BEAUTY

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LIBER BETH (DE TIPH’ERETH)
BEAUTY
(the next incarnation)
‫ירני‬
PART ONE: ISIS
(BEAUTY AND THE BEAST)
„Nur wenn es den Bereich seiner Neigungen und Ausfälle ausdehnt und wenn es alles der Wollust
aufopfert, kann jenes unglückliche Individuum, das unter dem Namen Mensch bekannt ist und das
wider seinen Willen in dieses traurige Universum geworfen wurde, einige Rosen über die Dornen
des Lebens säen.“
(Marquis Donatien Alphonse François de Sade, „Die Philosophie im Boudoir“)
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Prelude: In Principio
In principio creavit Deus caelum et terram.
Nun lernen Sie mich also kennen. Ich möchte, daß Sie
wissen, wer ich bin, wie ich denke und fühle; ich
möchte, daß Sie mich verstehen.
Glauben Sie nicht, Sie seien mir gegenüber damit im
Vorteil. Was ich Ihnen über mich erzähle, weiß ich von
Ihnen genauso; ich schreibe dies nicht an ein anonymes
Publikum, sondern an Sie. Ich kenne Sie. Lernen Sie
mich also kennen.
Mein Name ist Losse. Betonung bitte auf dem „e“. Für
den Fall, daß Ihnen dieser Name unbekannt ist, sollten
Sie noch wissen: Ich bin ein Mädchen. – Zu dem
Zeitpunkt, an dem meine Erzählung beginnt, liegt mein
vierzehnter Geburtstag genau einen Monat und
neunzehn Tage in der Vergangenheit. Ich bin ungefähr
einen Meter und siebzig Zentimeter groß, habe wäßrigblaue Augen und trockenes, hellblondes Haar. Manche
sagen, es sei weiß.
Laut meinem Arzt bin ich Teilalbino und magersüchtig.
Das heißt, ich bin schrecklich dünn und leichenblaß,
nur wenn ich mich aufrege oder zu schnell bewege,
bekomme ich häßliche rote Flecken auf der Haut.
Sonne vertrage ich kaum.
Machen Sie sich keine Illusionen: Ich bin häßlich.
Würde ich einen Roman schreiben, wäre ich
wunderschön, aber so bin ich, was ich bin. Ich esse
gerne, nicht, weil ich Hunger habe, sondern weil es mir
schmeckt. Hunger ist kein Problem für mich; er ist nur
eine interessante Form des Schmerzes. Trotzdem
nehme ich nicht zu. Mein Bruder hat einmal gesagt, ich
sei vielleicht schizophren, weil ich früher immer
abnehmen wollte und jetzt nicht mehr zunehmen kann.
OC sagt, er weiß nicht einmal, was „schizophren“
bedeutet. Aber die beiden streiten sich ohnehin immer.
“We are come unto a palace of which every stone is a
separate jewel, and is set with millions of moons.
“And this palace is nothing but the body of a woman,
proud and delicate, and beyond imagination fair. She is
like a child of twelve years old. She has very deep
eyelids, and long lashes. Her eyes are closed, or nearly
closed. It is impossible to say anything about her. She
is naked; her whole body is covered with fine gold
hairs, that are the electric flames which are the spears
of mighty and terrible Angels whose breastplates are
the scales of her skin. And the hair of her head, that
flows down to her feet, is the very light of God himself.
Of all the glories beheld by the Seer in the Aethyrs,
there is not one which is worthy to be compared with
her littlest finger-nail. For although he may not partake
of the Aethyr, without the ceremonial preparations,
even the beholding of this Aethyr from afar is like the
partaking of all the former Aethyrs.
“The Seer is lost in wonder, which is Peace.
“And the ring of the horizon above her is a company of
glorious Archangels with joined hands, that stand and
sing: This is the daughter of BABALON the Beautiful,
that she hath borne unto the Father of All. And unto all
hath she borne her.
“This is the Daughter of the King. This is the Virgin of
Eternity. This is she that the Holy One hath wrested
from the Giant Time, and the prize of them that have
overcome Space. This is she that is set upon the Throne
of Understanding. Holy, Holy, Holy is her name, not to
1
Wie gesagt, mein ganzer Körper ist sicher keine Zierde.
An meinen Ellenbogen spannt sich die blasse Haut über
die Knochen wie an den Flügeln eines ausgelassenen
Hühnchens; überall schimmern die Knochen durch;
mein Haaransatz ist lächerlich weit oben auf der Stirn,
so daß manche sagen, ich bekäme schon eine Glatze,
weiße Haare hätte ich ja schon; meine Nase beschreibt
auf halber Höhe einen hexenartigen Knick nach unten
zu; ich habe so gut wie keine Brüste, obwohl ich seit
beinahe einem halben Jahr die Regel habe; an meinen
Beinen und Händen sprießen kleine, weiße, drahtige
Härchen, die mich aussehen lassen wie ein gerupftes
Huhn; und die Hälfte meiner rechten Augenbraue ist
von einer Narbe versiegelt, die ich mir mit neun Jahren
bei einem Fahrradunfall zugezogen habe.
Verehrter Leser, Sie werden wahrlich nicht in Gefahr
laufen, sich in mich zu verlieben. Wenn ich Ihnen am
Ende meiner Erzählung auch nur ein minimales
Verständnis für mein Wesen abgerungen habe, so
werde ich schon zufrieden sein; zumindest aber werde
ich vor Ihrer Sympathie sicher sein. Bemitleiden Sie
mich nicht; meine eigenen Tränen und die meiner
Lieben sind mir genug.
Ich wage Ihnen all das zu sagen, lieber Leser, weil ich
mich vor Ihnen sicher fühle: Ich kenne Sie. Und Sie
sind mindestens genauso häßlich wie ich.
be spoken among men. For Kore they have called her,
and Malkah, and Betulah, and Persephone.
“And the poets have feigned songs about her, and the
prophets have spoken vain things, and the young men
have dreamed vain dreams: but this is she, that
immaculate, the name of whose name may not be
spoken. Thought cannot pierce the glory that defendeth
her, for thought is smitten dead before her presence.
Memory is blank, and in the most ancient books of
Magick are neither words to conjure her, nor adorations
to praise her. Will bends like a reed in the tempests that
sweep the borders of her kingdom, and imagination
cannot figure so much as one petal of the lilies whereon
she standeth in the lake of crystal, in the sea of glass.
“This is she that hath bedecked her hair with seven
stars, the seven breaths of God that move and thrill its
excellence. And she hath tired her hair with seven
combs, whereupon are written the seven secret names
of God that are not known even of the Angels, or of the
Archangels, or of the Leader of the armies of the Lord.
“Holy, Holy, Holy art thou, and blessed be thy name
for ever, unto whom the Aeons are but the pulsings of
thy blood.”
(Aleister Crowley, The Book of Thoth)
Bereshith bara elohim eth ha-shamajim we eth ha’ares.
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First Movement: Dance
wherein is told of the primeval state of confusion and of the scienz or drawing therein, which is to
set things in motion
ES IST NICHT GESTATTET SICH AUF DEN BODEN ZU LEGEN
Ich bin jetzt vierzehn, und ich tanze.
Früher wollte ich fliegen können; heute danke ich der
Schwerkraft für den Widerstand, den sie mir
entgegensetzt, denn ohne ihn gäbe es keinen Tanz.
Genauso wie man, wenn man viel Energie im Körper
hat, nicht wirklich gehen kann, solange man keinen
Gegenwind hat. – Ich habe oft viel Energie im Körper.
Ich sammle Energie, um meinen Körper zu
beherrschen. Ich glaube, wirkliches Leben besteht aus
einer kontrollierten Entladung von Energie, aber so,
daß immer noch etwas zurückbleibt, um einen weiter
voranzutreiben. Ich mag es, wenn mir der Wind ins
Gesicht bläst und ich mit angespannten Muskeln und
glühender Stirn dagegen anrenne. Der Widerstand gibt
mir die Kraft, weiterzumachen.
„... dürfe in Europa aber die Kinder nur dem Begriffe
nach gelten lassen, nämlich als amerikanisches
Zuckerwerk, höchstens gerade neunjährig, danach wie
vaterlose Väter sich selber?“
(Felix Cunctor, Das Leere Reich)
“It would be well indeed for our churches if some of
the clergy could take a lesson in enunciation from this
little child; and better still, for „our noble selves,“ if we
would lay to heart some things that she could teach us,
and would learn by her example to realise, rather more
than we do, the spirit of a maxim I once came across in
an old book, „Whatsoever thy hand findeth to do, do it
with thy might.”
(Lewis Carroll, ‘Alice’ on the Stage)
10. August
Ich stehe in einer Talmulde, also am Fuße eines Berges, in der Talmitte ein Brunnen, alles eher
schemenhaft. Plötzlich kommen von überall Kinder, ich weiß nicht wie, geradezu eine Lawine von Kindern von
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dem Berghang links neben mir. Die Kinder: häßlich, gnomartig, eines mit dem Gesicht von Vanima. Ich kann
nicht laufen. Sie überrollen mich, sie rollen tatsächlich, ich bin in einem Becken voll mit Kinderkugeln.
„Wie die meisten Tänzer“, sagte Forcalimo, „gebrauchst du beim Improvisieren hauptsächlich deine Arme und
Beine. – Woraus besteht Tanz?“
Losse war auf Unterbrechungen vorbereitet. „Aus – sprachlosem Gefühl? Kontrollierter Entladung?“ Sie
kicherte. „Freigelassenen Körperteilen?“
„Am ehesten letzteres. Zumindest bei dir. Arme und Beine: in dieser Hinsicht bist du schon weit fortgeschritten.
Aber das weißt du.“ Er hielt für einen Moment inne und begann dann in affektierter Künstlerpose durch den
Proberaum zu stelzen. „Du bewegst die Hände wie eine Flamencotänzerin, die Arme wie -:- eine Ente.“ (Sie
krümmte sich innerlich wie unter einem Schlag.) „Deine Beinarbeit wäre zum Fechten geeignet. Alles in allem
gar nicht schlecht. Zumindest weitaus besser als noch vor einem Jahr.“
„Das hoffe ich doch“, wagte Losse einzuwerfen, doch Forcalimo schnitt ihr mit einer raschen Geste das Wort ab:
Er war noch nicht fertig. „Du fuchtelst und stolzierst. Du springst und umklammerst, läßt los und fängst ein.“ –
Während er sprach, parodierte der Tanzlehrer die typischen Bewegungsmuster seiner Schülerin; endlich blieb er
stehen und blickte scheinbar gedankenverloren aus dem Fenster hinaus. „Losse -:- Wie würdest du tanzen, wenn
du keine Arme und Beine hättest – ?“
Meine ersten Ballettstunden hatte ich in einem
schäbigen alten Probesaal, blaugrauer Plastikfußboden,
abgegriffene Haltestangen an den Wänden, ein Spiegel
mit einem riesigen Riß an der Vorderwand. Mein
Lehrer – es war reiner Gruppenunterricht – war ein
sogenannter Künstler, dem jedoch schon längst alle
Illusionen über einen höheren Sinn in seiner Tätigkeit
verloren gegangen waren; beinahe hätte er meine Lust
am Tanzen im Keim erstickt. – Nach drei Semestern
beklagte ich mich bei meiner Mutter, und sie
engagierte einen Privatlehrer für mich, der jedoch nur
wenige Wochen später verhaftet wurde; wieso, weiß
ich bis heute nicht. Dann starb meine Mutter, und für
einige Monate wollte ich nicht mehr tanzen – bis mein
Vater zufällig auf Forcalimo stieß und mich in seinen
Unterricht schickte.
Forcalimo W. Hagen ist 35 Jahre alt und ein
ausgezeichneter Tänzer und Schauspieler. Ich habe
alles, was ich über den Tanz weiß, von ihm gelernt,
und noch einiges mehr; manchmal ist er für mich direkt
wie ein zweiter Vater.
Es ist schwierig, ihn zu beschreiben; er sieht eigentlich
gar nicht so außergewöhnlich aus, außer vielleicht, daß
er eine beginnende Glatze hat, die ihn irgendwie eckig
aussehen läßt – aber dieser Eindruck verschwindet,
sobald er sich bewegt. Ich habe mir schon oft gedacht,
daß ich nie seine elegante Selbstverständlichkeit beim
Tanzen erreichen werde; aber immer, wenn mir solche
Zweifel kommen, versichert er mir, daß ich irgendwann einmal viel besser sein werde als er „alter Mann“.
Ich weiß nicht, irgendwie gibt er mir immer wieder das
Gefühl, daß ich etwas Besonderes bin; mit ihm kann
ich über so ziemlich alles reden, und er weiß zu jedem
noch so komplizierten Problem eine Lösung. Wirklich,
er ist so klug, daß es einem schon fast unheimlich
werden könnte; aber dazu ist er wieder viel zu nett.
“O corpo de Nijinski, enquanto movimento,
foi tornado estático pela fotografia, vindo a reencontrar
sua dança no espaço específico do desenho: o
movimento das linhas, das sombras, da luz, dos planos.
Dançar e desenhar interagem. Nos desenhos, o
movimento de Nijinski é o movimento do desenho.
Mesmo porque o movimento de Nijinski não se
realizava em ausência de música, e nos desenhos há
como que uma abstração do som, transfigurado nos
próprios elementos do desenho. Assim, as diluições,
interações, superposições de cenários, figurinos,
sombras e luzes recuperam, enquanto desenho, o
espaço da dança de Nijinski. Os desenhos desmentem
as fotografias. Ao se conformarem em livro, os dez
desenhos denunciam uma unidade não apenas externa,
mas fundamentalmente interna: as dez imagens,
multifacetando-se
em
imagens
inumeráveis,
esboçariam, em conjunção prismática, uma imagem do
Desenho.”
(Júlio Castañon Guimarães, “Nijinski: imagens”)
„Ich will schreiben schreiben. Ich will sagen sagen.
Ich will sagen sagen, ich will schreiben schreiben.
Warum soll man nicht in Reimen sprechen, wenn man
in Reimen sprechen kann. Ich bin Reim Reim Rifma Rif.
Ich will Rifma Rif Narif. Du bist Rif, ich bin Narif. Wir
sind Rif du Rif wir Rif. Du bist Gott und ich bin er. Wir
sind wir und ihr seid sie.
Ich will sagen sagen, daß du schlafen willst und
schlafen.
Ich will schreiben und will schlafen.
Du willst schlafen nicht und schreiben.
Ich will schreiben schreiben schreiben.
Du du schreibst und schreibst und schreibst.“
(Waslaw Nijinski)
„So“, sagte Forcalimo und zog den letzten Knoten an Losses Beinfesseln an. „Ich nehme an, du bist in deiner
gewohnten Beweglichkeit jetzt ziemlich eingeschränkt.“
„Äh“, sagte Losse, der die ganze Situation noch immer ein wenig unangenehm war. „Äh, schon. – Und wie soll
ich jetzt tanzen?“
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„Tja“, sagte Forcalimo, „das ist der Trick.“ Für einen Moment stand er nur still da, in der Mitte des Raumes, und
betrachtete sie, dann stellte er sich in der gleichen Körperhaltung ihr gegenüber. „Du kannst deine Beine nicht
unabhängig voneinander bewegen; die traditionelle Beinarbeit ist also nutzlos. Du bist sozusagen auf die
Unterpartie einer Meerjungfrau reduziert.“ Er hüpfte ein bißchen mit geschlossenen Beinen herum. „Peinlich,
was? – Und deine Arme sind fix hinter deinem Rücken. Die denkbar unpraktischste Situation, falls dich jemand
angreifen sollte: Du kannst dich weder wehren noch weglaufen. – Glücklicherweise ist das ja nur eine Übung.“
„Nur eine Übung“, wiederholte sie, um es sich zu merken.
Forcalimo ging zu seiner Tasche und kramte einige Zeit darin; dann zog er einen laminierten Druck von da
Vincis „De Divina Proporzione“ heraus: „In seinem Urzustand, als Embryo, ist der Mensch einer Spirale am
ähnlichsten, wie ein eingerolltes Farnblatt oder meinetwegen die Milchstraße. – Voll entwickelt, wie ihn da
Vinci hier darstellt, ist er geometrisch am besten als ein Fünfstern zu beschreiben, wenn auch der Kopf in dieser
Proportion ein wenig rudimentär erscheint. Aber darum geht’s ja eigentlich beim Tanzen: Weniger Kopf, mehr
Körper.“ Mit einem Filzstift skizzierte er Spirale und Fünfeck auf den Kunststoff; wie ein Professor an der
Universität, amüsierte sich Losse im Stillen, doch ihre ungewohnte Haltung sperrte jedes Lächeln ein.
„Du bist jetzt weder Embryo noch Pentagramm“, fuhr Forcalimo fort und drehte das Blatt herum. „Du bist ein
vertikaler Strich. Jede mehr als eindimensionale Ausdehnung kannst du hiermit vergessen.“ Er zeichnete eine
Linie und ließ das Blatt dann fallen. „Du hast fünfzehn Minuten Zeit, dir zu überlegen, was man mit einer Linie
alles anstellen kann. Wenn ich zurückkomme, zeigst du mir die ersten Permutationen; den Rest erarbeiten wir
zusammen.“ Er nahm seine Tasche und ging zur Tür. „Viel Spaß auch.“
„Viel Spaß“, wiederholte Losse, um es sich zu merken.
coito ergo sum:
Nein, sagte der Doktor, ich müsse aufhören: es könne
so nicht weitergehen, meine Knochen seien zu schwach
dafür.
(Altes Weib, meckerte Vanima, schon schleicht der
Verfall heran...)
Was brauch ich meine Zehen? Tanzen will ich, als
Strich, Spirale, Fünfstern; ein bißchen Schmerz kann
nicht schaden. Energie aus Schmerzen, das ist meine
Lösung. Seit ich diese Lektion gemerkt habe, fürchte
ich mich nicht mehr vor Nadeln, vor Verletzungen, ja
sogar Kopfschmerzen nehme ich mit einer gewissen
dankbaren Faszination entgegen; wenn man sich darauf
einläßt, kann einen der erlebte Schmerz in eine Trance
der Anspannung versetzen, in einen Zustand
brodelnder, schwarzer Energie, die, wenn sie ihren
Höhepunkt erreicht, in ein tobendes, wütendes
Flammenmeer
zerspringt,
unaufhaltsam
und
wunderbar. ( ... and through my head resounds a highpitched shriek: / this be a lesson for infidels who / in
red howling madness consolation seek ... ) –
Doch dann, wenn alle Energie verbraucht ist – und
nicht immer gelingt es mir, etwas davon festzuhalten –
sehe ich wieder mit Abscheu auf das Vehikel meiner
Lust, und was ich vorher noch in geistigem Wahn
vergötterte, erscheint mir nun als leere, wertlose Hülle,
als krankes Spiegelbild des Wesens, das sein könnte. (I
seed they give me sumthing and I was sreched on a
allter. / I sore reel men in hoods. There big red things.)
Und wieder weiß ich später, was ich werden kann; und
wieder fehlt mir alle Disziplin. Mal denke ich, mein
Wille ist zu schwach, das andre Mal beschuldige ich
meinen Körper, der, krank geboren, niemals eins mit
meinen Wünschen werden kann, ja der nun gar den
Freuden meines Geistes jede Unterstützung zu
verweigern scheint: Der Wunsch allein, unerreichbar,
ist eine größere Folter als jedes Höhenfeuer. –
(I feel the pain, and I use it. I know that I will succeed
in the end, as I turn my eyes away from the inevitable
cogito ergo sum:
„Osteoporose, Knochenerkrankung, die durch den
Schwund von Knochengewebe gekennzeichnet ist.
Durch den Abbau werden die Knochen poröser und
brechen leichter als gesunde Knochen. Knochenbrüche
(Frakturen) des Handgelenks, der Wirbelsäule und der
Hüfte sind häufig die Folge, es kann jedoch auch das
ganze Skelett betroffen sein. Weitere Symptome sind
Schmerzen, die durch Fehlbelastungen der Muskulatur
und der Bänder hervorgerufen werden. [...] Sekundäre
Osteoporosen werden vor allem als Begleiterscheinungen anderer Krankheiten mit Störungen des
Stoffwechsels und Hormonhaushaltes hervorgerufen,
beispielsweise durch Fehlbelastung von Knochen
infolge von Lähmungen oder anderen Einwirkungen,
z. B. Schwerelosigkeit im All, durch hormonelle oder
ernährungsbedingte Störungen, wie Anorexia nervosa
(Magersucht) sowie einige Arzneimittel.
Anorexia nervosa, Erkrankung, die durch massive
Angst vor Gewichtszunahme oder Fettleibigkeit
gekennzeichnet ist. Diese Magersucht äußert sich in
Essunlust und übermäßigem Bewegungsdrang, was zu
extremem Gewichtsverlust führt. Anorexia nervosa ist
nicht die Folge einer bereits bestehenden körperlichen
Erkrankung. Sie tritt hauptsächlich in der Pubertät auf,
besonders bei jungen Frauen. Fünf bis 18 Prozent der
bekannten Fälle führen zum Tod durch Verhungern.
Die Erkrankung kann auch Störungen des
Menstruationszyklus sowie eine erhöhte Infektionsanfälligkeit nach sich ziehen. Einige Patienten leiden
gleichzeitig an Bulimie. Bei dieser Störung nimmt der
Patient phasenweise übermäßige Nahrungsmengen zu
sich und führt im Anschluss daran selbst Erbrechen
herbei, um schlank zu bleiben. Wiederholtes Erbrechen
raubt dem Körper Flüssigkeit und Kalium; dieser
Mangel kann die Herzfunktion gefährden.
Bisher gibt es keine allgemein anerkannte Therapie für
Anorexia nervosa. Häufig geht die Krankheit mit
Depressionen und geringem Selbstwertgefühl einher,
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failure. I am destroying myself, but there is no other so dass der Einsatz von Antidepressiva den Zustand
way ... and all I can do is dance.)
bessern kann. Die Wiederherstellung eines normalen
Ein feiner Epikureismus – weinen zu können: kannst Körpergewichts ist ein entscheidender Schritt in der
du die Bewegung sehen? den springenden Funken des Behandlung dieser Krankheit.”
Blutes? Das ist Leben – Leben! –
(Encarta 2000)
(post coitum omne animal triste.)
Was für mich wichtig ist: Der Regen, ein leichter Nieselregen, wenn ich einen Hang hinauf gehe oder die Straße
hinauf (hinauf! ist wichtig, damit die Muskeln in den Beinen Fleisch schmecken können); die Tropfen sollen mir
auf die Stirn fallen oder wo immer ich es spüren kann und verdunsten. Sie kühlen ein bißchen, aber sie
verdunsten. Ich will laufen, eine ganz leichte Steigung entlang oder durch eine hohe, naß glänzende Wiese. Beim
Laufen ist mir das Gewand immer nur im Weg. – I am continually surrounded by flames. (Isadora Duncan)
Was noch wichtig ist: Wenn ich den Daumen an den ausgestreckten Mittelfinger lege, so wie eine geschlossene
Lilienblüte, und damit ganz nah und angespannt an die Innenseite des anderen Handgelenks hinkomme, muß es
Funken schlagen. Das Kreuz ist dann fast vollkommen gerade, der Schädel ruht nur auf den letzten Halswirbeln,
ich brauche meine Halsmuskeln nicht mehr. Die Füße dürfen natürlich nicht zittern. – Die Bewegungen nun, die
die Ballettschule unserer Tage lehrt, Bewegungen, die vergeblich gegen die natürlichen Gesetze der Gravitation,
gegen den natürlichen Willen des Individuums ankämpfen und im Widerspruch stehen mit den Bewegungen wie
mit den Formen, die die Natur schuf, müssen ihrer Natur nach sterile Bewegungen sein, die keine künftigen,
neuen Bewegungen aus sich erzeugen, sondern hinsterben, wie sie geworden sind. Der Ausdruck, den die
Tanzkunst im modernen Ballett gefunden hat, dessen Aktionen stets anhalten und in sich zu Ende sind, in denen
keine Bewegung, keine Pose, kein Rhythmus in kausaler Folge sich bildet, noch zu weiter folgender Aktion
entwickelt werden kann, ist ein Ausdruck der Degeneration, des lebendigen Todes. (Isadora Duncan)
Sie zerstach sich die Finger an den Rosendornen; ihre Blutstropfen schimmerten hell auf den Spitzen, und
jeder Dorn wurde zu einem neuen Stiel, und auf jedem Stiel entfaltete sich eine neue Blüte in der Farbe
ihres Blutes.
„Es geht nicht um die Zehen“, sagte Forcalimo. „Nicht durchstrecken! – Du brauchst keinen Spitzentanz; vergiß
für den Moment einmal alles, was dir Indil beigebracht hat. Wir leben in Zeiten der Avantgarde – wie immer –
will sagen, in einer gewissen Regellosigkeit. Wenn du heute nach Cecchetti trainierst, wirst du vielleicht eine
Pawlowa, meinetwegen ein durchdirigierter Nijinski wie Vanima, bekommst mit etwas Glück ein gutes, stabiles
Engagement, aber nicht mehr. Du kannst gut werden, vielleicht sogar perfekt, aber keine Künstlerin. Wirklicher,
bahnbrechender Erfolg – und das trau ich dir zu, Losse! – wirklicher Erfolg ist eine riskante Sache, ein
Experimentieren mit Neuem, Ungewohntem; du mußt aus der Masse hervorstechen. Ballett ist inzwischen
international, das heißt, es gibt keine lokalen Größen mehr. Gut ausgebildete Ballerinas gibt es zuhauf. Du mußt
eine Persönlichkeit sein, ein Original, einen eigenen Stil darstellen.“ Forcalimo rammte eine Hand in ihren
Rücken und schubste sie in eine wackelige Pirouette, nach der sich die gefesselte Losse nur schwer im
Gleichgewicht halten konnte. „Vergiß deine Zehen!“, wetterte der Lehrer und drückte sie an der Schulter
erdwärts. „Du bist keine Taglioni; du bist viel eher eine Elßler, Kastagnetten und Cachuca, Melusine statt Elfe. –
Das ist es: Du bist wieder eine Melusine. Eine Nymphe, eine kindliche Hydriel, keine Sylphe wie Vanima oder
die Taglioni. Tanze wie eine Nymphe.“ Mit hastigen Bewegungen löste er ihre Fesseln, schubste sie in die Mitte
des Raumes. „Du bist jetzt die Tochter der Diana. Stell dir nicht zu viel vor. Tanze. Ich gebe dir den Rhythmus.“
Und er nahm das Tamburin und klopfte zu seinen Worten: „Hýdriel ómar penádon epýrma / narsóy greól
fabelrúsin adíel / pedrúsy norévi melráys urémi / peán larfoý naes chémerotyn. – Weniger Fußarbeit! Bleib auf
dem Boden! – Hýdriel ómar penádon epýrma ... – Denk nicht an deine Zehen, nicht an die Grisi, die Taglioni;
denk nicht an Indils klassischen Spitzentanz. Denk nicht an Vanima“, fügte er hinzu, als hätte er ihre Gedanken
erraten. „Du bist eine Nymphe. Du bist nicht Vanima. Du mußt nicht versuchen, wie sie zu sein. Dianas Tochter!
– und zur Hölle nochmal, vergiß Vanima! –“
- Fair Vanity Lassen Sie mich von Vanima erzählen.
“November 8th. There was such a lovely young lady
Sie ist das schönste Mädchen der Welt. Und sie kann skating to-day, and she skates so beautifully, inside and
verdammt gut tanzen. Doch das schlimmste ist: Sie ist outside edge and figures of 8. I skated along behind
in meiner Tanzgruppe. Ich sehe sie beinahe täglich. Ich her. When she went to the cloak room there was such a
liebe sie.
lovely scent. I wonder if she is going to be married
Sie ist unglaublich gemein. Forcalimo meint, sie könne soon and whether she knows all about everything. She
eine Art weiblicher Nijinski sein, wenn sie nur einen is so lovely and she pushes back the hair from her
Diaghilev hätte, der sie dirigierte; denn von sich aus, forehead so prettily. I wish I were as pretty as she is.
sagt Forcalimo, tanzt sie nicht so gut wie ich, hat sie But I am dark and she is fair. I wish I could find out her
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nur wenig natürliches Gespür; doch sie kann gegebene
Figuren so gut umsetzen wie keine andere. (Ich kenne
Nijinski nur aus den Bildern von Amador Perez, aber
diese Kombination ist wohl die eindrucksvollste seit
1919. Ich werde nie wie er sein – selbst Forcalimo
schaut zu ihm hinauf.)
Zum ersten Mal habe ich Vanima in der Straßenbahn
getroffen, als ich zehn Jahre alt war; das war auf dem
Weg zur Tanzstunde. Ich war sofort begeistert von ihr;
sie ist ein Jahr älter als ich, und schon damals waren
ihre Bewegungen irgendwie unglaublich graziös oder
so (melinir graciosa hat sie Forcalimo genannt), und
ich habe mich zuerst nicht getraut, sie anzusprechen.
Dann habe ich sie immer wieder in der gleichen
Straßenbahn getroffen, und irgendwie sind wir dann ins
Gespräch gekommen, und ich habe ihr sofort vorgeschlagen, sie soll doch tanzen lernen, das würde so
gut zu ihr passen. Dann haben wir uns angefreundet,
und sie hat auch bei Forcalimo Unterricht genommen,
und sie ist viel besser als ich, und wirklich oft so
gemein, aber ich kann ihr nicht immer böse sein: Sie ist
einfach so toll, und ohne mich hätte sie wahrscheinlich
nie zu tanzen begonnen, und Sie sollten sie beim
entrechat sehen: als wäre sie eine Marionette, die
jemand im Schreck nach oben reißt, ein plötzlicher
Sprung ohne sichtbare Vorbereitung, und dann
benimmt sie sich, als hätte sie ewig Zeit da oben. –
Selbst wenn sie geht, sieht man es ihr an: Sie ist zur
Tänzerin geboren, ihr gelingt alles mit gleichgültiger
Einfachheit; ich dagegen will tanzen, so wie sie, besser
als sie, doch mein Körper kann nicht ... im Vergleich
zu ihrem ist er nur ein unförmiger Klumpen.
15. August
name and where she lives. I must go skating again tomorrow; do my lessons in the evening.
“November 9th. I'm so upset; she didn't come to skate.
I'm afraid she may be ill.
“November 10th. She didn't come to-day either. I
waited two hours, but it was no good.
“November 11th. She came to-day, at last! Oh how
pretty she is.
“November 12th. She has spoken to me. I was standing
near the entrance gate and suddenly I heard some one
laughing behind me and I knew directly: That is she!
So it was. She came up and said: Shall we skate
together? Please, if I may, said I, and we went off
together crossing arms. My heart was beating furiously,
and I wanted to say something, but couldn't think of
anything sensible to say. When we came back to the
entrance a gentleman stood there and took off his hat
and she bowed, and she said to me: Till next time. I
said quickly: When? Tomorrow? Perhaps, she called
back. . . . Only perhaps, perhaps, oh I wish it were tomorrow already.
“November 25th. I can't manage to go skating every
day. I do love the Gold Fairy, that is my name for her,
for I hate her real name.
“December 17th. She's nearly 14, and is awfully pretty.
“December 22nd. Father says she is a beauty, and she's
dark like me. But I'd rather be fair, fair with brown
eyes or better still with violet eyes. Shall I grow up a
beauty? Oh I do hope I shall!”
(“A Young Girl’s Diary”)
Ein Vulkan. Kinder. Schwangerschaft. Ein Alien (wie in Species?)
Hinter dem dunklen Horizont des Waldes ragten steile Felsen auf, von strahlenden Schneehängen und
scharfkantigen Schatten in unzählige Splitter gebrochen; die Flecken eines vorüberziehenden Gewitters
wanderten langsam über das niedere Hügelland, bis ein Tropfen nach dem anderen der sich erhebenden Sonne
erlag.
Um Caerfaban lag noch die Morgentrübe, aus der nur ein einzelner Wachtturm hervorragte; die wenigen
Sonnenstrahlen, die durch den Dunst und die Kronen der treibenden Bäume bis zu den taufeuchten Matten des
Burggartens vordrangen, konnten die Kühle der Nacht noch nicht spürbar vertreiben. Einige buntgekleidete
Kinder trieben dort ihre Spiele, und ihr Gelächter vermischte sich mit dem Krächzen der Raben; doch Glynydd
hatte sich sie Ohren mit Wachs verstopft, um nichts hören zu müssen, während sie in stillem Schmerz aus dem
obersten Fenster des Turmes gegen die fernen Berge starrte.
Im großen Tafelsaal zog Nuadan die Fingernägel durch die speckige Tischplatte, die bleichen Insignien seiner
schwindenden Macht um sich gerafft; Glynydds jüngere Schwester Ghleanna saß in sich eingeschlossen am Fuß
des Tisches und versuchte vergeblich, einen Blick ihres Vaters einzufangen. Eine hölzerne Klaue drückte ihr ins
Kreuz.
Verflucht seist du, irrer Sänger aus dem Wald, dessen laubumkränztes Maul schwarze Drachen gebiert:
Verflucht seist du und all die Bestien, die dich in namenloser Nacht gezeugt. Du hast mir meinen Sohn
genommen, meine Hoffnung: Wird mein Juwel den Kopf des Feindes von den Schultern trennen? oder wird er,
betäubt von dessen Schwefelatem, seinen scharfen Zähnen zum Opfer fallen? Oh, das Werk ist groß und ohne
Hoffnung. Oh, das Werk ist groß und ohne Ziel.
Mit losem Drang trieb Licat seinen Reifen durch die Wiese und benetzte seine leichte Leinenhose mit dem Tau
von ihm geknickter Halme; vom Ast des Apfelbaumes aus betrachtete ihn sorgenlos sein Bruder; und von höher
auf der Schloßmauer starrte keifend ein hungriger Rabe herunter. Der Sohn des Küchenmeisters klapperte mit
kleinen Stöcken; als Licat sich dem dichten Waldrand näherte, schoß neben ihm ein Spieß ins feuchte Gras.
„Dort gibt es Birken“, rief der freche Spielgefährte, „und in den Birkendickichten wohnt Ghillie Dhu!“
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Doch tiefer noch im Wald als Licat sehen konnte, stieg Myrddin, laubbekränzt, durchs Unterholz. In ihm und um
ihn tobte Wahnsinn; vor seinem Blick verschmolzen Schicksale und Zeit. Leiloken hatten sie ihn genannt,
verflucht hatten sie ihn, den immer neu bestehenden, den Entführer der Söhne und Verlocker der Töchter. Doch
er war nicht der Herr des Drachen, obgleich er dessen Ränke kannte. Gwawddur war in böser Absicht zu ihm
gekommen; auch der Wissende um das Leben konnte ihn nicht mehr vor seinem Schicksal retten.
Blar hatte den Prinzen drei mal sieben Tage lang vorbereitet, hatte seinen Körper in der Hitze der Schmiedekammer ausgeblutet und in der Kühle des Schloßkellers abgehangen; nun werkte er mit scharfen Klingen in der
Küche, bereitete die Pastete für den Herrn: Er war traurig und wütend, aufgebracht gegen ein uneinsichtiges
Schicksal, und nun war es an seinem Koch, ihn zu besänftigen.
Der Rabe hatte die Feinde ihres Bruders verschlungen, man sah es seinen tiefen Augen an; Glynydd hatte dem
eifersüchtigen Koch ein Messer entwendet und ließ das junge Sonnenlicht auf der Schneide tanzen und blitzen.
Der Vogel rührte sich nicht, starrte sie schweigend an; als sie das Messer an seinen Hals setzte, spießte er sie mit
dem Schrei eines Drachens auf, doch er floh nicht -:- sein Kopf prallte stumpf auf den Steinfliesen auf, sein Blut
besprenkelte ihr bleiches Kleid.
Sie tafelten mit heißer Gier am schweren Speisetisch, schweigend aufgereiht und mit verschlossenen Gesichtern;
Blar brachte Kapaune, Klöße, Saucen, Wein und eine hervorragend gewürzte Pastete. In Glynydds Kiefern
brannte noch der Geschmack des dicken Rabenblutes, den selbst das dicke Fleisch nicht übertönen konnte. Eine
sonderbare Regung kroch durch ihrer aller Gemüt dahin, beschleunigte den Puls und das Kauen; hilflos erregte
Blicke hasteten hin und her, bis endlich Glynydd das Wort hervorstieß wie einen unbezwingbaren Magenpuls.
Gwawddur, rülpste sie; Schweigen trat ein und Blut aus Ghleannas Unterlippe. Der Drache hat ihn verschlungen.
- incubation „Schon mal probiert?“ fragte er und hielt das Päckchen ins Licht. „Meskalin. The stuff that dreams are made
on.“
Oh, Scheiße, dachte sie, und „Äh, nein danke“ sagte sie, und „Hallo“, sagte Poice.
