3. Das Sprachsystem: Grammatik und Lexikon I

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Vorlesung Öhlschläger:
WS 2006/07
Einführung in die germanistische Sprachwissenschaft
Theoretische und methodische Grundlagen
3. Das Sprachsystem: Grammatik und Lexikon I
3.1 Einleitende Bemerkungen
3.2 Die Ebenen des Sprachsystems
3.3 Grammatik und Lexikon
3.4 Grammatik
3.5 Lexikon
3.6 Zusammenfassung
3.1 Einleitende Bemerkungen
Am Ende der letzten Vorlesung habe ich darauf hingewiesen, dass das
Sprachsystem, das im Zentrum der Kenntnissysteme steht, auf denen das
Verstehen sprachlicher Äußerungen sowie das Sich-verständlich-Machen
mit sprachlichen Äußerungen – also die sprachliche Verständigung, die
sprachliche Kommunikation – beruht, selbst wieder aus verschiedenen
Kenntnissystemen besteht, die in bestimmten Beziehungen zueinander
stehen. Dies soll in der heutigen Vorlesung etwas näher ausgeführt werden.
In 3.2 möchte ich zunächst an Beispielen die verschiedenen Ebenen des
Sprachsystems vorstellen, um in 3.3 dann die Gesamtarchitektur des
Sprachsystems mit den beiden Komponenten Grammatik und Lexikon in
Grundzügen zu erläutern, ebenfalls wieder anhand von Beispielen. In 3.4
und in 3.5 schließlich geht es um die Grammatik bzw. um das Lexikon im
Besonderen, wobei sowohl begriffliche Fragen, Grundbegriffe, als auch die
jeweilige interne Struktur zur Sprache kommen sollen.
3.2 Die Ebenen des Sprachsystems
Wenn Sie jemandem sagen wollen, dass Sie gestern ein neues Fahrrad
gekauft haben, dann können Sie dies im Deutschen tun, indem Sie den
Satz
(1)
Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekauft.
äußern. Um mit diesem Satz anderen zu verstehen zu geben, was Sie zu
verstehen geben wollen – dass Sie gestern ein neues Fahrrad gekauft haben
1
– müssen Sie zunächst einmal die Bedeutungen der Wörter kennen, müssen
Sie z.B. wissen, dass man auf Fahrräder im Deutschen mit dem Wort
Fahrrad Bezug nehmen kann, auf den Tag vor dem Äußerungszeitpunkt
mit gestern usw. – dass dies alles andere als trivial ist, können Sie sich
klar machen, wenn Sie sich in die Situation versetzen, dass Sie das, was
Sie sagen wollen, in einer Sprache sagen wollen bzw. müssen, die Ihnen
nicht so vertraut ist oder die Sie kaum kennen – oder wenn Sie das, was
Sie anderen zu verstehen geben wollen, in einer Umgebung zu verstehen
geben wollen, in der nur eine Sprache gesprochen wird, die Sie überhaupt
nicht kennen. Selbstverständlich gilt auch für die Adressaten der
Äußerung, dass Sie über die gleichen Kenntnisse verfügen müssen, um die
Äußerung zu verstehen.
Sie – und die Adressaten – müssen aber nicht nur die Bedeutungen der
einzelnen Wörter kennen, Sie müssen auch über das Wissen verfügen, dass
Ihnen gestattet, die Kombination der Wörter miteinander so zu verstehen,
dass Sie derjenige sind, der etwas gekauft hat, und dass es ein neues
Fahrrad ist, das gekauft wurde. Die Relevanz dieses Wissens wird an den
folgenden Beispielen noch deutlicher:
(2)
(a)
Der Popstar hat die Zuhörer verärgert.
(b)
Die Zuhörer haben den Popstar verärgert.
In beiden Fällen werden die gleichen Wörter verwendet – ich sehe vom
Unterschied von hat und haben sowie von der und den ab, da sich die
Bedeutung der Wörter haben und der dadurch nicht verändert –, aber die
Bedeutungen der beiden Sätze sind offenbar verschieden – und zwar
deshalb, weil die Wörter auf unterschiedliche Weise miteinander
kombiniert werden.
Sprachliches Wissen, das sich auf die Bedeutungen von Wörtern sowie die
Bedeutungseffekte der Kombination von Wörtern miteinander bezieht,
nennt man semantisches Wissen, die entsprechende Ebene des
Sprachsystems semantische Ebene oder einfach Semantik.
Um Bedeutungseffekte durch die Kombination von Wörtern miteinander zu
erzielen, muss man aber auch die Regeln kennen, wie man Wörter in einer
bestimmten Sprache miteinander kombinieren kann, wie man in dieser
Sprache komplexe Ausdrücke bis hin zu Sätzen bilden kann. Und die
Adressaten müssen aufgrund des Verfügens über diese Regeln einer
Äußerung
2
– natürlich alles, um es noch einmal zu betonen, unbewusst – eine
bestimmte Kombinationsstruktur zuordnen können. So muss man als
Sprecher des Deutschen beispielsweise wissen, dass Sätze wie
(3)
(a)
* Ich gestern ein neues Fahrrad habe gekauft.
(b)
* Ich habe gestern einen neuem Fahrrad gekauft.
(c)
* Ich habe gestern einem neuen Fahrrad gekauft.
keine korrekt gebildeten Sätze des Deutschen sind – dies signalisiert,
entsprechend einer Konvention in der Sprachwissenschaft, der den Sätzen
vorangestellte Stern. In all diesen Fällen liegen Verstöße gegen Regeln der
Kombination von Wörtern miteinander vor: bei (3) (a) hinsichtlich der im
Deutschen möglichen Abfolgen von Wörtern, bei (3) (b) hinsichtlich der in
einer Substantivgruppe im Deutschen notwendigen Übereinstimmung in
Bezug auf bestimmte grammatische Merkmale – Kasus, Numerus und
Genus –, bei (3) (c) hinsichtlich des Kasus von einem neuen Fahrrad, der
in Abhängigkeit von kaufen der Akkusativ sein müsste. Wissen, das sich
auf die Möglichkeiten der Kombination von Wörtern miteinander zu
größeren Einheiten bis hin zu Sätzen bezieht, nennt man syntaktisches
Wissen, die entsprechende Ebene des Sprachsystems syntaktische Ebene oder
Syntax.
Gleichfalls nicht korrekt gebildete Sätze wie z.B.
(4)
(a)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekaufst.
(b)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekaufen.
lassen dagegen auf andersartige Defizite im sprachlichen Wissen desjenigen,
der sie äußert, schließen – nämlich in Bezug auf die Art und Weise, wie
bestimmte Formen, bestimmte Ausprägungen von Wörtern in einem
bestimmten Satzzusammenhang gebildet werden. Solches Wissen ist auch
notwendig, um den Unterschied zwischen Sätzen wie (2) (a) und (2) (b)
erkennen zu können, der nur durch die unterschiedlichen Formen der
und den bzw. hat und haben signalisiert wird – so wird durch den
Nominativ der in (2) (a) zum Ausdruck gebracht, dass der Popstar
derjenige ist, der verärgert, durch den Akkusativ den in (2) (b), dass der
Popstar derjenige ist, der verärgert wird. Wissen, das sich auf die
verschiedenen Formen von Wörtern, auf die interne Organisation, die
interne Struktur von Wörtern bezieht, nennt man morphologisches Wissen,
die entsprechende Ebene des Sprachsystems morphologische Ebene oder
Morphologie.
3
Und selbstverständlich setzt jede sprachliche Verständigung voraus, dass
etwas geäußert wurde, dass ein Satz gesprochen oder geschrieben wurde.
Notwendig sind also sowohl Kenntnisse in Bezug auf die lautliche als auch
auf die schriftliche Realisierung von Sprache – Letzteres natürlich nur
unter der für viele Sprachen nicht gegebenen Voraussetzung, dass es
überhaupt Regularitäten der Schreibung gibt, und abgesehen von dem
Phänomen des Analphabetismus. Notwendig sind diese Kenntnisse nicht
nur für den Sprecher oder Schreiber, sondern auch für die Adressaten, die
Schallwellen oder graphischen Erscheinungen eine bestimmte Struktur
zuordnen, sie als Folge von Lauten und Buchstaben und damit erst als
sprachliche Äußerungen erkennen können müssen.
Zu den Kenntnissen hinsichtlich der gesprochenen Realisierung im
Deutschen gehört beispielsweise, dass das Wort Fahrrad am Ende mit einem
t gesprochen wird, dass es im Plural dagegen nicht Fahrräter, sondern
Fahrräder heißt, also mit einem d. Und zum Wissen in Bezug auf die
schriftliche Realisierung im Deutschen gehört es u.a., dass das Wort
Fahrrad so geschrieben wird wie in (1) und nicht wie in (5) (a) oder (5)
(b):
(5)
(a)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrat gekauft.
