptomwahrnehmung und –bewertung, sowie Abwehrprozesse, die dadurch mobilisiert werden. (2) Selbstmedikation und Mitteilung an signifikante Andere intrapsychische (3) Inanspruchnahme des Laiensystems (4) Inanspruchnahme des professionellen Versorgungssystems Je schmerzhafter und auffälliger ein Symptom ist, je bedrohlicher die Erkrankungsweise und je stärker die Behinderung des Alltagshandelns, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, das professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird. 94 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 95 Dabei ist aber zu beachten, dass die Symptomwahrnehmung und Interpretation wesentlich vom a) Laienwissen b) Differenziertheit des eigenen Körpererlebens c) normativen Orientierung der jeweiligen Bevölkerungsschicht abhängen. Gründe für ein nicht – adäquates Krankheitsverhalten (es wird keine Hilfe gesucht) (1) man selbst nimmt die eigenen Symptome nicht wahr, sondern nur die signifikanten Anderen (vgl. Schizophrenie). (2) Unrealistische Formen der Selbstwahrnehmung und -beurteilung (3) Missachtung der Symptome Selbstkontrollillusionen bei Suchtkranken Auch familiendynamische Prozesse können die Mitteilung an signifikante Andere hemmen und sogar zu einer Neuinterpretation der Symptome im Sinne der Verharmlosung führen. Aus soziologischer Sicht ist das Krankheitsverhalten Teil eines subkulturellen, normengeleiteten Alltagshandeln, dass von relevanten Bezugsgruppen (speziell Primärgruppen) bezüglich des sozialen Austauschs verstärkt und kontrolliert wird: So orientieren sich sozio – ökonomisch und sozio – kulturell benachteiligte Personen meist an sozialen Normen, die für gesundheitsbewusstes Verhalten oft nachteilig sind. Diesen Personen wird nun auch in ihrer Sozialisation vermittelt, dass Dinge in ferner Zukunft von geringerer Bedeutung sind und aktuell anliegende Dinge vorrangig sind. Das führt dazu, dass motivale Fähigkeiten, die zur Bedürfnisaufschiebung und zur Erreichung langfristiger Ziele unumgänglich sind, vermindert werden. Dies zeigt sich auch in folgendem empirischen Ergebnis 95 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 96 Geringe Symptomaufmerksamkeit korreliert mit mangelnder Zukunftsorientierung und einem instrumentellen Verständnis des Körpers. In oberen Schichten besitzt der Körper Symbolwert als Träger der Identität und wird somit auch geschont und gepflegt. In unteren Schichten wird er eher als Maschine gesehen, die einem unbeeinflussbaren Verschleiß unterliegt. Ob jemand der Krank ist zum Arzt geht, hängt von verschiedenen Faktoren ab a) vom subjektiven Gesundheitszustand der Person (nimmt sie sich Selbst, wenn sie krank ist, auch als krank war?) b) Versicherungsstatus (je höher der Anteil der im Krankheitsfall Versicherten, desto höher die Inanspruchnahme des Arztes) c) Selbstbeteiligung bei der Versicherung (Je höher die Selbstbeteiligung bei der Versicherung, desto niedriger die Inanspruchnahme des Arztes) d)soziale Differenzierung der Angebotsqualität (Die Qualität des Angebots steigt mit der Höhe des sozialen Status) 1.2 Soziale Lage und Gesundheit Begehrte Ressourcen wie Macht, Einkommen, Bildung etc. sind in einer Gesellschaft nur begrenzt vorhanden und aus diesem Grunde auch ungleich auf soziale Positionen verteilt. Dadurch entstehen unterschiedliche Lebenschance und Lebensumstände, die die Soziologie als soziale Ungleichheit definiert. Soziale Ungleichheit ist somit ein Merkmal der Sozialstruktur. Welche Merkmale sind für die Bestimmung des sozialen Status in modernen Gesellschaft wichtig? a) Ausbildung b) Beruf c) Einkommen 96 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 97 Aufgrund dieser 3 Variablen werden Personen einer ziemlichen homogenen, vertikalen Bevölkerungsgruppe zugeordnet: der sozialen Schicht. 