„Hallo“, erwiderte Losse leicht verwirrt. Sie war in der Dusche, Schulhof. Nach der Gruppenstunde, Schularbeit.
Dusche. „Wie heißt du?“
Sie war so klein und hübsch. „Poice“, sagte Poice. Die Dusche rauschte.
Losse sah sich mit dickem Bauch, schwanger, aufgebläht, irgendwas rührte sich in ihr. „Kein Risiko“, beteuerte
der Kerl, streute das Pulver in einen Plastikbecher, füllte ihn mit Limonade. „Primitivste Technik. Der Geist der
Peyote-Pflanze.“
Losse schüttelte sich. Die Kleine lachte. „Vierzehn?“, fragte sie ungläubig. „Du hast ja gar keine Brüste!“
„Dann eben nicht, du zurückgebliebene Nudel“, sagte der Kerl. „Entschuldigung“, sagte Poice kleinlaut. Losse
drehte die Hitze höher. „Ist schon okay.“ (Sie war auch den Schamanen der amerikanischen Indianer bekannt,
welche sie Peyote-Frau nannten. Sie ist die weibliche Version des Mescalito.)
Der Boden dampfte; alles erstrahlte in Regenbogenfarben. Losse sah plötzlich so deutlich wie nie zuvor.
„Du hast deine Uhr nicht ausgezogen“, fiel ihr auf, als sie ein weiteres Mal hinschaute.
„Wasserdicht“, antwortete Poice. –
Losse sollte die Kleine nie wiedersehen. Forcalimo erzählte ihr später, sie sei genau eine Woche darauf bei
einem Autounfall ums Leben gekommen. Oder so.
Sie sehen Losse, wie sie eine Straße hinaufhetzt, die Kapuze eines schäbigen blauen Pullovers über den Kopf
gestülpt, eine graue Schnürlsamthose darunter, ein Paar Turnschuhe. Die Zeit ist: kurz nach der Tanzstunde am
zweiten Dienstag des Schuljahres.
In der Straßenbahn (stadtauswärts) trifft sie Vanima, die Beneidete, Geliebte, Verhaßte. Sie können sich Vanima
als Venus vorstellen, als heidnische Hure [BAYADERE], im Gegensatz zur christlichen Madonna Losse
[SYLPHIDE], zu einer Zeit, als der Gegensatz von dionysischer Selbstopferung und enthaltsamer Kontemplation
noch mitten im Leben aller Beteiligten steht: Die Selbstkasteiung rechtfertigt sich auf moralische Art, sie sieht
sich selbst als Zivilisation gegenüber der Wildnis, und drängt doch mit Macht zurück ins Vor-Gesittete.
„Wenn man“, erzählt Losse ihrer Partnerin, „nur die Rückseiten der Oberarme und die Gegend direkt über den
Knien warm halten könnte, wäre einem nicht kalt. Alle anderen Orte sind dann egal; das sind die Kältepunkte.
Nein;“ – sie beugte sich, die Stirne leicht verziehend, vor – „die Spitzen der Brüste sind auch Kältepunkte. Das
müßte man warmhalten, dann wäre alles Andere egal.“
Ihr Blick ruht auf dem langen, ärmellosen Kleid, das Vanima umschwebt; es wäre Losse viel zu kalt an einem
Tag wie diesem. Ein Salz-Seide-Muster ist in den blauen Stoff gewirkt und läßt ihn wie der Spiegel eines Meeres
aussehen. Losse stellt sich selbst als Heuschreck vor, mit dürren Gliedern, die wie lose angehängt an einen
weiten Stoffsack wirken, unter dem sich etwas Skelettöses krümmt. Ihr fehlt das Fleisch. Auf den kleinen, gut
geübten Muskeln laufen Adern kreuz und quer und machen sie kantig wie einen Mann. Vanima ist rund: die
Venus, Cupido, Hymnis.
„Albert hat sich eine Ziehharmonika gekauft“, erzählt sie, „am Flohmarkt. Aber er kann sie nicht spielen.“ Rif.
Rifma. Narif.
7
Losse steigt an dieser Stelle aus.
- mind over matter Es war diese ziemlich gemeine Kurve, wissen Sie, am Dorfausgang, wo unsere löchrige Hauptstraße in die
Bundesstraße mündet, in so einem spitzen Winkel, ohne Spiegel oder so: eine Schikane der Straßenbastler, ohne
Zweifel, und mein allmorgendlicher Alptraum. Damit Sie das verstehen, ich war außerdem noch müde: Wir
haben uns mitten in der Nacht vor den Fernseher geschlichen, um uns Deep Throat anzuschauen, so verboten
wie möglich. Das war kurz bevor Eruanno ausgezogen ist. Als ich dann so im Straßengraben gelegen bin, habe
ich zuerst gedacht, ich heule: Aber dann habe ich gesehen, daß es Blut war. Und ich sah, daß es gut war. Budvar.
Supar. Naja, daher hab ich also diese Narbe. Und ein halbes Jahr später meinen ersten Krampf:
Das war im Frühling. In Meyers Enzyklopädischem Lexikon steht unter Krampf: „Unwillkürliche Kontraktionen
einzelner Muskeln oder Muskelgruppen (der quergestreiften und glatten Muskulatur). Rasch aufeinanderfolgende und nur kurzfristige Kontraktionen werden als klon. Muskelkrampf (↑ Klonus) bezeichnet,
Kontraktionen von längerer Dauer und stärkerer Intensität dagegen als ton. Muskelkrampf, z.B. bei Tetanie“ und
so weiter, dann: „Lokalisierte Krämpfe einzelner Muskelgruppen sind z.B. Trismus, sardon. Lachen, Tic sowie
Hals-, Nacken- und Schultermuskelkrämpfe. Der sog. Beschäftigungs-K. (z.B. Schreib-K., Geiger-K.) ist meist
ton. und durch eine neurot. Erkrankung bedingt.“ Und gleich gegenüber, in der rechten Spalte ganz oben, ist der
Eintrag „Krampus (Crampus), schmerzhafter ton. Krampf eines Muskels oder einer Muskelgruppe (z.B.
Wadenkrampf, Zehenkrampf)“. Alasseon hat mich nur ausgelacht.
Aber ansonsten war er ganz nett. Wir haben ja zu der Zeit gerade für Prag trainiert, für diesen blöden
Wettbewerb, und er hat gesagt, ich bin zwar seine neueste Schülerin, aber schon gut genug um mitzumachen.
Also haben wir voll trainiert: Das war außerdem das letzte Jahr in der Volksschule, also ziemlich einfach sonst,
deswegen hatte ich Zeit genug dafür. Stressig war es schon.
Ganz zu Beginn war das Dehnen ja noch lustig, das Dehnen der Sehnen, bis ich den Spagat hingekriegt habe vor
diesem schrecklichen Spiegelriß, und das Beine-fliegen-lassen und strecken und zerren und auf den Zehen
wackeln und Muskeln stärken. Muskeln, das war die Obsession meines ersten Lehrers, Meister Toron, der uns
immer durchs Krafttraining gejagt hat: Fett weg, Muskeln her, und ihr müßt zehn Minuten den Arm ausgestreckt
halten können ohne zu zittern, wenn aus euch mal was werden soll. „Es ist hart“, war sein Lieblingsspruch, wann
immer sich jemand beklagt hat, oder wenn er schlecht drauf war oder müde oder verliebt, dann mit einem
Seufzer, und „Ja, es ist hart“, hat er gesagt, als ich mich abgemeldet habe. Er wohnt jetzt, glaube ich, nicht mehr
in Wien. Ich habe ihn jedenfalls nie wieder gesehen.
1. September
Ich trau mich nicht.
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Jungfrau mit den dünnen Armen, mit den kleinen Brüsten,
Illusion von Kraft, die spielt, in der Grazie verborgen; unbestimmte Stunde des Körpers und verwirrter Punkt der
Seele; zögernde Farbe, enharmonischer Akkord, Held und Nymphe, Gipfel der Form, die einzig Faßliche in der
Welt der Geister! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, auch noch nach dem Erwachen; es soll in ihre
Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)
/|\
Second Movement: Home
wherein we will talk of the first consolidation of the matter, and of the inevitable cracks preceding
its fragmentation
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Junges Mädchen mit den kurzen Haaren und fast jünglingshaft,
deren Herz noch nicht gesprochen hat; Knospe, die sich vor dem sinnlichen Aufblühen verschließt; vielleicht
wirst du sündigen, vielleicht bleibst du tugendhaft; schöne Maid, die das Leben im Gesang des Windes
buchstabiert; Landstreicherin oder Edelfräulein, die sich bald Maria oder Venus weihen wird! Lob sei dir!“ –
Und sie hat Angst vor dem Biest, will es nicht sehen; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen.
– „Lob sei dir!“)
- variant a Wissen Sie, Maito konnte sich nicht einmal richtig hinlegen. Er sah aus wie ein Walroß, wenn er da vor mir am
Teppich lag und irgendwohin starrte. Ich bin froh, daß wir ihn los sind.
14. August
Vielleicht ein Wohnmobil, oben (hinten) der Schlafraum mit Bett, ein schräger Gang mit drei
Stufen (daneben das Klo) herunter in den Hauptraum, links, also von mir aus rechts davon die Kochecke, von
mir aus links im Raum alles frei, schmutzige weiße Wände und ebensolcher Boden, ganz links vorne die Tür, hier
8
an der rechten Wand eine hohe Liege wie im Krankenhaus, davor (zwischen mir und Küche) zwei hölzerne
Kabinen wie Umkleidekammern. Das Ganze kann man fluten. Irgendwelche Freunde schwimmen herum, lachen
und reden: Das Wasser kommt aus dem Schlafzimmer, füllt den Raum auf, fließt wieder ab. Das Schlafzimmer
muß trocken bleiben, sagt Mutter, hier unten gibt es nur einen kaputten Wasserauslaß. Jemand macht die Türe
auf, erschrickt, macht wieder zu. Alle lachen, ich verstehe es erst nicht, dann merke ich: Ich bin nackt.
Wenige Meter vor meinem Zimmerfenster steht eine große, schwarze Mauer. Es ist eine geteerte Ziegelmauer,
glaube ich; sie gehört zu einem alten Elektroschaltwerk, das seit ich mich erinnern kann nicht mehr benutzt wird.
Wer das aufgestellt hat, muß die Baugesetze mit irgendeinem Trick umgangen haben; das Ding ist gerade einen
halben Meter von der Grundstücksgrenze entfernt. Die ist übrigens nicht abgezäunt oder so, man erkennt sie aber
daran, daß auf unserer Seite das Gras niedriger ist als dort.
Will it be like a wound opening up inside me
Unser Haus ist übrigens auch schon ziemlich alt.
Mein Zimmer ist im Erdgeschoß, auf der Südseite. Das Bett – Faulheit – in der nordöstlichen Ecke, ein weiß
lackiertes Metallgestell mit übergroßer lila Matratze (french bed, meinte Eruanno); vor der häßlichen rosavioletten Tapete bildet die Kopfstütze des Bettes ein weißes Strahlenmuster, eigentlich düster und verschmutzt,
aber in der Lichtminute trotzdem ganz schön. Die Wand gegenüber dem Fenster ist zum Glück weiß – erst vor
zwei Jahren frisch verputzt, weil mir schon der alte Belag ins Bett gebröselt ist – und über dem Bett hängt ein
mäßig schönes Ölgemälde von drei Ballerinas im Tutu, das meine Mutter vor Jahren einmal auf einem
Flohmarkt aufgetrieben hat. Das ist aber auch der einzige Grund, warum es noch immer da hängt.
Will it be like urine pressing to get out
Neben dem Bett ein Regal und ein Kasten, gegenüber das Fenster, neben dem Fenster: Auch Kästen. Einer
davon – der in der Ecke – ist uralt, Renaissance-Bauernkasten, quietscht und kreischt wie ein wildgewordenes
Rattennest und ist voll mit Gerümpel; dem Zeug, das man eben nicht wegschmeißen will und so weiter.
Auf dem Boden ein Teppich, der wahrscheinlich aus der gleichen Zeit stammt wie die Tapete an der Ost- und
Südseite: dunkelgrün, mittelschwer, vom schmierig-braunschwarzen Parkettboden nur mit Glück zu unterscheiden und „eine Brutstätte mikroskopischen Ungetiers“ (Eruanno); etwas gemütlicher daneben die Polsterecke, gleich rechts unterhalb vom Fenster, drei dicke rote Ikea-Pölster, und in etwas dunklerem Rot daneben
meine Purpurvorhänge, die ein totes Fenster verdecken, und grün auf bettgestellweißem Gittertischchen eine
Hängepflanze unbekannter Spezies, die mir schon seit drei Jahren den Boden verdreckt, weil sie OC in seinem
Zimmer nicht mehr ausgehalten hat; ähnlich düster in der nächsten Ecke der überladene BiedermeierSchreibtisch, ein häßliches krummbeiniges Ding mit dick versiegelten Intarsien, zu wertvoll, um ihn
wegzuwerfen, und zu unpraktisch, um ihn wirklich zu verwenden. Darauf: ein paar Trockenblumen, kaum
verwendetes Schminkzeug, die Oberklasse des dekorativen Kleinkrams, dessen noch geschmacklosere
Unterschicht im Bauernkasten verstaubt. – Eine klemmende Lade mit abgegriffenem Schlüssel, darin noch mehr
Überflüssigkeiten, vanities, einige handbeschriebene Blätter aus alten Notizblöcken – meine Schrift – eine
Pferdebuchparaphrase in krakelig roter Kulischrift: Alec Ramsy und sein schwarzer Hengst Blitz befanden sich
an [durchgestrichen: sich in einem im Flugzeug in] an Bord eines Flugzeuges. Die Stewades kam zu ihm und
erbot ihm mitzukommen weil sie jetzt über Bergketten fliegen würden und man eine schöne Aussicht hätte. Alec
erwiderte: „Es tut mir leid [mit Bleistift hinzugefügt: ,] aber ich muß bei ihm bleiben.“ und er deutete dabei auf
den Hengst. usw., heute schauderhafter Aufsatzstil, auf der Rückseite: Sechs mit durchbrochenen Linien
abgeteilte Felder, in jedem der Aufdruck
GARDAMATT BRILLANTE
Säurefrei, holzfrei
200 gm²
fünf Kapitel mit dem Abschluß Vortsetzung folgt warscheinlich keine. Dazu diverse Bilder, Aquarell „Fluß mit
Regenbogen“, Blei- und Filzstift „Vier Pferdeköpfe und ein -hintern“, Bunt- und Filzstift „Hund oder Pferd? auf
Wiese“, noch eine blitzgescheite -Geschichte, Bleistift „Boot in einer Bucht an einen Pfosten angebunden, am
gegenüberliegenden Ufer eine Palme“, ein poetisches Frühwerk: Eruanno du hast den Kuchen genommen, / gib
ihn wieder her. / sonst wird dich der [durchgestrichen: Gremling] Werwolf holen / mit dem [durchgestrichen:
Besenstiel] Schießgewehr., ein leerer Briefumschlag, Ansichtskarten.
Will it be like that, will I be able to control it
Neben dem Schreibtisch das einzig schöne alte Stück im ganzen Zimmer: Eine Stehlampe mit geschwungenem
bronzenen Hals und einem gläsernen, rot-orangenen Lampenschirm in Form einer halbgeschlossenen Blüte. Ich
habe die Lampe vor einen Spiegel gestellt, damit sie mehr Licht gibt und man mehr von ihr sieht. Sie steht auf
einer dunkelschwarzen Kommode, die einmal wie ein Konzertflügel geglänzt hat; in den Laden sind nur Socken
und Strumpfhosen und Malsachen und alte Schulhefte und Staub. – Eine Mappe: Früher gab’s mal Darstellendes
Spiel bei uns in der Schule, da haben wir Sketches und manchmal auch richtige Stücke gespielt: Vollgekritzelte
Kopien von „Der Lottogewinner“ (Ich heiße Erwin Lindemann, bin Rentner und 66 Jahre ...), „Das Märchen von
der harten Nuß“, frei nach Estimated Time of Arrival Hoffmann, Büchners „Leonce und Lena“, einige Blätter
Theorie. Immer wieder meine kleinen Kunstwerke am Zettelrand: 16mal Losse in 16 verschiedenen Schriften,
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4mal Vanima, 5mal Onóno (oh no! in den Angeber war ich mal verknallt), kleine Herzen, Galgen, Salat- und
Totenköpfe, immer wieder ein kläglicher Versuch von Rosen.
Or will it be an unhemmed flood rushing relentlessly out
Mein Zimmer ist L-förmig, mit dem kleineren Knick in Richtung Norden, zur Tür; die schwere Holzplatte geht
nach außen auf, und sie hat die einzigen lautlosen Angeln im ganzen Haus. Die Tür-Ecke ist mein Trainingsraum, mit drei alten Turnmatten am Boden und einer speckigen Übungsstange rechts an der weißen Wand; die
gegenüber, bis zur Schreibtischecke hinüber, ist in diesem komischen Holzrahmenstil geschmückt, mit braunen
Preßspanplatten zwischen ehemals weißen Türrahmen-Verzierungen, eine einzige Lampe, die zumindest ein
ähnlich gelbliches Licht gibt wie meine Blumenlampe, ein Hängestecker, häßliche halbabstrakte Bilder zentral in
den Wandrahmen. Tanzen bis zum Umfallen, schweißüberströmte Dehnübungen bei abgeschlossener Tür und
knisternden Klängen aus dem kleinen Ghettoblaster zwischen Bett und Bauernkasten, mein Tamburin – einziges
Musikinstrument – die quietschende, knarzende Bodenwelle, die Tür. Vielen Dank für Ihre Geduld.
Knowing this, I curse the moon
I fear the days of blood
Sie sehen Losse beim Zehennägelschneiden. Sie tut das jeden Sonntagmorgen, mit Hingabe und Überzeugung:
Eingewachsene Zehennägel gehören zu den Dingen, die sie am meisten fürchtet, nach Knochenbrüchen und dem
böhsen Onkel im Park. Vorsichtig streicht sie mit befeuchteten Fingerspitzen über die nicht nur absichtlich
gekrümmten Zehen, totenbleiche Haut, rotgeschunden an den Gelenken, über gestauchten, verbogenen
Knochenteilen, eingewachsene Zehen sind schmerzhafter und ausdauernder als jede Prellung.
Sie sehen Losse beim Training, zehn Sit-ups, noch fünf, ein Hüftknochen knackst bedenklich, rätselhaft, die
Bauchmuskeln verkrampfen sich, haben kaum Zeit zur Entspannung: Sie beobachtet es mit immer neuer
Faszination und Neugier, Körpermechanik, der Mensch als Maschine. Sie öffnet das düstere Fenster, pendelt von
Garten zu Zimmer, trampelt Zeichen in das hohe Gras, grüne Tapser auf das speckige Parkett. Losse gleicht in
diesem Augenblick kaum mehr sich selber. Unter ihren gespannten Zügen ist etwas Furchtbares, Drohendes,
Ewiges: das Gesicht einer barbarischen Gottheit. Ihre Arme fliegen in einem furchtbaren Rhythmus hinauf und
wieder inab, todesdrohend, wie Keulen. Und ihre Augen scheinen angefüllt mit einer kaum mehr erträglichen
Spannung inneren Glücks.
Der Garten erstrahlt im Morgenlicht; jeder Dichter hätte in einer romantischen Regung die feinen Diamanten aus
Tau, die millionenfach auf den zitternden Grashalmen saßen, mit wehmütigem Blick und zitternder Stimme in
den Himmel gelobt; doch Losse sieht nur die gemalte Hölle, während sie mit schweißglänzendem Körper eine
kreisförmige Furche aus zertrampeltem Gras in die Wiese gräbt, immer noch eine Runde, und noch eine Runde,
bis die Sonne endgültig den Schutz der Berge verlassen hat und mit aller Kraft die nachtfeuchte Welt zum
Dampfen bringt.
Losse atmet schwer und betrachtet mit Abscheu ihre „Die sogenannte Mädcenha}igkeit i# mei# nict+
Füße, die, obwohl vom grünen Blut des Grases andere+ al+ ein Zeicen kün#licer Dre^ur oder
durchtränkt, noch immer in kränklichem Weiß zu ihr weiblicer Körper<wäce. Da+ Mädcen muß genau
heraufstarren. Beinahe vorwurfsvoll blickt sie zur wie der Junge to\en, springen und laufen. Läßt
Sonne hinauf, schließt die Augen und stellt sich vor, man e+ hierin seiner Natur folgen, so wird e+ auc
auf dem Rücken am Strand zu liegen, herrlich wie der Junge seine Lei#ung+fähigkeit behalten,
bräunendes Licht auf ihrer Haut zu spüren, und erst und die Entwi%lung wird @c möglic# lange
nach Sonnenuntergang gut durchgebraten wieder hinau+<ieben, wa+ für die spätere Gesundheit der
aufzustehen – und wie durch Zufall entsteigen in Mädcen von größter Bedeutung i#. Um die+ zu
demselben Moment die нимфетки den schäumenden bewirken, muß außer einfacer reizloser Ernährung
Wellen, schön wie die Sonne selbst, und als Losse an auc der Grundsa~ herr<en, da+ Mädcen von a\en
ihrem eigenen Körper hinunterblickt, sieht sie erneut Unternehmungen zurü%zuhalten, die seinem
nur blasse, von kleinen, brennenden Wunden Alter noc nict vo\kommen angeme^en @nd. Er#
durchsetzte Haut auf breiten Fettpolstern, und von wenn
die
eigentlicen
Entwi%lung+jahre
zertretenem Gras grünklebrige Füße.
abge<lo^en @nd, wird al+ Folge einer gesunden
und natürlicen Erziehung die „Weiblickeit“ al+
solce zum Durcbruc kommen.“
(Else Wirminghaus, „Die Frau und die Kultur des Körpers“)
Mit einem verzweifelten Satz ist sie in ihrem Zimmer, spürt die Bitterkeit aus dem Hinterkopf in ihre Augen
kriechen. Noch immer wie wild keuchend und mit stierem Blick läßt sie sich rücklings auf die Matratze fallen.
Sie sollte jetzt weinen. Sie schreit:
„Hymnis, Hymnis! Ich liege da und weiß es – und habe es nicht! Ich möchte schreien und in mein Kissen beißen,
in meinen Arm möchte ich beißen und mein Blut fließen sehen, daß solches auf der Welt ist, und ich habe es
nicht! Wie eine glühende Kohle wird es brennen in mir, daß es irgendwo eine solche Insel gibt, wo sie tanzen
und glücklich sind ohne den Stachel der Hoffnung. Denn das ist es, Hymnis, das ist alles, – alles, Hymnis:
glücklich sein ohne Hoffnung.“
Losses Blick wandert die Decke entlang, die Wand, bis zu ihrer eigenen Nasenspitze: Sie hat nicht gesprochen.
Ihre Füße treten ohne ihren Willen nach vorne, schnellen zurück, ob sie nun radfahren oder stoßen; mit beiden
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Händen klammert sie sich an der Bettdecke fest, halb aufgerichtet, das Gesicht blind ins Leere starrend. Schweiß
brennt in ihren Augen; die Brauen sind licht, ohnehin kaum zu sehen, halten keine Stirntropfen ab, davor eine
anatomische Skizze, das menschliche Skelett mit Muskelansätzen. Sie sehen Losse beim Knochentasten.
20. August
Schon wieder dieser Stier, diesmal habe ich sogar gesehen, wie er ausgebrochen ist; hinter uns
noch das zerbrochene Gatter, die Sonne blendet mich, sie ist ganz hell und direkt vor meinen Augen, vor mir
Berge und ein Brunnen, also der Brunnen. Ich erinnere mich nicht mehr.
Ich lese viel: billige Taschenbücher, John le Carré und Jakob Böhme, Meister Eckhart (ez ist zemâle inne, niht
ûze, sunder allez inne), Ursula K. LeGuin und Barbara Hambly, Edmund Theil und Larry Niven; alte Bestände,
Julius Wolff, Eichendorff, Dr. Hecks „Tierreich“ aus dem faden braunen Hausschatz des Wissens: Seite 669,
Fig. 4, „Wirbelsäule und Wirbel verschiedener Wirbeltiere“, das war mir schon immer unheimlich, gefährlich
aussehende Knochenspitzen und ineinander verschachtelte Röhrenstücke, fantastische Konstruktionen, keine
Erwähnung des Menschen (kein Tier!). Encarta 2000: „Zu weiteren anatomischen Veränderungen, die den
aufrechten Gang ermöglichen, gehören das breite Becken, ein Knie, das als Scharniergelenk gebaut ist,
verlängerte Fersenknochen sowie der verlängerte, ausgestreckte große Zeh.“ Mein großer Zeh hat im Querschnitt
wahrscheinlich die Form einer Welle, hinten aufgebogen, bricht sich nach vorne auf der blauen Gymnastikmatte.
Wenn ich früher so mit dem Kinn auf der Matte gelegen bin, habe ich mich an den Geruch gewöhnt, Plastik,
Schaumstoff oder was immer, dazu leise Musik vom anderen Ende des Zimmers, quasi als Metronom für die
Beine, rückwärts hinauf und andere Seite, beiß in die Mattenkante wenn’s wehtut, und Oberkörper hoch,
gestreckt halten, runter, mindestens eineinhalb Stunden am Tag, notfalls in der Nacht, sonntags zwei.
Ich zähle neun Rippen, darüber ein bißchen Fett, Haut, ganz feine weiße Härchen die man nur spürt, wenn man
ganz knapp über der Oberfläche mit der Hand vorbeistreicht. Ich zähle sechzehn Wirbel, wahrscheinlich sind’s
mehr, ist auch eine ganz gute Übung zum Arme dehnen. Maito hätte nicht mal einen gefunden. Die Milchstraße
ist die Wirbelsäule des Alls, sagen irgendwelche Indianer, das sieht gut aus (zumindest auf Fotos). Ich sehe
immer nur viele Sterne.
Die klassische Venusforschung
Venus zeigt auf ihrer Oberfläche keinerlei Einzelheiten, die einer festen Oberfläche zugeordnet werden können.
Die gelegentlich sichtbaren zarten Flecke oder Schattierungen sind vergänglich und gehören wohl der
Wolkenhülle dieses Planeten an.
Sie sehen Losse am Schminktisch. Das Gesicht hat, wenn man es auf das Wesentliche reduziert (darum geht es!)
etwa Eiform: Weg mit den Haaren, ich will Nacht, tiefe, ambrosische Nackt. Man kann auch aus diesem
Trümmerfeld etwas machen.
Sie nahm ein Messer und schälte der Rose ihre Dornen ab. Dickes Pflanzenblut floß ihr entgegen; sie
trank es mit schwelenden Lippen, das Herz der Blüte voll wilder Melodien. „Wenn eine Bestie Rosen frißt,
verwandelt sie sich in ein menschliches Wesen.“ –
Die Haare: Ich habe schon kieferlange Strähnen probiert, nach innen gekrümmt, eine Umrahmung: Das betont zu
sehr. Aufgeknotet, etwas länger, aber dafür versteckt, wird nichts betont, wird alles andere alleine stehen
gelassen. Schon viel besser.
Die Nase: Das Ideal wäre ein leichter Bogen, in einen mäßig großen Knorpel auslaufend, Tatsache ist: Die fast
waagrechten, flachen Brauenkämme treffen flach zusammen, um sich dann unvermittelt vorzuwölben, ein
Hexenknick darunter, der Knorpel klein und verkümmert, sodaß den seitlich hochgezogenen Nasenlöcher eine
zentrale Spitze überhängt. Daran ist nicht viel zu ändern, höchstens das übrige Gesicht anzupassen: Immerhin
originell, konsequent eckig, markant. Etwas Schatten unterhalb der Wangenknochen vervollständigt die Illusion
eines Geiergesichtes, Moment: Noch das Kinn, den Unterkiefer betonen, Lippen verschmälern, fertig. Immerhin
ist es kein Pfannkuchengesicht.
Die Lippen sind ein ganz wesentliches Problem, entweder vertrocknet oder entzündet; gerne beiße ich kleine,
harte Hautläppchen herunter, reiße mich dabei manchmal etwas auf. Fettcreme vertrage ich nicht (expert in the
application of lipgloss), dieses rissige, verkraterte Aussehen wirkt von der Ferne einfach matt, näher heran
kommt ohnehin keiner. Heute erforschen wir die Oberfläche des Mars. Darüber die Schattenlinie von der
Nasenwurzel in stumpfem Winkel um die Mundecken herum zum Kinn; an deren oberen Ende ansetzend der
düstere Bogen, die Schattenfläche unter den Augen. Das Gesicht ist eigentlich ein Muster; wenn man es
aufzeichnet, nur die markanten Linien, kommt ein Affe heraus, am ehesten ein Husarenaffe: Abstrakzion, Sie
werden um eine Stufe zurückversetzt. Der Brauenkamm ist eine deutliche, stark schattierte Obergrenze, davon
abwärts die helle Linie des Nasenrückens, nach unten hin dunkler, die Augen von gewölbten Linien beinahe
vollständig umringt, alles ein verzogener Stern mit dem Brennpunkt an der unteren Nasenwurzel. An der
Waagerechten der geschlossenen Lippen bricht sich das Ganze, läuft mit den von außen hineingekrümmten
Wangenschatten in das Kinn aus. Was stört, sind allein die Flecken, die Unreinheiten der Haut; alles andere,
solange klar und in Linien zu fassen, ist erträglich. Es ist immerhin ein Kunstwerk. Eine Art Kunstwerk. Eben
Avantgarde.
11
Brunnen: Ein Tunnel, der tief statt weit ist. (Udo Burghardt)
- variant b DIRI-KALAMOS 2001:
ARBEITSNOTIZEN:
Die Patientin ist 13 Jahre alt; Behandlungszeitraum: 9. Jänner bis 2. Februar 2001.
* 23. 07. ’87. Besondere Umstände: leichtes Untergewicht, Verdacht auf Anämie (A. BERGER ’87; unbestätigt).
Familiäre Umstände: Mutter M. leichte Hysterika (Therapie bei C. RICHER ab September ’93, abgebrochen
Dezember gl. J.). Patientin nimmt seit ihrem 7. Lebensjahr Ballettunterricht mit athlet. Training (Grundlagen,
Aufbau, Leistungs-Training seit ’96).
Mutter † Juli ’97, Patientin lebt bei ihrem Vater. Aug. gl. J.: Großm. väterlicherseits †. /
/ Febr. bis Apr. ’97 Unterricht bei A. C---, der Apr. d.J. verhaftet & als Sexualstraftäter in 3 Fällen erkannt wird;
Verdacht auf Mißbrauch an Patientin; Patientin gibt an, nichts zu wissen (& ist von den Vorwürfen gg. C--- lt.
Vater O. nicht informiert).
// nach Vater O.
[...]
09. 01. 2001. n. Unterlagen v. PARZ (’97-2000): reduziertes Beinlängenwachstum, Wachstumsschübe
verringert, unregelmäßig <= auch Serumleptin < (ø-2,85 SDS), gonado-trop., ster.-s. dto. | Schwere
Sonnenallergie (diagn.: RAMBERG). Ebd. 1992: verringerte Melaninproduktion (wg. Enz.e-Mangel), =>
partieller Albinismus. (deckt sich mit PARZ ’99)
PARZ ebd.: diagn. ’97 relat. Östrogenmangel, ’99 verringerte Knochendichte, Verdacht auf Osteoporose -->
diagn. 2000.
[Patientin nimmt die Empfehlung, vom Ballett Abstand zu nehmen, nicht an. <-- Dr. Wilhelm CORVUS, Vater
O.]
PARZ ’99: Vit. A, B, D <; K-Fett c. 2,8 kg + unterkalorische Ernährung + Bericht RICHER (’99) => Diagn.
anorexia nerv. (RICHER: -athl.)
[...]
In Bezug auf anorexia nerv. scheint eine Besserung vonstatten zu gehen; Patientin gibt an, Kochen als Hobby zu
betreiben, K-Fett Febr. 2001 c. 3,1 kg (Tendenz steigend). Nach DAUB (2001) keine unmittelbaren Anzeichen
für sexuellen Mißbrauch => Bericht RICHER abwarten (RICHER ’99: anorexia „athl.“ & Sympt. schiz. hyst. <=
Tod von Mutter M. + Zusammenfall m. Pubertät); zweifelhaft. – Febr. 2001: Verwiesen an C. RICHER wg.
verstärkten hysterischen Symptomen.
DAUB 1999-2001:
ARBEITSNOTIZEN:
25. 09. 1999:
Verwiesen von PARZ wg. Verdacht auf prim.
Amenorrhoe.
Die Patientin ist 12 Jahre alt, (* 23. Juli 1987).
[...] Trainingsvolumen: mind. 1,5h-2h tägl.; zusätzlich
5h Ballettunterricht wöchentlich (98/99: 6h), Aufbau& Leistungstraining 6h wöchentlich / = c. 24h/Woche.
Keine Menarche. Gewichtsabname von 3 kg in den
letzten 4 Monaten (PARZ Juni 1998). Medikation:
Enz.e-Aufbaustoffe (PrMe + PrE 3b, PrHomogentisin). Keine Abführmittel; Verdacht auf
Galaktorrhoe (Beobachtung nahegelegt). Akne (-) ;
Hirs. (-) ;
28. 05. 2000:
[...] Verdacht auf hypothalamische Dysfunktion wg.
anorexia nerv. Verdacht auf prim. Amenorrhoe.
Untersuchung:
möglicherweise
erhöhter
Androgenspiegel (wg. Klit.größe); präpuberal. Hymen.
Gestagentest angesetzt (Prodafen 5 mg: 3 Tabl. pro Tag
über 5 Tage)
04. 06. 2000:
Gestagen (-).
Best. d. Schilddrüsenhormone angesetzt: LH, FSH,
Test., DHEA(-S), Prolaktin, TSH, T3 (fr.) T4 (fr.)
Schilddrüsenhormone: ( \ durchschnittl. Ergebn.) Test.
Tactile drill. Imagine yourself picking up and holding:
a pingpong ball, an apple, a sticky date, a new flannelfluffed tennis ball, a hot potato, an ice cube, a kitten, a
puppy, a horseshoe, a feather, a flashlight. Knead with
your fingers the followingimaginary things: a piece of
brad, india rubber, a friend's aching temple, a sample
of velvet, a rose petal. You are a blind girl. Palpate the
face of: a Greek youth, Cyrano, Santa Claus, a baby, a
laughing faun, a sleeping stranger, your father.
(Vladimir Nabokov, „Lolita“)
„Ich bin krank“, sagt Pia, „laß mich in Ruhe.“
„Du bist nur faul“, sagt Anton. „Du wirst schon fett.
Du wirst schon sehen.“
Der Vater kommt herein. Er sagt: „Was riecht hier so?
Es riecht nach Schweiß.“ Er geht im Zimmer herum. Er
sagt: „Anton, nimm ein Bad.“
„Halt die Klappe“, sagt Anton. „Ich stinke nicht. Ich
dusche mich jeden Morgen. Pia stinkt, weil sie die
ganze Zeit faul im Bett herumliegt.“
„Ich bin nicht faul“, sagt Pia. Gerold sagt: „Das
stimmt, sie ist nicht faul, sondern sie ist krank. Und du
sollst ein Bad nehmen.“
„Du stinkst selber“, sagt Anton.
„Nimm ein Bad“, sagt sein Vater. „Jetzt.“
Anton geht hinaus und Pia und Gerold sehen zu. Bevor
Anton die Türe zumacht, sagt er noch: „Idiot.“ Dann
12
+0,02 ; DHEA(-S) +0,01 ; Prolaktin +0,33 ; TSH -0,02
; T3 -0,24 ; T4 -0,07 // LH/FSH 2,2
Diagnose: prim. Amenorrhoe m. NebennierenrindenÜberfunktion (wahrsch. Ovarial-Insuffizienz); vermutl.
psychogene Anorexia nerv.
Oestrogen-Substitution ab Sept. 2000 angesetzt, bes.
wg. Osteoporose-Gefahr (& Gefahr der psych.
Dekompensation, vgl. EIHOLZER 1999: OeS; W.
CORVUS 1998).
geht er ins Bad. Er sperrt die Türe zu, läßt sich heißes
Wasser ein und zieht sich aus, dann legt er sich hinein.
Beim Abendessen ist Gerold nicht da, weil er sich noch
mit einem Arbeitskollegen trifft. Es gibt Fritattensuppe.
Anton sagt: „Die Suppe ist grauslig und schmeckt nach
Abwaschwasser.“ Die Mutter sagt: „Geh Anton.“
Anton sagt: „Was, ist ja so.“ Dann sagt keiner mehr
was.