(b)
* Ich habe gestern ein neues Farrad gekauft.
Sprachliches Wissen, das mit der lautlichen Realisierung von Sprache zu
tun hat, bezeichnet man als phonologisches Wissen, die entsprechende
Ebene des Sprachsystems als phonologische Ebene oder Phonologie,
sprachliches Wissen, das mit der schriftlichen Realisierung von Sprache zu
tun hat, als graphematisches Wissen und die entsprechende Ebene des
Sprachsystems als graphematische Ebene bzw. Graphematik.
3.3 Grammatik und Lexikon
Bei den bisherigen Überlegungen habe ich von einem zentralen
Unterschied in der Art des sprachlichen Wissens abgesehen, der sich auf
allen Ebenen des Sprachsystems konstatieren lässt und die Grundlage für
die Annahme bildet, dass das Sprachsystem aus zwei Komponenten besteht
– der Grammatik und dem Lexikon, die ihrerseits eine interne Struktur
aufweisen, d.h. sich aus verschiedenen Kenntnissystemen zusammensetzen,
was ich – wie bereits angekündigt – in 3.4 und 3.5 thematisieren möchte.
Im Folgenden möchte ich zunächst den angesprochenen Unterschied in der
Art des sprachlichen Wissens an einigen Beispielen veranschaulichen,
4
wobei ich vor allem auf die Beispiele aus 3.2 zurückgreifen möchte. Dass
das Wort Fahrrad die Bedeutung ‚Fahrrad’ hat, also die Bedeutung, die es
hat, ist semantisches Wissen, das sich auf ein bestimmtes Wort bezieht. Das
semantische Wissen, das dem unterschiedlichen Verständnis der Sätze (2)
(a) und (2) (b) – hier noch einmal wiederholt –
(2)
(a)
Der Popstar hat die Zuhörer verärgert.
(b)
Die Zuhörer haben den Popstar verärgert.
zugrundeliegt, ist dagegen von anderer Art: Es hat nichts mit der
Bedeutung der in diesen Sätzen verwendeten Wörter zu tun – darin besteht
ja auch kein Unterschied –, sondern mit der Bedeutung, die sich aus der
Art und Weise der Kombination der Wörter miteinander ergibt. Wer den
Unterschied zwischen (2) (a) und (b) richtig versteht, weiß, dass der
Bedeutungsbeitrag einer Wortgruppe zur Bedeutung eines Satzes eine
andere ist, wenn die Wortgruppe als Subjekt verwendet wird, als wenn sie
als Objekt verwendet wird – und er weiß auch, worin der
Bedeutungsbeitrag jeweils besteht. So ist der Bedeutungsunterschied
zwischen anderen Satzpaaren wie z.B. in (6), (7) oder (8) in der gleichen
allgemeinen, nicht wortspezifischen semantischen Regel begründet:
(6)
(7)
(8)
(a)
Die Frau hilft dem Mann.
(b)
Der Mann hilft der Frau.
(a)
Der Arzt besucht den Nachbarn.
(b)
Der Nachbar besucht den Arzt.
(a)
Das Kind belügt die Eltern.
(b)
Die Eltern belügen das Kind.
Dieser Unterschied von wortspezifischem und allgemeinem Regelwissen
findet sich entsprechend auch auf den anderen Ebenen des Sprachsystems:
Die Abweichungen in (3) (a) und (b) gehen auf Verstöße gegen allgemeine
syntaktische Regeln zurück, die Abweichung in (3) (c) ist allein auf die
syntaktischen Eigenschaften des Verbs kaufen zurückzuführen:
(3)
(a)
* Ich gestern ein neues Fahrrad habe gekauft.
(b)
* Ich habe gestern einen neuem Fahrrad gekauft.
(c)
* Ich habe gestern einem neuen Fahrrad gekauft.
Auch dies macht die Gegenüberstellung mit anderen Beispielsätzen
deutlich – die Sätze in (9) sind alle in gleicher Weise abweichend wie (3)
(a), die Sätze in (10) sind in gleicher Weise abweichend wie (3) (b),
5
während (3) (c) mit einem anderen Verb – (11) (a) – nicht mehr
abweichend ist, der Ersatz des Verbs in dem korrekten Satz mit kaufen –
(11) (b) – durch das Verb aus (11) (a) dagegen wieder zu einem
abweichenden Ergebnis, nämlich (11) (c) führt:
(9)
(a)
* Sie heute die gestrige Zeitung hat gelesen.
(b)
* Er wahrscheinlich ein langweiliges Buch hat
(c)
* Du damals dein neues Gedicht hast vorgelesen.
gekauft.
(10) (a)
* Ich habe gestern eines dickem Buch gekauft.
(b)
* Ich habe gestern diese ausgezeichneter Roman
(c)
* Ich habe gestern der letzte Eintrittskarte gekauft.
(11) (a)
Ich habe gestern einem neuen Fahrrad vertraut.
gekauft.
(b)
Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekauft.
(c)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrad vertraut.
Der Unterschied auf der morphologischen Ebene lässt sich an den
Beispielen (4) (a) und (4) (b) illustrieren:
(4)
(a)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekaufst.
(b)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekaufen.
Eine Partizip-II-Form wie gekaufst in (4) (a) ist im Deutschen generell
ausgeschlossen
– nach den morphologischen Regeln des Deutschen sind nur Partizipien II
mit ge- + -t wie in gesagt, mit ge- + -en wie in geschwommen oder aber
ohne das ge- wie in belohnt und versprochen möglich. Dagegen sind
Partizipien mit ge- + -en wie in (4) (b) – wie gerade bei geschwommen
gesehen – durchaus möglich; kaufen bildet jedoch sein Partizip II anders –
als gekauft. Dass kaufen sein Partizip mit -t, schwimmen dagegen mit -en
bildet, sind wortspezifische morphologische Eigenschaften. Demgegenüber
ist der Unterschied zwischen Partizipien II mit und ohne ge- wiederum
auf eine allgemeine Regel des Deutschen zurückzuführen, nach der bei
Verben, die nicht auf der ersten Silbe betont werden, das ge- entfällt.
Dass – um zur Phonologie zu kommen – das Wort Fahrrad aus den Lauten
besteht, aus denen es besteht, ist – trivialerweise – natürlich eine
spezifische Eigenschaft dieses Wortes; dass hier am Ende ein t, bei
Fahrräder dagegen ein d gesprochen wird, folgt dagegen einer allgemeinen
phonologischen Regel des Deutschen, wie man an Fällen wie Lied und
Lieder, loben und lobt oder lesen und liest sehen kann – der sog. Regel der
6
Auslautverhärtung, nach der im Silbenauslaut – anders als etwa im
Englischen – keine stimmhaften, sondern nur stimmlose Konsonanten
stehen können, also weder d noch b noch stimmhaftes s, sondern nur t, p
oder stimmloses s.
Um schließlich auch noch Beispiele für diesen zentralen Unterschied aus
dem Bereich der Graphematik zu berücksichtigen, möchte ich noch einmal
auf die Beispiele (5) (a) und (5) (b) Bezug nehmen:
(5)
(a)
* Ich habe gestern ein neues Fahrrat gekauft.
(b)
* Ich habe gestern ein neues Farrad gekauft.
Alle Wörter des Deutschen, bei denen wie bei Fahrrad die phonologische
Regel der Auslautverhärtung wirksam wird, bringen diesen Lautwechsel in
der Schreibung nicht zum Ausdruck – ich verweise nur auf die
Schreibung der im Zusammenhang mit der Erläuterung dieser Regel
genannten Beispiele, also Lied und Lieder, loben und lobt, lesen und liest;
es ist im Deutschen, in der deutschen Gegenwartssprache – anders als noch
im Mittelhochdeutschen – eine generelle graphematische Regel, dass die
Auslautverhärtung nicht graphisch abgebildet wird. Anders als der Verstoß
in (5) (a) hat die Abweichung in (5) (b) keine allgemeinen Ursachen, denn
es gibt viele Wörter, bei denen zur Kennzeichnung des Langvokals a oder
eines anderen Langvokals vor r kein h in der Schreibung erscheint: Bar,
Zar, garen, schwer, Tor, Schwur, Tür usw. – dass Fahrrad, fahren, fahrbar
usw. mit h geschrieben wird, ist eine spezifische Eigenschaft dieser Wörter.