1.2.1 Soziale Lage, Gesundheit & Geschlecht (1) Es besteht der gleiche inverse Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Sterblichkeit, nur ist dieser schwächer (2) Die weibliche Morbidität und Mortalität variiert über verschiedene Länder & Zeitpunkte hinweg – dies weist auf soziologisch fassbare Einflüsse bezüglich der Geschlechterrolle hin (3) Starke geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf Krankheit und Gesundhei 1.2.2 Der Zusammenhang zwischen Schicht und psychischen Störungen Holingshead und Redlich weisen in ihrer Studie darauf hin, dass einzelne psychiatrische Diagnosen schichtsspezifische Häufigkeiten aufwiesen. Sie erklärten diese durch die soziale Differenzierung und durch soziogene, in den unteren Schichten häufiger vorfindbare Belastungskonstellationen. In neuren Studien wird ein inverser Zusammenhang zwischen psychischen Störungen (besonders Schizophrenie) und sozialer Schicht belegt. In Studien bezüglich „sozialer Selektion“ vs. „soziale Verursachung“ deuten sich Unterschiede bezüglich Depression und Schizophrenie an. Dohrenwend et. al (1992) kann deutliche Hinweise auf soziogenetische Einflüsse bei Depression (besonders bei Frauen) und soziale Selektionsprozesse bezüglich schizophrenen Erkrankungen nachweisen. Ein repräsentative nordamerikanische Studie kann einen inversen Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und psychischen Störungen nachweisen 1.3 Chronisch sozio – emotionaler Distress und Gesundheit Gewisse Leiden in der Gesellschaft, wie Gewalt, Benachteiligung, Überforderung oder andere Arten zwischenmenschlicher Konflikte lösen starke, wiederkehrende Emotionen der Bedrohung, Angst und Hilflosigkeit aus, die wiederum Aktivierungszustände im Organismus auslösen (Chronisch sozio – emotionaler Distress). Geschieht dies über einen längeren Zeitraum können physiologische Funktionen in ihrem Zusammenspiel gestört werden und pathologische Prozesse begünstigt werden. 97 Einführung in die klinische Psychologie, Psychotherapie & Gesundheitspsychologie 98 Soziologisch gesehen ergibt sich die Dramatik sozio – emotionaler Distresserfahrungen aus der Tatsache, dass diese einen erfolgreichen Austausch zwischen selbstregulatorischen Aktivitäten einerseits und gesellschaftlichen Chancen – und Belohnungsstrukturen andererseits gefährden. → (Selbstregulatorische Aktivitäten und gesellschaftlichen Chancen – und Belohnungsstrukturen manifestieren sich im sozialen Status des Individuums.) Indem die Gesellschaft dem Individuum einen sozialen Status zuweist, erwartet und ermöglicht sie ihm, die sozio – emotionale Motivation der Selbstwirksamkeit zu aktivieren. 1.4 Soziogenetische Modelle der Krankheitsverhütung – bzw. entstehung (1) Das Modell des sozio – emotionalen Rückhalts Jede Person besitzt aufgrund ihrer Vergesellschaftung ein soziales Netzwerk, mit mehreren wichtigen Personen, die ihr in Krisen – und Belastungssituationen schützende Aktivierung zukommen lassen. (2) Das Anforderungs – Kontroll – Modell Distress als Folge erfahrener Arbeitsplatzbelastung, welche aus einem spezifischen Aufgabenprofil des Arbeitsplatzes resultiert. Dabei handelt es sich um Aufgaben die durch hohe quantitative Belastungen (Zeitdruck etc.) und durch einen niedrigen Entscheidungsund Kontrollspielraum gekennzeichnet sind. Dadurch werden positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und des Selbstwertgefühls behindert und affektive Spannungszustände können nicht mehr effizient abgebaut werden (3) Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen Chronisch sozio – emotionaler Distress entsteht aus einem wahrgenommenen Disequilibrium zwischen hoher Verausgabung am Arbeitsplatz und vergleichsweiser geringer Belohnung 98