(IONESCO)
AUS DEM JAHRESBERICHT CORIOLANUS RICHER 1998 (mit Kommentar von Dr. Johannes ALT):
[...]
[...] entsprechende hysterische Zustände, in
Vierzehnjährige Patientin, ebenfalls schwere Hysterika, sieht in denen ein psychischer Schock (Notzucht und
ihren Anfällen jeweilen die Leiche ihrer verstorbenen Mutter, so weiter) die Veranlassung zum Ausbruch der
welche sich ihr nähert, um sie an sich zu ziehen. Patientin hat hysterischen Anfälle war, und wo jeweilen das
Amnesie für die Anfälle.
auslösende Ereignis halluzinatorisch stereotyp
[...]
wiedererlebt wird. [...]
Mit einem Wort: diese unfruchtbare, wasserlose Wüste, die sich an einem sehr geheimen Ort befindet, soll der
Alchemist in ein blühendes Paradies verwandeln!
- variant c Das ist Ohtarcalimo, ein Wildschwein im Wald, Sie sehen die beginnende Glatze und schwarzgefärbten
Grauhaare und wulstige Falten um den Mund, die sich so über die Lippen ziehen lassen, die fremde Haut,
getrimmte Stoppeln eines Bartes, breite Flecken auf den müden Wangen, zuviel getrunken, zuviel ausgesaugt:
Ach was muß man oft bei bösen / Menschen im Gedärme lesen / Wie bei Thieren oder Pflanzen / Eng verknüpft
zu einem Ganzen / Flattern hier die großen langen / Zahlreichen Telegraphenstangen /
Die Augen im Dreieck von Müdigkeit und Erstaunen flattern leuchtend durch den Dunst; er ist kein guter Koch,
das mach lieber ich, wenn er Zeitung liest läßt er immer alles anbrennen. Er muß sich ja weiterbilden, er bildet
ja, formt, er hat Macht. Die Klienten stellen alle möglichen Fragen, von Kuhmilch bis Afghanistan, wirklich
blöde Fragen gibt es nicht, sagt OC, es spricht immer noch aus dem Unbewußten.
Ein Gedicht! (von Eruanno, bevor er weggezogen ist, an den Kühlschrank geklebt):
ach wie convenirt doch die
moderne psychologie
mit unsern eitlen neigungen
indem sie uns gestattet
was wir uns selbst nicht zuzuschreiben wagen
dem unerforschten unbewußten
anzulasten
denn er war ein moderner Poet und hielt es für unter seiner Würde, Gedichte zu verfassen, die gereimt,
verständlich oder frei von sexuellen Obertönen waren. Luna-lalalola-laulasch eben.
Sie verstehen nicht, da steckt viel meer dahinter. Der Kubus ist die vollkommene Figur, Nullkanten und
Einheizflächen, und das macht uns den Greis erst verständlich: Er ist genau, sparsam, gewandt, vorzeitig gealtert
durch die Belastungen, aber nicht plump oder senil, Geieraugen, hell und lebendig, der zuckende schlaffhäutige
halbgewürgte Hals: Zuviel getrunken, so einfach, zuviel Ruach, fremdes Feuer. Das kommt ja immer wieder vor,
auch bei intelligenten Menschen, ich weiß das: Viele Vögel sah ich sprießen / Viele Blumen sangen mir /
Klapperstühle muß man gießen / Aber wart! Ich komme dir /
Jetzt muß ich die Zwiebeln wenden, Erdäpfel rein, warten, würzen, heißer Duft und schmalziger Dampf, ich
liebe unsere kleine Küche; man hat gerade genug Platz hier, zwischen den altdunklen Regalfronten und der
Osterglocken-Stehlampe, zwischen der industriegelben Waschecke und dem Heizkörper, gerade so viel Platz,
daß die Arme fliegen und die Beine still stehen können, daß ich alles besitze, ohne es markieren zu müssen, dort
der Zeitschriftenständer, in einer alten Ausgabe der WIENERIN eine aufstörende, verwirrende Diesel-Werbung,
hier der kastenförmige Boiler mit seinem beängstigenden Blubbern und Krachen: Was heiß wird, stirbt und
zerlegt sich, wenn es kalt wird auch, wir müssen es aber kalt machen, damit wir es anschauen können. Hitze ist
Freiheit, Essen ist fertig.
- ne Margaritas obijce porcis / seu Asino substerne rosas -
13
Bockerlfels, Zitronanschale, Buttasuppn. Zitronanpickats Madl, sschauflt maram Tella, iram Tella, Schöpfa voll,
wasna jinglicha Schmaus, ned. Aba schlecht fias Beichl: Wos de Sitzlinian, da Pfeil noch untn, so krummat wia
da Pfeil auf da Sehne. Hariga Pfeil. Is ned hungri.
Nicht hungrig: ist das Wasser. Nur vielleicht ein Bissen. Oder zwei. Meigod, des Kleid kann’s vagessn, oarms
Kind. Schaut mara magaraus. Pfutter und Erpfele, Erpfele und Pfutter. Imma erst nachdem’s as dalebt haben;
probiert muaß ma’s ham. Schlecht fia di Ausdaua. Ein desperater Turm ist es, ein Fleischberg, aufgetürmt: So
wird auch Gift verbreitet, Viren, Krankheiten, solche tollen Dingers. Türme und Essen: gar nicht so sicher.
Daher kummt a de Hand- und de Voglseuche, hatta gsacht. Schmeckn tuats wiara Truthahn af Maroni, schlapp,
Bockerl, Zitron. Friß a Schwein wiara Schwein. Aber wieso sind dann Salzwasser-Fische nicht salzig? Wiris n
das?
Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand in der Mitte des ruckelnden Abteils (ihre Arme und ihr Kleid hingen an ihr
herunter, und sie wünschte, der Wind würde darunterfahren und ihr den Schweiß vertreiben); Ich aber liebe ihn,
sagte sie und stand in seiner Kirche (sie sah, daß seine Ohren unterschiedlich groß waren, ein kleines bißchen
nur, und seine Haare standen wild darüber ab); Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand auf einer Brücke (der Ort
des Wahnsinns, wissen wir, ist immer eine Brücke).
Imma no die eckatn Knochn, a Hautsack, nur Brot und schlabbaschlappa Suppe. Durndal! I wer no grantisch.
Weiba, ned. De Neigia imma. Soizsö. „Bitte das Salz.“
Koeds Fleisch, neda. Wecka. De buttan se sölba ein, Miri schmecktas sölba, min Schleia om. Komma ned
schlecka, de Laschn. Oba olles inda bestn butta brotn. Na de kriagn vu mia ka Schmoiz. I bin ja scho laar, im
Herzn und a sonstwo, wastuama? essn, trenzn. Sie woa jo damois noah Klankind. Miri hot des elegantfraue
Kleid do g’habt, mit de Froschzöpf, handg’macht mit überzogene Knepf. Hodaraba guad paßt, wiara
Handschuach, an de Schuitan und Hiftn. Grad ers gscheid ausgfüllt. Des woan no Zeidn. Gmiadlicha Raum woa
des mid dera rotn Tapetn; d’Loss ihre Woschnacht, hab ia de a teire Seifn kauft, gieriga Gruch von den
Badwossa. Komisch hots ausgschaud so ganz eigseifad. Gschmeidig aa. A foto, ned, n Voda sei DauchterotypieStudio, wosarimma davo gret hod. Vareabt si, ned. Aber da kann man ja gar nicht gscheit essen. Der wetzt da das
Messer & die Gabel, schlingt’s in sich hinein, altes Schwein, stochert in seinen Zähnen herum. Rülpst, voller
Mund, Wiederkäuer. Nur bloß nicht hinsehen. Vuaha und Nocha. Dankeschen nochm Essn. Schaud des aane
Büd on, dann is andare. Stopft sich voll mit Erpfelgrösti, schmatzt und Brot und Zunge. Nocha schleck jetz no
die Schüssl aus! Nichts wie weg hier.
Schaud umadum, ziacht de Nasnfliagl ein, oide Kenigin im Badesessl. „Eigentlich muß es ja für die früher
ziemlich gefährlich gewesen sein, wenn die noch nicht gewußt haben, was giftig ist und so. Da traut man sich ja
gar nichts essen.“ Ziagt a Schnutn. Will nua ablenkn; kochn duats ja, aba essn wüs ned. Naguat. Also:
„Besonders giftige Beeren. Wenn’s rund ist, hält man’s erstmal für gut, ned. Aber grelle Farben sind ein gutes
Warnzeichen.“
„Und der eine hat’s dann immer dem Nächsten erzählt, ned, ah, der und der is daran gestorben, besser nicht
essen.“ Bessa essn, Knochnsack. Aba di werma schono zwangsaneahn. Wos isn jetz schowieda? „Zuerst am
Hund ausprobiern.“ – „Na der erkennt’s wahrscheinlich am Geruch oder so. Is da scho im Hirn
einprogrammiert.“ Mm. Süße Frucht, ned. Eistütten. Krem. Instinkt. Sowas wiara Obstschüssl, ois zastompft.
Unappetitlich wie Gewölle. Sowas würde ich ja nicht einmal küssen. Na sisja woi a jungs Fleisch in da Pfannen,
hupft wiarawos, brutzlt, haha. Schlechte Augn. A Frau, eigentlich. Wer war das nochmal, der seine eigenen
Schuppen gegessen hat. Billig. Möhl. Aber es riecht so gut! nach wilden Kräutern und Betersilie und nach
frischgebackenem Brot (ja, gut!). Und grinsend gschnüfflt, ned, Stückl für Stückl, Brod macht breit und schlank
macht schlimma. A roes Gschnetzltes. Guad so. Perfrumious (Englisch einfach), so wias areinsiadla mocht, mid
ana Fleischplattn, dossar de Versuchung ned spiat. Erkenn mi kumm ume und iß mid mia trink mid mia geh mid
mia ham. Indar Bibl, ned. Und dann um Sechs arum oda so geht’s nocharan. Sechs, Sechs. De Zeit wiad a wecka
sein. Es ...
„Also mein Teller ist leer. Nach dir, mit unsan eingebautn Trinkbecha.“ Kwön. „Geh nimm an Klunkta.“ –
„Jadubidad.“ Nocha se dudad. Wie ein König sitzt er auf dem pelzigen Thron, lebt in langwieriger Leidenschaft
obwohl sein modischer Geschmack schon absurd genug ist, wahrscheinlich ein paar Jahrhunderte vor dem
Trend. Rotes weiß saugen. Juju, türmt er. Juju. Bloß keine Butter, kein Fett. Sabbalot.
Ai des woa itz netig. Swoa grad so foablos. Dealba me, Domine, et munda cor meum; ut, in sanguine Agni
dealbatus, gaudiis perfruar sempiternis (quod sit Divinum Verum procedens a Domino). Quam clavi ferrei
inseruerunt. Fünf bis 18 Prozent der bekannten Fälle führen zum Tod durch Verhungern.
Ohtarcalimo, das Wildschwein im Wald, ist nicht so gedankenlos, wie es durch die müden Augen seiner Tochter
scheinen mag; er ist der eigentliche Gegenstand seiner Profession, ein wunderbares Exemplar, ein komplexbeladener Mann im mittleren Alter, mit einem geregelten Einkommen und einer resignierten Einstellung dem
Leben und den Läufen des Schicksals gegenüber, die ihn durch Wechselbäder von dumpfer Untätigkeit und
unmotivierten Verrücktheiten zerrt. Er ist derjenige, der sich früher oder später selbst auffressen wird in seinem
Wahn, und der dennoch nicht aufhört, sich in anderer Menschen Köpfe hineinzudenken, ihre Ansichten und
Standpunkte zu verdauen und sein eigenes Gehirn auf diese Weise unbemerkt zu übersättigen.
14
Seine Klienten besuchen ihn meist am späten Nachmittag; als er an diesem Tag seine Ordination verläßt, hat er
die vergangenen Stunden bereits vergessen und ist in Gedanken zurück beim Mittagessen, bei Losse, seiner
Tochter, die er in Gedanken immer noch in Großbuchstaben und mit langem „e“ schreibt: LOSSĒ – und was ihn
an diesem spindeldürren Geschöpf noch immer Sorgen macht, sind, leidiges Spiel, die Männer.
Er war ja selber einmal einer, und er glaubt, die ganze Geschichte zu kennen; doch die gesamte körperliche und
geistige Entwicklung seiner Tochter ist schon bisher derart ungewöhnlich verlaufen, daß er bezweifelt, sie mit
den herkömmlichen Modellen beschreiben zu können.
Er kann nicht einmal mehr ruhig schlafen, denkt er. Er glaubt zu wissen, wie sich Beziehungen und Freundschaften unter den heutigen Jugendlichen entwickeln; immerhin hat er das alles schon bei seinem Sohn erlebt,
dem Miststück, und er hört ja auch von seinen Klienten genug von solchen Dingen. Er wünscht sich nur ein
bißchen pubertäre Normalität bei seinem Mädchen, er wünscht sich eigentlich nichts weiter, als daß sie
möglichst bald eine Beziehung anfangen, sie dann mit Begeisterung rasch für immer andere austauschen und
schließlich in den Armen eines idiotischen, verzweifelten Bräutigams landen würde, der ihren armen, geplagten
Vater für längere Zeit von ihr erlöst.
Natürlich funktioniert das nicht ganz so, und Ohtarcalimo ist deswegen bereits so unruhig, daß er prompt die
Stadt verläßt, ins Gebirge hinaufsteigt und sich auf den Weg zum apollonischen Orakel begibt. Dort, in der
felsigen Einöde, betet er zu dem alten Gott und opfert ihm, und endlich läßt ihm Apollo einen Spruch
zukommen, dem Fragesteller zuliebe sogar in dessen eigener Sprache:
Hoch auf den Gipfel des Berges, Vater, stelle das Mädchen,
Und als des Todes Braut trage sie festlichen Schmuck!
Nimmer erhoff einen Gatten für sie aus der Sterblichen Stamm, denn
Grausam und frevelnd und kühn wird einst ein Unhold sie frein,
Der sich auf Schwingen ihr naht durch die Lüfte und alles beunruhigt,
Wenn er mit Flamme und Pfeil alle Geschöpfe bezwingt.
Jupiter selbst erzittert vor ihm, die Götter erschrecken,
Vor ihm schaudert der Pfuhl, schaudert die stygische Nacht!
Natürlich ist Ohtarcalimo erfahren genug im Spiel der Symbole und Andeutungen, daß er die ursprüngliche
Angst, die dieser Spruch ihm in die Knochen jagt, bald wieder abschütteln und als grundlos abtun kann; sieht er
doch hinter die Worte und glaubt, die dort verborgene Bedeutung klar zu erkennen.
LOSSĒ, so denkt er, ist zu aktiv, um mit ihrer gegenwärtigen Figur zu gefallen. Sie steht und tanzt und läuft zu
viel; sie sollte vielmehr liegen. – – –
- final variant Sie sehen Losse im Bett. Sie liegt auf der linken Seite, wie immer, beide Hände unter den Polster und diesen
unter den Kopf geklemmt, den Rücken gekrümmt, die Beine halb angezogen, der rechte Fuß genau auf dem
linken. Sie wackelt mit dem rechten Fuß hin und her, der Zehenknöchel dient als Achse, der ganze Körper
wackelt mit, sie merkt es gar nicht: Sie kann nicht einschlafen. Sie fürchtet sich vor dem Traum.
Sie will sich strecken und herumwälzen, aber sie traut sich nicht. Sie fürchtet sich vor dem Schmerz. Zuerst legt
sie sich immer alles ausgestreckt auf den Rücken, weil das besser für die Wirbelsäule und nicht so kindisch ist,
aber so kann sie erst recht nicht einschlafen. Sie klappert mit den Zähnen, merkt es irgendwann und macht ein
Lied daraus, ein Klapperlied. Sie dreht sich versuchsweise auf den Rücken und streckt die Arme in alle
möglichen Richtungen. Dann beginnt sie, an ihrem rechten Handrücken zu knabbern. Sie nimmt die dünne Haut
zwischen die Schneidezähne und zieht sie ein Stückchen vom Knochen weg, läßt sie dann wieder los, das macht
ein leises Knurpsgeräusch, und das nächste Stückchen Haut, die Fingerknochen und dann die Finger entlang, in
einer festen Reihenfolge, zuerst die rechte, danach die linke Hand, dann die Handinnenflächen, später vielleicht
noch die Arme, sie versucht, wie weit sie kommt: Nicht ganz bis zu ihren Schultern. Sie macht das sehr
rhythmisch, sie macht ein Lied daraus, ein Hautkiefellied. Sie wackelt wieder mit den Füßen, diesmal absichtlich
und abwechselnd.
Sie hat genug Platz im Bett, die Matratze ist nicht besonders dick, aber sie liegt auf einem federnden Gitter. Es
knarzt ein bißchen, wenn sie Liegestütze macht, aber OC schläft ohnehin auf der anderen Seite des Hauses und
irgendwie muß sie sich ja müde machen. Beim Fenster scheint natürlich genau dort eine Straßenlaterne rein, wo
die Sonne nur ein paar Minuten pro Tag hinkommt, ein bißchen sogar auf die grüne Zimmerpflanze. Immer
wenn ein Auto auf der Querstraße vorbeifährt, wandern überlappende Lichtstreifen über die Decke, Losse kennt
das Muster schon auswendig. Sie hat einmal versucht, es zu zeichnen, aber natürlich hat keiner erkannt, was es
sein soll.
Losse biegt ihre Finger nach hinten: Sie dehnt ihre Sehnen, indem sie die obersten Fingergelenke zwischen den
Bettrahmen und die Matratze klemmt, so, daß sie in einem spitzen Winkel zum Unterarm gehalten werden, und
dann mit einem Kugelschreiber, der auch zwischen Rahmen und Matratze steckt, auch den widerspenstigen
Daumen zurückbiegt. So bleibt sie, solange sie kann; es funktioniert blöderweise nur mit der linken Hand.
Irgendwann hat sie gemerkt, daß einschlafen nur dann funktioniert, wenn man irgendeinen Gedanken aus dem
eigenen Kopf herausnimmt und ihn behandelt, als wäre er eine andere Person.
15
/|\
Third Movement: School
wherein the first fragmentation of the primary matter is attempted, and some measures towards
the second consolidation are taken
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Reine Jungfrau, kaiserlicher Diamant unter allen Gemmen der
Weiblichkeit; Schmuck, der beim Vergleich den himmlischen Kronen nicht nachsteht; deine kostbaren Glieder
wissen von keiner Umarmung, und deine Nerven, empfindsame Saiten, haben keinen mißtönenden Finger
erduldet; Geige, in der die Harmonie noch schläft, Klavier des Schweigens! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst
vor dem Biest, will seine Lügen nicht mehr hören; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. –
„Lob sei dir!“)
1
Ferdit trottete langsam die Schulgasse hinauf, die Kapuze seines weiten Pullovers tief ins Gesicht gezogen, die
Hände in den Taschen. Der Wind blies ihm gelbbraunes Herstlaub vor die Füße, und einige Meter vor ihm
klapperte eine leere Coladose auf dem Asphalt.
Er war frustriert.
Nicht, daß er dazu irgendeinen Grund gehabt hätte. Erst vor Minuten war er aus dem warmen Bett gekrochen,
hatte geruhsam gefrühstückt und sich aufgemacht; als Einzelkind war er verwöhnt und damit meist zufrieden.
Auch die Schule, auf die er gerade zusteuerte, war für ihn durchaus kein bedrückender Ort; in seiner Klasse war
er recht beliebt, und auch der Lernstoff bereitete ihm keine großen Probleme. Er verkörperte das bessere
Mittelmaß auf dem Weg nach oben, und auch aus seiner Perspektive zeigte sich kein ernsthafter Grund für
seinen Frust.
Doch er war da, und der offensichtliche Unsinn seines Gefühlszustandes verstärkte das bittere Gefühl in Ferdits
Kopf und Magengrube nur noch. Aber da war noch ein anderes Gefühl, das sich in seine trübe Lethargie mit
hineinmischte und ihn zunehmend unruhig machte. Irgend etwas geschah. Irgendein hämisches Instrument des
Schicksals nagte da an seinem Lebensfaden, trieb sich heimlich in den Schatten seiner Gehirnwindungen herum,
war so wichtig und doch so flüchtig, daß er beim besten Willen nicht hätte sagen können, was es war; wobei von
einem besten Willen in seiner momentanen Verfassung ohnehin nicht zu sprechen war. Ein unbestimmbares,
aber umso beklemmenderes Gefühl der Angst beschlich Ferdit, und er versuchte trotz der Morgenschmerzen in
seinen Gliedern aus seinem Trott auszubrechen, schneller zu gehen, als könne er damit dem unbekannten Etwas
davonlaufen. Er kickte eine leere Coladose zur Seite. Coladosen hatten den Vorteil, daß sie sich nicht wehrten,
wenn man seine Wut an ihnen ausließ – jedenfalls normalerweise.
Ferdit blieb das beginnende Knurren im Halse stecken, als die Dose sich auszubeulen begann. Sie machte immer
mehr den Eindruck eines unförmigen, bunt bedruckten Balls – und explodierte schließlich in einem grellen
Lichtblitz. Ferdit spürte keinen Schmerz, keine Druckwelle, nur ein gewaltiges Wühlen in sich, als würde er von
innen heraus umgestülpt. Er griff sich an den Kopf, als ihm schwarz vor den Augen wurde, dann brach er
ohnmächtig zusammen.
2
Simon Ra saß in Lotusstellung inmitten seines rotgetäfelten Meditationsraumes, als der Schmerz wie ein häßliches Geschwür in seinem Hinterkopf explodierte. Sein Oberkörper wölbte sich in einer unwillkürlichen
Bewegung vornüber, als sich alle seine Muskeln mit einem Mal anspannten und in einem einzigen stimmlosen
Schub alle Luft aus seinen Lungen gepreßt wurde.
Die letzten Schmerzfäden zogen sich noch durch seinen Kopf, als Simon bereits in einer flüssigen Bewegung
aufstand und mit geübtem Blick den Raum auf Veränderungen absuchte. Er kannte diesen Schmerz, wenn auch
nicht in diesem Ausmaß; die Obersten der Gilde fügten ihn zuweilen ihren Schülern zu, um sie von einem
Fehltritt abzuhalten, oder um sie aus der Trance zu reißen, bevor sie einer bösartigen Monade begegneten. Wer
diesen Schmerz verspürte, mußte sich unverzüglich an seinen Lehrer wenden; er war das Rufsignal, die zornige
Ermahnung.
Aber Simon Ra hatte keinen Lehrer. Er war der Großmeister der Gilde, und keinem lebenden Wesen wäre es je
gelungen, seine geistige Barriere zu durchbrechen. Er war unangreifbar.
Die Tapetentür flog auf und Frater Josephus stürmte in den Raum; ein Verstoß, den er sich unter gewöhnlichen
Umständen niemals erlaubt hätte. Simon brauchte nicht in seine gehetzte Miene blicken, um zu wissen, daß er es
auch gespürt hatte.
Josephus, weniger geschützt und beeinflußbarer als sein Meister, taumelte und suchte mit flatternden Armen
nach Halt. „Alles bricht auseinander“, keuchte er; dann stürzte er zerschlagen zu Boden.
16
3
Als Ferdit erwachte, lag er noch immer auf dem Bürgersteig. Die Coladose war verschwunden, aber noch immer
meinte er, ganz nah eine dunkle, unbestimmbare Existenz zu fühlen. Er warf einen Blick auf eine Uhr: Eile war
zwecklos, er war längst zu spät. Er würde sich irgendeine Ausrede einfallen lassen müssen; sein Lehrer würde
ihm bestimmt keine Geschichte von einer leeren Coladose glauben, die durch seine bloße Berührung explodiert
war.
Zwar klang die Version mit der steckengebliebenen U-Bahn auch nicht besonders überzeugend, doch der Lehrer
ließ die Sache auf sich beruhen. Während der noch immer etwas benommene Ferdit auf seinen Platz in der
hintersten Reihe zusteuerte, fing er einen kurzen, irritierenden Blick von Losse auf, einer merkwürdig
verschlossenen Mitschülerin, die in der Bankreihe vor seinem Platz saß. Mit angespanntem Gesicht setzte er sich
hin und versuchte für einige Minuten, den Ausführungen des Lehrers über den mathematischen Nullwert von
Linien oder Kanten, über Einheitsquadrate und den Kubus als vollkommene Figur zu folgen, bevor sein unsteter
Blick an Losses schlohweißem Haar hängenblieb. So eine gestörte Person, dachte er, und: Könnte sie etwas
bemerkt haben? – Der Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, verfolgte ihn; irgend etwas köchelte in dieser
Bohnenstange.
Sie wandte den Kopf; das Morgenlicht zog scharfe Kanten in ihre blasse Miene. Wieder trafen sich ihre Blicke,
und es war wie ein Blitz.
4
„Frater Antonius.“ Die Stimme des Großmeisters klang selbst durch den Zerhacker noch untypisch erregt;
Antonius Gerentz nahm automatisch Haltung an und tauschte besorgte Blicke mit seinen Confratres. „Meister.“
„Ihr geht dieser Sache sofort nach.“ Weitere Erklärungen waren unnötig; Simon Ra wußte, daß ein Ereignis von
solcher Tragweite keinem seiner Adepten verborgen geblieben sein konnte. „Du und alle, die bei dir sind.“
„Die gesamte Kongregation ist versammelt, bis auf Deleuze. Sie sind alle sofort hierher gekommen.“
„Sehr gut; einige sollen hierbleiben.“ Der Großmeister unterbrach die Verbindung und wandte sich mit
gefurchter Stirn dem Obersten Rat zu. „Das Gebot der Geheimhaltung bleibt aufrecht“, erklärte er mit
Entschiedenheit. „Was immer hier geschieht, wird unser aller Leben auf nicht absehbare Weise verändern; aber
es wäre nicht daß erste Mal, daß wir eine derartige Krise im Verborgenen meistern könnten.“
„Es könnte das letzte Mal sein“, wandte einer der Räte ein. „Zyklisch gesehen –“
„– läßt sich zu jedem Zeitpunkt eine Idealkonstellation für den Weltuntergang festlegen“, unterbrach ihn ein
Anderer. „Verzeihen Sie meinen Zynismus, aber es ist jetzt wahrlich nicht der Moment für derlei
Spekulationen.“
Simon Ra bedeutete ihm, zu schweigen. „Das ist die Art, mit der Weltöffentlichkeit zu reden; aber wir wissen
alle, daß es sich hier um einen auf vielen Ebenen wichtigen Vorgang handelt.“
„Das Paradox“, sagte einer.
„Es ist viel einfacher“, warf ein Weiterer ein. „Wir haben es hier mit einer allgemeinen Aufspaltung zu tun. Mit
einer Zersetzung im ursprünglichen Sinn. Und alles, was wir tun können, ist, den Nexus dieser Zersetzung zu
finden und zu bewahren.“
5
Ferdit war wie betäubt. Irgend etwas war mit ihm geschehen, als ihn Losse das zweite Mal an diesem Morgen
angeblickt hatte; und wieder konnte er nicht fassen, was es war. Es war, versuchte er zu formulieren, als bildete
sich irgendwo in ihm ein kleiner Knoten, der sich immer enger zusammenzog und ihn ganz zu einem Ball aus
verkrampften Muskeln reduzieren wollte; nein, es war, als würde sich vor seinen Augen die Wirklichkeit um ein
kleines Stück verschieben, sodaß für einen kurzen Moment, und immer nur aus den Augenwinkeln, die großen
und furchterregenden Dinge sichtbar wurden, die sich sonst dahinter verbargen.
Einige Minuten saß er so still auf seinem Platz, wußte von Zeit zu Zeit nicht, ob er die Augen nun offen oder
geschlossen hatte, bis er durch einen Anruf des Lehrers aufgeschreckt wurde und ihm, während er fieberhaft in
seinem Gedächtnis nach einer Antwort auf die gestellte Frage kramte, der kalte Schweiß ausbrach.
Jetzt, dachte Ferdit, war es vorbei. Es war ganz einfach vorbei. Aus.
Aber er hatte sich zu früh gefreut.
6
19. August
Wieder ein Tal, diesmal Wüstenboden. In der Mitte ein Brunnen. Wind (?). Die häßlichen
Kinder kommen aus allen Ecken gerannt und wollen mich fressen oder so. Ich laufe mit ungeheurer Anstrengung
ein Stück, komme nicht mehr weiter, drehe mich um: Sie kommen auf mich zu, gaaanz langsam, bedrohlich. Ein
grausliger Vogel fliegt über mir vorbei und lenkt mich ab. Ich habe Angst und beiße mir auf die Unterlippe, daß
sie blutet.
7
die riesin:
17
im erzwald, im osten / sitzt sie, die alte,
wo wölfe nur / den winter künden.
die brut des wolfes / bringt sie zur welt
des taglichts töter / trollgestaltet.
8
Das kleine, scheppernde Etwas, das gerade mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit einen Felsbrocken
umrundete und dabei Moos und Walderde zu kleinen Prallhängen am Rande der Fahrspur zusammenschob, war
ein ausgemusterter Militärjeep, an dem sein jetziger Besitzer seine ganze Bastelleidenschaft ausgelassen hatte.
Das Ergebnis sprach für sich: Remy Deleuze, der sich im Bereich der Hinterbank verspreizt hatte, um nicht bei
jeder scharfen Wendung gegen eine Verstrebung zu stoßen, war dem Erbrechen nahe und hoffte nur, der
eindeutig durchgedrehte Fahrer würde jetzt bald die versprochene Autobahn finden.
„Festhalten!“ rief dieser, während er mit heroischen Bewegungen am Lenkrad zerrte. „Und bete für meine
Stoßdämpfer!“
Deleuze fand keine Zeit, sich über die Stoßdämpfer Gedanken zu machen, denn nur einen Augenblick später
brach der Jeep aus dem Wald hervor – und hing für einen Moment in der Luft, bevor er mit übelkeiterregendem
Krachen auf der tiefer liegenden Autobahn aufkam und dort für einige Sekunden im Leerlauf weiterrollte.
Deleuze warf einen atemlosen Blick zurück auf die Geländekante, von der sie gerade gesprungen waren, große
Brocken Erde und Botanik mit sich reißend; als er sich mit einem halb erleichterten Seufzer in den Sitz
zurückfallen ließ, hatte der Fahrer bereits wieder einen Gang eingelegt und hielt mit steigender Geschwindigkeit
auf die Stadt zu. „Ich weiß“, ließ er ungefragt vernehmen. „Wir haben es eilig. Okay. Ich tu, was ich kann.“
9
Losse befand sich in einer verzweifelten Lage. Überall um sie herum zuckten Flammen in willkürlichen
Abständen aus dem Boden und drohten sie zu verbrennen. Sie hüpfte wie wild hin und her, um den Feuerzungen
auszuweichen, die immer schneller und unberechenbarer wurden.
Sie befand sich in einem riesigen Raum, welcher der Innenseite einer Röhre glich. Sie stand in der Mitte der
Röhre, auf einer massiven Säule ohne erkennbaren Anfang oder Ende, die nur durch einen schmalen Steg mit
einem Loch in der Wand des Raumes verbunden war.
Auf einmal fegte aus dem Grund des Schachtes eine gewaltige Feuersäule herauf und setzte die Röhre in dessen
Mitte in Brand. Die heraufströmende Hitzewelle raubte Losse den Atem, und sie übersprang voll Panik die
Feuerwand, die sie von dem Steg trennte.
Sie sprang daneben. Sekundenlang war sie bewegungsunfähig, doch dann streckte sie in einer blitzschnellen
Reaktion die Arme aus und klammerte sich am Rand des Stegs fest. Ein Schwall Hitze ergoß sich über sie, und
sie zog sich unglaublich schnell hoch und begann zu laufen. Hinter ihr hatten die Flammen bereits die Brücke
erreicht, die nun bei jedem Schritt bedrohlich krachte. Losse nahm Anlauf, sprang und –
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die drei gockel:
war auf dem hügel / der wölfe hüter
wo er bewachte / der alten brut.
bei ihm krähte / im kiefernbusch
der feuer-hahn / der fjalar heißt.
den göttern krähte / der goldene gockel
weckte die helden / des walvaters heer.
krähte ein andrer / unter der erde
ruß-roter hahn / im hause der hel.
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„Deleuze ist nicht zu erreichen.“
Irgendetwas hämmerte im Hinterkopf des Großmeisters; keine noch so ausgefeilte Atemtechnik schien es
vertreiben zu können. „Vergessen Sie ihn. Vergessen Sie Deleuze.“ Es wurde langsam Zeit, sich damit abzufinden, daß nichts mehr so sein würde wie früher. Eine ungeheure Entladung auf der Astralebene – ganze Teile
des Universums standen in Flammen – kaum ein Gebiet, auf dem nicht zerstörerische Umbrüche anstanden –
selbst in der vollkommen abgeschirmten, bleiverkleideten Zentrale der Gilde, in der Gebetskammer der
Kongregation, war der Ruf des Gjallarhorns zu hören, das Geräusch des Einen Auges, das sich öffnete ...
„Aber“, widersprach Frater Antonius, „wenn die Zwölf nicht vollständig sind – “
„Schweigt.“ Mit einer endgültigen Geste führte Simon Ra die linke Hand, Innenseite nach außen, von oben nach
unten an seinem Gesicht vorbei. Antonius Gerentz war ein nützlicher Helfer, ein vielversprechender Adept, aber
seine Kenntnis der tiefsten Geheimnisse beschränkte sich auf trüben Aberglauben. Zwölf! Er hatte ganz
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offensichtlich nichts verstanden. Elf – Elf war die Zahl, „eilf“, wie die Alten noch immer schrieben, und für
diese magische Konstellation war die leibliche Gegenwart der Obersten Räte in keiner Weise von Bedeutung.
Der Großmeister stieß die Türe des Gebetsraumes auf und huschte im kontrollierten Laufschritt durch die engen
Gänge der unterirdischen Anlage. Wo er hinkam, eilten Boten von Raum zu Raum, drängten sich Menschen in
Grüppchen zusammen, wurden Pläne geschmiedet, Spekulationen hin- und hergeworfen und Beruhigungsübungen zelebriert. Wäre es nicht um die beruhigende Alpha-Musik aus den allgegenwärtigen Lautsprechern
gewesen, die Zentrale wäre längst zu einem Tollhaus geworden; auch so war alles voll fieberhafter Aktivität, und
doch schienen die hier versammelten feinfühligsten Menschen der Welt nicht den geringsten Hinweis darauf
erhaschen zu können, warum – eine Coladose explodiert war!
Das war alles schon einmal da, fuhr es wie ein Blitzschlag durch Simon Ras Gehirn. Wir haben das alles schon
einmal erlebt – und es überstanden.
– Wißt ihr auch, aus welchem Grund die Nordländer von den Götterdämmerungen erzählen, als hätten sie schon
längst stattgefunden? –
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– kam genau auf dem letzten Endstück der Brücke auf. Sie hörte ein letztes, bedrohliches Knirschen, dann brach
der Steg unter ihren Füßen weg, und sie stürzte, sich wild überschlagend, in den scheinbar bodenlosen Abgrund.
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das kriegshorn:
brüder einander / bringen ums leben
brudersöhne / brechen die sippe.
schwertzeit, beilzeit, / schilde bersten
windzeit, wolfzeit / eh die welt vergeht.
es gärt in der höhe / des gjallarhorns,
des alten, klang / das ende kündet.
hell bläst heimdall / das horn erhebt sich
riesenheim rast / beim rat sind die götter.
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Auf der Bühne sprang der Hohepriester mit ungekanntem Furor hin und her und brüllte seine Litaneien ins
Mikro, als spürte er bereits die kommenden Flammenstöße; die Zuschauermasse wogte und schrie sich ihre
eigene Angst aus dem Leib. Von düsteren Vorahnungen getrieben, bewegte sich eine einzelne Gestalt gegen die
Masse, drängte sich durch die stinkenden Menschenleiber und erreichte endlich die müllübersäte Campingwiese
am Rande des Veranstaltungszentrums.
Die Schlafplätze waren verlassen; es war der Band tatsächlich gelungen, nahezu alle Festivalbesucher auf die
Beine zu bringen. Nur in einem einzigen Zelt war noch Licht; der Schatten einer liegend hingestreckten Gestalt
zeichnete sich auf der weißen Plane ab.
Mit unsicheren Schritten bewegte sich Onóno auf das Zelt zu. Der säuerliche Geruch von Erbrochenem stieg ihm
in die Nase; ein Hauch von Kaffee; Gras. Er stieg über eine zusammengerollte Isoliermatte, beugte sich zum
Zelteingang hinunter und grinste.