Das sprachliche Wissen, die Kenntnis einer Sprache besteht also – ich
denke, dass die hier vorgeführten Beispiele dies hinreichend deutlich
gemacht haben – einerseits aus allgemeinem Regelwissen, andererseits aus
der Kenntnis der Wörter einer Sprache einschließlich der spezifischen
Eigenschaften dieser Wörter; sowohl die allgemeinen Regeln als auch die
spezifischen Eigenschaften von Wörtern beziehen sich dabei auf alle
Ebenen des Sprachsystems. Das allgemeine Regelwissen kann man auch als
grammatisches Wissen, die Kenntnis der Wörter einer Sprache
einschließlich ihrer spezifischen Eigenschaften als lexikalisches Wissen
bezeichnen, so dass sich dementsprechend das grammatische Teilsystem
und das lexikalische Teilsystem – oder kürzer: Grammatik und Lexikon –
als die beiden Komponenten des Sprachsystems ergeben. Wie ich im
Folgenden an zwei Beispielen zeigen möchte, folgt diese Organisation des
Sprachsystems dem Prinzip der Arbeitsteilung: Die beiden
Teilkomponenten interagieren beim Äußern von Sätzen (allgemein:
7
sprachlichen Ausdrücken) sowie beim Verstehen von sprachlichen
Äußerungen auf spezifische Weise, d.h. das Äußern wie das Verstehen sind
Ergebnis des Zusammenspiels der beiden Teilsysteme – was den durch das
sprachliche Wissen bestimmten Anteil an der sprachlichen
Kommunikation betrifft (ich erinnere an den dritten Teil der zweiten
Vorlesung).
Beim ersten Beispiel beziehe ich mich wieder auf den Beispielsatz (1)
sowie die Sätze (3) (a) – (c):
(1)
(3)
Ich habe gestern ein neues Fahrrad gekauft.
(a)
* Ich gestern ein neues Fahrrad habe gekauft.
(b)
* Ich habe gestern einen neuem Fahrrad gekauft.
(c)
* Ich habe gestern einem neuen Fahrrad gekauft.
Wenn ich beispielsweise Satz (1) bilden und äußern will – ich beschränke
mich bei meinen Beispielen der Einfachheit halber auf die
Sprecherperspektive, die Unterschiede zur Adressatenperspektive sind für
den gegebenen Zusammenhang irrelevant –, greife ich einerseits u.a. auf
die syntaktischen Eigenschaften des Wortes kaufen, also lexikalisches
Wissen, zurück – dass kaufen ein Subjekt fordert, das bestimmten
Anforderungen genügen muss – dies zeigt sich am Kontrast von (1) zu (12)
–, dass es zwei Objekte zu sich nimmt, ein Dativobjekt und ein
Akkusativobjekt, von denen zumindest das Dativobjekt nicht obligatorisch
ist – dies zeigt sich an (13) und (1):
(12) (a)
* Dass er morgen kommt, hat gestern ein neues
Fahrrad
gekauft.
(b)
* Morgen zu kommen hat gestern ein neues Fahrrad
gekauft.
(13) (a)
(b)
Ich habe mir gestern ein neues Fahrrad gekauft.
* Ich habe mich gestern ein neues Fahrrad gekauft.
Andererseits ziehe ich beim Bilden und Äußern des Satzes (1) auch
grammatisches Wissen heran, das verhindert, dass ich Sätze wie (3) (a) oder
(3) (b) bilde; dieses Wissen habe ich nicht im Zusammenhang mit dem
Wort kaufen gespeichert, sondern greife darauf unabhängig von den
jeweiligen Verben zurück – Wissen in Bezug auf die
Wortstellungsregularitäten, in Bezug auf die Kongruenzregularitäten usw.
Anders ausgedrückt: die grammatischen, in diesem Fall syntaktischen
Regeln liefern das Spektrum möglicher Sätze, sie begrenzen die Zahl
möglicher Sätze, während die spezifische Struktur eines bestimmten Satzes
8
von den lexikalischen Eigenschaften der in ihm vorkommenden Wörter –
u.a. von kaufen – bestimmt wird.
Beim zweiten Beispiel für das Interagieren von grammatischem und
lexikalischem Wissen, von Grammatik und Lexikon greife ich auf das
phonologische Phänomen der Auslautverhärtung zurück, d.h. dass zwar
bei Fahrräder ein d, bei Fahrrad dagegen ein t gesprochen wird. Es ist
nicht nötig, im Zusammenhang mit dem Wort Fahrrad zu speichern, dass
in den Formen Fahrräder, Fahrrades, Fahrrädern ein d, bei Fahrrad oder
Fahrrads dagegen ein t gesprochen wird: zu den lexikalischen
phonologischen Eigenschaften von Fahrrad gehört nur, dass es ein d
aufweist – dass dies in manchen Fällen zu t wird, ist in der schon
erwähnten grammatischen phonologischen Regel der Auslautverhärtung
begründet, die in allen vergleichbaren Fällen in der gleichen Weise
wirksam wird; bei – um die schon erwähnten Beispiele noch einmal zu
wiederholen – Lied und Lieder, loben und lobt, lesen und liest, aber auch
bei Krüge und Krug, sagen und sagt usw. usw.
So plausibel die Unterscheidung von Grammatik und Lexikon auf den
ersten Blick scheinen mag – und so sinnvoll sie letztlich auch ist –, ist sie
in der linguistischen Forschung durchaus strittig. In vielen Fällen ist es
alles andere als eindeutig, wo die Grenze zu ziehen ist, wo man die Grenze
ziehen sollte, und teilweise wird auch die Frage aufgeworfen, ob sich diese
Grenze überhaupt ziehen lässt. Diese Probleme können jedoch nicht
Gegenstand einer Einführung in die Sprachwissenschaft sein. Stattdessen
möchte ich mich im weiteren Verlauf der Vorlesung noch etwas genauer
mit dem grammatischen Teilsystem, der Grammatik, und dem
lexikalischen Teilsystem, dem Lexikon, beschäftigen.
3.4 Grammatik
Grammatik wird in der sprachwissenschaftlichen Literatur keineswegs
einheitlich – und auch keineswegs immer in dem hier erläuterten Sinne
– verwendet und verstanden. Diese Unterschiede beziehen sich zunächst
auf den Begriffsumfang: Wie schon in der ersten Vorlesung erwähnt, wird
Grammatik heute oft gleichbedeutend mit Sprachsystem verwendet,
insbesondere innerhalb der ebenfalls schon erwähnten Forschungsrichtung
der generativen Grammatik. In diesem Sinne umfasst die Grammatik dann
auch das Lexikon, während es für die hier „Grammatik“ genannte
Teilkomponente keine eigene Bezeichnung gibt, sondern dem Lexikon die
einzelnen „grammatischen“, d.h. allgemeine Regeln umfassenden
9
Teilsysteme gegenübergestellt werden – das phonologische, das
morphologische usw. Teilsystem. Aufgrund der Andersartigkeit dieser
Systeme gegenüber dem Lexikon scheint es mir – wie anderen – jedoch
sinnvoll, für die Teilsysteme unter Ausschluss des Lexikons eine eigene
Bezeichnung zu haben, hier also von Grammatik zu sprechen und die
Gesamtheit, also einschließlich des Lexikons, als „Sprachsystem“ zu
bezeichnen. Dies ist jedoch im Wesentlichen eine terminologische, keine
inhaltliche Frage.
Traditionell wird Grammatik hinsichtlich seines Begriffsumfangs jedoch
eher enger verstanden, als ich diesen Begriff hier verwendet habe: meist
nur in Bezug auf Morphologie und Syntax, auf morphologische und
syntaktische Regeln, teilweise aber auch die Phonologie, seltener bis kaum
die Graphematik einschließend, die eher als Orthographie der Grammatik
nebengeordnet wurde. Die Semantik wurde traditionell in keinem Fall als
eigenes Teilsystem der Grammatik verstanden, semantische Gesichtspunkte
wurden stattdessen oft in die Morphologie und Syntax mit einbezogen.
Grammatik wird aber auch in einer anderen Hinsicht unterschiedlich
verwendet und verstanden, wie die folgenden Beispielsätze deutlich
machen sollen:
(14) (a)
Zu den zentralen Aufgaben der germanistischen
Sprachwissenschaft gehört die Beschreibung der
Grammatik des Deutschen.
(b)
Ich habe mir gestern eine neue Grammatik gekauft.
(c)
Die Grammatik ist eine wichtige Teildisziplin der
Sprachwissenschaft.
(d)
Diese Arbeit bewegt sich im Rahmen der
generativen
Grammatik.
In (14) (a) wird Grammatik als Bezeichnung für ein Sprachsystem bzw. ein
Teilsystem, eine Teilkomponente eines Sprachsystems verstanden – der
Begriffsumfang ist in diesem Zusammenhang irrelevant –, also in dem
Sinne, wie ich Grammatik in der heutigen Vorlesung verwendet habe. In
(14) (b) dagegen geht es offensichtlich um ein Buch, ein Buch, das eine
Beschreibung der Grammatik im ersten Sinne enthält. In (14) (c) wird mit
Grammatik auf eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft Bezug
genommen, die sich mit der Beschreibung von Grammatiken im Sinne von
(14) (a) beschäftigt – so habe ich Grammatik z.B. in der 1. Vorlesung
verwendet –, und in (14) (d) ist mit Grammatik eine bestimmte
Grammatiktheorie gemeint, ein bestimmter theoretischer Rahmen, ein
10
bestimmtes begriffliches und methodisches Instrumentarium, dessen man
sich bei der Beschreibung von Grammatiken im ersten Sinne bedienen
kann.
In der Regel wird Grammatik ohne terminologische Differenzierung in
allen Bedeutungen verwendet, da normalerweise klar ist, was im jeweiligen
Kontext gemeint ist. Zudem handelt es sich hier um eine systematische
Mehrdeutigkeit, die nicht nur das Wort Grammatik betrifft: auch
Phonologie, Graphematik, Morphologie, Syntax, Semantik,
Sprachgeschichte sind in gleicher oder ähnlicher Weise mehrdeutig – man
kann sagen, dass die Syntax des Englischen relativ einfach ist, dass man
sich die Syntax von Engel gekauft hat, dass jemand eine Professur für
Syntax hat, dass jemand ein Vertreter der Dependenzsyntax ist. Und auch
über die Sprachwissenschaft hinaus gibt es diese systematische
Mehrdeutigkeit in gleicher oder ähnlicher Weise: ich nenne nur
Literaturgeschichte, Physik, Chemie, Soziologie usw. Dennoch ist es
sinnvoll, in den Fällen, in denen Missverständnisse auftreten könnten, die
jeweilige Verwendungsweise zu verdeutlichen, und es ist – für die
Adressaten – notwendig, sich der unterschiedlichen Verwendungsweisen
bewusst zu sein, um falsches Verstehen zu vermeiden.
Wie schon mehrfach angedeutet, besteht die Grammatik – verstanden als
grammatisches Wissen, als Teilkomponente des sprachlichen Wissens, des
Sprachsystems – ihrerseits wieder aus verschiedenen Teilsystemen, die sich
jeweils auf eine bestimmte Ebene des Sprachsystems beziehen – ich
erinnere an den ersten Teil der heutigen Vorlesung: aus dem semantischen,
dem syntaktischen, dem morphologischen, dem phonologischen und dem
graphematischen System. Häufig wird hier statt von semantischem,
syntaktischem usw. System einfach von Semantik, Syntax usw. gesprochen,
doch muss man sich bei dieser Redeweise darüber im Klaren sein, dass
sich nicht nur die Grammatik, sondern auch das Lexikon auf die
Semantik, die Syntax – auch hier genauer: auf die semantische, auf die
syntaktische usw. Ebene des Sprachsystems bezieht: die Grammatik hat es
nur mit den allgemeinen Regeln der jeweiligen Ebene zu tun – sie steckt
sozusagen den Rahmen der Möglichkeiten in einer Sprache ab –, das
Lexikon mit dem Wortschatz und damit den je spezifischen semantischen,
syntaktischen usw. Eigenschaften der einzelnen Wörter.
So umfasst das semantische System beispielsweise die schon erwähnten
Regeln, worin der Bedeutungsbeitrag eines Subjekts, worin der
Bedeutungsbeitrag eines Objekts besteht – diese Regeln näher zu
spezifizieren, ist im gegebenen Zusammenhang nicht möglich. Und auch
11
für den Bedeutungseffekt des Unterschieds z.B. zwischen (15) (a) und (15)
(b)
(15) (a)
(b)
Die Frau kommt.
Die Frauen kommen.
also des Unterschieds zwischen Singular und Plural, gibt es eine
allgemeine semantische Regel, eine Regel des semantischen Teilsystems der
Grammatik.
Auch im Hinblick auf das syntaktische Teilsystem möchte ich mich auf
einige wenige Beispiele zur Veranschaulichung beschränken: Die an den
Sätzen (3) (a) und (b) sowie (9) und (10) illustrierten Regeln für die
Wortstellung und die Kongruenz in Substantivgruppen sind solche
allgemeinen syntaktischen Regeln, Regeln, die das Spektrum möglicher
Sätze des Deutschen beschränken, und ebenso beispielsweise die Regeln,
die die Bildung von Sätzen wie (16) oder (17) verhindern:
(16) (a)
* Mein heute Fahrrad ist grün.
(b)
* Mein aber Fahrrad ist grün.
(c)
* Sie kommt Fahrrad.
(d)
* Die Vorstellung Fahrrad drei Stunden.
(17) (a)
* Neue Fahrrad ist grün.
(b)
* Ich lese Buch.
(c)
* Sie fährt mit Straßenbahn.
Bei (16) geht es um Regeln der Art, dass nur bestimmte Wörter, Wörter
einer bestimmten Klasse – Wortart – an bestimmten Positionen in einem
Satz auftreten dürfen, bei (17) handelt es sich um die Regel, dass
Substantivgruppen – von bestimmten Ausnahmen abgesehen, die teilweise
lexikalisch bedingt sind – immer einen Artikel bzw. ein Artikelwort
aufweisen müssen.
Regeln des morphologischen Systems sind – außer dem schon erwähnten
Beispiel im Zusammenhang mit der Partizip-II-Bildung z.B. die Regeln,
wie Kasus und Plural von Substantiven gebildet werden können – dass z.B.
der Genitiv Singular mit -s bzw. -es (wie bei Sommers oder Hauses), mit -n
bzw. -en (wie bei Zeugen oder Menschen) oder ganz ohne Kennzeichnung
(wie bei Frau) gebildet werden kann, dass die Bildung der anderen
Kasusformen damit regelhaft verbunden ist – z.B. werden alle Kasus bei
den Substantiven, die den Genitiv mit -n bzw. -en bilden, mit Ausnahme
12
des Nominativs ebenso gebildet, und die Substantive, die den Genitiv ohne
Kennzeichnung aufweisen, weisen auch in den anderen Kasus des
Singular keine Kennzeichnung auf usw. Ebenso gibt es auch für die
Bildung des Plurals nur bestimmte Bildungselemente, nur bestimmte
Bildungsmöglichkeiten, die darüber hinaus auch noch in einem
systematischen Zusammenhang mit der Kasusbildung stehen – es würde zu
weit führen, dies im Einzelnen zu erläutern; diese Regularitäten sind u.a.
Gegenstand der Vorlesung zum Sprachsystem des Deutschen im
Grundlagenmodul Germanistik II im Sommersemester.
Zu den Regeln des phonologischen Systems gehören, außer der schon
erläuterten Regel der Auslautverhärtung und vielen anderen z.B. noch
andere Regeln für den Aufbau von Silben, z.B. die, dass im Deutschen die
Kombination der Laute b und l nur in der Reihenfolge b vor l, aber nicht
in der Abfolge l vor b am Anfang einer Silbe möglich ist – letztlich
handelt es sich hier noch um eine allgemeine Regel, die nicht nur b und l
betrifft. Eine andere phonologische Regel ist die Regel für die Betonung
zusammengesetzter Wörter wie in den Beispielen aus der ersten Vorlesung –
Bundesaußenminister und Nebenstellenleiter.
Und es gilt im Deutschen – um neben der Regel für die graphische
Realisierung (bzw. Nicht-Realisierung) der Auslautverhärtung noch ein
weiteres Beispiel für eine Regel des graphematischen Systems zu nennen –,
dass der normalerweise mit sch geschriebene Laut – wie in Schnee oder in
rasch – vor p und t nur als s graphisch realisiert wird – also nicht
Schpatz, sondern Spatz, nicht Schplitter, sondern Splitter, nicht Schtadt,
sondern Stadt, nicht schtreuen, sondern streuen usw.
So wie die grammatische und die lexikalische Komponente interagieren
auch die verschiedenen Teilsysteme der Grammatik miteinander, d.h. die
einzelnen Teilsysteme stehen nicht isoliert nebeneinander, sie werden
nicht einzeln wirksam, sondern erst im Zusammenspiel, in der Interaktion
der verschiedenen grammatischen Teilsysteme – und dann natürlich auch
durch das Zusammenspiel von Grammatik und Lexikon – ist das Bilden
und das Verstehen von sprachlichen Ausdrücken, von Sätzen einer
Sprache, in unserem Fall des Deutschen, möglich. Auch dies möchte ich an
drei Beispielen verdeutlichen.