Wer immer da drin war, er oder sie rauchte eine verdammt gute Mischung. Alamout Black oder so. Mal
schmecken. – Er zog die Vorhänge auseinander.
Holy shit, entfuhr es ihm. Auf eine dichte rote Matte waren helle Seidenschleider drapiert worden, darauf ein
rosafarbener und ein tiefroter, blütenförmiger Polster, und in der rechten hinteren Ecke lag ein irisierender blauer
Ball, der das ganze Zelt mit Licht und transparenten Schatten erfüllte. – Und direkt vor ihm, über die ganze
Pracht gebreitet, lag eine üppige Schönheit, nur mit einem dünnen gelben Kleid bekleidet, und lächelte ihm
entgegen.
„Hallo“, sagte sie und richtete sich ein wenig auf; in der Bewegung wurde das Licht schwächer, sodaß er sie bald
nur noch als dunklen Schemen vor den kunstvollen Falten ihrer Ruhestatt erkannte. „Und vor dir“, fügte sie mit
leisem Amüsement hinzu, „sollen wir uns fürchten? Die Nacht erschaudern? Die Nacht?“ – Sie lachte. – „Du
warst doch schon einmal da. Wieso sollten wir vor dir erschrecken?“
„Aber nein“, sagte Onóno, da er sich nicht ganz sicher war, ob er mit den Worten der Wollüstigen gemeint sein
konnte. „Das ist es nicht, warum ich hier bin. Ich weiß ja nicht einmal, wer Ihr seid.“
Das Licht erstarkte wieder; der Schleier war von ihr abgefallen, und sie blickte ihn geradeheraus an. „Rate.“
„Aphrodite Porn.“ Das war geraten, aber er wußte nicht einmal, woher. Es paßte irgendwie, auch wenn es
zunächst obszön klang. Sie war ja obszön. Ob-scena.
„Na also“, sagte sie; „und dann weißt du wohl auch, warum du gekommen bist. – Nur keine Angst! es geht
schon.“ Und sie räkelte sich auf ihn zu und griff in eine Tasche, die neben seinen Füßen stand. „Zwei Äpfel“,
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sagte sie und reichte sie ihm; sie waren schwer und golden, aber so zart und warm wie wahre Früchte. „Du wirst
noch einen weiteren brauchen.“
Onóno nahm die Äpfel und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. „Sie wird dir nicht entkommen“, versicherte
ihm Aphrodite; „aber sie wird zittern: O ja, sie wird sich fürchten. Aber du mußt dich vor ihr hüten.“
„Eigentlich“, erwiderte Onóno etwas unsicher, „bin ich ja hierher gekommen, um Musik zu hören.“
Aphrodite lächelte und entließ ihn mit einem zarten Wink von ihrer Hand. „Nun geh schon, geh schon. Aber sie
wird dich vernichten.“ –
„Schon gut, schon gut.“ Als Onóno das Liebesnest verlassen hatte und sich unter freiem Himmel aufrichtete, war
die Bühne längst zusammengebrochen; wo zuvor die Zuschauermassen getobt hatten, klaffte jetzt nur eine
gähnende Spalte, aus der Hitze waberte und den Horizont verschleierte.
„Ich glaube“, sagte Onóno für sich selbst, „daß ich der einzige bin, der hier noch auf zwei Beinen steht. Ich
nehme an, dann muß ich es auch überleben.“
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– landete sicher auf der Plattform vor dem Ausgang. Schon züngelten die Flammen durch das Loch, als Losse zu
laufen begann. Sie hatte sich nach dem Sprung schmerzhaft den Knöchel verstaucht, darum humpelte sie leicht,
als sie das Landedeck erreichte. Ohne weiter zu überlegen, sprang sie in das Gleitboot, das für sie bereitgestellt
worden war, und sauste los.
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„Ferdit, was glaubst du, passiert, wenn ich jetzt diese Säure mit Kalkwasser mische?“
Laß mich doch bloß in Ruhe, Versager, dachte Ferdit; „Sie wird neutralisiert“, sagte er, ohne auch nur den
Schatten einer Ahnung zu haben.
„Bist du sicher?“, fragte der Lehrer in betont neutralem Ton. – „Absolut“, erwiderte Ferdit gelangweilt; nur
Sekundenbruchteile später wunderte er sich bereits über die unbeabsichtigte Lüge.
„Dann greif’ doch mal hinein!“, forderte ihn der Lehrer auf und schubste ihn zu der Glasschüssel.
„Also, ich meine, ich bin mir nicht – “, wollte Ahmed sagen, doch da hatte er bereits die Hand an die Oberkante
der Schüssel gelegt. Als er mit den Fingerspitzen die klare Flüssigkeit berührte, spürte er ein leichtes Prickeln
und wollte schon die Hand zurückziehen, als er sah, wie sich die Flüssigkeit trübte und eine unangenehme,
gelbliche Färbung annahm. Erst dachte er, das sei eine natürliche Reaktion auf den Kontakt mit seiner Haut
gewesen, doch dann packte ihn der Lehrer unwillkürlich an den Schultern und riß ihn zurück, fort von der
Versuchsanordnung. Das wissende Grinsen auf seinem Gesicht war verschwunden, und es zeigte nur mehr
blankes Entsetzen.
Die Flüssigkeit hatte inzwischen das Aussehen einer dunkelgelben, undurchsichtigen, dickflüssigen Pampe
angenommen, und die Schüler zogen sich verängstigt in die Ecken des Versuchslabors zurück. Das allgemeine
Murmeln verfestigte sich zu einem Schrei aus dem Mund von Thomas, Ferdits Sitznachbar, der nun in einem
Anfall von Panik alle Mitschüler in seiner Nähe von sich stieß und im Begriff war, nach hinten umzukippen. –
Losse bekam einen Stoß von hinten und schlitterte in die Mitte des Raumes, gegen den Versuchstisch. Sie griff
nach der Tischkante und klammerte sich daran fest; als Thomas am Boden aufprallte und erneut schrie, zog sie
sich blitzschnell und mit tänzerischer Gewandtheit hoch –
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Losse fiel und fiel. Der Flugwind sauste ihr um die Ohren und raubte ihr fast die Sinne. Sie konnte nicht
abschätzen, wie lange sie bereits gefallen war, aber auf die Vorbereitung auf einen plötzlichen Tod war eine
schnelle Ernüchterung gefolgt. Doch nun glaubte sie bereits den Boden des Schachtes zu erkennen, der schneller
und immer schneller auf sie zuraste –
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Losse tastete nach einem Halt und spürte den Rand der Schüssel zwischen ihren Fingern. Sie reckte sich auf,
rutschte ab, und ihre Finger glitten an dem kalten Glas nach unten. „Nein!“, schrie Ferdit und wollte auf sie zu
stürzen; „Paß auf!“
Doch es war bereits zu spät. In dem Augenblick, als Losses Finger die Flüssigkeit berührten, erfaßte Ferdit ein
überwältigendes Gefühl der Panik, das ihn kraftlos zu Boden sinken ließ. Wieder hatte er das Gefühl, eine
dunkle, unnennbare Macht würde in seine Welt eindringen und sein Leben unwiderruflich verändern.
Zuerst dachte er, irgendetwas versuchte, die Wand zu durchbrechen, aber bald wurde ihm klar, daß die Wölbung,
die er sah, keine Ausbeulung in der Wand, sondern eine in der Wirklichkeit war.
Ein gleißender Lichtblitz schoß aus der Öffnung, die nur für einen Moment aufplatzte und sich sofort wieder
schloß, und verwandelte die Welt für einige Sekunden in eine einzige gleißende Fläche.
Der Schein zog sich schnell zurück, doch Losse blieb noch einige Augenblicke von einem blendend hellen
Schleier umhüllt, bis sich das Licht auch hier verflüchtigte und den Blick auf Losse freigab.
Aber Losse war nicht mehr vorhanden; jedenfalls nicht mehr in ihrer wirklichen Form. An der Stelle, wo sie
gestanden war, stand eine Statue, wie aus Glas, in der sich das Lampenlicht rätselhaft spiegelte. Aus
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unsichtbaren schrägen Schlitzen in ihrem Körper floß Blut, das sich auflöste, sobald es den Boden berührte. Das
Blut rann widerstandslos an dem Glaskörper herunter und hinterließ keine Spuren.
Erst nachdem Ferdit für einige Sekunden steif vor Schreck auf dieses undenkbare Bild gestarrt hatte, fand er
seine Bewegungskraft wieder und wollte auf die Erscheinung zulaufen. Doch bereits nach wenigen Schritten
rutschte er auf dem glatten Boden aus und schlug mit dem Hinterkopf auf den Fliesen auf. Ein Schleier senkte
sich vor seinen Blick, doch bevor er in die gnädige Dunkelheit der Ohnmacht versinken konnte, sah er noch, wie
der Blutfluß aus dem unmöglichen Glaskörper versiegte und sich die letzten Gerinnsel an den unteren Enden der
imaginären Schlitze sammelten.
Kaum waren die letzten Tropfen versiegt, wurde Losse erneut von einem gleißenden Lichtblitz eingehüllt und
war dann mit dem Licht verschwunden.
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entfesselung:
gellend heult garm / vor gnipahellir
es reißt die fessel / es rennt der wolf.
im riesenzorn / rast die schlange
mit dem wolfe zieht / die wilde schar.
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Losse schloß die Augen. Sie tastete blind nach dem Knopf für die Automatiksteuerung des Gleitbootes, um sich
zumindest für kurze Zeit auf die Bezwingung der Kopfschmerzen zu konzentrieren, die sie vor wenigen Minuten
überfallen und seither nicht wieder losgelassen hatten. Auf einmal hatte sie das Gefühl, daß irgendein
unbestimmter Teil von ihr mit gewaltiger Wucht zerschmettert würde. Sie zuckte wie unter körperlichen
Schmerzen zusammen. Das Gleitboot neigte sich durch die Gewichtsverlagerung leicht zur Seite, und irgendetwas schien seine Fortbewegung zu hemmen. Losse öffnete verwirrt die Augen, als sie den Widerstand
bemerkte. Sie befand sich in einer scheinbar unendlichen, tiefen Schwärze, in der schemenhafte Figuren von
noch dunklerer Farbe zu wogen schienen.
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„Zentrale Moch? Remy Deleuze, Außenstelle Kleinberg. Ein außergewöhnliches Ereignis – oh ja, sie wissen
schon. Nun, jedenfalls befinden wir uns gerade auf dem Weg zu einem Nexus, der offenbar in irgendeiner Weise
mit der Entladung zu tun hat. Ja, wir haben weitere Entladungen in dieser Richtung beobachtet, möglicherweise
sind Sie in Ihre Richtung hin untergegangen. Wir sind in diesem Moment angekommen – ich melde mich
wieder.“ Der alte Jeep hielt unsanft vor dem schmucklosen Zweckgebäude an, wodurch Deleuze beinahe aus
dem Sitz geschleudert wurde. Unter leisem Fluchen kroch er aus dem Wagen, strich seinen fadenscheinigen
Anzug glatt und steckte das Handy in die Tasche.
„Sie sind bereits da“, sagte der Fahrer. „Die Trüffelschweine.“
Deleuze blickte sich hastig um: Tatsächlich, zwei Polizeiwagen und ein Krankenwagen standen vor der Einfahrt
des Gymnasiums aufgereiht, und gerade öffneten zwei Uniformierte das Tor für die Sanitäter mit der Krankentrage.
„Ferdit Alessio“, ließ sich Deleuze mit einem Mal vernehmen. „Wir suchen Ferdit Alessio. Vierte Klasse. Im
Untergeschoß.“ Bevor die Trüffelschweine noch reagieren konnten, war er bereits in der Aula der Schule und
steuerte auf die Stiege zu. Er erreichte das Labor noch vor den Sanitätern, doch zwei weitere Beamten waren
bereits damit beschäftigt, die aufgeregte Klasse zu beruhigen und den Lehrer nach Einzelheiten zum
Vorgefallenen zu befragen.
„Hinaus hier“, sagte Deleuze, indem er den Raum betrat. „Geordnet und langsam hinaus und die Stiege hinauf in
die Aula. Wir haben hier drin einen Klaustrophobiker.“
Für verwirrte Blicke und Fragen war keine Zeit; der Lehrer hatte ihm bereits im Geiste zugestimmt und
scheuchte die Schüler aus dem unseligen Laborraum. „Ferdit Alessio?“, fragte Deleuze indes in die schiebende
und drängende Gruppe hinein, doch schon bevor er ausgesprochen hatte, wußte er, wen er suchte. „Komm mit“,
erklärte er ohne Weiteres. „Es geht weiter.“
Ferdit gehorchte.
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hitze und auflösung:
surt zieht von süden / mit sengender glut
von der götter schwert / gleißt die sonne.
riesinnen fallen / felsen zerreißen
zur hel ziehn die männer / der himmel birst.
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Langsam senkte sich das Gleitboot auf die bunt markierte Landefläche; kaum hatte es den Boden berührt, als
sich die Hafenkuppel schon wieder lautlos darüber schloß. Mit unsicheren Bewegungen räkelte sich Losse aus
dem Pilotensitz und kletterte aus dem Gefährt; die Luft in der Landehalle war dünn und trocken, und durchsetzt
von einem schalen Geruch von Maschinenöl und Schweiß. Über der transparenten Kuppel türmten sich schwere
Wolken; zu beiden Seiten versperrten ihr hohe Werkzeugschränke die Sicht, und der einzige Ausgang war ein
niedriger, spärlich beleuchteter Stollen, der offenbar in einen tiefergelegenen Raum führte.
Losse folgte den Leuchtanzeigen und betrat den Stollen; als sie eine kurze, konkave Stiege hinuntergestiegen
war, fand sie sich in einem hellen Raum wieder, wo sich die braungoldene Wand- und Deckenvertäfelung in den
glatten Bodenfliesen spiegelte. An der gegenüberliegenden Seite des halbkreisförmigen Raumes waren zwei
schlichte Türen; Losse bewegte sich, scheinbar ohne es zu wollen, auf die rechte zu und blickte, eine Hand auf
die glatte Vertäfelung gelegt, durch das große Schlüsselloch in den Raum dahinter.
Dessen Beschaffenheit war nicht so einfach zu erkennen; erst nach einiger Zeit bemerkte sie, daß sie auf ein Netz
hinunterblickte, unter dem seltsame Gestalten hin und her liefen; es waren zwei von ihnen, erkannte sie endlich,
und es waren mit Sicherheit keine Menschen.
Sie sollte die andere Tür probieren.
Mit einem tiefen Atemzug löste sie sich von dem unwahrscheinlichen Anblick und trat, mit beträchtlicher
Anstrengung, als müsse sie gegen einen starken Windstrom ankämpfen, einige Schritte zurück in die Mitte der
Vorhalle.
Losse, entscheide dich.
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Ein Flammenstoß erschütterte die Erde. Wenige sahen ihn kommen, noch weniger sahen ihn und kamen
lebendigen Leibes davon, doch alle spürten die Begleiterscheinungen: Stoßwellen rasten durch die Erde, brachen
zuerst hier, dann dort an die Oberfläche, rissen tiefe Gräben auf, ließen Gebäude einstürzen und Seen
verdampfen. Die Menschen flohen aus den Städten, wähnten sich am Land in Sicherheit; doch es war nicht mehr
zu kalkulieren, wo als nächstes die dünne Kruste der Erde aufplatzen würde.
Ferdit sah im Rückspiegel die Straße aufbrechen. Neben ihm saß Remy Deleuze, der rätselhafte, stämmige Kerl,
der ihn ohne weiteres aus dem Schulgebäude entführt hatte, offenbar aufs Höchste konzentriert und unberührt
von dem Kataklysmus, der ihnen dicht auf den Fersen war.
„Du brauchst nichts zu sagen, Junge“, brummte der Fahrer, als er Ferdits panischen Blick bemerkte. „Wir tun
alle, was wir können.“
Ferdit blinzelte; der Lärm hatte aufgehört. Rund um sie ging die Zerstörung weiter, doch hier, im Jeep, war es
vollkommen still. – Wie lange schon?
„Wohin fahren wir?“, fragte er endlich, nachdem sich die Situation, schrecklich und unglaublich wie sie war,
nicht zu verändern schien. „Worum geht es hier eigentlich?“
„Immer geradeaus“, kam die Antwort. „Immer weiter. Hab keine Angst.“
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Im Hauptquartier der Gilde brachen die Wände zusammen. Irgendwo aus den Tiefen des Berges ertönte ein
Rumpeln, ein langgezogenes, häßliches Geräusch, das selbst den massiven Fels zum Schwingen brachte; aus den
untersten Stollen drangen bereits Hilfeschreie und dichte Staubwolken heraus, bevor die Feuertüren sich
automatisch schlossen und alle, die sie noch nicht passiert hatten, ihrem Schicksal überließen.
„Eine einzige Fahrt“, schrie Frater Antonius in sein Funkgerät. „Mehr ist unter keinen Umständen drin. Der
Fluchtzug muß in spätestens drei Minuten starten; dann können wir nur mehr versuchen, ihn mit Autopilot
zurück zu schicken. – Wo ist Ra?“
„Zentralarchiv“, drang die Stimme des Großmeisters durch die zunehmenden Störgeräusche. „Ich aktiviere das
Siegel.“
„Mitgehört?“
„Mitgehört; geht sich aus.“ – Durch die glatte Wand neben Frater Antonius zog sich mit einem Mal ein Riß; mit
einem markerschütternden Knarren gaben die Verstrebungen nach, und der Boden des Ganges begann sich zu
senken. „Es ist soweit“, flüsterte Frater Antonius, indem er sich mit Händen und Füßen weiter vorwärts zu
bewegen versuchte. „Wir sind zu weit gegangen.“ – Doch da hatte er bereits wieder sicheren Boden erreicht, und
von purem Überlebensinstinkt getrieben hastete er auf die Anschlußstelle des Fluchtzuges zu.
Er erreichte ihn nur Sekundenbruchteile vor dem Großmeister; von allen Seiten drängelten sich Leute in das
riesige, röhrenförmige Gebilde, und es war noch nicht einmal die Hälfte der Besatzung eingestiegen, als sich die
Türen auch schon mit Gewalt schlossen und das Gefährt sich in Bewegung setzte. Keinen Augenblick zu spät,
wie sich erweisen sollte; denn keine zwei Sekunden nachdem der Zug den Bergkomplex verlassen hatte und auf
dem Flugfeld der Gilde zu stehen gekommen war, erhob sich eine riesige Staubwolke aus allen Wunden des
Berges und trübte das gleißende Sonnenlicht, das bis jetzt den Ort der Zerstörung beschienen hatte.
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„Gerentz! Zoesser!“ Simon Ra war unter den ersten, die den Behemoth wieder verließen; er steuerte sofort auf
eine niedrige Garage zu, die am Rande des Flugfelds stand. „Keine Hubschrauber für euch. Wir nehmen den
Jeep; Homberg soll uns fahren.“
„Wohin fahren wir?“ fragte Zoesser, als er zum Großmeister aufgeschlossen hatte.
„In die Stadt. Wir werden erwartet.“
26
10. September Eine Kerze, und eine Rose, in einem Raum voll mit dunklen Möbeln und rotem Samt.
Romantisch und angstmachend. Vampire? Mein linker Fuß tut weh.
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„Du bist nicht reif.“
Losse erstarrte; die Türschnalle schien an ihrer Handfläche festgefroren zu sein. Die Tür – die Tür zum linken
Raum, zum Raum der Rettung, des Friedens, der Ruhe – war noch nicht einmal zur Hälfte geöffnet, und schon
wurde sie abgewiesen. Sie konnte nicht sehen, wer da sprach; aber obwohl es eindeutig eine männliche Stimme
war, formte sich in ihrem Bewußtsein das Bild von Vanima, die sich genüßlich auf den dicken Polstern des
Gästezimmers räkelte und hämisch lächelnd mit dem Schlüssel spielte. „Aber ich muß hinein!“
„Du paßt nicht hinein. Es würde alles von dir abfallen. Du bist ja noch gar nicht am Leben.“
„Nein“, sagte sie, und stemmte sich erneut gegen die Türe; doch diese fiel mit unerbittlicher Gewalt ins Schloß.
„Nein! Ich muß hinein, ich kann ja gar nicht anders!“
Sie glaubte, von drinnen ein hallendes Lachen zu hören, doch im gleichen Moment kam ein Wind auf und
verschluckte selbst ihre verzweifelten Rufe. Vergeblich klammerte sie sich noch an der Türschnalle fest;
vergeblich suchte sie mit Händen und Füßen einen Halt an der glatten, getäfelten Wand: Sie wurde unerbittlich
fortgetragen, hinaus in die Luft in die Wolken: Sie hatte die falsche Tür gewählt.
Sie würde nie wieder stehenbleiben können.
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Rund um den abgeplanten Jeep der Gilde erstreckte sich ein Bild der Verzweiflung. Unzählige Menschen
stürzten unablässig von hierhin nach dorthin, offenbar ohne eine Ahnung davon, was zu tun war; doch niemand
näherte sich dem Fahrzeug, in dem Großmeister Simon Ra und die Fratris Antonius und Vagus einem
unbekannten Ziel entgegenstrebten. „Das Auge kann nicht stillstehen inmitten dieser Zerstörung“, sagte Frater
Vagus endlich. „Wir sind verloren.“
An der nächsten Straßenkreuzung stand ein junger Mann, nur mit einem dünnen Lendenschurz bekleidet, und
lächelte mit penetranter Lässigkeit der Wolke der Vernichtung entgegen. „Kommen Sie mit“, sagte Ra, als sie
den Jüngling passierten. „Wissen Sie, was hier los ist?“
„Das Feuer“, sagte der Junge unberührt; es schien ihm keinerlei Mühe zu bereiten, mit de Wagen Schritt zu
halten. „Alles zerlegt sich, bewegt sich immer schneller und verbrennt.“ –
„Stehenbleiben, Fahrer!“, bellte Ra nach vorne; „wir sind da.“ Und wieder zu dem jungen Mann gewandt: „Wir
konnten nichts dagegen tun. Wir waren vollkommen überrascht.“
„Überrascht?“ Der Fremde lachte leise. „Dabei ist die Hitze doch ganz regelhaft gestiegen. Das letzte Mal –“
„Das letzte Mal?“ Hinter dem Rücken des Großmeisters verlor die Nationalbank ihre Gestalt und löste sich in
eine düstere Trümmerwolke auf. „Welches letzte Mal?“
„Atlantis“, antwortete der Junge grinsend. „Weltreich-Calypso. Aussteigen und mittanzen.“
Sie stiegen aus und tanzten mit. Durch das Straßenpflaster stiegen Gasblasen auf.
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am siedepunkt:
die sonne erlischt / das land sinkt ins meer
vom himmel stürzen / die heiteren sterne.
lohe umtost / den lebensnährer
starke hitze / steigt himmelan.
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Die rauhen Hanfseile scheuerten ihre Haut auf; sie wollte fliehen, doch konnte sie mit den Händen allein nichts
ausrichten. Kurz gesagt, ihre Lage war miserabel.
Kaum hatte sie den rechten Raum betreten, war es auch schon zu spät gewesen, ihren Fehler zu erkennen: Das
Netz, das sie durch das Schlüsselloch gesehen hatte, zog sich auf Bodenhöhe durch die tiefe Halle – und sie war
genau in seiner Mitte gestolpert, war mit den Beinen durch die Schlaufen gefahren und saß nun fest, rittlings in
den Tauen verschlungen, und ihre zuckenden Beine waren in Reichweite der Bestien. Vergeblich zerrte sie mit
den Händen an den Seilen, bis ihre Haut aufriß und Blut über ihre Unterarme rann; vergeblich strampelte sie und
wand sich in ihrer Gefangenschaft; jederzeit konnte eines der Biester zuschnappen und ihr mit seinen
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messerscharfen Menschenzähnen die Beine vom Rumpf trennen. Sie sah sich schon mit blutenden Beinstummeln über den Fliesenboden der Vorhalle rutschen und vor ihrem nutzlosen Gleitboot zusammenbrechen:
Sie hatte die falsche Tür gewählt.
Die Bestien im unteren Teil der Halle hatten den Hinterleib eines Pferdes, darauf aber einen menschlichen
Oberkörper; eine gewisse Schönheit war ihnen durchaus nicht abzusprechen, doch ihre Boshaftigkeit war Losse
von Anfang an bewußt. Sie wollten ihr Blut, und wenn sie es sich bisher noch nicht geholt hatten, so konnte das
nur daran liegen, daß –
Oder auch nicht.
Losse hob die Arme vors Gesicht, musterte noch einmal ihre Handflächen: Kein Blut.
Tiefe, klaffende Schnitte; bleiches, zuckendes Fleisch; aber kein Blut. Ihre Haut war wie die einer Leiche.
Es muß alles in meinen Füßen sein, dachte sie, alles rinnt nach unten; sie streckte die Beine, das Bein: Sie waren
zusammengewachsen. Kein Blut.
Die Kentauren stürmten aufeinander los; erst jetzt bemerkte Losse, daß jeder ein kleines, spitzes Horn auf der
Stirne hatten, womit sie sich nun gegenseitig zerrissen. Als der letzte Pferdekörper seinen Geist aufgab, als der
letzte grollende Seufzer aus dem schrecklichen Menschenmund des langsameren Verlierers entwich, erschlaffte
auch das Netz; und Losse wand sich, schon wieder beinahe zweibeinig, aus seiner Umklammerung heraus.
Sie stand jetzt am Boden des Raumes. Vor ihr die Tür. Sie mußte laufen.
Irgendetwas war da draußen; und sie mußte es fangen.
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Und mit einem Mal schälte sich wenige Meter vor ihnen ein massiger, dunkler Block aus dem Nebel, der schon
seit Kilometern über der Straße hing. Ferdit sah den Nexus in der gleichen Zeit wie Frater Remigius neben ihm;
beide schrien auf, doch im Augenblick des Erkennens war es bereits zu spät. Die Situation in dem rumpelnden
kleinen Jeep hatte sich innerhalb weniger Sekunden von einer gewissen resignierten Aufregung zu einer jener
neoarchetypischen Gefahrensituationen gewandelt, für die das limbische System des Menschen noch nicht ganz
gewappnet war. Für einen Moment schien die ganze Szene still zu stehen; der rätselhafte, unscharfe dunkle
Block vor ihnen, das Klicken der Kupplung, der aufheulende Motor, als der Fahrer in seiner Verwirrung auf das
falsche Pedal eintrat; die Vorderlichter des Jeeps schienen heller zu leuchten, während seine Insassen ihre Hände
um den nächsten scheinbar festen Punkt krallten; das überarbeitete ABS ratterte und kreischte – und dann kam
der Aufprall.
Die Karosserie schien auseinander zu brechen; Ferdit sah, wie sich die Seitenwand auf Deleuzes Seite einbeulte
und den Adepten binnen Sekunden zu einer blutigen Masse zerquetschte; er sah, wie der Fahrer durch die
Windschutzscheibe flog und in der Dunkelheit verschwand; er hörte das Krachen und Quietschen von
zerbröselndem Metall. Er selbst schien sich auf merkwürdige Weise außerhalb der Szene zu befinden; zwar
spürte er den Hitzeschwall, als der Tankinhalt explodierte, er hörte auch den scharfen Knall, er spürte auch die
Druckwelle, die ihn aus dem verglühenden Wrack des Autos hob; doch nichts davon berührte ihn wirklich, die
Glassplitter schienen widerstandslos durch seinen Körper zu gleiten, der Stahlträger rasselte kühl an seine Stirn.
Ferdit bewegte sich jetzt nicht mehr aus eigenem Antrieb. Er mußte sich nicht rühren 1, da sein Körper jetzt Ein
Ding war, das zum Fortkommen keine Zerlegung mehr brauchte noch zuließ. Der Wind trug ihn in seinem Schoß
und hob ihn hoch hinauf; die Erde unter ihm war eine schwärzliche, mit Brandwunden übersäte Wunde, aber
Ferdit war frei, so schnell und so frei wie nie zuvor in seinem Denken. Alles war tot und verging; aber Ferdit
flog.
32
„Essen ist fertig!“
/|\
Fourth Movement: TMP
wherein the primary matter is consolidated for the second time, and then split up into the
inevitable balance of opposites
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Frau, die empfindet und morgen lieben wird; das ist Desdemona,
die sich nicht kennt, und Julia vor dem Ball; Versuch zum Nachdenken, das im Träume endet; Pandora und
Neugierige, die den Mond bittet, das Begehren zu erleuchten, das im Schatten ihres Herzens kauert; harmlose
Bradamante, die unter ihren langen Zöpfen einschläft und Endymion gleicht mit dem blühenden und stolzen
1
Newton’s First Law of Movement: Nothing stirs if it doesn’t have to.
24
Körper! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Lockungen nicht spüren; es soll in ihre Tage
nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)
Der Zug polterte durch die Dunkelheit; Losse ahnte etwas, wollte die Welt nicht sehen, klammerte sich blind an
die kühle Stange und hoffte, es würde aufhören, einfach vorbei sein, aus.
Als sie die Augen öffnete, stand die U-Bahn still, und auf dem Sitz neben ihr lag eine Rose.
Sie blickte nicht einmal auf, um zu sehen, was die Anderen davon hielten; ihre ganze Aufmerksamkeit galt der
Blume, dieser unwahrscheinlichen, grazilen Erscheinung, Auswuchs eines unbedachten Wunsches, ein Zufall im
Gewebe der Wahrscheinlichkeit. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie die Hand danach ausstreckte; erst jetzt
bemerkte sie, daß sich der Zug mit unverminderter Geschwindigkeit fortbewegte und die Rose selbst auf dem
speckigen Sitz herumtanzte.
Als sie nach dem dornigen Rosenstiel griff, fiel mit einem Mal die Blüte auseinander; die ätherischen Blätter
zerstäubten, schienen teils in der Luft aufzugehen, teils im Sitz zu versickern. Mit einem leisen Schrei der
Überraschung bemerkte Losse, daß sie sich am Daumen gestochen hatte, so daß ein paar Tropfen ihres rosigen
Blutes über ihre Haut rannen.
Auf ihren Laut hin wurde es vollkommen still im Wagen, und mit einem Schlag wurde sie sich bewußt, daß sie
das Zentrum der Welt war und alles ihr zublickte. Berauscht von Schmerz und Schwindel hob sie langsam den
Kopf, um sich der Herausforderung zu stellen.
Vor ihrem Sitz stand eine schmale Gestalt, ein hochgeschossener Jüngling, ein junger Mann in auffallend
altmodischer Kleidung, und wandte ihr scheinbar ungerührt den Rücken zu. Aus allen Richtungen züngelten
Blicke nach Losse, schienen sie festnageln, paralysieren zu wollen; doch sie blickte auf das Blut in ihrer Hand,
krümmte den verletzten Daumen und floß aus dem Sitz, schwebte durch den Mittelgang, den Blick spöttisch und
selbstsicher auf den Ignorant vor ihr gerichtet. Die Feuchte, die Heldenhafte, die Makellose eilte auf ihn zu als
ein schönes junges Mädchen, mächtig, von prächtiger Gestalt, hoch gegürtet, schlank gewachsen, edel, von
hehrer Abkunft, an den Knöcheln funkelnde Schuhe mit goldenen Riemen. Sie ergriff ihn bei den Armen, und es
geschah alsbald, daß er sich schnell der Erde näherte, der gottgeschaffenen, gesund, heil und wohlbehalten wie
zuvor, bis an sein eigene Haus. – „Blutest du?“, fragte er, noch bevor sie ihn umrundet hatte. „Eisprinzessin.“
Die Gespräche hatten wieder begonnen; die U-Bahn hielt und ließ neue Zuseher herein, ohne daß Losse sich
stören ließ; sie war jetzt die Rose, sie hatte die Initiative, die Dornen, die Macht. Der Ignorant, nein: der Gnom,
wurde vor ihren Augen zur eiförmigen Gestalt, wuchs dann wieder, er war schlank und kräftig und humpelte
wahrscheinlich. Sie zeigte ihm ihren Daumen; ein wenig Blut tropfte auf den Boden, verschwand dort spurlos.
Der Gnom lächelte ihr mit geschlossenen Lippen zu. „Du bist pathetisch“, sagte er. „Was hat dein Daumen denn
damit zu tun?“
Sie verließen den Wagen, blieben am Fuße der Rolltreppe stehen. „Wir müssen an unserer Kommunikation
arbeiten“, sagte Er.
„Hast du einen Namen?“
„Drei Buchstaben, wenn du willst. T-M-P.“
„Fünf Buchstaben. LOSSE.“
„Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“
„Die Rose – “, versuche Losse zu erklären; sie stockte, als sie Seinen Atem an ihrer Wange fühlte. Er war heiß
und trocken, und sein schaler, pilzartiger Geruch ließ sie erschaudern.
„Sehr gut“, sagte Er mit unbewegtem Gesicht: „Es ist immer die Rose, nicht wahr? – Aber das meine ich nicht.“
„Kommunikation“, antwortete sie. „Sprich nicht in Rätseln.“
„Meine Frage ist ganz einfach die: Hast du die Regel?“
Primäre Amenorrhoe, sagt der weise Mann, wir werden spritzen müssen. Für zwei Wochen unter Beobachtung.
Blut, mußt du wissen, Blut muß du lassen. Frauen lassen Blut. Du bist ein kleines Kind, Losse, ein unfertiges
Ding, wenn deine Blüte noch nicht blutet. Verflüssige dich, wisse! das Hindernis ist nur in deinem Geist, und als
du dich verkrampft hast, hast du dir die Möglichkeit zu bluten genommen. Du hast dich nicht verletzt. Du mußt
essen, Eiweiß, Erfolg, und es wird Blut, das für euch hingegeben wird. Dies ist mein Leib, den ich dem Feuer
opfere:
„Ja“, sagte Losse knapp. „Seit fünf Monaten.“ –
- pubertäre hybris „Ha, Lüge! branlish! museyroom! Sag nur, du hast auch Regen verbrannt und Flocken gezupft von der Decke,
und – na? na?“ (Losse war jetzt eingeschüchtert, sie blickte ihren Quälgeist nur noch furchtsam an.) „Mit
gestreckten Armen auf mich zuzulaufen wie eine Somnambule, Töterin, Verflüssigerin, was willst du eigentlich?“ (Er hatte sie brutal am Arm gepackt und in die Mitte der Passagierhalle gezogen.) „Frag also, los doch,
frag!“
(Ihre Finger rieben nervös an dem Buckel in ihrem Nasenrücken; die Unterlippe krümmte sich wiederholt, um
die oberen Schneidezähne zu berühren.) „Was soll das für ein Name sein, T-M-P?“ (Das war mutig, schon
beinahe aggressiv gefragt; und er hatte schon gedacht, er hätte es ihr abgewöhnt.) „Drei Buchstaben, drei
Namen? oder wie? oder was?“
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„Drei Buchstaben, drei Ebenen, eine Bedeutung.“ (Man beachte! : Er ist tatsächlich über seinen Schatten
gesprungen. Irgendwie mußte er wohl bemerkt haben, daß er hier nicht nur das übliche Strohfeuer vor sich
hatte.) „Ursprünglich sollte ich ja The Mad Prophet heißen, das ist der Verrückte Prophet, oder auch der Mad
Philosopher, von dem Bierce immer wieder so herrliche Auszüge brachte. Aber darüber, meine kleine Mörderin,
bin ich längst hinaus. – Ein Freund nannte mich einmal Thelema Mysterion Priapus, was durchaus zutrifft,
vorausgesetzt, du schließt wirklich deine Augen (du wirst sie schließen, glaub mir, früh genug). In glücklicheren
Stunden war ich bereits The Maiden’s Pyromeo und werde es wieder sein, und auch das sagt bereits viel über
mein Wesen aus, nicht so viel allerdings wie mein Titel als Tenebrae Maximus Princeps, wenn du verstehst, was
ich meine, (natürlich ist das blanker Hochmut, verleih mir). Manche sagen, ich sei in der Mitte zwischen Tiamaat
und Pan, oder sogar schuld am Tod der Markéta Pichlerova (Idioten: mir die Verirrungen eines Zeitalters
zuzuschreiben, das so getränkt war von Magie, daß für einen kleinen Wanderer wie mich gar kein Platz darin
gewesen wäre); ebensowenig bin ich ein Anhänger, wie etwa mein Freund und Quartiergeber Zoesser, von
Thelema und der Magick des Perdurabo (war er nicht einmal auch dein Lehrer, der alte Fröschequäler?). Im
Oxford Dictionary of Abbreviations (Clarendon Press, 1992, Seiten 346, 347) wird TMP als “thermomechanical
pump” gedeutet – sehr treffend, wenn du mich fragst – und die Permutation TPM mit “triphenylmethane”
(übrigens auch “The Phantom Menace”); und noch unzählige andere Namen und Attribute habe ich im Laufe
meines bisherigen Lebens ertragen müssen. Meine besten Freunde sogar, all die Weisen, sie wollen nicht und
nicht davon lassen mir neue Bedeutungen zuzuordnen und mir entsetzliche Behandlungen zukommen zu lassen:
Ich bin ihnen ihr Grobes und Feinstoffliches, ihr Abgesetztes und ihr Stinkendes, ihr Mann, ihre Frau, und
manchmal ihr Hermaphrodites, was immer wie gerade von mir wollen. Mich korrodieren und erhöhen sie; sie
sublimieren, reduzieren und überkommen mich, und sie filtern und waschen und wischen mich. Mit ihrem Salz
und dem Schwefel, den Ölen und Soßen, den wäßrigen Laugen und Essigen, machen sie Koch-TMP und BratTMP, Salz-TMP und Räucherstange, TMP-Müsli, TMP-Pulver und TMP-Braten aus mir. Die alten Griechen
sagten Tau (das Kreuz) Mü (das Boot) Pi (und die Hebräer: Pé as mouth giving forth); du wirst schwitzen, wenn
dir aufgeht, was das alles wirklich bedeuten kann. – Du willst also die wirkliche, die wahre, die einzige
Bedeutung meines Namens wissen, kleine Frau? Tanz Mit Pan, wenn du so willst: Aber du kannst mich nicht
verstehen, so, wie dein Schädel brennt. Du kannst mich nicht bannen, Losse, du kannst mich nicht fassen. Ich
habe keinen wirklichen Namen, ja nicht einmal ein wirkliches Ich.“ (Er fiel für einen Moment auf die Knie und
blickte sofort darauf schon wieder auf sie herab; Er lächelte jetzt.) „So freundlich und nett bin ich, Losse. Ich
würde keinen Andren jeh verletzen. Und wahrlich, von welch lieblicher Natur bin ich! und der schändliche Sohn
eines schändlichen Vaters.“ – (Genaugenommen sagte Er das nicht, auch tat Er nichts dergleichen, und dennoch
lag eine gewisse Faszination in der Art, wie Er Seinen Finger von der Hosentasche zum Auge führte, ja: damit
einen Schutz- und Liebes-Reflex auslöste, und dann entglitt ihr ganz benimmbuchmäßig das Taschentuch, mit
dem sie sich vor Seinem Atem schützte, und Er hob es elegant mit seinem Klumpfuß auf und führte es höflich an
ihre reizte Nase: )
„Perfekt“, (sagte Er,) „du verdammte Tussi. Du bist, ach was: Du bist doch weder Mann noch Weib.“ (Und
ging.)