Beim ersten Beispiel greife ich auf den schon erwähnten Unterschied in
der Partizip-II-Bildung von kaufen und schwimmen einerseits sowie
belohnen und versprechen andererseits zurück: gekauft und geschwommen
vs. belohnt und versprochen.
13
Wenn man von einer Interaktion der verschiedenen grammatischen
Teilsysteme ausgeht, kann man die für die Partizip-II-Bildung im
Deutschen geltende Regel so formulieren, dass in jedem Fall ein ge- vor das
Verb – genauer: den Verbstamm – gesetzt wird, man also – von der Endung
sehe ich hier ab – gekauft, geschwommen, gebelohnt, geversprochen erhält.
Das phonologische Teilsystem, das u.a. Regeln für die Betonung von
Wörtern enthält, sorgt dann dafür, dass das ge- in den beiden letzten
Fällen nicht realisiert wird – wie schon ausgeführt, ist die Ursache dafür,
dass das ge- in bestimmten Fällen nicht auftreten darf, die Nichtbetonung
der ersten Silbe der betreffenden Verben.
Auch das zweite Beispiel ist ein Beispiel für die Interaktion von
Phonologie und Morphologie, von – genauer – phonologischem und
morphologischem System. Die 3. Ps. Sg. Ind. Präs. endet bei den meisten
Verben im Deutschen auf –t: lacht, redet, fährt, hält, reitet, atmet, rechnet,
lernt. Bei diesen Beispielen kann man feststellen, dass in manchen Fällen
noch zusätzlich ein e eingeschoben wird, in anderen nicht. Dies ist kein
Zufall und auch keine lexikalische Eigenschaft der betreffenden Verben,
sondern systematisch, und zwar phonologisch bedingt: Wenn der
Wortstamm – also etwas vereinfachend, der Teil eines Wortes, den man
nach Tilgung der Endungen erhält – auf d oder t endet, wird ein e
eingeschoben: redet, reitet. Ebenso verhält es sich, wenn am Ende des
Wortstamms auf ein d oder t – oder einige andere Konsonanten – ein m
oder n folgt: atmet, rechnet. Von dieser Regel weicht nur hält ab: hier endet
der Wortstamm auf t, dennoch heißt es nicht hältet, sondern hält. Dass
dafür die Vokalveränderung von a zu ä, ein Umlaut also, verantwortlich
ist, der eine bestimmte Form signalisiert, zeigt sich daran, dass der
Imperativ von halten nicht hält, sondern haltet lautet, da der Imperativ
Plural keinen Umlaut aufweist. Was hat dies mit der Interaktion von
phonologischem und morphologischem System zu tun? Als morphologische
Regel gilt, dass bei der Bildung der 3. Ps. Sg. Ind. Präs. generell – von
wenigen Ausnahmen abgesehen – ein -t an den Stamm angefügt wird.
Unter welchen Bedingungen ein e eingefügt wird oder das -t gar nicht
realisiert wird – wie z.B. bei hält – wird im phonologischen Teilsystem
geregelt, denn verantwortlich für die jeweilige Ausprägung sind
phonologische Bedingungen, genauer: die Bedingungen der jeweiligen
lautlichen Umgebung.
Als letztes Beispiel sei noch auf einen Fall der Interaktion von
syntaktischem und phonologischem System hingewiesen. In den folgenden
Sätzen (18) (a) – (d)
14
(18) (a)
Er wäscht sich.
(b)
Sie verletzte sich.
(c)
Er schämt sich.
(d)
Sie erkältete sich.
ist das Reflexivpronomen sich in den ersten beiden Fällen betonbar, in
den anderen beiden Fällen dagegen nicht. Obwohl es sich bei der Betonung
um ein lautliches Phänomen handelt, ist es nicht notwendig, für den
genannten Unterschied eine phonologische Regel anzunehmen, denn der
Unterschied ist syntaktisch motiviert – vereinfacht gesagt, fungiert das
Reflexivpronomen in den betonbaren Fällen, also (18) (a) und (18) (b) als
Objekt, in den beiden anderen, den nicht-betonbaren Fällen dagegen
kommt dem Reflexivpronomen keine syntaktische Funktion zu, es wird
vom Verb aus formalen Gründen gefordert und ist ja semantisch leer, d.h.
hat keine Bedeutung.
3.5 Lexikon
Nach der im dritten Teil dieser Vorlesung gegebenen Bestimmung stellt das
Lexikon die Komponente des Sprachsystems dar, die die Wörter einer
Sprache einschließlich ihrer spezifischen Eigenschaften umfasst. Lexikon
wird hier also in einem Sinne verstanden, der der Bedeutung von
Grammatik als ‚Teil des Sprachsystems’ entspricht – im vorangehenden Teil
der heutigen Vorlesung an Satz (14) (a) veranschaulicht:
(14)
(a)
Zu den zentralen Aufgaben der germanistischen
Sprachwissenschaft gehört die Beschreibung der
Grammatik des Deutschen.
Es gibt jedoch auch eine Verwendungsweise von Lexikon, die der
Bedeutung von Grammatik in (14) (b) entspricht:
(14) (b)
Ich habe mir gestern eine neue Grammatik gekauft.
So gibt es ein „Kleines Lexikon untergegangener Wörter“, ein „Kleines
Valenzlexikon deutscher Verben“, „ein Lexikon der sprichwörtlichen
Redensarten“, Abkürzungslexika, Synonymlexika, Reimlexika usw. –
gemeint sind hier jeweils Wörterbücher, also Bücher, in denen Wörter
unter bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellt und im Hinblick auf
bestimmte Eigenschaften beschrieben sind. So wie Grammatiken in der
Bedeutung wie in (14) (b) Beschreibungen der Grammatik einer Sprache
15
(im ersten Sinne von Grammatik) sind, sind Lexika in dieser Bedeutung
von Lexikon – also Wörterbücher – Beschreibungen des Lexikons – bzw.
von Ausschnitten des Lexikons – als Teilkomponente des Systems einer
Sprache. Lexikon in der Bedeutung ‚Wörterbuch’ ist aber auch abzugrenzen
von der im Alltag üblichen Gebrauchsweise von Lexikon als Bezeichnung
für Enzyklopädien, in denen nicht wie in einem Wörterbuch Wörter einer
bestimmten Sprache – oder mehrerer Sprachen – verzeichnet und im
Hinblick auf ihre Eigenschaften – oder einen Teil ihrer Eigenschaften –
beschrieben werden, sondern in denen Sachwissen über verschiedene oder
alle Fach- bzw. Wissensgebiete zusammenfassend dargestellt wird.
Für die beiden anderen Gebrauchsweisen von Grammatik – als
Teildisziplin der Sprachwissenschaft und als bestimmte Grammatiktheorie
– gibt es in Bezug auf das Lexikon eine eigene Bezeichnung, nämlich
Lexikologie. Dabei wird Lexikologie vor allem als Bezeichnung für die
Teildisziplin verwendet, seltener für eine bestimmte theoretische
Ausrichtung der Lexikologie wie z.B. „strukturelle Lexikologie“, „kognitiv
orientierte Lexikologie“ usw. Was die Teildisziplin „Lexikologie“ betrifft,
gibt es allerdings – ähnlich wie bei der Grammatik – unterschiedliche
Auffassungen hinsichtlich des Gegenstandsbereichs: Neben dem hier
zugrundegelegten Verständnis von Lexikologie als der Teildisziplin der
Sprachwissenschaft, die sich mit dem Lexikon beschäftigt, gibt es auch
engere Gegenstandsbestimmungen, die allerdings teilweise in
unterschiedlichen Konzeptionen des Lexikons als Teilkomponente des
Sprachsystems begründet sind – auf diesen Punkt komme ich noch einmal
kurz zurück. In jedem Fall ist die Lexikologie als theoretisch orientierte
linguistische Disziplin strikt von der Lexikographie zu unterscheiden, der
es als anwendungsorientierter Disziplin um das Erstellen und den Umgang
mit Wörterbüchern geht. Nach diesen begrifflichen Vorüberlegungen
komme ich nun – analog zur Vorgehensweise im Abschnitt über die
Grammatik – zur internen Struktur des Lexikons.
Wenn das Lexikon die Teilkomponente des Sprachsystems ist, auf die sich
das lexikalische Wissen der Sprecher einer Sprache bezieht, dann besteht
das Lexikon natürlich zunächst aus einer Menge von Wörtern mit ihren
jeweils spezifischen Eigenschaften. Denn wenn man sagt, dass jemand ein
Wort kennt, meint man, dass er das Wort einschließlich seiner spezifischen
Eigenschaften kennt, dass er – wie man oft sagt – über einen
Lexikoneintrag für dieses Wort verfügt. Nach dieser Redeweise besteht das
Lexikon also aus einer Menge von Wörtern, denen jeweils ein
Lexikoneintrag zugeordnet ist, der die spezifischen Eigenschaften dieses
Wortes enthält. Ähnlich wie im Falle von Grammatik, Lexikon, Regel usw.