(fit res amarissima)
Ahmeinarmen! woblistuhin? wasserlimachn?
Awewewewewehg! Marihmah!
Und die Sterne leuchten, und die Nacht ist voll vom Duft der Rosen. Ein Lacherl läuft den Berg hinab, ein Duft
rollt durch die Dunkelheit. Er ist Geist und in uns, wir sind Luft und in ihm. O verschmotene Träume,
opsaaltermerde! Es ist glänzend, tot und so allein.
Doch Issie weint. Was muttert sie?
Anc Deus no fetz trebalhas ni martire,
ses mal d’amor, qu’eu no sofris en patz;
mas d’aquel sui, si be.m peza, sofrire,
c’Amors mi rai amar lai on li platz;
e dic vos be que s’eu no sui amatz,
ges no reman en lai mia nualha.
Que Dieus li det tant de ventura, per son bel captenemen e per son gai trobar, qu’ella li volc ben outra mesura,
que no.i gardet sen, ni gentilessa, ni honor, ni valor, ni blasme, mas fugi son sen, et seget sa voluntat.
Tristans, ges no.n auretz de me,
qu’eu m’en vau, chaitius, no sai on,
De chantar me gic e.m recre
e de joi e d’amor m’escon.
Losse lag am Boden und blickte unter bittersten Klagen dem Flug ihres Gatten nach. Was sollte sie noch
beginnen? Ihr Leben hatte angefangen mit der Rose (war’s ein Traum?), und ein ungeschlachter, angreifender
Eber hatte sie verwundet, ihr die Seite aufgerissen und die Geister aus dem Leib getrieben, und da flog er! flog er
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wie die vielen, eine Libelle inmitten der Fliegen, ein Heuschreck inmitten der Schrecken, wie sie sein wollte,
fliegen wollte, wie Vanima, wie die нимфетки.
Und sie selbst? Ihr war versprochen worden, ihm ins Aug zu sehen; das hatte sie; doch jetzt war er fort und weg.
Der Geist mit der Flöte, der Bock mit dem Einhorn, der Baum hatte sich in ihr gespiegelt und sich daran gefreut,
sie aber war zu weich und ist zerflossen, oder: zu hart, um sich nach seinem Bilde formen zu lassen. Sie war
nichts über ihm noch unter ihm; sie war ihm nichts, von vorne und von hinten; sie hatte alles falsch gemacht und
nichts geschafft. – Doch was darum? Noch war sie LOSS, noch hatte sie die Karte (aus dem Bus) des andern
Freundes, noch war sie nicht daran, sich vollends in der Gegend zu verlieren. Sie lebte gut, so wie sie war, wie es
Forcalimo gesagt hatte. Sie war nicht Linie, nicht Fünfstern, nicht Spirale, lag auch nicht zu viel und stand nicht,
sondern wolkte, flog und wellte sich. „Es scheint mir nämlich, daß für den Tanz als reine und eigene Kunst
weder der reife Mann noch das Weib vorzüglich geeignet sind, sondern der Jüngling als ein Wesen, das noch
zwischen beiden steht und noch gleichsam die Möglichkeiten beider Geschlechter in sich vereinigt.“ (Alexander
Sacharoff): Der Schwan ist weiß und weich, & biegsam, & er gehorcht. Sein Hals ist Phallus, & sein Körper
Kteis. So drückte sie die Fingerspitzen in die Kiesel und hob den Hintern vom Asphalt. So zerrte sie den linken
Fuß darunter, ließ, als sie auf dessen Spitze saß, den rechten bogenförmig ausschwenken, knicken pyramid leg
horizontal und zog sich hoch an dem unsichtbaren Geflecht, das in meterweise gestaffelten Schichten über der
Oberfläche der Erde hing und für manche glücklichen Gestalten zu erfassen war.
Die schiebende Menge verschluckte sie, und sie tapste langsam hügelabwärts, in einem synkopierten Rhythmus,
ohne mit den Fersen den Boden zu berühren. Vor ihr lag der Fluß, und sie wartete auf das Signal, hineinfallen zu
können, um a) zu treiben oder b) zu sterben. Es waren viele um sie, die den gleichen Gedanken hegten; alle
warteten auf etwas Großes, wie den Einbruch des Himmels oder des Asphalts. Es kam aber nur das Signal.
hudoronwumyitonanbyijakutaridubikoskupolovenynazyvenzuhalufilosofundsonzijobaqi.voduzironiychizyelenylevalasifapui. makarabuambeniporschtschechnodisaygentilsurhiytomachtizijobaquedonebeskenchyridion. maguasamaio. samaibotidajimyrkaibonuschemesiquamari. samaicorrodante.
An der Straßenecke gegenüber saß ein alter Mann von dessen Gliedern, soweit sie nicht durch das
kurzgeschnittene Kostüm aus grobem, dunklem Stoff verdeckt wurden, eine unwahrscheinliche Anzahl an
dichten, dunklen Haaren dem trüben Sonnenlicht entgegensproß; er spielte, scheinbar völlig in sich versunken,
auf einer kleinen Ziehharmonika fröhliche Weisen, welche ein kleines, rundliches Mädchen an seiner Seite mit
Begeisterung nachsang. Als Losse die Straße überquert hatte und einen Fuß auf den sicheren Gehsteig setzte,
blickte der Alte auf und ihr direkt ins Gesicht.
(o sodales, ludite)
„Komm her, müdes Mädchen“, rief er mit väterlicher Stimme. „Setz dich doch zu uns.“
Unsicher ging Losse auf die beiden zu und setzte sich schließlich, auf einen Wink des Alten hin, auf dessen
Instrumentenkoffer.
„Du reizendes Kind“, sagte der Alte in singendem Ton, ohne sein leises Harmonikaspiel zu unterbrechen, „ich
bin zwar nur ein arbeitsloser Musiker, aber als alter Mann reich an Erfahrung. Wenn ich an deinen zögernden,
unsicheren Schritten, deiner unnatürlichen Blässe und deinem beständigen Seufzen, nein, schon aus deinen
traurigen Augen den Schluß ziehe – was man klüglich als weissagen bezeichnet – , so leidest du an Liebeskummer! Also höre auf mich und versuch nicht wieder auf die Straße zu springen oder sonstwie deinem Leben
ein gewaltsames Ende zu bereiten! Hör auf zu klagen, sei nicht traurig und bete zu Cupido, dem mächtigsten der
Götter, der ein zärtlicher und verwöhnter Bursche ist und dessen Gunst du dir erbitten und erschmeicheln mußt.
Es hilft dir nicht, hier die Kämpferische, die Dramatische zu spielen! Wenn du erreichen willst, was du ersehnst,
mußt du nur warten, nicht davonlaufen, warten und sehen, was mit dir geschieht.“
(vos qui scitis dicite)
So sprach der Musiker, vor dessen Huld und Erhabenheit sich Losse, ohne ein Wort zu erwidern, nur ehrfürchtig
verneigte, ehe sie weiterging.
Ein leichter Wind war aufgekommen und scheuchte Taubenschwärme durch die Straßenschluchten. Von der
sinkenden Sonne her trieben Plastikfetzen und lose Zeitungsblätter den Wandernden entgegen; Losse wollte die
Arme ausbreiten und fliegen, aber sie konnte das Netz nicht ertasten, und ihr Feuer glomm nur mehr still vor sich
hin. Wie die Kastanienbäume am Straßenrand wogten ihre Herzkammern im Abendwind hin und her, und was
sie fühlte und hörte schien ausschließlich aus ihr selbst zu kommen, als wäre alles Andere nur Kulisse, zum
schönen Schein und Widerstand gemacht.
- willing done Nun gemahnten sie die Krähenschreie in den Lüften zur Einkehr; und im rosigen Feuer der Abendsonne wandte
sie sich zu einem öffentlichen WC; sie dachte: „Die Stunde der Rast ist gekommen, und obwohl ich nicht einmal
den Namen dieser Straße kenne, die wir doch niemals wieder finden werden (ach! du bist auf meinem Weg
gekommen, dunkler Bruder, zu den Funkelseen und in den warmen Wald; und niemand weiß, was wir dort
sprachen, als wir zwei, die wir im Garten jenes alten, weißen Hauses wandelten), so will ich doch dort Ruhe und
Herbert suchen und nicht mehr länger weiterwandern: Denn schön erscheint mir dieser Ort, und Wohlgerüche
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umwehen ihn. Mich dünkt, der Hauch vieler alter Geheimnisse liegt hier, der Schatten prächtiger und
wunderbarer Dinge, die er in seinen Schatzkammern, in edlen Plätzen birgt, und in den Herzen derer, die in
seinen Mauern rasten.“
Und als sie so die Treppen hinunterstieg, da schien es ihr, als ritte sie auf einem großen weißen Pferd, und selbst
als sie das Schloß erreichte, wollte sie nicht mehr absteigen, sondern ritt – was der Kaiser nie durfte! – bis hin
zum Thron und blieb, bis es ploppte, blieblieb, schaufelte nach ihrem Buch und und fond Laiban und brummbrumm während sie vorgab zu lesen und erwetter wehrend sie liff. Siliff. Silivren. Sliffa. Sliff. uh
Inzwischen trafen sich Losses Dämonen bei Buysmans Phyllotaxis Irrsee, um einander zu berichten, was sich in
den letzten Wochen an bösen Omen zugetragen hatte. Sie waren allegorische Wesen; der eine, Yllmaryon, hatte
die Gestalt eines uralten Mannes, dessen Haut sich im Wald zur Borke gewandelt und dessen ganzes Aussehen
sich an seine Freunde, die Bäume, angeglichen hatte; ein anderer, der Feuerflammende, ihm verwandt, kam in
der Form eines lohenden Pentagramms. Auch ein zierliches Mädchen war dabei, in Lumpen gehüllt, die aber
jedes Mal, wenn man sie nicht direkt ansah, von ihr abzufallen schienen; sie wurde von den Anderen Laika
genannt, da sie sonst in einem uralten Park am Prager Weinberg wohnte. Ein weiterer Gast war Emil Glaend, ein
Mann von weniger als dreißig Jahren, doch mit vollem Bart und den funkelnden Augen seiner Vorfahren; er
blickte mit finsterem Gesicht in die Runde, stand stets ein wenig abseits am Ufer des nebelumspülten Bergsees
und schien sich in der Gesellschaft überhaupt nicht wohl zu fühlen. – Neben Glaend hatte sich Arithmetock
aufgepflanzt, der Dämon der Seefahrt: Er schien eine Kreuzung von Schiffsuhr und Klabautermann zu sein, mit
hölzerner Haut wie Yllmaryon, aber von Wind und Meer durchlöchert und gefurcht.
Als die Sonne hinter den Bergen verschwunden war und nur noch gefiltertes Abendlicht den Steinkreis erhellte,
begann Yllmaryon seinen Bericht. „Wir alle“, sprach er, „fürchten Tû, den Bruder des Feuerflammenden, den
Mörder der Adelaïde, der nun schon seit vielen Äonen versucht, in seinen finsteren Frühling zurückzukehren, in
den Staat und den Kult, von dem er seit seiner Verzauberung träumt, zur Verehrung und Vernichtung unserer
Großen Göttin, ihre Rille bestehe. Wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis jetzt noch überall seufzt und mit
Schmerzen der Neugeburt harrt. Aber nicht nur sie, sondern auch wir selbst warten auf das Offenbarwerden der
Bruderschaft, nämlich auf die Erlösung unseres Leibes.“ Und er fuhr fort, von den Vorzeichen zu berichten,
welche ihn veranlaßt hatten, dieses Treffen einzuberufen; er erzählte von dem Hirschmagier, der sich in der
Waldeinsamkeit auf den Langen Winter vorbereitete, von der Wilden Jagd, deren unglücklicher Zeuge er in einer
Regennacht geworden war, und er gab weiter, was die alte Baumnymphe ihm zum Herbstanfang erzählt hatte
von den düsteren, nassen Vorgängen in den Alpen und von der Neringa bis nach Dalmatien. In seinen Worten
fauchten Werwölfe und heulten gefesselte Geister, so daß alle Anwesenden bis auf Emil Glaend erschauerten.
Als nächstes erzählte der Feuerflammende, wie er in demselben Herbst inmitten der Ruinen von Blumau einer
Wachpatrouille entwichen und ins Zentrum des abgesperrten und verödeten Dorfes vorgedrungen war, wo unter
militärischer Beobachtung im knöchernen Licht des Mondes ein tiefer, stinkender Pfuhl aufgebrochen war, in
dem sich Tsathoggua, die schwarze Ziege, genüßlich wand und ihre tausenden Abkömmlinge gebar. Da
erbrachen sich alle bis auf Arithmetock, welcher einen starken Magen hatte, und Emil Glaend, der all das nur für
elende Lügenmärchen hielt.
Nun fragte Yllmaryon die kleine Laika, was sie aus ihrem Achet zu berichten hatte, und diese sagte, sie habe
Losse in Gedanken Milchreis mit Rosinen kochen sehen, aus dem beständig Blasen aufstiegen, so daß er am
Ende beinahe, aber eben nicht ganz, übergekocht sei. Da wand sich Emil Glaend vor Lachen und forderte
Yllmaryon mit abschätziger Geste auf, sein Untergangs-Szenario in dieses Bild hinein zu spiegeln. „In meiner
Welt“, fuhr Glaend daraufhin fort, „in meinem Gesichtskreis steht jedenfalls alles zum Besten. Mehr noch: Seit
Jahrhunderten schon erwarte ich Tû, denn sein Kommen verkündet einen neuen Frühling; das Kandelaber, das
zerbrochene, wird neu geschmiedet werden, und der König soll es tragen. Laßt ihn doch kommen; es wäre nicht
das erste Mal, daß ihr euch ohne Anlaß über ihn erregt!“
Da schwiegen sie alle für einige Minuten, bis dann Arithmetock das Wort ergriff.
„Noch hast du nicht von allen Zeichen gehört, alter Junge“, sprach er, „und auch du wirst am Ende der Mutter
folgen, wenn sie uns Drachen gibt und mächtige Waffen, den Widersacher zu jagen, der ihr ewiger Mörder ist. –
Ich habe alle Küsten dieser Welt bereist, und von den Flüssen und Bächen viele Nachrichten gehört, die anderen
verborgen geblieben sind; überall fühlt es sich an, als würde im nächsten Moment der Himmel zerbersten und
alles auf uns niederbrechen, was wir im Laufe der Zeit dort abgelegt haben. – Höre also, was ich geschaut: In
den Ruinen von Suakin erhebt sich ein Schatten, und schwarzgesichtige Reiter strömen aus den Souks und
blockieren den Hafen; an den Hamburger Kais werden täglich neue Bruchstücke uralter Schiffe angeschwemmt,
aus den Tiefen der Meere aufgestört von einem dunklen Wirbel, der nun schon drei Schipper auf dem Gewissen
hat und, während er die Elbe aufwärts wandert, giftige Dämpfe entläßt. – Im Bauch einer kleinen Yacht in
Dalmatien probt der Widersacher seine Rituale, und es kann nicht lange hin sein, daß er sie auf festem Land
erprobt. Und der haarige Prophet, der von den Sternen kam, hat sich im Meer der Träume den Piraten
angeschlossen und haust nun die längste Zeit in einer finsteren Höhle in den Uferklippen von Ranabar, statt seine
heilige Mission zu erfüllen. – Unseren wortgewandten Bruder Glaend scheint die Wiederkehr des Verdrängten
nicht zu beunruhigen, doch er erkennt nicht die Zeichen der endgültigen Auflösung, er sieht nicht, daß die
Rückkehr seiner Ahnen ihn nicht in den Mutterleib zurückversetzen, sondern ihn vielmehr der vollständigen
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Erstarrung anheimfallen lassen wird. Der Milchreis, den unsere Herrin, mögen ihre Flüsse ewig fließen, in
Gedanken kochte, während ihre Kollegen und Freunde starben, ist nur ein weiterer Teil unserer Welt, die nun
mit immer höherer Geschwindigkeit auf den Nexus, den Tod, den Stillstand zusteuert. Mein lieber
neoromantischer Friedhofsgänger, Freund der Kerzen, in der Fäulnis ist keine Läuterung, und diese Dunkelheit
wird ewig andauern. Oh, das Werk ist groß und ohne Hoffnung. Oh, das Werk ist groß und ohne Ziel.“
Da blickten sie alle unvermittelt in die Mitte des steinernen Spargels, wo gerade eine Kugel aus blauem Feuer
einen orangefarbenen Funken verschlungen hatte; und mit diesem Anblick verschwanden sie wieder alle in ihre
Reiche. Emil Glaend war der Einzige, der sich nicht wie die anderen durch die Luft an seinen Platz begeben
konnte; mit schockgefrorener Miene machte er sich daran, den grünen Hügel zu erklimmen, hinter dem das
Reich der Wechselbälger lag; und als er endlich in seinem Schloß aus glasiertem Zucker angekommen war, fand
er den Kerzenständer vor, wie er ihn verlassen hatte: intakt und mit allen seinen Klauen in das weiche Holz der
Tischplatte gegraben.
Wissen Sie noch, wie es unserer Verlassenen erging?
Die arme Lissa sitzt trinkelnd, zährend Thompas zurgund zinkt. Klingeteuil beschmutzt das Bild, all offen, mit
Liebklang, und um die Ecke kein Schwann. Durndal! Wofürchtst dü Zähren, züsterne Eisholde, Tu tumbe
frangasische Prinzipessin? Ihr Pollen ist fort, und die Biene: sie kommt erst im Winter wieder; (Doch komm!
komm! komm!) wenn die Blume verblaßt und veraltet ist. Ungewißheit! Wenn er irgendwo ist, wird sie schon
darum da sein: Und wenn es auch nirgends zu tun ist, so wird sie dennoch! Maskle! Der WAL, mon jouvain,
gehört zu den Muttertieren, also geht das Wildschwein zu den Affen. Bring Todlos und Mörte, streu reus, reus,
reus! Sie nutzt sich ab wie Reisekleider, bald ist sie schon nicht mehr zu sehen. Beiderzeits der tryste
Turgenwall, doch wir wissen (alles offen!), was in den Schatten geschieht, jetzt, da der Tag heruntergestiegen ist
von der Nacht und das farbige Blut in ihre Adern zurückkehrt. Mammy war, Mimmy ist, Minuskoline wird sein.
Braunlishel, grabmach Tisanes, Vaníma, hat’s der Turm dir nicht verboten? Ein Blick in die verbotene
Schachtel, so schönklang, dulcirima. All denkt Es offen, Es ätzt, Es frißt, Es eult! Stück für Stück, vor und rück,
Glanz und Glück, das Licht wirbelt im Kreis und spaltet sich, ein Engelsschleier, Reygenbogen, Pop! Ob ei sie
aktief ob feder passeve. Dasweras Finimus.
Jetzt schneit es in ihren Gedanken, wir wissen (alles offen!), was sie tut: Etwas zerschunden und seelisch wund
schleicht sie nach Hause, trifft (siehe oben!) ihre Vanima, sieht im Zug die Нимфетки und trottet endlich mit
müdem Blick an der großen, schwarzen Mauer vorbei, steht jetzt an ihrem Fenster und träumt:
Sie blutet. Ac primo quidem squalens pilus defluit, ac dehinc cutis crassa tenuatur, venter obesus residet, pedum
plantae per ungulas in digitos exeunt, manus non iam pedes sunt, sed in erecta porriguntur officia, cervix
procera cohibetur, os et caput rutundatur, aures enormes repetunt pristinam parvitatem, dentes saxei redeunt ad
humanam minutiem, et, quae me potissimum cruciabat ante, cauda nusquam! Und dann, obwohl verwandelt,
frißt es sie.
(stetit puella rufa tunica)
Einige Tage später traf ich Ihn wieder. Ich lief noch immer wie in Trance herum, und hinter jeder Ecke schien
Mirima hervorzulugen, auf jedem WC türmte sich OC vor mir auf, schrie mich an! Klorake. und auf der Straße
bewegte der Strom sich nur zäh vor sich hin, ich kroch durch die Nassen, nichtsehend, und von hinten stach Er
mir mit ausgestrecktem Finger in die Schulter. „Wach auf!“
(si quis eam tetigit, tunica crepuit)
Ich sah Ihn an und erwachte. „Jetzt siehst du“, sagte er, „wohin dich deine Eitelkeit geführt hat. Wäre es nicht
um mich, würdest du wohl bis ans Ende deiner Tage in geistiger Nacht umherwandeln; aber fürchte dich nicht,
denn ich bin zu dir zurückgekehrt.“
(eia!)
„Zwar hast du mich verletzt mit deinem Dorn, Hyäne“ – und er strich mir die Haare glatt! – „doch habe ich mich
in der Kammer meiner heiligen Mutter erholt. Sie wollte mich gar nicht mehr zu dir lassen, da bin ich
fortgelaufen.“ –
„Wie hast du mich gefunden?“, fragte ich.
(stetit puella, tamquam rosula)
„Ich habe geträumt, von einer Rose. Eine Bestie kam und fraß sie auf; da wußte ich, was ich tun mußte.“ Er hob
eine Hand und strich mir damit über die Wange; diesmal blieb ich vollkommen still. „Verzaubert hast du mich,
Támisrâ“, sagte Er, „ja, du bist schön. Besonders diese feinen Wangenhärchen.“
Ich mußte lachen, und alles zitterte, alles klimperte und klang.
(facie splenduit, os eius floruit)
Er sprach: „Verzaubert hast du mich, meine Schwester Braut; ja verzaubert, mit einem Blick deiner Augen, mit
einer Perle deiner Halskette.“ Seine Finger malten Schmuck auf meine Haut, und mit den Lippen saugte er den
Schweiß von meiner Stirn. „Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut; wieviel süßer ist deine Liebe als
Wein, der Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte. Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; Milch
und Honig ist unter deiner Zunge. Der Duft deiner Kleider ist wie des Liebanon Duft. Schön bist du, meine
Freundin, ja, du bist schön.“
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Ich wußte, das er log; spürte ich doch die Kante meiner Nase in seine Wange drücken, wußte ich doch, daß mein
Körper keine Substanz hatte, ihm zu widerstehen. Wäre ich mehr, sagte ich mir, wären wir ähnlicher, ich würde
dich küssen; niemand dürfte mich deshalb verachten. Führen wollte ich dich, in das Haus meiner Mutter dich
bringen, die mich erzogen hat. Würzwein gäb ich dir zu trinken, Granatapfelmost. Ach, diese Wunde blutet
noch; ich konnte nicht mehr tun, als ihm folgen.
(eia!)
„Du bist mein Engel, mein Gespons“, sagt Er, „Du hast die Kraft
Mein sternenloses Schicksal zu verwandeln,
Die dunkle Bahn zu ändern. O zu spät
Gewinn ich deine Liebe! zu frühzeitig
Verfiel ich dir!“ (Zurück in die Erzählzeit):
Wir saßen dann noch lange in diesem Kaffeehaus mit den großen Fensterscheiben; draußen war es dunkel, und
viele Leute flohen vor der Straßenkälte herein, man vergaß ja fast, daß man hier in einer Oase war; das
Fensterglas spiegelte nur das Licht zurück, und von innen sahen wir nicht, daß wir vom Dunkel umgeben waren.
Es hatte begonnen zu regnen; die Leute trugen jetzt Regenschirme und nasse Mäntel.
Er saß mir gegenüber, die Beine mit den meinen verschränkt, die Hände um ein warmes Glas Schwarztee
gefaltet, und fing meine schweifenden Blicke auf. Seine Augen sind groß, die Pupillen tief. Meine Lippen sind
rauh; ich möchte sie an seinen reiben.
TMP ernsthaft: Weißt du noch, als wir uns das erste Mal begegnet sind?
Ich war, wie meistens, wenn Er zu reden anfing, verblüfft, dann mußte ich wehmütig kichern.
TMP: Ich habe gerade einen Döner gegessen, und es war mir ungeheuer peinlich. Ich wollte dich unbedingt
ansprechen, aber das Essen war dabei ziemlich entmutigend – du glaubst gar nicht, wie schwierig es ist, beim
Döneressen auch noch attraktiv oder zumindest nicht schweinisch auszusehen!
Seine Lippen wölbten sich nach vorn, so daß ich die rosa Haut hinter den rissigen Wülsten sehen konnte. Er habe
mich beobachtet, erzählte Er, lange bevor ich es bemerkt hatte, worin Er irrte; und lange Zeit vergeblich
versucht, Blickkontakt zu mir herzustellen. Mir gegenüber, hinter Seinem Rücken, sitzt ein gekrümmtes
Männchen, das einer fülligen Schönheit gerade eine Ansprache hält, die letztere offenbar sehr bewegt; eine
fuchtelnde Hand ragt jetzt hinter Seinem Ohr hervor.
TMP: und dann bist du in den Bus eingestiegen, hast dich in die hinterste Reihe gesetzt, wo dich dann dieser
Türke angesprochen hat ...
Ich: Ja. – Meine Gedanken rotierten um irgendetwas, vielleicht die Tränen in den Augen der Fülligen. – Quatsch.
TMP: Er hat dir seine Visitenkarte gegeben. Du hast sie ins Geldbörsl gesteckt.
(Er spricht nur leere Worte. Man vergißt es gern, doch deren Wirkung ist immens: Er macht die Körper rot, löst
auf und wird zugleich coaguliert. Er ist darin wie in allem schneller als seine Gefährtin, auch wenn sie von
manchen für unbesiegbar gehalten wurde. In einer anderen Gestalt erhielt er von Venus drei Äpfel, die wirft er
ihr jetzt in den Lauf; er wird sie einfrieren, sie wird zu seiner Eisprinzessin werden.) Da ist sie! Ferdit Alessio,
Favoritenstraße 24, 1130 Wien, das ist ein schlechter Scherz.
Ich: Ich kann mich nicht erinnern ...
TMP: Ferdit Alessio hatte Probleme mit dem Frauenzimmer; er wollte Mufti werden und all das. Das Kostüm ist
sonst nicht weiter wichtig. Damals war ich vielleicht interessiert, weiter nichts. Ich suchte ja nicht, oder nichts
bestimmtes.
Ich: Ich ...
TMP: Das hast du gut gemacht. Woher hast du diesen Gürtel?
Ich: Den hat mir eine Freundin geborgt. Vanima. Sie ist sehr schön. – Er grinst jetzt ganz ekelhaft, das ist
beinahe anzüglich. Was soll ich tun?
TMP: Komm, wir gehen aufs Feld.
Ich: Aufs Feld?
TMP: Wo der Baum der Weisheit wächst. Da gibt’s ein ehemaliges Bordell, das klügste von allen Häusern, da
sollst du tanzen.
Ich: Tanzen?
TMP: Ich werde dazu singen. Fürchte dich nicht; wenn er innerhalb des Kreises steht, kann er ihn nicht
durchbrechen, wenn du ihn anmutig ziehst. – Deswegen muß ich ihm folgen.
Vergib mir, denn ich weiß nicht, was ich Tu.
Die Kiesel fliegen rund um meine Schuhe, alles zittert,
alles wirbelt mich herum, die Lampe hebt mich hoch
und der Saum meines Kleides, in Blut getränkt,
schneidet aus der Nachtluft einen Kreis.
„Laß mich nie das Bild verlieren
deiner marmorweißen Augen, des Gefühls
das die einsame Rose deines Atems
in der Nacht auf meine Wange zaubert.
Ich fürchte nur, an diesem Ufer
30
Ich leide an der Mauer und zertrete den Beton, die Erde
muß durch meine Füße erst erzogen werden. Die
Königin ist tot, tu siehst die Schlangen, die sie rasend
machten, sie sich winden ließen, wie die Bienen um
den Kopf.
Tu stehst mit Bart und Szepter, und mit Rückwärtsknien, und wenn ich dich nicht bannen kann und nicht
verzaubern wirst du sterben, weil du dich zerlegen
mußt in einer Welt, die dir zu weit ist.
Was willst tu? weißt, der Faden ist gebrochen.
ein Strunk zu werden, astlos, stumpf,
dem Wurm meiner Verzweiflung nichts zu bieten:
kein Blut, keine Blumen, und keine Erde.
Wenn du mein verborgener Schatz bist,
wenn du mein Kreuz bist, mein dumpfer Schmerz,
wenn ich ein Hund bin, und du mein Besitzer,
laß mich nie verliern, was ich gewonnen,
und bekränz die Äste deines Flusses
mit den Blättern meines fremden Herbstes.“
(nach F.G. Lorca)
So sang der Verbannte;
Es horchte die Alte
In nächtlichen Höhlen,
Denkt Kinder und Enkel
Und schüttelt das Haupt.
Aus einer Seitenstraße ergoß sich ein Rudel finsterer Gestalten auf unseren Weg, gesichtslose, grölende Biester
in schwarzen Kapuzenpullovern, die, vollkommen mit sich selbst beschäftigt, die heilige Ruhe der Nacht
zerstörten.
„Sie suchen nach Rosen“, sagte Er, indem er mich in eine Ecke drückte. „Es sind Tiere, wilde Bestien, die
vielleicht vor langer Zeit einmal Menschen waren. – Sie wollen zurück, weißt du?“
Ich spürte Seinen Atem an meiner Halsschlagader, Seine Hände umfaßten meine Oberarme. Hinter seiner
Schulter umarmten sich zwei der düsteren Gestalten und fielen nach einigen Verrenkungen unter knatterndem
Gelächter zu Boden. „Du mußt auf deine Rosen achtgeben, heutzutage“, sagte Er. „Wenn eine Bestie Rosen
frißt, verwandelt sie sich in ein menschliches Wesen. – Cholam Shevarim, wo sind wir hier!“, rief Er zu den
Fremden am anderen Ufer hinüber, und ein boshaftes Lachen wie „Johovoho!“ kam zurück, dann zerstreute sich
die Meute in die Seitengäßchen, und ich war wieder mit Ihm allein.
Sein Atem roch jetzt unangenehm und säuerlich, und ich spürte Seine Hände meine Arme hinabkriechen, Seine
Finger an meinem Handrücken, Spinnenfinger, Knochenfinger. Mein Geliebter wurde vor meinen Augen zu
Feuer, Er wurde vor meinen Augen zum Skelett. Als Er sein Knie zwischen meine Beine schob, stieß ich ihn
beiseite. „Geh sofort von mir weg!“, rief ich.
„Perfekt“, sagte er. – Ich lief noch im selben Moment davon.
31. August
Wieder das Tal, wieder die Kinder. Ich laufe weg, und plötzlich bin ich beim Brunnen. Die
Steine sind kalt, und von unten kommt kalte Luft; die Sonne leuchtet langsam in den Schacht hinein und zeigt die
gekräuselte Wasseroberfläche, da bin ich, mein Spiegelbild, sonnenumrahmt, wunderschön. Ich will hinein, die
Kinder drängen, aber ich trau mich nicht.
Ich wußte lange nicht, wo ich noch hingehen sollte; ich war doch schon überall gewesen, und außer ständiger
Bewegung war in dieser Stadt nirgendwo Ruhe zu finden. Auf einem leeren Spielplatz fand ich zwei küssende
Gestalten in Stein gemeißelt und dachte, Er ist grausam, Er ist gemein und will mich schwach und milchig sehen,
weiß, ich bin zerbrechlich, will mich zwingen, Seinem Lied zu folgen. Ich hasse Seine Hände und liebe Seine
Knochen; ich hasse Seinen Atem und liebe Seine Hitze. Er ist
groß und schlank, jedoch der Oberkörper etwas tonnenförmig; die Schultern sehen breiter aus durch seinen
grauen Mantel; der Bart ist wie ein Büschel Schamhaare am falschen Ort, ist die Spitze des Gesichtsdreiecks; ein
Affe von den Zügen her, wenn man will, überzeichnet, und mit hypnotischen Augen, die immer wieder etwas
anderes wirklich werden lassen. Er will mich brechen und mich vergewaltigen; hat er nicht schon?; nur
Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand in der Mitte des ruckelnden Abteils (ihre Arme und ihr Kleid hingen an ihr
herunter, und sie wünschte, der Wind würde darunterfahren und ihr den Schweiß vertreiben); Ich aber liebe ihn,
sagte sie und stand in seiner Kirche (sie sah, daß seine Ohren unterschiedlich groß waren, ein kleines bißchen
nur, und seine Haare standen wild darüber ab); Ich aber liebe ihn, sagte sie und stand auf einer Brücke (der Ort
des Wahnsinns, wissen wir, ist immer eine Brücke).
Da plötzlich konnte ich riechen, wie sich der Himmel zusammenballte und herunterdrückte auf die Erde und der
Staub des Asphalts sich vor dem Gewitter fürchtet. Und ich weiß, seine Hände dufteten nach Essen, nach Resten
von Zwiebeln vielleicht, und sein Kragen nach Ihm und sein Mund nach unserem getrockneten Speichel. Und er
schlug ein, obwohl ich durch mein Spiel mit der Rose vorgewarnt war schlug er ein in mich und zerschmetterte
meinen Schädel meine Mauern und wenn ich es nun, da ich aus mir gefallen bin, von außen betrachte, ist es zum
Lachen und zum Weinen zugleich: denn er quält mich, und ich liebe ihn, er spricht in Rätseln, und ich verstehe.
(sicut splendor fulguris / lucem donat tenebris)
31
Jeder große Spiegel hat in der Mitte einen Riß.
Er verfolgt mich, sogar bis hierher, bis hinter diese Tür, die mir bisher als Tor in eine völlig losgelöste Welt
erschienen ist; er war bei mir, als ich in der Garderobe mein verschwitztes Hemd gegen den Sportanzug
austauschte, war bei mir, als ich die Schlüssel fand, war bei mir, als ich nun in der Halle auf dem Boden lag und
den Spiegel verfluchte, das Fenster und das Licht. Natürlich wagte ich es nicht, die Lampen einzuschalten, lieber
zitterte ich im Dunkeln und wand mich auf dem kalten Kunststoff unbeleuchtet; doch von der Straße tröpfelte
noch Licht herein, das Fenster, das an heißen Tagen immer offen stand, das keinen Vorhang trug, das andere
Spiegelglas, hinaus zur Welt. Ich fluche ihm.
Ganz langsam sank ich nieder, spürte, war nicht aufgewärmt; ich fühlte, meine Beine streckten sich, die Sehnen
klagten. Ich fluchte ihm und fürchtete, ihn damit nur zu locken; ich schrie ihn an, er sollte gehen, trat ihm
zwischen die Beine, und wurde selbst getreten und mißbraucht. Ich sah ihn vor mir, Oberkörper vorgereckt, sah
ihn als Spiegelriß, er kehrte um; er blickte kalt und kehrte um; er grinste schmal und kehrte um; er drehte sich
von mir und zeigte seinen Rücken, grau und einförmig, ein Loch darin? er selbst ein Loch; er kehrte um und
stieg mir noch im Umdrehen auf den Fuß; er sagte „gut“, nicht schmollend, ernsthaft, unabänderlich, und ging.
Wenn er mich schlägt, muß ich ihm dennoch schmeicheln.
„Nein“, hauchte ich in den Spiegel, während meine Muskeln schrien. „Komm zurück. Ich kann ohne dich nicht
leben.“
Der Spagat war gelungen; ich blutete; mein Körper zerlegte sich. Wer würde mich wieder zusammensetzen?
Die Häuser lehnten sich aneinander, als der kalte Nachtwind zwischen sie drängte und leise pfeifend über das
naßglänzende Pflaster schlich. In den Mauerritzen hingen noch die ersten sus-Klänge von Purple Rain, und
kaum war der hohle Gesang des Windes verhallt, drängten auch schon einsame Schritte die freien Rhythmen
dazu in die Gasse, und ein halbherzig gespitzter Mund wisperte eine Art Melodie dazu. In Schwarz gekleidet,
den Bestien ähnlicher als dem strafenden Ritter, als der er sich gerade noch gesehen hatte, stieg der verrückte
Prophet in die Gasse, die Stirne gefurcht wie ein Künstler, der an eine schwere Arbeit geht; am höchsten Punkt
des hochgewölbten Straßenpflasters blieb er stehen und nahm Witterung auf. Seine Lefzen senkten sich und sein
Hals straffte sich, indem er kaum merklich den Kopf zurücklegte und seine Nasenflügel blähte: Stählerne Luft
heute Nacht, Regen und Staub, und die Kälte der Verzweiflung.
Sie konnte nur nach oben gehen, konnte nicht hinunter. Sie war verzweifelt, brauchte Widerstand. Gegen den
Wind, gegen die Steigung. Sie liebt die Schwerkraft, sie liebt mich. Er gab mit einem Ausfallschritt den Takt an
und ging weiter, rhythmisch frei, aber beständig. Die Häuser blieben, horchten noch, wie er verschwand; der
Wind kam nach und spülte seinen Duft aus allen Winkeln.
Er fürchtet seine Träume, sagt er ihr; seine Gedanken
fliegen. Er träumt von einem Biest, das Rosen frißt. Er
träumt seit Tagen, Wochen, immer nur das Eine. Er
weiß, er macht ihr Angst mit diesen Worten; er ist
Prophet, er kündet, was ihr blüht. Aber er ist auch
schwach und arm, von seinen Träumen nur geplagt,
und sucht bei ihr Verständnis, vielleicht Trost. Erzähl
mir was du denkst, komm, TMP, ich liebe dich, erzähl
mir, was du denkst.
Da war sie! Ihr Geruch, eindeutig, ihre Spuren in der
Erde. Den Weg hinauf; er mied die Kirche. Dort, weiter
oben, waren Leute, leere Hüllen, einsame Gestalten,
die sich in Gruppen durch die Leere drängten, die
eilten, heimzukommen, oder liefen, fort. Eine von
ihnen berührte ihn; er fauchte, griff mit beiden Klauen
nach ihrem Arm; dann sah er ihre einfältigen Augen,
schreckgeweitet, Todesangst, doch stumpf, und ließ sie
fahren, stieß sie weg, ging weiter.
Komm, TMP, ich liege dich, erzähl mir, was du willst.
Komm, TMP, ich liebe dich, Komm, TMP, ich fresse
dich, Komm, TMP, dein Maul, Komm, TMP.
„Though Daphne fly from Phoebus bright,
Yet shall they both be one,
And if you understand this right,
You have our hidden Stone.
For Daphne she is faire and white:
But volatile is she;
Phoebus a fixed god of might,
And red as blood is he.
Daphne is a Water Nymph,
And hath of Moysture store,
Which Phoebus doth consume with heate,
And dryes her very sore.
They being dryed into one,
Of christall flood must drinke,
Till they be brought to a white Stone:
Which wash with Virgins milke,
So longe untill they flow as wax,
And no fume you can see,
Then have you all you neede to aske,
Praise God and thankfull be.“
(Anonymous)
In der Mitte des Tanzraums, Studio 1, liegt Losse auf dem Rücken, ausgestreckt; sie trägt das enge Tutu ihrer
Kinderzeit, ein ausgeleiertes T-Shirt darüber, und ihre Haare liegen wirr um sie herum. Sie war zum Sterben
krank und betete nur mehr um Erlösung. Nach ihrem Tod würde sie Rosen auf die Erde regnen lassen.
32
Vor ihrer rechten Fußspitze ist der große Spiegel mit dem Riß, in den sie nicht zu sehen wagt, weil darin zu viel
von ihr steckt, zu viele Stunden, zu viel Angst; ihr linker Fuß zeigt auf den Seitenraum, den spiegellosen, der
durch einen nie geschlossenen Vorhang vom Studio abteilbar ist, und von dem ein gekipptes Fenster zur Straße
hinausspiegelt. Links von ihr ist die Wand mit der Trainingsstange und eine kleine Tür in einen Abstellraum;
und oberhalb der Ausgang in den Vorraum, die Metalltür, davor die Hängestiege links hinauf zum
Zwischenstock, die Galerie, Studios 3-6, dann rechts die Rezeption mit dem Regal dahinter, wo in kleinen
Holzvierecken paarweise Ballett- und Gymnastikschuhe gelagert sind; und die offene Lade an der Innenseite der
dunkelhölzernen Theke, in der sie den Schlüssel zum Tanzraum fand. Halblinks nach hinten, an der Rezeption
vorbei, geht es zum Stepsaal, wo erst neulich dieser fremde Gitarrist gespielt und sie die ganze Zeit beobachtet
hatte, aber das Klappern der Schuhe auf dem frisch eingelassenen Parkett, die Hände der Flamencotänzerin, das
hatte sie getröstet. Daneben ist die Garderobe, deren Vordertür nie zu ist, und die auch hinten eine Tür zum
Stepsaal hat; niedrige Volksschulgarderobenbänke aus drei breiten Sprossen mit alten, innen meist beschmierten
Holzkästchen dahinter zu beiden Seiten des Raums, und Losses Kleider ausgestreut links auf der Bank: Pullover,
noch mit T-Shirt drin, verschwitzt, noch warm, wenn man hineingreift; die Socken, einer auf der Bank, einer
darunter; die Hose eingeknittert, Röhrenbeine, irr gefaltet, in der Eile nur hinausgerutscht und rein in die
Gymnastiksachen aus dem Kästchen. Danach zum Ausgang, innen Holztür, dann die schmale, ausgetretene
Steinstiege, Altbau, Wien, hinunter, zur Metalltür, der Grenze der Welt, der Durchgang zur Kälte der Nacht.
Wir sind jetzt draußen, im Innenhof des Hauses, von dessen rechter Seite uns in Halbstockhöhe die Fenster der
Tanzschule entgegenstarren, alle noch dunkel; von oben fällt schwaches, nicht zu kaltes Licht in den
viereckigen, nicht ganz rechtwinkeligen Hof mit dem betonierten Boden. Hinter uns ist die Metalltür, die Grenze
zur anderen Welt, auf der anderen Seite der Durchgang zur Straße, dort rechtsrechts das Fenster zum Tanzraum,
zum Studio 1. Die Wand links von uns ist ganz blank bis weit oben, wo vielleicht noch irgendwo Fenster
auftauchen; wir sehen sie nicht; vielleicht sind auch unscheinbare Pflanzen im Hof, etwa links hinten oder grad
vor uns, gleich neben dem Durchgang, Topfpflanzen, graugrün, kaum bemerkbar. Der Wind geht hier nicht,
darum liegt auch der Dreck ganz still auf dem Beton.
Es betritt nun ein spitzbärtiger Jüngling die Szene; er hat das Aussehen eines jungen Mannes, dessen edle und
regelmäßige Züge durch böse Dünste angewelkt sind. Verzweiflung und Stolz malen sich in seinen ernsten,
funkelnden Augen; sein Haar mag struppig und seine Brauen düster sein, und Manchem mag die ausgeprägte
Habichtnase nicht auf den ersten Blick nicht behagen, doch sein luftiger Gang und seine zuvorkommende
Freundlichkeit zersetzen sogleich jede Abneigung, die bei seinem flüchtigen Anblick noch erwachen mochte. –
Er trägt altmodische, elegante Kleider, eine dunkelgrüne Schnurhose und einen ebensolchen Janker, unter dem
gelegentlich ein feuerfarbenes Hemd hervorblitzt; der große, mit einer Hahnenfeder verzierte Hut bedeckt fast
das ganze schwarzgelbe Gesicht. Angenehm, sittig grüßt er jeden von uns, vorzüglich aber die Frauen und
Mädchen pflegt er mit verbindlichen, wohlgesetzten Reden auf anmutige Weise anzusprechen.
Nachdem er sich also an uns vorbeigedrückt hat, streckt er die Hand nach der Klinke aus, nach der Metalltür, um
die Grenze zu durchbrechen. Er geht, wie wir flüchtig bemerken, ohne Schatten, denn er hat seine drei Wesen
wieder zu einem gemacht; darum kann er nun handeln und Welten verändern. Er öffnet die Tür, hinter der, wie
er weiß, seine entflohene Geliebte zu finden ist.
Wir folgen ihm über die dunkle Stiege und durch den Gang, vorbei an der Rezeption und hinein in den
Tanzraum, wo Losse sich aufgerichtet hat und hektisch tanzt, als müßte sie sich gegen etwas wehren. Er tritt mit
ausgestrecktem Arm auf unsere Protagonistin zu, so, als hätte er sie schon von weitem erkannt und ins Auge
gefaßt; sie schwitzt, das sieht er auch, hat ihren Schweiß bereits gerochen, ihre Witterung; er weiß, sie kann sich
seiner Anziehungskraft nicht erwehren, will aber, da noch zerlegt, vor ihm fliehen.
„Es ist wichtig“, sagt TMP; etwa in der Mitte des Raumes verläßt er den geraden Weg und zeichnet mit
langsamen, betonten Schritten einen Bannkreis gegen den Uhrzeigersinn in den Raum. Sie tanzt weiter,
spasmodisch, zergliedert, jetzt aber zu ihm hin; ächzt seinen Namen. Er hält an (Hearing his name called before
many instants had passed he most sagaciously ceased to walk about and turned, his look now charged with
purpose.), folgt ihr mit dem Blick, wie sie, ächzend und seufzend, sich immer mehr dem Boden nähert.
„Bleib stehen“, sagte TMP.
Losse seufzte ein letztes Mal auf und hielt sich an der Gymnastikstange fest. „Ich kann nicht“, sagte sie, „ich
sterbe.“ Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt. Ihr rechter Fuß kratzte am Parkett, bis in die
Zehenspitzen gestreckt; in ihrem Rücken, seitlich der Wirbelsäule, spannte sich eine Sehne und lockte erneut
Tränen der Wollust in ihre Augen, machte, daß sie sich flennend auf die Lippe biß. Zitternd wandte sie den Kopf
zur Seite, ihre ganze Miene geschlossen.
„Mach die Augen auf“, sagte TMP.
„Was ist da hinten?“
„Mach die Augen auf.“
Losse ließ sich an der Wand zu Boden gleiten, bis sie das kühle Holz an ihrer Wange spürte, in eine schmerzhafte Grätsche gedehnt und beständig vor und rückwärts wippend.
„Hör mir zu, Kutchuk Hanem“, sagte TMP. Losses Tutu knarzte. „Hör mir wirklich zu:“
33
Emil Glaend hing an seinem Kerzenständer; weißer Speichel tröpfelte ihm aus den Mundwinkeln und rann
spiegelnd an dem feinen Schmiedeeisen hinab. An der Wand hingen in dunklen Pastellfarben die Bilder seiner
Ahnen: Cecil Glaend, sein Großonkel väterlicherseits, der seinen schlechten Ruf durch ein abnormes Faible für
dicke Jungfrauen erworben hatte; ihm wurde in den Wirtsstuben noch nachgesagt, er hätte aus dem
überzähligen Speck sich eine Suppe kochen, die dermaßen abgespeckten Opfer aber makabrerweise doch am
Leben lassen. Seine Bankette waren im ganzen Landkreis berühmt, und wenn auch allen Gästen eine gewisse
Neigung zur Perversion nicht abgesprochen werden konnte, so waren die meisten doch hoch angesehene
Vertreter ihrer jeweiligen Schicht, Großbürger, Aristokraten oder reich gewordene Bauern wie der fuchshaarige
Jethro, der dem Vernehmen nach noch heute, wenngleich aufgrund eines unglücklichen Vorfalles kopflos, auf
seinen verödeten Gemüsefeldern fröhlich Umtrunk halten sollte. Jethros Tochter hatte dann den nächsten
Abgebildeten geheiratet, jenen damals noch jungschönen Alastair aus einer Nebenlinie des Geschlechts, der sie
allerdings noch um drei weitere Frauen überleben sollte; ihre vielgerühmte Nacht im Speisesaal hatte den
Kerzenständer unrühmlich beschädigt, doch ein kunstfertiger Schmied aus dem nächsten Dorfe hatte aus den
aufgefundnen Splittern bald ein festes, neues Bild geschaffen, das die blutigen Spuren jener Braut vergessen ließ
und zurückerinnerte an noch fernere Zeiten, als das Kunstwerk in Hylea Glaends Schreibstube gestanden hatte:
Diesen hatten sie gefunden, eines Tages, als seine früheren schriftstellerischen Durchbrüche ihn längst darnieder und im Stich gelassen hatten, wie er, tränenüberströmt und unter unerhörtem Kreischen, auf den
gepflegten Rasen des Schloßgartens einstach, die Krume hochwirbelnd und sein rauchiges Gesicht damit
beschmierend, dem ersten erschrockenen Beobachter aus rasselnder Kehle entgegenschrie, Sie, die er immer
geliebt habe, Sie, sei eine Hure: die Mutter, die Würdigste und Ehrenhafteste, die Urälteste Erde sei nichts als
ein wollüstiges Freudenmädchen, das seine Reize noch dem Niedrigsten unverhohlen darböte und sich von
jedem fremden Hauch befruchten ließe.
Man hatte kurz zuvor nicht unweit des Landstriches, in dem sich das Anwesen der Glaends befand, die Überreste
eines Meteoriten geborgen, ein Fall, der zu jener Zeit noch immer mit großem Zweifel betrachtet wurde; der
unglückliche Lord aber gab noch an demselben Tag Befehl, sein Schloß möge von allen bis auf seinen liebsten
Diener geräumt werden, und er selbst ließ sich in der höchsten Kammer des Nordturms einschließen, die seit
jeher sein Lieblingsort gewesen, und wollte niemand zu sich lassen außer den dürren Veith, der ihm das Essen
brachte. Eines anderen Tags dann verließ ihn auch noch dieser; man fand, zwei furchtsame Generationen
später, neben seinem Skelett Fragmente eines letzten, großartigen und wahnsinnigen Romans, den Lord Hylea
wohl in Hunger und Einsamkeit begonnen hatte, durch selbige aber auch wieder verlassen mußte: Von
ausschweifenden Festen und glanzvollen Menuetten war da die Rede, von Intrigen und heimlichen Mysterienspielen, und von einem alles umspannenden Maskenball, auf dem ein grausiger schwarzroter Harlequin all jene
heimsuchte, die es wagten, vor Anderer Blicke ihr wahres Gesicht zu entdecken.
Das Bild dieses ausgezehrten, von wechselhaften Leidenschaften getriebenen Mannes war längst stark verblaßt,
und, wie so viele Gegenstände in dem alten Raum, die nicht zum täglichen Gebrauch gehörten, dazu von einer
dicken Staubschicht überzogen, die seine Gesichtszüge verschwimmen ließ und dadurch selbst die Möglichkeit
zu einem Anblick des Alten als der seinem Geist entsprungene Harlequin selber bot.
Die Erde, die er umgewühlt – denn der Vorfall hatte sich zu seiner Zeit sehr schnell herumgesprochen und war
vielen seiner ebenso erfolglosen Geistesgenossen zum Vorbild und zur Inspiration gediehen – wurde mit einem
heute moosüberwucherten Gedenkstein versiegelt, der in großen Lettern den unentschlüsselten Stammspruch des
unglücklichen Dichters verkünden sollte: ME IGITUR, gefolgt von dem nicht weniger kryptischen Familienwappen der Glaends, einem schwarzroten Schild mit der goldenen Signatur N.C.R., zu einem Dreieck angeordnet, darauf. Das selbe Siegel prangte auch am Fuß des Kerzenständers; dem Vernehmen nach ging ein
Großteil jener Wort- und Symbolgeheimnisse, die sich durch die gesamte Familiengeschichte zogen,
ursprünglich auf die Rechnung des potenten aber eigenbrötlerischen Ayma, dessen Lebenswerk der Versuch
einer vollständigen Erfassung seiner Sprache gewesen war, ein riesiges, größtenteils unleserliches Volumen
voller Notizen, mit unzähligen Querverweisen von einem Wort zum anderen, mit Ableitungen, symbologischen
Intermezzi, mit Abbildungen und in das Papier geriebenen Erdspuren. – Nil Ayma, der jüngste Sohn, hatte das
Werk fortgesetzt, war so zu einer schwächlichen Kopie seines Vaters verkommen, kinderlos und alleingelassen,
und hatte erst kurz vor seiner rätselhaften Flucht aus dem Stammland das ganze vermessene Projekt seinem
Neffen Hylea überlassen – der es gelesen und weggeschlossen hatte, um seinen eigenen Weg des Wahnsinns zu
gehen. Keiner von ihnen war je über die Sprache bis zur Wirklichkeit gekommen; Emils Geist war schon früh in
das Leben abgeglitten, und seine alles beherrschende Ina hatte ihm den Zugang zu den finsteren Vermächtnissen
verwehrt. Hatten seine Vorfahren so vergeblich den Weg aus der Sprache, der Geschichte, dem Tod gesucht, so
sah sich ein verzweifelter Emil nun in einem reißenden Fluß gefangen, auf der blinden Suche nach einem
rettenden Ast, nach einem stillstehenden Punkt, an dem er sich festhalten, sich festmachen, sich selbst erschaffen
konnte –
und dann lernte er, das Wasser erstarren zu lassen, lernte, aus dem eigenen Leben Geschichte zu machen. Wie
schon Aesha ihren unbekannten Liebhaber, so hatte auch Emil seine Ina inmitten des rauschenden Brigg Fair
gefunden; beseelt von einer gänzlich neuartigen Schwermut, von einem intensiven Gefühl für jedes sterbende
Herbstblatt erfüllt, in den Gedanken gejagter Kinder und verlorener Händler schwebend, nahm er mit einem
Mal alles auf und erstarrte in demselben Moment, als all die Sorgen, all die Zweifel, die prachtvolle Tapete der
34
Vergangenheit und die schreckenerregende Leere jeder möglichen Zukunft in einem einzelnen Geist zusammenliefen. Er sah eine offenbar leere, womöglich konkave Gestalt, ein Weibchen, der treibende, pathetische Teil
seiner Stammeserinnerungen, nicht der kalte Wahnsinn seiner Männer. Er wußte in diesem Moment, daß seine
Augen durchsichtig waren und irgendwo in seinem Kopf ein Licht brannte, das in die glatte Hülle dieser Frau
alles Weibliche aus seinem Geist hineinstrahlte; und er belebte sie dadurch, er brachte sie zum Tanzen, brachte
sie zum Küssen und in sein Quartier; er gebrauchte ihren Körper und hielt sich an jedem ihrer Glieder fest, so
lange, bis seine Augen sich wieder verfestigt hatten und nun seinen eigenen Blick nach innen spiegelten.
Emil Glaend rieb seine Stirne an dem kalten Metall des Kerzenleuchters; das rauhe Gußeisen fraß sich in seine
Haut, in seinen Schädelknochen, und während er noch den erlösenden Schmerz, der von seinen Lippen tropfte,
mit der Zunge einzufangen suchte, vermischte sich sein Blut mit dem der Geliebten. Die Erzählung endet mit
einem lauten Knall, als der Leuchter, von Emils zuckender Hand gestoßen, auf die Tischplatte kippt und seine
diversen Ausläufer tief in das weiche Holz eingräbt. Mehr brauchst du nicht zu wissen.
Der Blick des Erzählers fällt nun endlich wieder auf Losse, welche in einer verdrehten Stellung zwischen der
Gymnastikstange und dem Boden hängt. Sie hat aufgehört zu atmen.
TMP, die Augen halbgeschlossen, beugt sich zu ihr herunter FACIT QUINTO MENSE SPIRACULA und siehe
da! sie beginnt wieder zu atmen.
„O meine Schöne“, sagt das Biest, „kannst du mich riechen? Ich bin es, dein Donas, Ama-uschumgal-an-na.
Willst du nicht zu mir kommen, meine Schöne? A las, Alatheia, meine liebe, liebe Jenny, Geschtinanna, Belitseri, Uschumgal-an-na-ge (pulchra tibi facies / oculorum acies); Du schläfst noch, willst noch schlafen, den
Traum deiner Kindheit weiter träumen; Erwache! (capillorum series / o quam clara species!); Du bist
schwächlich und ein zartes Wesen, frischer bist du als die Rose, weisser als Schnee. (rosa rubicundior / lilio
candidior); deine Liebe, deine Haut ist wollüstige Gefangenschaft in Tirzah, ist Hobelbanat, ist meer; gisôtet
hast du mich, mo airgeadach, calman geal. (omnibus formosior / semper in te glorior!)“
Sie erwachte mit einem Zusammenfahren, als sie Seinen Atem roch. Die Welt setzte sich nur langsam wieder aus
ihren Körperteilen zusammen. „Folge mir“, sagt Er, „Ma Belle. Komm schon, Es eult! Und laß dir raten, habe
die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne; komm, folge mir ins dunkle Reich hinab. Komm, komm!“
Haud equidem credo, quia sit divinitus illis
Ingenium, aut rerum fato prudentia maior.
Sie folgt der düster strahlenden Gestalt in eine Wohnung, an der Kirche mit dem großen Heilandsmosaik vorbei,
bei deren Anblick sie zusammenschreckt. Sie geht mit kleinen Schritten hinter ihm, doch immer nah genug, daß
er sich nicht umdrehen muß, um ihrer Gegenwart gewiß zu sein. Er blickt mit düsteren Augen voran, im Gegensatz zu ihr edel gekleidet. Sie blickt auf seine Haare, seinen Kragen; ihre Haut ist bleicher als die seine.
Jetzt wird es langsam Nacht in seiner Wohnung; ich werde bei ihm bleiben, ihm vertrauen, aber vorsichtshalber
wachsam sein und warten, bis er schläft. Die Wohnung ist klein und warm und sehr gemütlich; das Bett ist breit,
zerlegen, fast ein wenig schmierig; doch wenn man auf dem Rücken liegt wie ich, während er seine Schuhe von
den Füßen klaubt, sieht man den Baum des Lebens an der grauen Zimmerdecke ganz leicht leuchten, die bereits
leicht verwitterten, mit bunter Farbe hingemalten Kreise und die verzierten Linien, verspielt, mein großer
Liebster, bis zur Decke. Er ist zu groß, um nicht bedrohlich zu sein mit seiner Liebe; aber ich werde ihm
vertrauen, werde schlafen.
Ich schließe die Augen, und es klingt nach Schubert, ja, es riecht nach Klaviermusik mit süßlichem Gesang. Ein
Esel beugt sich über mich, ein Rosel streichelt meinen Bauch, ja, seine Ohren kitzeln meine Wangen. Der Esel
singt (gracios!), [I.] Ich habe geträumt von einer Rose, Auf einem Rosenstock von drei. In all dem Wirbeln konnt
ich nicht sehen, Ob meine Liebste war dabei. [II.] Husch um den Rosenbusch, Zehen zählen, husch, husch,
husch! Ros und Hügel sind verschneit, und die Geister kreisen: Frauen aus vergang’ner Zeit, verblichene
Gesichter, geschrumpelt, gepreßt und auf Papier getropft zu herrlichen Sonetten, ach! bistunette! und als leiche
noch zerstückelt, gefolgt von den jüngeren, noch lebendigen, deren preis die liebe ist, tanzt zu meinen liedern! zu
des gottes liedern! rund um den rosenstock grüße verstreuend, hin und her ich und wer sprach der doktor
nimmermehr! und sie dürfen denn sie sind engelschmuck und [III.] armerosel eimenu du hängst geköpft und
bleichst und saugst mich nicht und paßt! und zack! und [IV.] bleibnur und loch und atem und schweige und still
und knochen und steh! und stein! verbrennen und frieren und kalt konservieren und alles zerbrechen dich nicht
zu verlieren und dichmich zu habenlassen herzmich zu brüßenlassen herzmicheins flammicheins ziermicheins
saugmicheins ach! und rundum umdie [V.] rosederwelt! dein mortaukelch isseins nur schalaus rubein!
wieschömtas lichtinicher necktarös blutent austierem herzoharker pecher willich farbelyaben [VI] so thief wieder
tropfen auf heißmarmorsplittern dort kreisentzwei beinen auf komm! auf der himmelsplate kommkomm!
gelocktefangen paßt, zack, so grabmichunter aufgebrannt will fallen stoßen todfinden und! und! alle luft raus!
wandgemalt raus! und zwei augen zwei lippen ein körper gefaltert geraupft und gemöchelt gehaucht und
entschluffen geritzt und gespalten gebunden gedreht! gedreht! gewirbelt geblendet und schneeweiße fliepaßt
undnein schlaffmirnieder undweg undniewieder du rosätherwelt! dornenlose erblüthe gelichtharpte thorin
dievierte dieletzte dimittre dierote das schweigende dingsda der blütenbewohner erotender morgen thiefintier
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verborgen der strahl und das prinzma [VIII] gib fliegel mein schratzz jammir fliagol paszack ins kaltehinauf
wodinblumewohonigt und ferneblestpan schilfrohrsiegen zehmichfnort knepfmich andubist unsekhmir dublinst!
undulachest wie ein baum im wald fällt einsam blühter taumirnichtan mein ohr wurmzerfressen wächstu aus
fleischmeinesfleisches und blutvonmeimblut und bist fremd und bist schön und bist ausmir gewachsen bist aus
meinem kopf und die form meines geistes, und immer! nimmfettki! nimm Ki! dreht sich alles im BlumenfallTanz um den Stock, um das Kreuz, um die Rose, um mich! Dann ist Morgen; und all die weißen Blütenflocken
fallen mit lautlosem Knall zu Boden. Durch Fenster und Vorhang und Augenlider kommt weißes Licht von der
Morgensonne. Kether. Blut. Kether, Chokmah, Bi-, Blut, Binah, Blut. Bitterkeit. Malkuth, Jessod, Blut, Jessod,
Hod, Nezach, Tiph’ereth. Ah ...
Ich erwache in seiner engen, vollgestopften Wohnung, in einem brennend heiß verschwitzten Bett; verkrampft
liege ich da, fühle mich leer, und winde mich aus seinen Armen. Er grummelt nur ein wenig, blinzelt mir nur
nach; ich muß jetzt ein paar Schritte gehen, über seinen Unrat, seine Welt; die Luft ist besser als das Bett; ich
fliehe in den Gang, wo es nach Haus riecht mehr als nach Verlangen.
Voll steht das Morgenlicht im Fenster, drängt mich beinah wie ein Keil im Raum wieder zurück; es schließt die
wenigen tanzenden Staubflocken zu einem Prisma zusammen und schlägt wie Sonnenwind gegen meine Haut,
als ich in seinen Wirkungsbereich trete. Die Welt ist verzaubert in diesem Licht; ich stehe nur, schließe meine
Augen, fühle, wie mich der Tag wieder zu einem eigenen Wesen macht ... und bereit, mich wieder zu verlieren.
Er rumort hinter mir, raschelt und steigt, blickt mir vielleicht kurz in den Rücken, ganz egal; dann geht er und
macht Frühstück, guter Mann. Er läßt mich hier in Frieden und macht Frühstück. Er hat nicht das geringste
Gefühl für Losse; sie ist für ihn das „Weib“, femina super bestiam.
Ein Blick zurück: da steht er, noch kaum angezogen, mit durchgestreckten, dicht behaarten Beinen, schmalem
Oberkörper, langen Armen, und macht Frühstück. Die Küche ist zu klein; es riecht nach Fett.
„Ich träume schon seit längerem von einem Tier, das Rosen frißt“, sagt TMP; die Eier brutzeln. „Ein sehr
beängstigender Traum. Weißt du, wenn Tiere Rosen fressen, werden sie zu menschlichen Wesen.“ An seiner
Küchenwand eine speckige, braune Tapete, nicht viel anders wie bei uns, nur kleiner, jünger, Sechziger. „Viele
von meinen Freunden haben das verlacht und mich darum mad Prophet benannt; just because I know that beasts
will eat roses, just because I see the milk rising.“ Das Vorzimmer ist kühler, hier ist auch in allen Ecken Chaos,
Kisten, Kleidungsstücke, Holzgestelle, Masken. Ein Buchregal, mehr noch: eine ganze Bücherwand, vom
löchrigen Boden bis zu schimmligen Decke hinauf. Ha, Chaos und Staub und viele Notizzettel, die zwischen den
Büchern hervorragen; Stapel und Reihen, ein einziger bibliophiler Balanceakt. Oben, auf der dunkelhölzernen
Einfassung des Regals, ist eine kleinere Holzplatte befestigt, schräg zwischen Decke und dem rohen Bücherholz,
auf der in dicken schwarzen Lettern ein grausiges Wort steht, DAATH, und rundherum flüchtig gemalte
Tentakel, von Pflanzen oder Tintenfischen, in Rot und Schwarz.
„Sie hören mir meistens nicht recht zu, und wenn sie es doch tun, verstehen sie mich nicht.“ Er klappert mit
Geschirr. Die Hälfte der Buchtitel verstehe ich nicht; da ist eine „Pansophie“, ein „Ionesco“, daneben
irgendwelche „Schlüssel“; darunter klebt ein kleines Etikett, Aufschrift: Theurgia; da sind Titel in seltsamen,
massiven Schriftzeichen und andere in feiner, kalligraphischer Schrift, Taschenbücher und schwere, dicke
Wälzer, zwei französische Titel: „Le Dragon Rouge“ und „Le Roi en Jaune“ (jeweils Figuren und Farben, nett);
„Historia Glaennd“: Woran erinnert mich das jetzt? (stehenbleiben!) daher also! Nein, das will ich jetzt nicht
auch noch lesen. Ah: ein dünnes, unmarkiertes Büchlein, mal sehen, was sich darin verbirgt –
Seltsam: links gedruckt ein englisches Gedicht, rechts daneben in beunruhigender Klaue eine Riesenmenge Text
mit Pfeilen und Querverweisen aufs Gedruckte, eine Arbeitsausgabe? So:
36
The Seeds of Love
[I.]
I sowed the seeds of love,
And I sowed them in the spring:
I gathered them up in the morning so soon
While the small birds so sweetly sing.
[II.]
My garden was planted well
With flowers everywhere.
But I had not the liberty to choose for myself
Of the flowers that I love so dear.
[III.]
The gardner was standing by,
And I asked him to choose for me.
He chose for me the violet, the lily and the pink,
But those I refused all three.
[IV.]
In June there’s a red rose bud,
And that is the flower for me.
I often times have plucked that red rose bud
Till I gained the willow tree.
(Somerset)
I.
seeds: both metaphorical and literal (cf. IV,4 willow tree)
spring means very early; while “the transformation from the primal death of
the First Winter [in the cycle, TMP] to the blush of the First Summer”
(e.fuhrmann) is not yet complete
morning ... soon: in the context of spring, the beginning of the Blush, “the
defloration of Night as Father Day heaves itself upon it, making it blush” (e.f.)
the small birds seem slightly misplaced, conventional though they are.
INQUIRE
III.
The gardener: Glauflicht, after having confessed & been absolved, after he
has his friends had evaluated by God, still “fears the gardener”. Don’t go out
of the mountains (where you have been born). Creeping from the womb, from
the Mother Earth, walking out into the Open, gets you into the zone of
influence of the Gardener, the Father, feared and yet waited for (terrible! cf.
Meyrink’s “Angel”). And that this He (who is not I, nor meta, Freud to the
contrary with his puerile symbolism), that Samweis, should tell me which way
to choose (you see: once I trusted Him who reared me, Him who is of no
impotance), leading me to weakness (but I have seen the mirror, man! I know
that everything is terrible, and only Red, Red Fire can absolve me). Stay at
home, old man! don’t you dare to listen nor intrude! You have no business at
the Fire anyway: it is not yours. Listen: IT IS NOT YOURS! – you knew it,
old man, didn’t you? You always did. And yet you tried. You tried! but it is I
who will be dead, and you will live on feebly for all time. Wort des
lebendigen Gottes.
the violet, the lily and the pink: As colours, all “weak” approximations to red
(intermediate rather than basic colours); ergo weak love, the meaningless
follies of youth, as opposed to the Red of grownup passion. – As flowers:
(note that there are three of them: “and which of its roses three / is the dearest
rose to me?”, Browning)
IV
June: I. Juno, sister & bride of Jove; II. the month June as “early summer” (of
the rosebud, i.e. of womanhood; cf. Spring as “early in the Year of Life”
above)
bud: sthg. in an early stage of growth; the dewdrop is yet firmly enclosed
within. This is the flame and the stone (ignis noster / lapis noster)
to pluck: to make sthg. your own, thus in the long run killing it; as in “carpe
diem”. You can pluck sthg. more than one time, whereas you can kill it only
once. The dewdrop is not lost, nor found, by plucking. (cf. also Claudel)
the willow-tree: mainly spreading, as sometimes a poplar; not merely
embracing, but mourning (“Trauerweide”). Crowley’s TOWER in Tarot;
16=7 (krisis); Pé as mouth bringing forth
„Was ist das?“, frage ich, scheinbar müßig. „Was bedeutet das alles, was steckt dahinter?“ Er bringt den Geruch
von Frühstück mit sich, von gerösteten Spiegeleiern, von Brot.
„Ach, das“, sagt Er, „das ist eine alte Prophezeiung aus Somerset, wo unser alter Herr William Mortgole sein
Unwesen getrieben hat, die mich sehr angesprochen hat. Es geht um den Kampf zwischen Tishtrya und Apaosha,
Hund gegen Wüste. Es sieht so aus, als ob der Hund gewinnen würde, aber in Summe ist es immer noch der
lachende Dritte. Der aus dem “red rose bud” entsteht. Du hättest nicht gedacht, daß er mit Dee zu tun hatte,
was?“
Er war zu groß, um nicht bedrohlich zu sein mit seiner Liebe. Und dennoch zog mich jeder Bissen zu ihm hin,
und in den Morgenstrahlen lächelte ich dümmlich, lachte ich, umschlang ihn und verzehrte ihn mit meinen
Augen. Wir gingen auf den Markt; ich war nah an ihm. Wir aßen, Spiegeleier, Brot, ich wankte mit ihm. Ich
komme, Freund, mit Freuden. Wir gingen auf den Markt, und selbst die Kirche machte mir keine Angst mehr, als
wir durch die Morgennebel zogen. Dann schrieb ich ihm meine Adresse auf die Hand und weinte glücklich zur
Verabschiedung. Ich war ganz sein. „Geh schon weg“, sagte er und hielt mich fest. „Ich weiß ja jetzt, wo ich
dich finde. Man beachte, daß Losse Rechtshänderin ist! Das hätten Sie nicht gedacht, was?“ Ich war ganz sein,
und ging, und sah ihn in den Nebeln stehn, ein Schatten vor der roten Sonne, zu groß, um nicht bedrohlich zu
sein mit seiner Liebe. Dann wandte ich mich um und lief davon, um nicht zu ihm zurückzulaufen.
- parce que dante préparait l’apocalypse G r e g o r. Der Grasaff. Ist er weg?
T h o m a s.
Hast wieder spioniert?
G r e g o r. Ich hab’s ausführlich wohl vernommen.
Nun, heute nacht –?
T h o m a s.
Was geht dich’s an?
G r e g o r. Hab ich doch meine Freude dran!
/|\
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Interlude: Love
“He loved her with an ardour –
Such a hot one,
That her father had to guard her
With a shotgun.”