16
wird auch Lexikoneintrag sowohl als Bezeichnung für das, worüber
Sprecher verfügen, als auch für die Beschreibung dessen, worüber Sprecher
verfügen, verwendet – in der Regel ist diese systematische Mehrdeutigkeit
unproblematisch.
Was mit den spezifischen Eigenschaften eines Wortes im Einzelnen gemeint
ist, soll im Folgenden – nachdem ich im dritten Teil der heutigen
Vorlesung einige dieser Eigenschaften schon thematisiert habe –
zusammenfassend an zwei Beispielen verdeutlicht werden. Ich greife dabei
auf die schon in Beispielsatz (1) verwendeten Wörter Fahrrad und kaufen
zurück. Wie jedes Wort weisen auch diese beiden Wörter spezifische
phonologische Eigenschaften auf – sie bestehen eben aus den Lauten, aus
denen sie bestehen –, d.h. Sprecher einer Sprache verbinden mit dem Wort
ein bestimmtes Lautbild – die Ausdrucksseite im Sinne de Saussures. Im
Falle von Fahrrad gehört dazu auch der Laut d am Ende, trotz der
Realisierung eines t in diesem Fall, denn auf diese Weise wird den Formen
Fahrrades, Fahrräder, Fahrrädern Rechnung getragen, in denen jeweils ein
d erscheint. Dass in Fahrrad und Fahrrads jeweils ein t lautlich realisiert
wird, ist – dies habe ich schon erwähnt – nicht spezifisch für Fahrrad,
sondern auf die allgemeine Regel der Auslautverhärtung zurückzuführen.
Was die graphematischen Eigenschaften angeht, so entspricht die
Schreibung des Wortes kaufen voll und ganz den allgemeinen Regeln für
die Schreibung des Deutschen: kaufen hat also keine spezifischen
graphematischen Eigenschaften. Bei Fahrrad ist dies anders, denn – ich
erinnere an die schon genannten Beispiele Bar, Zar, garen, Tor usw. – es
ist eine spezifische Eigenschaft von Fahrrad – wie natürlich auch von
fahren, auf das Fahrrad zurückgeht –, dass nach dem a ein h geschrieben
wird.
Zur Kenntnis der spezifischen morphologischen Eigenschaften von Fahrrad
und kaufen gehört die Kenntnis, wie diese Wörter flektiert werden, d.h. wie
die verschiedenen Formen dieser Wörter gebildet werden – dass z.B. der
Genitiv bei Fahrrad nicht Fahrraden (wie bei Mensch vs. Menschen) und
der Plural nicht ebenfalls Fahrraden (wie bei Menschen) oder Fahrrade
(wie Tag vs. Tage) heißt, und dass das Präteritum bei kaufen kaufte und
nicht kief (wie bei laufen vs. lief) und das Partizip II gekauft und nicht
gekaufen (wie bei gelaufen) heißt. Da es hinsichtlich der Flexion
Regelmäßigkeiten gibt, d.h. da es – bei Substantiven und Verben sowie
anderen Wortarten – jeweils nur bestimmte Typen der Formveränderung
gibt (Flexionsklassen), müssen nicht bei jedem Wort alle möglichen Formen
als spezifische morphologische Eigenschaften gespeichert werden, sondern
ist es ausreichend zu wissen, zu welcher Flexionsklasse ein Wort gehört –
17
auch hier ist natürlich wieder unbewusstes Wissen gemeint: man muss z.B.
nicht bewusst wissen und es sagen können, dass kaufen zur Klasse der
schwachen Verben gehört, das Wissen zeigt sich daran, dass man die
Formen kaufte und gekauft bilden kann. Der Umlaut im Plural von
Fahrrad – Fahrräder – ist ebenfalls keine spezifische Eigenschaft von
Fahrrad, da alle Substantive mit dem Plural auf –er im Plural einen
Umlaut aufweisen – es sei denn, ihr Stammvokal ist nicht umlautfähig,
wie z.B. bei Kind und Kleid. Demgegenüber ist bei einem Substantiv wie
Garten der Umlaut im Plural Gärten eine spezifische morphologische
Eigenschaft dieses Wortes, denn es gibt eine ganze Reihe von Substantiven,
die sich hinsichtlich der Flexion sonst gleich verhalten, aber im Plural
nicht umlauten: Balken, Schatten, Kuchen usw.
Zu den spezifischen syntaktischen Eigenschaften jedes Wortes gehört, dass
es einer bestimmten Wortart angehört, d.h. dass es in bestimmten
syntaktischen Umgebungen auftreten kann, in anderen nicht – ich
erinnere an die Beispiele (16) (a) – (16) (d) – und darüber hinaus noch
weitere syntaktische Eigenschaften aufweist (ich werde in der 5. Vorlesung
darauf zurückkommen): Danach ist Fahrrad ein Substantiv, kaufen ein
Verb. Außerdem weisen viele Wörter – so vor allem die Verben – noch
weitere spezifische syntaktische Eigenschaften auf, nämlich insofern – und
auch dies habe ich schon thematisiert –, dass sie die Besetzung bestimmter
Positionen in einem Satz, in dem sie vorkommen, bestimmen: dass kaufen
z.B. ein Subjekt fordert, das bestimmten Anforderungen genügen muss, und
dass es zwei Objekte – ein Dativ- und ein Akkusativobjekt – zu sich
nimmt, von denen zumindest das Dativobjekt nicht obligatorisch ist.
Und zu den spezifischen semantischen Eigenschaften von Wörtern gehört
natürlich ihre Bedeutung – bzw. ihre Bedeutungen –, teilweise aber auch
noch – insbesondere wieder bei Verben –, dass sie festlegen, wie die von
ihm bestimmten Einheiten – im Falle von kaufen das Subjekt und die
beiden Objekte – semantisch zu interpretieren sind, welche „semantischen
Rollen“ ihnen zukommen: dem Subjekt im Falle von kaufen – anders als
etwa bei besitzen – die Rolle des Handelnden, dem Dativobjekt die Rolle
desjenigen, der etwas erhält, dem Akkusativobjekt die Rolle desjenigen, das
von der Handlung betroffen ist – in unserem Fall, das gekauft wird.
U.U. können Wörter auch noch über andere spezifische Eigenschaften
verfügen: so gehört es etwa zu den Eigenschaften des Wortes Köter, dass man
damit eine negative Bewertung mit zum Ausdruck bringt, oder zu den
Eigenschaften des Wortes kotzen, dass man es nur in bestimmten
Zusammenhängen verwenden kann, ohne mit negativen Konsequenzen
rechnen zu müssen.
18
Die Bestimmung des Lexikons als einer Menge von Wörtern mit den ihnen
jeweils zugeordneten Lexikoneinträgen bedarf allerdings zumindest in
zweierlei Hinsicht noch der Modifikation. Die erste Modifikation hat ihre
Ursache darin, dass nicht nur Wörter, sondern auch komplexe
Konstruktionen Einheiten des Lexikons sein können. Dies gilt etwa für
Fälle wie mit Kind und Kegel, die Flinte ins Korn werfen, Abschied
nehmen, Stein des Anstoßes, Da liegt der Hund begraben usw. Gemeinsam
ist diesen Ausdrücken, dass sie aus mehr als einem Wort bestehen und
„feste“ Verbindungen darstellen, deren Bedeutung sich nicht wie bei den
meisten anderen komplexen Konstruktionen systematisch aus den
Bedeutungen der Teile ergibt, sondern als Ganze mit dem komplexen
Ausdruck verbunden ist. „Feste“ Verbindung meint, dass diese
Konstruktionen nicht syntaktisch erweiterungsfähig sind – dies zeigen die
Beispiele (19) – und auch kein Austauschen bestimmter Teile zulassen
(bei gleicher Bedeutung) – dies erkennt man an (20) –, was für „freie“
Verbindungen selbstverständlich ist – (21) und (22):
(19) (a)
* mit kleinem Kind und Kegel
(b)
* die Flinte, die dir gehört, ins Korn werfen
(c)
* die Flinte werfen
(20) (a)
* mit Mädchen und Kegel
(b)
* das Gewehr ins Korn werfen
(c)
* Da liegt die Katze begraben.
(21) (a)
mit dem Mantel und dem Schirm
(b)
mit dem warmen Mantel und dem großen Schirm
(c)
den Ball in den Garten werfen
(d)
den Ball, der dem Mädchen gehört, in den
(e)
den Ball werfen
Garten werfen
(22) (a)
(b)
mit dem Mantel und dem Hut
den Tischtennisschläger in den Garten werfen
Da solche festen Verbindungen aus mindestens zwei Wörtern sowohl formal
als auch semantisch eine Ganzheit darstellen – man nennt solche
Konstruktionen Phraseologismen (Singular: Phraseologismus), teilweise
auch Idiome oder idiomatische Verbindungen –, ist es sinnvoll,
anzunehmen, dass sie auch Einheiten des Lexikons darstellen, dass sie als
Ganzes im Lexikon gespeichert sind, d.h. dass sich das lexikalische Wissen
der Sprecher einer Sprache auch auf die Phraseologismen bezieht. Die
Abgrenzung zwischen freien Verbindungen und Phraseologismen ist aber
19
generell – so gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Typen von
Phraseologismen – wie oft auch im Einzelfall nicht ganz einfach zu
ziehen. Um die Gemeinsamkeit von Wörtern und Phraseologismen als
Einheiten des Lexikons auch terminologisch zum Ausdruck bringen zu
können, fasst man beide oft unter dem Begriff lexikalische Einheit,
teilweise auch Lexikoneinheit oder Lexem zusammen.
Die Vorstellung vom Lexikon als einer Menge von Wörtern mit den ihnen
jeweils zugeordneten Lexikoneinträgen ist aber auch insofern
unzureichend, als das Lexikon nicht einfach als ungeordnete Menge
betrachtet werden darf, da es intern auf vielfältige Weise – und bezogen
auf unterschiedliche Eigenschaften von Wörtern, insbesondere aber auf
semantische – strukturiert ist. Dies zeigt sich schon an Gegensatzpaaren
wie alt und jung, dick und dünn, kalt und warm, tot und lebendig, aber
auch – und hier noch deutlicher – an sog. Wortfeldern, worunter man
eine Menge von bedeutungsverwandten Wörtern der gleichen Wortart
versteht, die in bestimmten semantischen Beziehungen zueinander stehen
– z.B. das Wortfeld der Verwandtschaftsbeziehungen, zu dem u.a. Vater,
Mutter, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester, Onkel, Tante, Nichte, Neffe
gehören, oder das Wortfeld der Möbel, zu dem u.a. Sitzmöbel, Polstermöbel,
Schlafzimmermöbel, Schrank, Küchenschrank, Kleiderschrank, Sessel,
Stuhl, Sofa, Bett usw. gehören. Gerade im zweiten Fall kann man deutlich
sehen, dass in einem Wortfeld vielfältige Beziehungen der Über-, Unterund Nebenordnung bestehen können. Eine andere Struktur zeigt sich in
Wortfamilien, d.h. Gruppen von Wörtern, die auf das gleiche Grundwort
bezogen sind, wie z.B. im Fall der Wortfamilie ‚fahren’ – fahren,
wegfahren, befahren, auffahren, Fahrt, Ausfahrt, erfahren, Fahrer, Fähre,
Fuhre usw. – oder aber der Wortfamilie ‚singen’ – singen, vorsingen,
besingen, Gesang, Singerei, Singsang, Sänger usw. Während Strukturen wie
die Wortfelder durch paradigmatische Beziehungen konstituiert sind, sind
andere Strukturierungen im Lexikon in syntagmatischen Beziehungen
begründet – als Beispiel seien die sog. Kollokationen genannt, also die
Beziehungen, die – um die Beispiele aus der 2. Vorlesung wieder
aufzugreifen – zwischen blond und Haare bzw. anderen menschlichen
Personenbezeichnungen oder zwischen blöken und Schaf oder Rind
bestehen.
Nach den gerade angestellten Überlegungen ist das Lexikon also eine
strukturierte Menge von lexikalischen Einheiten, denen jeweils ein
Lexikoneintrag zugeordnet ist. Eine weitere wichtige Eigenschaft des
Lexikons, die auch noch weitere Auswirkungen auf den internen Aufbau
20
des Lexikons hat, ist seine Erweiterbarkeit. Der Erweiterung des Lexikons
dienen vor allem Neubildungen wie z.B. bratbar, Schwermatrose,
Schwampel oder gleich drei Wörter in dem folgenden Auszug aus der ZEIT:
(23)
Kinder in der Werbung als Nässetestpersonen,
Überraschungsei-Verlanger und Spinat-mit-SahneVeredeler
Außer durch solche Neubildungen, die man als okkasionelle Bildungen,
Gelegenheitsbildungen oder ad-hoc-Bildungen bezeichnet, kann das
Lexikon einer Sprache auch durch Entlehnungen aus anderen Sprachen –
z.B. beamen, leasen, chatten, Download –, vereinzelt auch durch
Wortneuschöpfungen erweitert werden.
Gründe für Neubildungen sind in erster Linie Ausdrucksnotwendigkeiten
– einerseits die objektive Notwendigkeit zur Benennung neuer Gegenstände
und Sachverhalte wie z.B. bei Kabelfernsehen, Ozonloch, Riesterrente,
simsen, andererseits der subjektive Wunsch, über bestimmte Wörter zu
verfügen, mit denen man unerwünschte Wertungen zu vermeiden hofft –
wie z.B. bei Seniorenresidenz statt Altersheim, Raumpflegerin statt
Putzfrau, Auszubildender statt Lehrling, Minuswachstum statt Rückgang
usw. – oder auf Wörter zurückgreifen zu können, mit denen man
gewünschte Wertungen oder bestimmte Einstellungen zum Ausdruck
bringen kann – Pultstar statt Dirigent, Literaturpapst usw.
In sehr vielen Fällen führen solche Neubildungen aber nicht zu einer
Erweiterung des Lexikons, d.h. sie werden nicht zu usuellen Wörtern, die
ins Lexikon einer Sprache eingehen, lexikalisiert.
Unter usuellen Wörtern versteht man solche Wörter, die in einer Sprache
gebräuchlich, im Sprachgebrauch etabliert sind, also Teil des
lexikalischen Wissens der Sprecher einer Sprache sind; unter
Lexikalisierung versteht man den Prozess des Usuell-Werdens okkasioneller
Bildungen, mit dem Ergebnis der Aufnahme in das Lexikon einer Sprache.
Vor diesem Hintergrund ist es klar, dass die Grenze zwischen usuellen und
okkasionellen Wörtern fließend ist, wie man auch schon an Beispielen wie
Überraschungsei-Verlanger einerseits und Schwampel andererseits sehen
kann: zwar wird man bei Schwampel nicht schon von einem usuellen
Wort sprechen, einer lexikalischen Einheit, das Wort ist aber sicherlich
schon eher auf dem Weg dazu als das wohl nur einmal verwendete
Überraschungsei-Verlanger.
21
Dass die meisten Neubildungen nicht lexikalisiert werden, nicht ins
Lexikon einer Sprache gelangen, nicht Teil des lexikalischen Wissens der
Sprecher dieser Sprache werden, hat verschiedene Gründe: Der wichtigste
Grund ist zweifellos der, dass nur solche okkasionellen Bildungen eine
Chance haben, lexikalisiert zu werden, die oft in unterschiedlichen
Äußerungszusammenhängen verwendet werden – und dies wiederum ist
davon abhängig, ob ein dauerhafter Bedarf für diese Wörter besteht. Ein
weiterer Grund, der die Lexikalisierung einer okkasionellen Bildung
verhindern kann, ist die starke Kontextgebundenheit einer Bildung – man
denke etwa an das Wort Schwermatrose, das von Westerwelle in Bezug auf
Stoiber verwendet wurde, nachdem er von diesem als Leichtmatrose
bezeichnet worden war. Ohne die Kenntnis dieses Kontexts ist die Bildung
im Grunde nicht angemessen zu verstehen.
Das Phänomen der okkasionellen Bildungen wirft nun – wie schon
angedeutet – jedoch ein Problem auf. Wenn diese Bildungen nicht Teil des
Lexikons einer Sprache, in unserem Fall des Deutschen, sind, wenn sie
nicht zum lexikalischen Wissen der Sprecher dieser Sprache gehören –
und dies können sie schon deshalb nicht, weil sie vorher gar nicht
verwendet wurden, also den Sprechern gar nicht bekannt waren: wie ist es
dann möglich, sie zu bilden und zu verstehen? Das Problem ist zu lösen,
wenn man den Begriff des Lexikons und des lexikalischen Wissens
erweitert und nicht nur als strukturierte Menge, als Inventar von
lexikalischen Einheiten betrachtet, sondern auch die Mittel und Regeln
zur Bildung neuer Wörter – also Wortbildungsregeln – als zum Lexikon
gehörig ansieht. In dieser Sicht bezieht sich das lexikalische Wissen nicht
nur auf die usuellen Wörter einer Sprache, sondern auch auf die
potentiellen, d.h. nach den Wortbildungsregeln dieser Sprache bildbaren,
aber noch nicht existenten Wörter. Nach dieser Auffassung besteht das
Lexikon aus dem bisher als Lexikon bezeichneten Inventar von
lexikalischen Einheiten mit ihren jeweils zugeordneten Lexikoneinträgen
– dem Lexikon i.e.S., dem Wortschatz – und den Regeln für die Bildung
von Wörtern – und damit auch von neuen Wörtern –, den
Wortbildungsregeln.