(Ovid, d.i. Ambrose Bierce, “The Devil’s Dictionary”)
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Sanftes Geschlecht, dessen Anblick den Einsamen tröstet;
ruhiges Geschlecht, das die suchenden Nerven einschläfert; zartes Geschlecht, das reines Vergnügen ausströmt;
liebkosendes Geschlecht, das uns die Seele küßt; berauschendes Geschlecht, das uns nach oben führt;
barmherziges Geschlecht, das uns unsere Träume gibt; Geschlecht der Jungfrau von Orleans, Geschlecht des
Wunders! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Dünste nicht mehr riechen; es soll in ihre
Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)
PROLOG
Was die Liebe betrifft, muß man scherzen. Sonst sähe man Augen! würde Augen im Buch leuchten sehn und
schlimm enden, womöglich hinter der Schlußseite des Buchs. Teuflische Augenmasquen und verfolgende
Fratzen: das Bizarrium der Commedia Rosicruciana (Falling Towers, Jerusalem, Athen, Alexandria, Wien,
London 1979-83; Unreal, Dublin, Prag, Zürich 1991, The Mime of Mick, Nick and the Maggies, Feenichts,
Dublin, Paris 1922-1939),
präsentiert (in Zusammenarbeit mit Dr. James FRAZER von der Miskatonic University, Arkham, Mass.
(historische Beratung), a.o. em. Prof. Ekkehard FUHRMANN, A.M.R. (Choreographie), und Mr. Ernest
ARTBUTHNOT, Ph.D., welcher einen Großteil der verwendeten Sklaven zur Verfügung gestellt hat), die
HIEROTOGAMIA SEMADARI,
das ist
Die Heilige Hochzeit der Losse Anupadaka und des Thot Mega Perian,
ubi gratiam prophanatum amittit; & Asino rosa substerni est,
Erster Versuch.
Dramatis Personae:
DER CHORUS, eine Mondration von schwarzen Puppen, welche den Boden stampfen, die Handlung
kommentieren und gleichzeitig ein Schafsauge haben auf
LIKSOM (miramage), eine hexisch bezaubernde hellblonde Dame che quando bacia sta in punta die piedi, mit
großem Kopf und kleinen Grübchen darin, gerade so lieblich wie ihr Schwesternbild im Spiegel, oh danke! bitte!
sinti herrlich! köstlich! bistunette! Was für feinliche Hände du hast, zerbeiß nicht deine Nägel! Das Auge sieht
und blickt nicht; die Nase ist gebieterisch, wenn auch die Nüstern offen sind. Der lebhafte Mund ist zu sehr
gespalten. Die Haut durchweg gebräunt, von einem gleichmäßigen Ton vergoldeter Blässe, sticht grell ab gegen
die kalte und immer steife Haltung.
Die schönen Hände, das feine Handgelenk und eine gewisse Fülle der Formen, unter dem wenig passenden
Schülerinnenmieder kaum sichtbar, offenbaren ihre verborgenen Schönheiten nicht der Bestie, denn nichts darf
sie verletzen, unsre Schwester. Ist sie eine Mauer, bauen wir silberne Zinnen auf ihr. Ist sie eine Tür, versperren
wir sie mit einem Zedernbrett. Ich bin eine Mauer, singt sie, und meine Brüste gleichen Türmen. Da hab ich in
seinen Augen Gefallen gefunden. Und so trägt unsre Nymphe beim Blätterfest ein Kleid aus den Blumen der
Flur: das ist, die Schönheit, um die jede sie beneiden wird: Düstere Wolke, aus der Blumenfarbe ausgewaschen,
und doch: wird ihn irgendjemand haben wollen, irgendjemandem wird er gegeben sein, der Heilige, der Name,
und die Liebe. Das Gesetz der Pflanzenerde, das Gesetz des Weiberwalds: Komm in meine Wellenstube!, sprach
der Spinner zu der Floh. Denn sie wird gebraucht und dann gefressen werden, gebraucht und gefressen werden,
majowele: Denn ihr Vater hat sie gezeugt aus dem Blut seines Fingers, das sich vermengte mit dem Saft einer
sterbenden Blume, und beim Feste mußte sie geben, geben und geben und wurde endlich in ein Loch gestoßen,
begraben, gefunden, zerstückelt und ausgesät, freundlich lächelnd: Und gegessen. Was ist da noch ihr Bruder,
der im Ereike-Baum ruhen durfte: Er lebte, sie aber mußte geben, geben, geben. Dann, der Bruder
TSCHUMP (nur außen kränklich, aber innen roh), der Gute, um das klarzustellen, der nun Vereinte, der
verfluchte Esel aus dem Märchen, selber gut und groß genug, daß kleinere Wesen ihm beständig folgten,
Holzbretter in den Händen, und sangen in iesu morimur; doch er selbst war bereinigt, hatte sich bereits per
Selbstmord von den Drogen gelöst und die alten Verfehlungen hinter sich gelassen; dennoch ist er nach wie vor
ein wenig hektisch, eilig, und ein bißchen zu pathetisch, und steht stets in Streit mit
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GLÖCK (ein weiser Schurke), dem Bösen aus dem Bubenbuch, der seine Vaterschaft in Rechnung stellt und den
Sohn damit erniedrigt; ein Relikt aus alten Zeiten, nicht mehr arbeitsfähig, nur noch als Widersacher gut, zur
Überwindung. Ihn hat der Chorus hinzugezogen, um die Dinge zu verlangsamen.
ERSTE SZENE: TRAUM
Die Liebenden sollen zu beiden Seiten der Bühne in ihren Nachtgewändern auftreten, Beren zur Rechten und
Tinúviel zur Linken, und sie sollen im Schlaf und ohne einander zu bemerken ihre Lieder singen:
TMP:
Lean out of the window,
Goldenhair,
I hear you singing
A merry air.
My book was closed,
I read no more,
Watching the fire dance
On the floor.
I have left my book,
I have left my room,
For I heard you singing
Through the gloom.
Singing and singing
A merry air,
Lean out of the window,
Goldenhair.
LOSSE: Ich schlief, doch mein Herz war wach.
Horch, mein Geliebter klopft:
„Mach auf, meine Schwester und Freundin,
meine Taube, du Makellose!“
Mein Kopf ist voll Tau,
aus meinen Locken tropft die Nacht.
Ich habe mein Kleid schon abgelegt,
soll ich es wieder anziehen?
Die Füße habe ich gewaschen –
soll ich sie wieder beschmutzen?
Mein Geliebter streckte die Hand durch die Luke;
da bebte mein Herz ihm entgegen.
Ich stand auf, dem Geliebten zu öffnen.
Da tropften meine Hände von Myrrhe
am Griff des Riegels.
Ich öffnete meinem Geliebten:
Doch der Geliebte war weg, verschwunden.
Mir stockte der Atem: Er war weg.
Ich suchte ihn, ich fand ihn nicht.
Ich rief ihn, er antwortete nicht.
Exeunt. Kein Vorhang.
ZWEITE SZENE: WEG
Der Geliebte soll, noch schlaftrunken, in Wanderkleidern auf die Bühne stürzen und singen:
TMP:
Es war amal an Abend spat,
a wunderscheane Nacht.
Die Stern am Himmel leuchtn so hell,
es war a liabliche Pracht.
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Auf einmal fallt mirs in mein Herzen ein:
Heut möchte is bei meiner Herzliabsten sein,
und waar das Wegerle no so weit –
so kunnt i’s net gratn mehr heut.
So machet ich mich also flugs aus dem Bett, mehr begierig zu erfahren, was doch geschehen möchte, denn daß
ich genug geschlafen hätte.
Nachdem ich mich nun angezogen und die im Schlaf gewohnten Stiegen hinab begeben und niemand anders in
dem Saal gefunden hatte, ging ich, von meiner Sehnsucht geleitet, alsbald etliche Stiegen unter die Erde, zu einer
großen eisernen Türe, worauf nachfolgende Wörter in großen Kupferbuchstaben angeheftet waren:
Hie ligt begraben
VENUS
Die schön Fraw, so manchen
Hoen man
umb glück, ehr. segen, und wolfart
gebracht hatt.
Nachdem nun diese Tür eröffnet, drückte ich mich durch einen ganz finsteren Gang, bis ich wieder zu einem
kleinen Türlein kam, das noch versiegelt war, da man es gestern erst eröffnet und die Verschalung davon
abgenommen hatte, das also noch nicht aufgeschlossen war. Wie ich nun hineingetreten, sah ich das
allerköstlichste Ding, das jemals die Natur erschaffen.
Denn dieses Gewölbe hatte kein anderes Licht als das von etlichen übergroßen Karfunkelsteinen, und dies war,
wie ich es vorausgesehen hatte, des Königs Schatz: Das herrlichste und vornehmste aber, das ich darinnen
gesehen, das war ein Grab, das in der Mitte stand, von solcher Köstlichkeit, daß es mich wunderte, daß solches
nicht besser versorget wurde; und dachte, ich hätte mich billig gegen meinen Planeten zu bedanken, dank dessen
Einfluß mir nun etliche Stücke zu sehen würden, die keines Menschen Auge sonst jemals gesehen, außer des
Königes selbst.
Dies Grab war dreieckig, hatte in der Mitten einen polierten Kupferkessel, der überquoll von lauter Gold und
Edelgestein.
In dem Kessel stand ein Engel, der hielt in Armen einen unbekannten Baum, von dem tropfte es stetig in den
Kessel, und so oft die Frucht abfiel in den Kessel, wurde sie auch zu Wasser, und floß von dannen in drei
goldene Nebenkesselchen.
Dieses Altärlein trugen die drei Tiere, Ader, Ochs und Löwe, und standen auf einem überaus köstlichen
Postament.
Hie ligt begraben
VENUS
Die schön Fraw, so manchen
Hoen man
umb glück, ehr. segen, und wolfart
gebracht hatt.
Hierauf erblickte ich eine kupferne Türe auf dem Boden; die, sagte ich mir, konnte ich mit all meinem Mut
weiter hinab gehen. Hiemit kam ich die Stiegen hinab, da war es ganz finster, aber mir war ein kleines Kästlein,
darin stund immer ein wehrendes Lichtlein, von dem zündete ich mir eine beiliegende Fackel, deren viel waren,
an; obgleich ich erschrak bei dem Licht und mich ernstlich fragte, ob ich dies tun dürfe? Doch da die königliche
Person jetzund ruhen, hätte ich mir nichts zu befürchten.
Und dann ersah ich ein köstlich bereitetes Bett, mit schönen Vorhängen umzogen, deren einer eröffnet war.
Da sah ich die Geliebte nun ganz bloß, denn die Decke war auch aufgehoben, in solcher Zierd und Schöne
liegen, daß ich schier erstarrte, auch nicht wußte, ob es nur also geschnitten oder ein Mensch tot hier liege, denn
sie war ganz unbeweglich, noch wagte ich es, sie anzurühren.
Hiemit wurde sie wieder bedeckt, und der Vorhang vorgezogen, mir aber war sie noch als in Augen.
Hier soll sich der Geliebte starren Blicks zum Bühnenrand zurückziehen, um schweigend dem Auftritt der
Geliebten beizuwohnen, bis diese ihn ergreift:
LOSSE: Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn,
den meine Seele liebt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen,
die Gassen und Plätze,
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ihn suchen, den meine Seele liebt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.
Mich fanden die Wächter
bei ihrer Runde durch die Stadt.
– Habt ihr ihn gesehen,
den meine Seele liebt? –
Kaum war ich an ihnen vorüber,
fand ich ihn, den meine Seele liebt.
Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los,
bis ich ihn ins Haus meiner Mutter brachte,
in die Kammer derer, die mich geboren hat.
Exeunt wie gesprochen.
- homo homini lapis DRITTE SZENE: WECHSELGESANG
LOSSE: Ich bin eine Blume auf den Wiesen des Scharon,
eine Lilie der Täler.
With my whiteness I thee woo and bind my silk breasths I thee bound!
TMP:
Eine Lilie unter Disteln
ist meine Freundin unter den Mädchen.
LOSSE: Ein Apfelbaum unter Waldbäumen
ist mein Geliebter unter den Burschen.
In seinem Schatten begehre ich zu sitzen.
Wie süß schmeckt seine Frucht meinem Gaumen.
Mit den Küssen seines Mundes bedecke mich.
Süßer als der Wein ist deine Liebe.
TMP:
Leg mich wie ein Siegel auf dein Herz,
wie ein Siegel an deinen Arm!
Stark wie der Tod ist die Liebe,
die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.
Ihre Gluten sind Feuergluten,
gewaltige Flammen.
LOSSE: Seine Linke liegt unter meinem Kopf,
seine Rechte umfängt mich.
Hier sollen die beiden in Liebe einander umfangen, doch die Braut soll sich versteifen, als sie hört, wie vor dem
Zimmer ein Tritt geht auf der Treppe.
LOSSE: Da draußen! Molech! Sei jetzt still!
TMP: Er wird nichts tun. Er hört uns nicht. Hör zu!
LOSSE: Sei still! Hörst du es nicht? Er singt: soto de matteru, sotooo ...
TMP: Still! du reizende Lossía; schließ in deinen Mund all meine Sünden ein. Geh in ein Kloster! Warum
solltest du auch Sünder zur Welt bringen? Ich bin selbst leidlich tugendhaft, dennoch könnte ich mich solcher
Dinge anklagen, daß es besser wäre, meine Mutter hätte mich nicht geboren. Ich bin sehr stolz, rachsüchtig,
ehrgeizig; mir stehn mehr Vergehungen zu Dienst, als ich Gedanken habe, sie zu hegen, Einbildungskraft, ihnen
Gestalt zu geben, oder Zeit, sie auszuführen. Wozu sollen solche Gesellen wie ich zwischen Himmel und Erde
herumkriechen? Wir sind ausgemachte Schurken, alle: trau keinem von uns! Geh deines Wegs zum Kloster! Wo
ist dein Vater?
LOSSE: Er ist im Haus. Da draußen.
41
TMP: Dann schließ die Türe ab, daß er die Narrheit nicht hier noch hereintrage, nicht in deinen Kopf, in deinen
Mund. Denk nicht an ihn, denk nicht an den Menschen! In dir zentriert sich alles, Omphalosse. Wenn draußen
vor der Höhle die Dämonen stürmen, auch wenn dort hinter den Steinen dunkle Biester schleichen, hülle dich ein
und decke dich zu, und um dich wird der Ofen rund und fest, und nichts durchdringt das vas mirabile als der, den
du hineinläßt. Lasse mich! Du trägst das Salz, das Elixier, den Stein. Komm, denk nicht weiter! Lasse mich!
CHORUS: Wie glaubwürdig ironisch er aus den dunklen Büchern süßes Leben lügt: Da liegt der schlanke Hirte
unter Stein und Baum und nagt bei seiner Dornenschwester wiedergefundene Männlichkeit; und zwischen jungfräulichen Halmen versteckt sich der dreieinige Klee. Seit Evas Schöpfung tragen die Kinder von Land und von
Stadt sich die Staubblumen zu, schmiegen in Rausch sich Tulippen aneinander, sind Männer angeschmolzen,
Pfarrer abgesunken, wünscht die Holde sich vom Braunen einen Kuß; und immer noch bitten die Floras aller
Felder ihre scheuen Waldgeister, sie zu pflücken, während sie noch blühen. Und sie fallen aufeinander, und sie
selber sind gefallen. Und, das ist der Humor dabei, das alles mit den wichtigsten Gesichtern, und ohne zu merken
warum, und meinen Gott weiß was dazu. Hört ihn euch an, wie er ihr Sinn in ihren Wahnsinn lügt:
TMP: Der Dinge Anfang war ein Wasser oder eine feuchte Natur, worüber der Geist Gottes geschwebt hat. Im
Innern dieses Wassers bildete sich sodann eine subtile Erde. –
Die Alchemisten unterscheiden uns nämlich als zwei Arten von Wasser oder Merkur: eines, das luftig aufsteigt;
und ein anderes, das sich zu Salz coaguliert und im Grunde fix wird. – Paracelsus bezeichnete mit Salz „das
Zentrum des Wassers, worin die Metalle sterben sollten.“ Wenn dieses „sal circulatum“ mehrfach destilliert
wird, verliert es seine Festigkeit und wird zu einem vitriolischen Wasser, d.h. zur materia prima.
Solange dieses Salz der Natur noch ausgebreitet in deinem Limbo oder Chaos steckt, und gleichsam in seinem
Wasser noch erstickt ist, erscheint es in keiner anderen Form und Eigenschaft als der eines bitteren salzigen
Wassers. In diesem Zustand bleibt es solange, bis mit Hilfe des Alchemisten durch die Wärme in der Scheidung
das überflüssige Wasser ausgedämpft wird, und die salzige Erde erscheint, wie eine Insel im Meer. –
So finde ich den Stein, den die Weisen suchten, das Vitriol.
Hier soll der Bräutigam seine Rechte an ihr spielen lassen, bis sie ihre Beine für ihn schließt und ihn ernst
anblickt.
LOSSE: Ich habe da keinen Stein. Ich weiß es, ich habe mich erforscht.
TMP: Und doch sehe ich in deinen Augen diesen Spruch, verschlüsselt zwar, doch mit dem Blick der Liebe
einfach lesbar: ‚Wenn die Frucht meines Baumes wird vollends verschmelzen, werde ich aufwachen und die
Mutter sein eines Königs.‘ – Nur was, o meine Freundinnen, soll das bedeuten?
CHORUS: Das sollst du, Prinz, wohl später noch erfahren.
Kein Vorhang.
VIERTE SZENE: UNTERSUCHUNG
Hier sollen die Mädchen das Licht auslöschen und dem Bräutigam bedeuten, daß er die Braut umfange und sie
nah betrachte. Und der Bräutigam soll gehorchen.
CHORUS: Siehst du nun, Schüler, wie an jenem Ort ein Lichtlein brennt, das du beim hellen Tag nicht
wahrgenommen? Sieh, das Feuer ist so hell, daß es einem Steine gleicher sieht denn einem Licht! Von dieser
Hitze muß der Baum für immer schmelzen, und doch bringt er immer neue Frucht hervor. –
Nun sieh, teurer Freund, was uns vom König übermittelt wurde: Wenn der Baum (sagt er) wird völlig
verschmelzen, so wird Frau Venus wieder erwachen, und Mutter eines Königs sein; doch bis dahin mußt du erst
wachsen, und so lange die Mauer noch steht, wirst du dies Ziel niemals erreichen. Doch hast du dir den Stein
verdient, den wir im Inneren der Erde fanden: Erhebe dich, denn noch bevor der Morgen graut sollst du
unsterblich gemacht werden.
Hier soll der Bräutigam sich aus dem Bett erheben, um das Wyrd der Blumenmädchen zu empfangen.
CHORUS: Auf dem Weg deiner Schwester bist du gegangen, darum gebe ich dir ihren Becher in die Hand. Den
Becher deiner Schwester sollst du leeren, den tiefen und weiten, der viel faßt. Von Trunkenheit und Qual wirst
du voll sein. Ein Becher des Grauens und des Schauderns ist der Becher deiner Schwester Semadar. Du sollst ihn
leertrinken, ja ausschlürfen, du sollst seine Scherben zerbeißen, und dich selbst sollst du darin zerfleischen.
42
Hier soll der Bräutigam sich wieder seiner Braut zuwenden, während die Нимфетки ihr lüsterne Dinge ins Ohr
flüstern; und er soll sprechen wie folgt.
TMP: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut; ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell.
Und doch erstrahlt bereits die blaue Blume dort, in ihren Mauern, meine Rettung, mein Tor, mein Weg, den ich
finden muß und ihn betreten. – Ich will dir Gerechtigkeit widerfahren lassen, kleine Frau: Du gefällst meinen
Augen, das muß ich gestehn. Die Quelle des Gartens bist du, ein Brunnen lebendigen Wassers. Wie schön bist
du und wie reizend, du Liebe voller Wonnen! Wie eine Palme ist dein Wuchs; deine Brüste sind wie Trauben.
Die Form deiner rechten Ohrmuschel ist nahezu vollkommen. Ich sage: Ersteigen will ich die Palme; ich greife
nach den Rispen. Trauben am Weinstock seien mir deine Brüste, Apfelduft sei der Duft deines Atems, dein
Mund köstlicher Wein, der glatt in mich eingeht, der Lippen und Zähne mir netzt.
Hörst du die Blumen, die dir tausendfache Freuden versprechen? Hohohoho, ich höre sie, du wirst dich
aufrichten wie ein Mann. Hahahaha, ich sehe schon, verflüssigen wirst du dich und versauern; und wer versalzt
nicht aller seine Suppe, wenn er im Takt der Liebe schwingt? – Dir ist die Wand im Weg? Warte du nur, wir
brechen sie nieder. – Hörst du die jungfräulichen Bräute Christi? Schreckliche Dinge verkünden sie mir, doch
dich nennen sie Mutter Gottes; sie schmeicheln dir und versprechen dir ewiges Leben, wenn du deine Flamme
lodern läßt. Komm, komm!
Hier soll Semadar ihre Schenkel öffnen für den Blick des Bräutigams, denn die glatten Worte der Нимфетки
haben ihren Geist ganz aufgesogen, und es sorgt sie nicht mehr, ob der Vater sie höre.
LOSSE: Nordwind, erwache! Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten, laßt strömen die Balsamdüfte! Mein
Geliebter komme in seinen Garten, und esse von den köstlichen Früchten.
CHORUS: Das ist ein reizendes Schauspiel, eine unermeßliche Kette von Liebe und von reiner Wollust. Unsere
Herrin tut sich auf wie die steinernen Tore einer Gruft; siehe, ihre Schenkel teilen sich zu beiden Seiten, bis
unsere Flamme dem Bräutigam bedeutet, sie anzunehmen; und han in hende wachsen sie.
Hier soll der Bräutigam sich zwischen ihre Schenkel beugen.
TMP: Ich komme in meinen Garten, meine Schwester Braut; ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam; esse meine
Wabe samt dem Honig, trinke meinen Wein und die Milch. Deiner Hüften Rund ist wie Geschmeide, gefertigt
von Künstlerhand. Dein Schoß ist ein rundes Becken, Würzwein mangelt ihm nicht. Hier finde ich den Stein, den
die Weisen suchten.
CHORUS: Denn aus ihnen fällt er, die sie Alles davon denken, und Alles ist der kleinste Teil davon. Der Kopf,
die schwarze Erde, die aus dem Wasser der Sündflut auftaucht, ist das Rabenhaupt der Alchemisten, die Kröte,
die den Adler oder Geist auffrißt, unser philosophischer Saturn, der den Mond verschlingt und in seinem Bauche
bewahrt, die Erde der Weisen, die begierig den goldenen Regen in sich schluckt, kurz: es ist unser Laton, der
gewaschen und siebenmal im Jordan getauft werden muß.
Und die Braut soll den Bräutigam siebenmal in ihren Säften taufen, sich dann aber abwenden und ihre Schenkel
verschließen, damit der Bräutigam gereinigt werde und bereitet für das eigentliche Werk.
LOSSE: Das Unaussprechliche Wassesist Wasserwahr Erdermus Wirkeinstein Willit beelike awound opening
upinside meWillit beelike urine pressing toget outWillit beelike thatWill Ibe ableto control itOr willit bean
unhempt floodrushing relentlessly outKnowing this Icurse the moonIfear the dazeof blootnicht im Dunkeln du
schneidiger Zungenforscher, ugu blob, skai! O Gott! arme Leiche! Du ruhst so lieblich auf dem schwarzen
Bahrtuch der Nacht, daß die Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt. Wo ist nun deine Mutter,
schwaches Kind? Ein Schild von Feuer senkt sich in den salzigen Himmel; er sucht den Auriel, den Lustgeist,
die Synkope, doch die Haut allein trägt keine Zeichen, keinen Sinn. Sieh nur! auf deinen Blumengrund, den, wie
du denkst, nur deine Saat berührte, sieh zu mir her! über den hohen Beckenknochen, erhöre meinen Atem, wie
sich Hände unsereinsam in die Decke krallen! O Schande o Schule o Milchreis o mit! O niemand sie ecktief
umwirbelted Schlange, o pass! o die ärstliche Schale zerbrochen, zerbröselt, gerissen, o zack! in die Zwiebel und
fensterlos kochend, o nein! hier erstochen, geschaufelt, gegraben, durchs Wandloch gekrochen, gerollt und
gefunden, gestraft! und gewunden, o ring! jetzt geschlossen. Versuchen Sie’s nächstes Mal wieder.
TMP: Aber –
Hier soll der Vater der Braut, von den Geräuschen des Liebespaares aufgeschreckt, laut und vernehmlich an die
Türe klopfen.
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LOSSE: Pirilta scha Ischtar usur!
TMP: Nein aber –
LOSSE: Ich kann nicht! ’s ist die Frucht der Nacht.
Sie soll das letzte flüsternd sprechen; ebenso soll jedes weitere Wort bis zu TMPs Abgang nur geflüstert werden.
– Für einige Sekunden sollen beide schweigen. Endlich spricht
TMP: Du hast recht; Gott ist nicht wie die tägliche Morgensuppe zu verzehren (auch wenn er, wie du wußtest,
ähnlich schmeckt).
Hier soll der Vater der Braut erneut an die Zimmertüre klopfen, woraufhin der Bräutigam sich von seiner Braut
lösen und in den schmalen Streif von Mondlicht treten soll, der durch das Mauerfenster in ihr Zimmer fällt. Der
Vater soll sprechen:
OC: Omphalosse! Du bist doch nicht allein!
Hier soll sich die Braut am Bette zusammenkauern; der Bräutigam aber zieht sein Bärengewand über und geht
als ein Bär hinaus.
Szenenwechsel: wüster Ort.
FÜNFTE SZENE: SCHLUSS
Der Bräutigam, allein, soll hin und her spazieren, einen Finger an der Nase, mit schweren Gedanken
schwanger. Er erzählt, wie es ihm erging:
TMP: Der Alte war zuerst ob meiner Gegenwart etwas bewegt, doch wie er sah, daß wir beide dem Tode näher,
als den Lebendigen, erweichte sich seine steinerne Miene um ein Stück, fragte mich also, welcher Geist mich
daher gebracht hatte? – Dem antwortete ich mit Zittern, ich wäre in dem Haus verirret, und von ungefähr hierher
gekommen; so hätte ich ihn überall gesucht, und endlich da angetroffen. – Ich verhoffte, er sollte mir es nicht arg
deuten.
Nun steht es noch wohl, sprach der Alte, aber leicht hättet Ihr mir einen groben Zotten reißen können, so Ihr
meiner Tochter nahgekommen wäret. Nun muß ich sie besser versorgen – legte also ein starkes Schloß an meiner
Geliebten Türe, zu der ich mich zuvor herabgebeugt. Ich dankte Gott, daß er uns nicht eher angetroffen hatte, sah
ich doch jetzt schon jenen alten Zwist wieder zwischen uns ausbrechen; noch hoffte ich, daß er mir nur
hinausbehelfen und weiter nichts mit mir zu tun haben wollte.
Ich kann doch, sprach er aber, das nicht ungerochen lassen, daß Ihr meine liebe Tochter schier hätten überkommen; und da zog er seinen spitzen Pfeil und machte sich also über mich her, damit stopfte er mich vor der
Liebsten Tür, und ich war hienach doch froh, daß mir das Meiste wohl gelungen, und ich doch ohne weitere
Gefahr davongekommen war. – Als er dann aber die Türe hinter mir schloß, vernahm ich ihn noch, wie er lachte
ob meiner Schmerzen und mir anzeigte, ich solle binnen Kurzem verscheiden. Mich wunderte sehr, wie er nach
dem Geschehenen so lustig sein konnte, da er doch ohne Zweifel wußte, wes Flämmchen ich ihn beraubet hatte:
Aber da war kein Trauern.
Hier soll der Bräutigam zur linken Bühnenseite gehen, während in der Mitte ein Paravent herabgelassen wird;
und auf der rechten Seite soll die Braut auftreten für ihren Schlußmonolog:
CHORUS: Doch Novalossa, in ihr schlimmerndes Schafgewand gewickelt, hatte trotz allem zugesehen, über die
Ballestrade gelehnt, und wie ein kleines Ding gelauscht. Sie war alleine; all ihre kleinen, tanzenden Kindfreundinnen waren von ihr gegangen, als sie das eigentliche Werk bereitete.
LOSSE (Sie steht einsam auf der Bühne, den Kopf gesenkt, die Schultern hängend, und geht rast- und kraftlos
hin und her. Sie singt mit leiser, brechender Stimme, für sich) :
[C:\Eigene Dateien\schwesterlein.bmp]
TMP: Des Nachts auf meinem Lager suchte ich sie, die meine Seele liebt. Ich suchte sie und fand sie nicht.
Aufstehen will ich und / meine Lieder brechen und / es ist Abend und die Rose verbrannt.
Some speak of our potion as unknown. We found it early where
the gods find children. This it is alone, which none can find unless
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they rear their fire well, and keep the heat. To burn means failure, and
to freeze, to lose the salt, for this is fleet. It binds the fire, though,
and links it to the earth, to make it bleed. Consume the blood and find
that naught is left except a lump of weed, which is the star you sought,
if you will let it rot. It is the throne, on which the saviour-king
will sit in all his glory. Yea, it shone upon his birth,
and when you die,
it will be all there is, and earth shall meet the sky.
/|\
Fifth Movement: Text
wherein is told of how the two emergent forces meet in opposition and consolidate, and how truth
is found in the doctrine of death
MEIN SPIEGELBILD ... DARF NICHT ZERBRECHEN
Mein Geliebter ist ein Apfelbaum unter den Büschen;
ich sitze in seinem Schatten; wie schmeckt mir seine
Frucht! Ins Weinhaus hat er mich geführt; sein Zeichen
über mir heißt Liebe. Er füttert mich mit Traubenkuchen und mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe.
Mein Geliebter ist weiß und rot; er ist ausgezeichnet
vor allen. Seine Locken sind Rispen, rabenschwarz.
Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen. Seine
Zähne sind wie Milch, und seine Wangen sind wie
Balsambeete. Sein Mund ist voll Süße; alles ist Wonne
an ihm. Horcht, mein Geliebter singt!
„Rose of the World !
Red glory of the secret heart of love!
Red flame, rose red, most subtly curled
Into its infinite flower, all flowers above!
Its flower in its own perfumed passion.
Its faint sweet passion, folded and furled
In flower fashion;
And my deep spirit taking ist pure part
Of that voluptuous heart
Of hidden happiness!“
(Aleister Crowley, Rosa Mundi)
21. August
Wunderschöne Gegend in der Morgendämmerung (Annaberg?), aber die Sonne ist bedrohlich,
hinter mir ein Gebirgspfad, ich laufe vor der Sonne weg, weil ihre Strahlen brennen oder so. Ich sehe einen
Tunnel, will dorthin. Kurz drehe ich mich um, sehe die Sonne, sie wird dunkel, ich kann mich nicht bewegen.
Sehr beängstigender Traum.
Die Erschütterung hatte niemand überlebt. Als Losse und ihr Geliebter nach langem Schweigen wieder auf die
Straßen traten, zog nur ein kalter Wind durch die Schluchten und nahm einige Blätter bis zur nächsten Kante mit;
dann rollte er sich ein und ergoß sich über die Liebenden.
Die Trümmer zerfallener Wesenheiten, die Glieder besiegter alter Häuser, von schmerzhaften Rissen getrennt,
säumten ihren Weg; jede Ordnung war durcheinandergebracht, keine Straße führte mehr zur anderen, kein Weg,
kein Schritt, war wie gewohnt. Nur die beiden roten Türme leiteten sie, die einzigen, welche das Erdbeben
verschont hatte, und zu diesen strebten sie hin, da von dem stumpfen Rot der Ziegel selbst noch in der Ferne eine
Hoffnung auf Erlösung aus der Leere strahle, ein Versprechen von Gesellschaft und Versöhnung.
Als sie in der Ketzerkirche ankamen, ließ sich die Orgel schon mit musikalischer Pracht hören, und eine
unermeßliche Menschenmenge wogte darin. Das Gedränge erstreckte sich bis weit vor den Portalen auf den
Vorplatz der Kirche hinaus, und an den Wänden hoch, in den Rahmen der Gemälde, hingen Knaben, und hielten
mit erwartungsvollen Blicken ihre Mützen in der Hand. Von allen Kronleuchtern strahlte es herab, die Pfeiler
warfen, bei der einbrechenden Dämmerung, geheimnisvolle Schatten; die große von gefärbtem Glas gearbeitete
Rose in der Kirche äußerstem Hintergrunde glühte, wie die Abendsonne selbst, die sie erleuchtete; und Stille
herrschte, da die Orgel jetzt schwieg, in der ganzen Versammlung, als hätte keiner einen Laut in der Brust. All
diese Geister, die alten und die jungen, die Gutsherren und die Skater, die Goths und die ehrwürdigen Doktoren,
erwarteten mit Staunen und Furcht die Ankunft des neuen Paares, das sie aus ihren Gräbern und Gemäuern
gerissen und in Freiheit gesetzt hatte, um bis zum nahen Ende durch die Welt zu eilen. Da waren viele, die das
Tageslicht für Jahre nicht gesehen hatten, aus den tiefsten Schichten dieser Stadt; da waren bleiche Mörder,
Liebende und Schwelgende, da waren dekadente Dandys und geschmierte Geschäftsleute, niedrige, gebeugte
Kreaturen und überspannte Läufer, Tänzer, Sportler. Dazwischen ab und zu ein leidendes Gesicht, den ihren
ähnlich: Kinder aus der Familie Glaennd, arme Verfluchte, die in nicht zu befriedigenden Leidenschaften
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kochten, die auf die Erde fallen wollten und sie küssen oder zum Himmel fliegen und in ihm vergehen, und die
doch, von der Menge festgehalten, nur aufrecht leiden konnten, zwischen Körpern eingepreßt und unbeweglich.
Losse bestaunte die Gesichterreihe, die vor ihnen zurückwich, mit einem Gefühl aus Mitleid und Furcht; zur
Musik ihres gespenstischen Flüsterns schritten sie durch den Mittelgang der Kirche auf den Altar zu, und Losse
hoffte, von dort die Menge überblicken zu können; als sie aber dort angekommen waren, berührte ihr Bräutigam
das Ewige Licht mit einem Finger, und die Geister schwanden.
Sie sah nicht, wie sie gingen; als sie sich herumdrehte, war alles leer. Ihr ausgestoßener Atem hallte durch die
Räume wie ein Schrei; sie blickte wild um sich; niemand war da, nur ihr Geliebter neben ihr.
„Komm“, sagte dieser, „setzen wir uns in den Kasten. Wir wollen sie zurückholen: Erzähle mir von ihnen.
Erzähl mir von den Geistern deines Lebens.“
Forcalimo war der netteste Mann meines Lebens, und
der größte Künstler, sagte ich, um ihn zu ärgern. Ich
sagte irgendwas von Prag, und er war gleich so gierig
da: „Alasseon, sagst du? Alasseon? Erzähl mir mehr
von ihm.“ Aber das ist längst vorbei, sage ich. Daran
brauche ich gar nicht mehr zu denken. „Du hast ihn
vergessen?“, sagt er da plötzlich, offenbar ganz
entsetzt, und „war er dir nicht ein Lehrer, ein Vater?“
Ich verstehe ihn nicht mehr. Er ist vorbei, jetzt laß
mich, sage ich, doch er: „Und weißt du denn nichts von
den Taten, den Wünschen und Sünden deiner
Vorfahren? Was habe ich dir erzählt? Was ist mit
deiner Mutter: Hast du sie auch bereits vergessen?“
Und ich dachte, Nein. Wir hatten Der Widerspenstigen
Zähmung gesehen, die Generalprobe, ich hatte nichts
kapiert; sie trug ihre altmodischen grauen Schuhe mit
den Schleifen drauf und zwei Perlenketten, und wir
waren in der U-Bahn zurück. Ich legte dann meine
offene Hand auf ihre Handtasche, die sie auf den
Schenkeln trug, die Handfläche nach oben, und sie
streichelte mit ihren Fingerspitzen in kreisenden
Bewegungen meine Handinnenseite, ganz sanft, aber
ohne zu kitzeln, dann auch mein offenes Handgelenk.
Ich war so glücklich zu dieser Zeit, ich glaube, ich bin
an ihrer Schulter eingeschlafen.