Da die Wortbildungsregeln aber – wie die grammatischen Regeln –
allgemeine Regeln sind, ist es in der Forschung strittig, ob die Wortbildung
Teil des Lexikons oder Teil der Grammatik ist. Die Tatsache, dass die
Wortbildungsregeln zur Bildung neuer Wörter dienen, also sozusagen die
22
Menge der potentiellen Wörter einer Sprache bestimmen, spricht m.E.
jedoch für die Zuordnung der Wortbildungsregeln zum Lexikon.
Ein weiteres Problem stellt diese Zuordnung für die
Gegenstandsbestimmung der Lexikologie dar – ich habe diesen Punkt
schon angesprochen: Wenn man die Lexikologie als die linguistische
Teildisziplin versteht, die sich mit dem Lexikon beschäftigt, würde auch
die Wortbildung bzw. Wortbildungslehre zur Lexikologie gehören. In der
Regel wird sie jedoch als eigene Teildisziplin angesehen und die
Lexikologie enger verstanden – als nur auf das Lexikon i.e.S, das Inventar
lexikalischer Einheiten bezogen; teilweise wird die Lexikologie noch enger
gefasst, als die Teildisziplin, die sich mit den semantischen Aspekten des
Lexikons i.e.S. beschäftigt. Und auch die Phraseologie, deren Gegenstand die
Phraseologismen sind, wird oft als eigenständige Teildisziplin, nicht als
Teil der Lexikologie verstanden.
3.6 Zusammenfassung
Das System einer Sprache kann als Kenntnissystem aufgefasst werden, über
das die Sprecher einer Sprache verfügen, um Äußerungen in dieser Sprache
bilden und verstehen zu können, um sich sprachlich verhalten,
sprachlich handeln, sprachlich kommunizieren zu können. Dieses
Kenntnissystem besteht – so die in dieser Vorlesung entwickelte Annahme
– aus zwei Teilkomponenten, der Grammatik und dem Lexikon, die
ihrerseits wieder aus verschiedenen Teilsystemen bestehen. Dabei beziehen
sich beide Teilkomponenten auf alle Ebenen des Sprachsystems – die
semantische, die syntaktische, die morphologische, die phonologische und
die graphematische Ebene. Die Teilsysteme der Grammatik beziehen sich
jeweils auf eine dieser Ebenen, d.h. die Grammatik umfasst das
semantische, das syntaktische, das morphologische, das phonologische und
das graphematische System. Das Lexikon besteht einerseits aus einer
strukturierten Menge, einem Inventar von lexikalischen Einheiten, denen
jeweils ein Lexikoneintrag zugeordnet ist, der die für die jeweilige
lexikalische Einheit spezifischen semantischen, syntaktischen,
morphologischen, phonologischen und graphematischen Eigenschaften
enthält – dem Wortschatz – sowie andererseits aus einem System von
Wortbildungsregeln, das die Menge der in einer Sprache bildbaren Wörter
– der usuellen wie der potentiellen Wörter – bestimmt.
Diese Teilsysteme sind aber nicht als isolierte, voneinander völlig
unabhängige Systeme zu verstehen, sondern sie interagieren – wie an einer
Reihe von Beispielen gezeigt – auf unterschiedliche Weise miteinander,
23
d.h. die Bildung und das Verstehen sprachlicher Äußerungen ergeben sich
in einem komplexen Zusammenspiel der verschiedenen Teilsysteme. Ein
solches Konzept, nach dem ein System aus verschiedenen zwar in sich
geschlossenen, relativ selbstständigen, aber doch miteinander
interagierenden Teilsystemen besteht, nennt man – in Anlehnung an die
Begrifflichkeit der Computerwissenschaft, in der man solche Teilsysteme als
Module bezeichnet – ein modulares Konzept.
Die in dieser Vorlesung skizzierte, in der Sprachwissenschaft sehr weit
verbreitete Auffassung, nach der das Sprachsystem, das sprachliche Wissen
der Sprecher einer Sprache modular strukturiert ist, liegt auch den
weiteren Ausführungen in dieser Vorlesung zugrunde, in der die
wichtigsten Grundbegriffe und Gegenstände der einzelnen Ebenen des
Sprachsystems – sowohl in Bezug auf die Grammatik als auch in Bezug
auf das Lexikon – behandelt werden sollen: die Semantik, die Syntax, die
Morphologie – sowohl die der Grammatik zugehörige Flexionsmorphologie
als auch die dem Lexikon zugehörige Wortbildungsmorphologie, kurz:
Wortbildung –, die Phonologie und die Graphematik. In der 10. Vorlesung
– mit dem Titel „Das Sprachsystem: Grammatik und Lexikon II“ – sollen
die Ausführungen in der heutigen Vorlesung vor dem Hintergrund der in
den nächsten Vorlesungen thematisierten Gegenstände und Begriffe dann
noch weiter an Beispielen konkretisiert werden. In diesem Zusammenhang
sollen dann auch wichtige Beschreibungen der Grammatik wie des
Lexikons des Deutschen, also Grammatiken und Wörterbücher des
Deutschen, vorgestellt sowie einige wichtige Fragen im Zusammenhang mit
Grammatiken und Wörterbüchern erörtert werden.
Literaturhinweise:
Eine kurze Skizze des modularen Konzepts findet sich in
Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1999, S. 31-41. Sowohl der modulare als
auch ein alternativer Ansatz werden in Schwarz 1992, S. 44-51,
vorgestellt.
zu. 3.3 und 3.4:
Das Verhältnis von Grammatik und Lexikon behandelt ausführlicher
Helbig 1998; knapp umrissen wird es in Schippan 1992, S. 6f. sowie in
Fleischer/Helbig/Lerchner, Hgg., 2001, S. 218-220. Dort wie auch in
24
Helbig 1992, S. 135f., wird auch die Mehrdeutigkeit von Grammatik
thematisiert. Zu verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit dem
Grammatikbegriff sei auch auf den Artikel „Grammatik“ in der 20.
Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie verwiesen.
zu 3.5:
Die Mehrdeutigkeit von Lexikon, die verschiedenen Eigenschaften des
Lexikons sowie das Verhältnis von Wortbildung und Lexikon werden in
Meibauer u.a. 2002, S. 15f., 18-21 und 40f. behandelt; die Erweiterung
des Lexikons (Wortschatzes) ist auch Thema in der Duden-Grammatik
2005, S. 646-649. Grundbegriffe der Phraseologie sowie Grundtypen von
Phraseologismen werden in Fleischer/Helbig/Lerchner, Hgg., 2001, S. 108117, erläutert.
Weitere und genauere Informationen zur Lexikologie finden sich in
Schippan 1992 (über das Inhaltsverzeichnis sowie das Sachregister zu
erschließen).
Brockhaus – Die Enzyklopädie. In 24 Bänden, Leipzig/Mannheim 20.
Aufl. 1997.
Duden. Die Grammatik, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 7. Aufl. 2005.
Fleischer, Wolfgang/Helbig, Gerhard/Lerchner, Gotthard, Hgg., Kleine
Enzyklopädie Deutsche Sprache, Frankfurt/Main 2001.
Grewendorf, Günther/Hamm, Fritz/Sternefeld, Wolfgang, Sprachliches
Wissen. Eine Einführung in moderne Theorien der grammatischen
Beschreibung, Frankfurt/M. 11. Aufl. 1999.
Helbig, Gerhard, Grammatiken und ihre Benutzer. In: Ágel, Vilmos/Hessky,
Regina, Hgg., Offene Fragen – offene Antworten in der Sprachgermanistik,
Tübingen 1992, S. 135-150.
Helbig, Gerhard, Zum Verhältnis von Grammatik und Lexikon. In: Barz,
Irmhild/Öhlschläger, Günther, Hgg., Zwischen Grammatik und Lexikon,
Tübingen 1998, S. 1-10.
Meibauer, Jörg u.a., Einführung in die germanistische Linguistik,
Stuttgart/Weimar 2002.
Schippan, Thea, Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache, Tübingen
1992.
Schwarz, Monika, Einführung in die Kognitive Linguistik, Tübingen
1992.
25
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