ADDENDUM: Es war schön zu beobachten, wie ihr
[des kleinen Mädchens] Blick immer stiller, immer
träumerischer wurde; schließlich verloren sich ihre
Blicke im Nirgendwo hinter der Wagendecke. Zuvor
hatte sie mit beiläufigem Interesse ein jüngeres,
runderes Mädchen beobachtet, das sich gegen den
Willen ihrer hageren Großmutter vor mir an der Türraumstange wand; ich fragte mich, woran sie wohl
denken mochte, ob an ihre eigene, frühere Zeit, oder an
die Möglichkeit, daß sie selbst eines Tages Kinder
haben möge; oder ob jener Zustand des Stangendrehens
ihr noch so nahe war, daß bei dessen Betrachtung keine
Zeitverschiebung in ihre Gedanken dringen mußte. Ich
dachte an Hannah, und unsere Kinder.
Und sagte, vergiß es doch, vergiß es, ich hab es schon
vergessen. Forcalimo ist nichts mehr als ein Name, den
ich nehmen kann und wegwerfen oder damit basteln.
Und meine Vorfahren sind tot. Sogar der Kerzenständer ist kaputt, du hast es selbst gesagt. Forcalimo,
der ist noch, darum ist er wichtig. Die Glaends sind
unwichtig, so wie Forcalimo, sie sind vorbei!
„Am nächsten Tag steht Anton früh auf und geht allein
zur Schule. Pia fühlt sich nicht mehr krank; sie steht
zwanzig Minuten später auf und geht ebenfalls allein
zur Schule. Auf dem Nachhauseweg braucht Anton
länger als Pia, weil er sich noch mit Freunden
unterhalten hat. Gerold ist noch in der Arbeit, er
kommt erst am Abend heim. Zum Mittagessen gibt es
Bröselnudeln mit Apfelmus. Anton sagt: „Na, das ist
wenigstens einmal ein gescheites Essen. Sicher nur,
weil der Vati heut nicht da ist.“
Am Sonntag geht Anton mit seinen Freunden Fußball
spielen. Pia bleibt zu Hause, um vollständig gesund zu
werden. Jetzt wird aber Adelaïde krank, und weil sie
sich beim Mittagessenmachen übergeben muß, macht
Pia das Mittagessen für sich und Anton. Gerold ist
nicht da, und Adelaïde hat keinen Appetit. Zum
Mittagessen gibt es Gemüselaibchen mit Gurkensalat,
weil Pia kein Brathähnchen machen kann. Pia setzt sich
auf Gerolds Platz und Anton bleibt auf seinem Platz
auf der anderen Seite des Tisches.
Am Nachmittag geht Pia zur Mutter ins
Krankenzimmer und sagt, daß Gerold sie in den Prater
eingeladen hat. „Geh nur“, sagt Adelaïde, „Anton wird
solange auf mich aufpassen.“ Darum muß Anton am
Nachmittag zuhause bleiben, falls seine Mutter etwas
braucht. Sie hat nämlich hohes Fieber und soll sich
nicht zuviel bewegen.
Am Montag Nachmittag kommen Pia und Anton
wieder gemeinsam von der Schule nach Hause. Anton
kocht Backerbsensuppe. Gerold ist noch nicht zuhause.
Adelaïde ist immer noch krank, deswegen trinkt sie nur
einen Kräutertee und ißt Backerbsensuppe ohne
Backerbsen. Pia sitzt heute beim Essen wieder auf
ihrem eigenen Platz.
Nach dem Essen begleitet Pia ihre Mutter auf ihr
Zimmer, während Anton das Geschirr wäscht. Als
Anton fertig ist, geht er auf sein Zimmer und dreht
laute Musik auf. Eine Stunde später kommt Gerold
heim und sagt laut „Hallo.“ Als er keine Antwort
bekommt, schaut er zuerst in Pias Zimmer, aber Pia ist
nicht da. Aus Antons Zimmer kommt laute Musik.
Gerold geht ins Elternzimmer, da liegt Adelaïde auf
dem Bett und ist tot. Erwürgt.“
(IONESCO)
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Und auf dem Backsteinmarmor des Kirchenmonsters lehnen sich die Kontrahenten an die starken Säulen und
destillieren sich bis zu den Propyläen oberhalb der Akademie hinauf. „Natürlich ist die Vergangenheit nicht zu
verachten“, sagt Losse, „denn sie ist ja der Treibstoff, den wir verheizen, unsere Feuerkohle, ohne die unsere
ganze Maschine nicht laufen würde; aber wir schaffen ja jeden Augenblick neue Vergangenheit, die wir erneut
verbrennen, um vorwärts zu kommen. Das ist ja das Wesen der Zeit, daß alles in Flammen aufgeht, und wir
können uns an nichts festhalten als an uns selbst; das ist ja der Windhauch. Brennen muß alles!“ – und sie wirft
die Arme hoch und läßt sie flatternd und zitternd wieder zu Boden sinken. „Mir liegt nichts daran,
zurückzuschauen. Hinten ist alles schwarz und verkohlt.“
Ihr Widerpart wartet noch einige Sekunden und wünscht sich fast, er hätte ihre Atemlöcher in geschlossenem
Zustand belassen. Als er weiterspricht, ist seine Stimme kühl und sachlich; er geht auf ihre Metaphern ein, warnt
sie in eindringlichen Tönen, unbesehen alles in das Feuer ihrer Fahrt zu werfen, das ja nichts weniger als ihren
Lebensweg bestimme; er spricht von erstickendem Rauch und vernichtenden Explosionen; und obwohl sie,
einmal festgelegt, nach außen hin ihren verneinenden Eispanzer bewahrt, so wecken seine trefflich gewählten
Worte doch in ihr ein leises Fünkchen, das sie treiben und ihre Ablehnung unterwandern wird; er hat sie
neugierig gemacht auf das, was sie nicht für beachtenswert zu halten vorgibt, und ehe sie sich’s versieht, ja ehe
sie sich es noch selber eingestanden hat, hat sie bereits in ihrer ganzen Welt die Geister der Vergangenheit
aufgestört, die ihr nun jedes Ding zumschweben und die befremdlichsten Versprechungen bezüglich ihrer
tieferen Bedeutung machen. –
Und als sie sich nun, von schwerem Glockenläuten zum Schweigen gebracht, dem Heiligen zuwenden, dem
warmen Inneren der Kirche, vom schlichten Außen des Holzkastens zu der lebendigen, steinernen Innenwelt, da
fiel die ganze Geisteswelt über sie her, und aus den Bodenplatten kroch ihr eine Ehrfurcht ins Herz, die über
ihrem Hirn zusammenschlug und sie zu Boden sinken ließ. Das Licht, das jetzt wieder durch die Rosette
hereindrang, traf grade ihre Stirne, ihre Augen, und sie warf sich vor dem Vater auf den Boden, kühlte sich am
Stein, wie sich Hylea in die Erde wühlte. Doch Seine Gnade hob sie auf und führte sie bei aller Ehrfurcht zu
einem neuen Bewußtsein ihrer selbst; und dann wußte sie wieder, daß alles, was hier schwebte, ihr gehörte.
Denn vor ihrem Vater war sie die „kleine Königin“, der alle Schätze zu eigen gehören. „Kleine Königin, das
heißt noch viel mehr als „Prinzeßchen“, es besagt vor allem die unbedingte Herrschaft, die dieses Kind über sein
Herz ausübte. „Was willst du, sie ist eben Königin!“ pflegte er schon in den ersten Jahren der Mutter zu
erwidern, wenn sie ihn besort ermahnte, die Kleine nicht zu sehr zu verwöhnen: „Du wirst sie noch zugrunde
richten!“ Er liebte es, Gedichte vorzutragen und sie auf seinem Schoß in den Schlaf zu singen. Seine übergroße
Empfindlichkeit, seine Neigung zu Verstimmungen und Tränen ist bezeugt.
Und der Geliebte neigte sich vor ihr. Um seinen Scheitel kräuselten sich dunkle Haare wie ein Spindelstreifen
um ein schwarzes Loch, und sie versank in einem Zwischenraum von Fensterlicht und Haaresschatten. Sie war
jetzt Herrscherin. Sie war jetzt Herrscherin. Sie war jetzt Herrscherin.
- mutabor Es ist eine unheimliche Szene; der Mann kommt aus Vase. Ce n'est pas de ce vase-là dont les Chymistes
den Tiefen der Höhle, wo sein Echo weit ist, er trägt Hermétiques ont fait un mystère, et qu'ils ont
Bart und Zauberstock und ist mir unangenehm vertraut. enveloppé sous le voile des allégories, des fables et des
Er hat mich aufgenommen in seine Höhle, und ich habe énigmes. Le vase secret des Philosophes est leur eau,
ihn daraus vertrieben. Ich habe ihn in meine Welt ou mercure, et non le vase de verre qui contient la
gelassen, habe mich damit ihm ausgeliefert; doch noch matière. C'est pourquoi ils disent que si les Philosophes
muß er hören, was ich ihm zu sagen habe.
avaient ignoré la qualité et la quantité du vase, ils ne
Der Mann kommt aus den Tiefen der Höhle, wo sein seraient jamais venus à bout de l'Œuvre. Notre eau, dit
Schatten tief ist, er hängt sein Kleid an einen Haken Philalèthe, est notre feu; dans elle consiste tout le secret
und sieht mich an. Me gusta la menina, me gustas tú. de notre vase, et la structure de notre fourneau secret
Me gusta la villa, me gustas tú. Ich habe sie gesehen in est fondée sur la, composition de cette eau. Dans sa
der Straßenbahn. Ich habe sie berührt, aber sie hat es connaissance sont cachés nos feux, nos poids et nos
nicht gemerkt; habe sie gehaßt, aber sie wußte es nicht. régimes. VASE. Philalèthe et plusieurs autres en
Es ist eine unheimliche Szene; ich atme tief den distinguent deux; l'un contenant, et l'autre contenu, et
Weihrauch ein, um meinen Widerwillen zu verdrängen. celui-ci est aussi contenant. Ce dernier est proprement
Me gusta la menina, me gustas tú. Me gusta la mar, me le vase Philosophique; ils l'appellent aludel non verni,
gustas tú. Ich hänge meinen Mantel an einen Haken; mais de terre. Ce vase est le réceptacle de toutes les
ich bin ein Mann. Ich habe sie gesehen, sie ist so teintures, et, eu égard à la pierre, il doit contenir vingtschön; ein wenig zurückhaltend und doch spöttisch, quatre pleins verres de Florence, ni plus ni moins.
helle Haut und rote Lippen, scheuer Blick und wenig Philalèthe ajoute que ce nombre de vingt-quatre doit
Worte. Gregor, du mußt mir die Dirne schaffen!
être divisé en deux, c'est-à-dire douze après le mariage.
Der Mann kommt aus den Tiefen der Höhle; es ist eine Tous les Philosophes ont bien recommandé à leurs
unheimliche Szene, und ängstlich verstecke ich mich in élevés, ou enfants de la science, comme ils les
einem Riß des Zeitfelsens. Bin ich ein Mann? Er lacht. appellent, d'étudier et de connaître la nature de ce vase,
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Me gusta la menina, me gustas tú. Me gusta la fuente, parce qu'il est la racine et le principe de tout le
me gustas tú. Ich habe sie gesehen, ich hasse sie. Ich magistère. Il faut donc le distinguer du fourneau et du
will mich ihr verschließen, ich hasse sie. Ich habe sie vase contenant, parce que Albert le Grand dit que le
getötet, ich hasse sie. Ich werde mich verwandeln
contenant engendre le contenu.
- robatum -
Was für mich wichtig ist: Ihre weißen Hände, die traubenzarte Haut über den Knochen, der enge Mund mit den
scharfen kleinen Zähnchen und der spitzen Zunge (Das Oxford Dictionary of Abbreviations definiert LOSS als
“large object salvage system”); wenn sie mich beißt, dann fließt mein Blut nicht, sondern stockt, daß sie es kauen
kann und schlucken. Sie schlägt mich tot mit ihrer Stirn, aber sie reißt mich wieder hoch mit ihren Zähnen. Das
ist das Wichtigste, das Fleisch darunter, das sie so begehrt, das sie nicht kennt. Sie ist noch nie in ihrem Leben
tiefer gekommen als zur Haut, bei ihr nur Blut und Knochen. – Add lightest knot unto tiptition. (James Joyce)
Was noch wichtig ist: Ihr zuzusehen, wenn sie schläft oder ganz unbewußt und wach ist; vor ihrem Fenster oder
neben ihr im Bett, und ihren Atem in der Luft zu sehen. Wenn ich sie durch die Straßen führe, blickt sie leer und
großäugig auf all die herumlaufenden Menschen, die tanzen, wie sie nie tanzen können wird, und klappert mit
ihren Zähnen einen Takt dazu; auch hat sie die unschöne Angewohnheit, sich in der Mitte des Brustbeins zu
kratzen: dort, wo normalerweise der Busen, d.h. die Vertiefung zwischen den Brüsten ansetzt. – Und du, kleines
heranreifendes Mädchen, träumst du nicht vom Filmhelden? Hast du nicht sein Bild nachts in seinem Bett?
Schleichst du nicht an ihn heran und verführst ihn mit dem Vorwand, du wärst bereits 18 Jahre alt? Und dann?
Gehst du nicht zu Gericht, um ihn der Vergewaltigung anzuklagen, deinen Filmhelden? Er wird freigesprochen,
oder auch verurteilt, und deine Großmütter küssen seine Hände, die Hände des Filmstars! Du begreifst, kleines
Mädchen! (Wilhelm Reich)
Sie zerstach sich die Finger an den Rosendornen; ihre Blutstropfen schimmerten hell auf den Spitzen, und
jeder Dorn wurde zu einem neuen Stiel, und auf jedem Stiel entfaltete sich eine neue Blüte in der Farbe
ihres Blutes.
„Vlaterundser“, sagte TMP, indem er sich zum Altar hinwandte, „der du hingst am Baume: Zerstückelt werde
dein Name, Dein Leich komme, Dein Willi erstehe, Wie im Lichte, so auch in der Finsternis. Bittebitte gieb uns
heute unser mondlichtes Blut, Und sieh nicht auf unsere Mistel, Wie auch wir nicht auf die Misteln unsrer
Nächsten sehen wollen. – Und setze uns nicht in Bewegung, sondern schmiege deinen glatten Körper an unseren,
Denn dein ist der Kelch. Und die Nacht. Und die Flüssigkeit. Keuch! niemals hört es auf. – In deinem, in
meinem, in unser aller Namen! Nemati ...“ – Der Liebhaber stöhnte und stürzte zu Boden. „Ich kann sie jetzt
sehen“, flüsterte er, nachdem Losse neben ihm auf die Altarstufen gesunken war. „Ich kann sie sehen, sie, die
dich verführten!“ Seine Hände geisterten im Gleichtakt mit seinen Blicken wild in der Luft herum, bezeichneten
am Horizont der Deckenfresken einmal einen pummeligen Engel, dann das Jesuskind, Maria: ein Dreieck.
„Anne, Ania, Lara, Arne, Eris, Eve, Ana, Elene, Lotta“, zählte er auf, „am-lotta, ay-lesse, u-lut, ay-ladra, amlara, em-latna.“
„Jetzt sei doch ruhig“, sagte Losse, besorgt, sie möchten aus der Kirche ausgestoßen werden; mit zwei Fingern
strich sie über seine Stirn und seine Augenlider. „Du unverbesserlicher, unerlöster Esel.“
Da schlug er die Augen wieder auf. „Essel“, sagte er, „na-essel, ev-essed, ay-lesse, an-eissel. Nemati ...“
„Was ist das?“, fragte Losse, inzwischen ernsthaft in Sorge. „Was sagst du da?“
Ihr Geliebter ließ die Hände sinken, blickte sie an, richtete sich auf und lächelte. „Die Finnen nennen es
Naisenkaari.“ –
„Das“, erwiderte Losse nach kurzem Nachdenken, „hilft mir aber nicht sehr viel weiter.“
„Es tut mir leid“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Ich muß so reden. Es gehört zu meiner Natur.“
Da fragte Losse: „Wieso? – Mir scheint, wir haben zwei Wochen lang geredet, und ich weiß noch immer nichts
von dir.“
TMP antwortete: „Frage!“
Losse fragte: „Wie alt bist du?“
TMP antwortete: „Das kann ich nicht so genau sagen; meine Freunde und meine Feinde streiten sich schon lange
um mein wirkliches Alter. Aber stelle mir eine andere Frage, ich will antworten.“
Losse bat und fragte: „Gib mir doch wenigstens einen ungefähren Wert; eine Generation: Geb oder Osiris?“
(Geb war der Vater von Osiris, hatte er ihr kürzlich erst erklärt, auch wenn Plutarch das zu verschleiern suchte.)
TMP grinste ihr ins Gesicht (wie alt? wie alt?) und antwortete: „Horus.“
Losse fragte: „Welcher Horus?“
TMP antwortete: „Beide.“
Losse fragte: „Aber du mußt doch Eltern haben, und Familie. Was ist mit ihnen, wieso kann ich sie nicht
kennenlernen?“
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TMP antwortete: „Manche sind tot; Andere kennen mich nicht mehr. Emil lebt, aber er ist nur eine Metapher.
Und mein Alleinerbe stammt aus einem Geschlecht, das ich vernichtet habe. Du siehst: Ich bin am mächtigsten
allein.“
Losse fragte: „Aber irgendwann mußt du doch geboren worden sein. Wann?“
TMP antwortete: „Gezeugt wurde ich 1780 in einer Kirchenruine im Fellinschen. Unter Anderem. Gemacht
wurde ich 1641 im Hochland von Dartmoor. Aber das ist alles sehr kompliziert. Geboren werde ich erst.“
Losse fragte: „Wann?“
TMP antwortete: „Am Dienstag, den 27. 11. 2001.“
Losse sagte: „Aber das ist in ... nicht einmal drei Wochen!“
TMP sagte: „In neunzehn Tagen kann vieles geschehen. Meine Inkubationszeit ist sehr gering.“
Losse fragte: „Cid arndid í in ben atom-gládathar? Cid nach é in fer atom-gládathar?“
TMP antwortete: „In fer sin at-gládaither su.“
Losse fragte: „Cía do chomainm-siu féin?“
TMP antwortete: „Ní ansae. In ben sin at-gládaither-su, fóebar becbéoil, coimm diúir, folt scenb, gairit sceo úath
í a hainm.“
Losse sagte: „Fóebarbecbéoilcoimmdiúirfoltscenbgairitsceoúathíahainm!“
TMP antwortete: „Und du zehrst mir tatsächlich meinen Körper aus, doltach ben.“
Losse sagte: „Und dabei bist du doch nichts als ein flüchtiger Geist, graues, zerfließendes Merkurium. Wenn ich
dich ausgezehrt habe, Fóebarbecbéoilcoimmdiúirfoltscenbgairitsceoúathíahainm, wird von dir nichts mehr übrig
sein, denn du bist nichts als deine Seele selbst. Arind lind-se ar sóegul dean-taíth.“
TMP antwortete: „Nicht die Seele, meine Freundin, ich verabscheue diesen Begriff, – die Monas ist es, die liebe
Monade, das ist: das Wandernde, der Peregrin, der sich verfestigt hat.“ Er lüpfte fröhlich die Augenbrauen und
blähte für einen Moment die Nasenflügel. „Und das Wort ist Fisch geworden.“
Losse fragte: „Bist du oder ich nun Mann oder Weib?“
TMP antwortete: „Nein, das Wort. Das Wort ist Fisch geworden.“
Losse fragte: „Warum ist deine Stimme so rauh?“
TMP antwortete: „Weil ich immer brenne.“ – Hier sah sich Losse für einen Augenblick wie in einem Spiegel,
und fürchtete sich.
Losse fragte: „Warum hast du so einen großen Mund?“ – Da lachten sie beide, weil sie es nicht verstanden.
Dann merke ich, daß es früher auch ihr Zimmer
gewesen ist. Und es wird eng. Sie hatte hier gelebt, war
hier gestorben, nicht vor Freude. Die Erde und der
Meteor. Man hatte es ihr nicht geglaubt. Ich glaube es.
Ich schwitze. Ich blute überall. Ich muß hinaus. Vor der
Tür liegt der Schatten des grünen Gestrüpps unter dem
Fenster; es ist Lichtminute. Die Fliesenwände werden
glatt und werden eng. Das Wasser. Wasser. Die
Wärme. Das Getöse des Heizlüfters. Das Wasser in der
Dusche ist Anfangs zirka wie für Seehunde. Ich drehe
den Regler auf sechsunddreißig Grad. Langsam wird es
wärmer. Ein Händchen Duschbad ergibt eine Kabine
voll Schaum. Ich pinkle. Unter der Dusche geht das oft
nicht anders. Ich stelle mir vor, wie der Harnstrahl
einen Tunnel in den Schaum bohrt. Dann schicke ich
eine Miniatur-U-Bahn durch. Sie verschwindet im
Abfluß. Meine Blase ist leer. Der Tunnel schließt sich
wieder. Achtunddreißig, vierzig. Die Würdigste, die
Ehrenhafte, sie, die Hure. Ich weiß nicht, was die
Blutgefäße meiner Haut in der Wärme machen, ich
weiß nur, daß es sich gut anfühlt, ganz offen mit einem
kleinen Brennen. Der fettessende Cecil. Der fuchshaarige Jethro. Der Graf entkommt mit einem Boot und
auf dem Boot spielt seine jungferliche, aber doch zum
Bubeninzest geneigte Schwester, die berühmte
Märchenkünderin und Künstlermuse Ziboria Hagen das
Pianoforte. Der verschwundene Künstler, in den
Farnen. Die Linie. Der nackte Mann. Er wird dort oben
sterben, Armer, wegen mir.
„E+ i# unmöglic, die zahlreicen Gebiete der
Gesundheit+p]ege, die beim heranwacsenden
Mädcen zu beacten @nd, auc nur zu #reifen;
zweierlei möcte aber noc erwähnt werden, wa+ für
eine erfolgreice Kultur de+ Körper+ sehr wictig i#:
e+ i# die+ eine gründlice, regelmäßige Hautp]ege
und
die
Erziehung
zu
regelmäßiger
Verdauung+tätigkeit. Hierin vermag bekanntlic
die
Erziehung
sehr
viel.
I#
der
Verdauung+vorgang ge#ört, so wird da+ Kind
unlu#ig, träge, verdrießlic, und e+ fehlt die
unbedingt notwendige Vorbedingung für eine fri<fröhlice körperlice Erziehung. Diese Gewöhnung
zur Regelmäßigkeit darf aber nict etwa dahin
führen, daß da+ Kind an seinen Körper denken
lerne. E+ so\ wi^en, daß e+ den Bedürfni^en
seine+ Körper+ unbedingt gehorcen muß, aber
ohne daß e+ weiter darüber naczudenken hat.
Da+ Nacdenken muß der Muµer a\ein überla^en
bleiben. Sie hat da+ Kind so zu leiten, daß seiner
Individualität nac jeder Rictung Recnung getragen
wird; @e hat für die nötige Abwecªung in Ruhe
und Bewegung und für eine sorgfältige Ernährung
Sorge zu tragen. Aber die+ a\e+, ohne daß dem
Kinde die müµerlice Sorgfalt zu sehr zum
Bewußtsein kommt ! Ein gesunde+ Kind so\ nur
insofern Körperbewußtsein haben, al+ e+ @c an
seiner Bewegung und wacsenden Kra} freuen
lernt. Je mehr diese beim Kinde gewe%t wird,
de#o be^er für seine kün}ige Entwi%lung. Hier hat
49
also die Erziehung besonder+ einzuwirken; denn
die Freude, die bei dem Kinde in der körperlicen
Bewegung zum Au+dru% kommt, i# sein
Leben+element.“
(Else Wirminghaus, „Die Frau und die Kultur des Körpers“)
13. November In einer sterbenden Oktobernacht stand sein Werk vor dem Abschluß. Ich sah ihn zu mir
kommen, um seinen rauhen Tierkörper um meine Beine zu winden und mich zu Fall zu bringen, um mich zu
umarmen und zu fressen; ich erinnerte mich an die nächtliche Verheißung und sah mit einer Verzagtheit, die an
Todesangst grenzte, deren Eintreffen entgegen: Ich wußte, daß es geschehen würde, ich hatte keine Wahl; darum
streckte ich also willenlos meine Rechte vor und hielt ihm die Rosen genau vors Maul. – Als er mich anrührte,
schrie und erwachte ich.
Die Katastrophe lag hinter ihnen; noch hingen verblassende Schwaden von Staub und fettigem Rauch über der
Ebene, und immer wieder trug der schwüle Wind einen Hauch von Zerstörung und Tod mit sich. In den Bergen
von Zoar war es still; sie waren wie eine unschöne Narbe neben der frischen Wunde; nur aus der fruchtbaren
Talmulde, die den Entflohenen ihre einsame Nahrung bot, klang das Geräusch von Baumkronen im Wind, das
Pfeifen der Vögel und das Plätschern eines Baches bis herüber zu der Höhle, worin ein ausgezehrter Mann für
seine beiden Töchter Fladen buk.
Chasida war gegangen um Wein zu holen vom Kelter, sodaß Semadar, ihrer Schwester, nichts blieb als alleine
ihre Zeichen in den Stein zu ritzen. Die Kanten des Glassteins schnitten ihr schmerzhaft in die Hand, während
sie seine Spitze in das weichere Gestein des Berges grub; sie zog Linien und überkreuzte sie, kritzelte Figuren in
die Form und drückte endlich mit verkrampfter Miene ihr Werkzeug neben sich in den gestampften Lehm, auf
dem sie saß; sie haßte die Einsamkeit und die Leere der Welt, und auch ihre Figuren konnten sie nicht füllen.
Am Rande des fruchtbaren Tals hielt Chasida, die Ältere, den groben Weinkrug mit beiden Armen umfangen; sie
fühlte sich stark und entschlossen und sah die Welt und ihren Weg mit neuer Klarheit. Als sie über den staubigen
Bergpfad zur Höhle kam, sah sie ihren Vater, der sich mit dem Feuer mühte, und hinten in den Schatten ihre
junge Schwester, die ihren Glaskeil zornig in die Erde trieb. Semadar wußte von den Plänen ihrer Schwester, sie
hatte zugesehen, was letzte Nacht geschehen war; niemand, dachte Chasida, war noch übrig außer ihnen, und an
ihnen lag es, alles von Neuem zu beginnen.
Verflucht seist du, alter, treuer Mann mit deinen Helfern aus der anderen Welt; verflucht seist du und deine
Eitelkeit, die uns aus der Welt der Menschen hier in die Einsamkeit und Ödnis geführt hat. Du hast uns unser
Leben genommen, unsere Hoffnung; als du uns nicht hergeben konntest, nahmst du uns mit und zwingst uns nun,
deiner Narrheit durch größere Narrheiten ein Ende zu setzen. Die Welt, die mit dir geendet hat, wird durch uns
neu beginnen; und doch wünschte ich nun, du hättest uns zugrundegehen lassen, uns oder die Fremden, daß das
Spiel nicht noch einmal den gleichen Wahnsinn nähre. Oh, das Werk ist groß und ohne Hoffnung. Oh, das Werk
ist groß und ohne Ziel.
Semadar hatte den Kopf abgewandt und blickte in die Finsternis der Höhle. „Ich will da hinunter“, sagte sie,
indem sie sich an der Höhlenwand abgestützt aufrichtete. „Vielleicht ist am anderen Ende der Höhle noch
jemand. Vielleicht gibt es doch noch andere als uns.“
Doch weiter unten, als sie sehen konnte, jenseits der Felsen und der Bergeinsamkeit, spielten die Kinder auf der
Straße mit ihren Reifen und neckten einander, und die Erwachsenen liebten und fürchteten sich. Sie hatten die
Wunde gesehen und gedachten der Teergruben, in welche die Könige von einst gefallen waren; sie fürchteten
den Zorn des Höchsten, und doch liebten sie und spielten weiter, und das Ende schien ihnen nicht näher als
zuvor.
Chasida aber brachte mit glühendem Stolz ihren Wein in die Höhle und sah sich als Anfang einer neuen Zeit.
„Das Innere des Berges ist gefährlich“, sagte sie, „dort gibt es Wasser, das nicht fruchtbar ist, sondern den Tod
bringt; dort sind gezackte Felsen wie die Zähne eines Raubtieres, die dich zerreißen, wenn du dich zu weit
wagst.“ Sie wußte es, denn sie war dort gewesen; sie hatte den Weg gefunden, und nur das Bewußtsein des
Großen Plans hatte sie wieder daraus hervorgeführt. „Aber du wirst es schaffen“, sagte sie. „Wir sind auserwählt,
weißt du.“
Der Glasstein war nicht mehr zu sehen; sie hatte ihn ganz in die Erde versenkt, sie würde ihn nicht mehr
brauchen. Mit halboffenem Mund sah sie zu, wie Chasida das Abendessen bereitete, und als das Licht vor der
Höhle sank, schien es ihr für einen Augenblick, als höre sie Kinderstimmen, lachende und weinende Menschen,
Rufe aus Freude und Schmerz aus einer anderen Welt, und sie drückte ihre Füße in den kühlen und feuchten
Boden, als wolle sie sich selbst vergraben, sich in die Erde drücken, bis nichts mehr von ihr zu sehen wäre.
Sie aßen mit beherrschtem Drang am Höhlenausgang, in eine kleine Runde gedrängt; zwischen den Schwestern
wechselten sprechende Blicke mit wissendem Schweigen. Semadar schlürfte den Wein mit Vorsicht, Chasida
schenkte dem Vater nach; dieser trank wie ein Loch und wurde mit jedem Schluck träger. Da schlang auch die
Jüngste vom Obst und vom Traubensaft in sich hinein, um den schalen Geschmack zu vertreiben, der ihr noch
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auf der Zunge lag; sie drückte die Fersen vor sich in die Erde und grub ihre Zehen hinein, als der Vater den
letzten Becher hob und die Schwester ihn noch einmal bis zum Rand füllte.
Prost, sagte sie; Semadar preßte die Augen zu. Es kocht schon in mir. Wir werden die Welt vernichten.
- exhumation Sie lief hinaus aufs Klo und öffnete den Brief: Sei mein Freund. PS. kein Soja für das Kind.
„Heilige Mutter“, hatte sie gesagt und war dafür gescholten worden; aber sie war so schön! Und eines Nachts
erzählte sie ihr von der Quelle, wo sie Ohtarcalimo getroffen hatte, tief im Wald: Sie hatte ihm den Weg dorthin
einmal in Eile aufgezeichnet und war seitdem jeden Tag dorthin gegangen, bis er endlich auch zu ihr fand und
sie Eruanno zeugten.
„Nenn mich nicht heilig! Maria ist heilig. Kleine Kinder sind heilig.“ Dann wurde ihre Stirne grau. „Weißt du,
daß mich auch dein Vater einmal ein heiliges Kind genannt hat? Ich hatte damals Angst vor ihm.“ Das Singen
draußen, und die Lichtminute! Derevaun Seraun! Derevaun Seraun!
Und sie hatte ihr versprochen, nicht zu warten, bis sie ganz allein auf der Welt und ohne Hoffnung war, sondern
sich einen Mann zu suchen und mit ihm Kinder zu bekommen, und die Kinder wieder Kinder bekommen lassen
und immer so fort, bis die Welt wieder besiedelt wäre. Aber dann hatte sie gezittert und gesagt, „Andere Kinder!
Andere Kinder! Es ist unmöglich, alles zu beachten!“
Losse war außer Haus gewesen, als sie starb. Wo es gewesen war und sie gelitten hatte, wurde ihr verschwiegen.
Dieses Buch ist total kalt. Ich weiß nichts von den Figuren. Sie tun nur. Kurze Sätze. Sie sind nicht wirklich. Ein
bißchen sind sie, weil sie tun. Es gibt aber nur ganz wenig Gründe überhaupt in dem Buch. Sie tun einfach.
Die Tochter ist der Mutter gegenüber einsichtig & gehorsam, zum Vater jedoch reichlich frech (ein richtiges
Nesthäkchen); mit ihrem Bruder zankt sie sich gern, vor llem wegen seinen vom Vater gewährten Freiheiten &
in Gegenwart der Eltern; privat vertraut sie ihm jedoch alles (?) an.
So richtig auf bundesdeutsch. Zankt sich. (Steht nicht drin, würde aber so drinstehen).
„Lies das“, sagt Er, „von wegen Vergangenheit. Du kannst es dann verbrennen.“ Und: „Das Original war in einer
viel schöneren Sprache geschrieben, in Provençal. Vielleicht ist es deswegen so blank auf deutsch.“
Erster Teil, Erwartung. „Es gibt noch einen dritten Teil, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt geschrieben
wurde.“
Die Mutter ist ziemlich schwach & willenlos, versucht immer, allen Streit zu schlichten, setzt sich selten durch.
Wischt den Tisch ab.
„Als ob du Geschirr waschen könntest“, sagt Pia und streckt ihm wieder die Zunge raus. „Na gut“, sagt Gerold,
„dann hilft dir eben Pia.“
„Fauler Sack“, sagt Pia, als ihr Vater den Raum verläßt. „Dummes Huhn“, sagt er zurück. Pia lacht. Die Mutter
beginnt, den Tisch abzuwischen.
- ego te absolvo Ich hasse dieses Zimmer, dieses Eck. Und diese Matte. Sie ist daran gestorben, an der Ecke, an dem Bett, da bin
ich sicher. Und nicht an Freude, sicher nicht. VOR MEINEM FENSTER STEHT EINE GROSSE SCHWARZE
MAUER. DARF NICHT ZERBRECHEN.
Und
Beim Abendessen ist Gerold nicht da, weil er sich noch mit einem Arbeitskollegen trifft. Es gibt Fritattensuppe.
Anton sagt: „Die Suppe ist grauslig und schmeckt nach Abwaschwasser.“ Die Mutter sagt: „Geh Anton.“ Anton
sagt: „Was, ist ja so.“ Dann sagt keiner mehr was.
Am nächsten Tag steht Anton früh auf und geht allein zur Schule. Pia fühlt sich nicht mehr krank; sie steht
zwanzig Minuten später auf und geht ebenfalls allein zur Schule. Auf dem Nachhauseweg braucht Anton länger
als Pia, weil er sich noch mit Freunden unterhalten hat. Gerold ist noch in der Arbeit, er kommt erst am Abend
heim. Zum Mittagessen gibt es Bröselnudeln mit Apfelmus. Anton sagt: „Na, das ist wenigstens einmal ein
gescheites Essen. Sicher nur, weil der Vati heut nicht da ist.“
Sie sind gemein, manchmal, und manchmal kalt, fast wie der Text, und reden fast wie wir. Das fällt mir auf, weil
ich das so noch nie gelesen habe. Ich schreibe auch nicht, wie ich spreche; wer tut das? In Provençal? Nur eine
Lüge. Ich spreche immer anders, gar nicht wie; ich tanze lieber, Buchstaben im Raum, von meinem Körper und
den Wänden ausgehöhlt. Das habe ich gelernt, nicht sprechen, schreiben.
Forcalimo unterrichtet in einem großen, spiegellosen Raum ganz oben im alten Kabelwerk, frisch weißgetünchte
Wände, und wenn wir wollen, können wir in eine der riesigen leerstehenden Hallen ausweichen. Eugen. Dort hat
er mich von einem Schutthaufen geworfen und gesagt, wenn ich nichts esse, bricht er mir die Knochen. Ich habe
Milchreis gegessen und ein bißchen Blut getrunken aus meinem Ellenbogen.
Das mit dem Ellenbogen hab ich von Nancy (schön!). Sie hat’s bei einem ihrer Cousins gesehen, selber nie
probiert, aber mir mit schaudernder Stimme erzählt. Nancy geht in meine Klasse, so wie die anderen нимфетки
auch: Laika, Latitia, Rolance, Vincienne, Virginie. Schauspielerinnen-Namen, wie de Sades Opfer. Ich konnte es
bei Nancy gar nicht glauben, daß sie echt in meiner Klasse war; sie sah so jung aus, als ich sie dort sah, das erste
Mal und auch das letzte. Sie bringt sich um. „Komm schon“, sagt Pia, „sei nicht eingeschnappt.“ Und Anton geht
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mit ihr nach Hause, endlich wiedermal. Am Anfang war’s ja auch so, immer wenn es ging gemeinsam wieder
heim. Und sie erzählt ihm alles Mögliche, Unwichtiges, wen interessiert es, so etwas zu lesen? Und schweigt
jetzt aber und erzählt nicht, oder nichts, das ich als Leser weiß. Ich hasse diesen Schulweg, und die Straßen,
Ertel, Nibelungen. Joachim Ertel, Seidenfabrikant. Kapitalist. Sicher ein Sklaventreiber. Hat den größten Teil der
verwendeten Sklaven zur Verfügung gestellt.
Damals beschloß ich, jeden Tag, wenn ich in die Schule gehe, einen Dorn von unserem Rosenstrauch
abzubrechen und ihn mir irgendwo in den Körper zu stechen. Ich begann mit meinem linken Zeigefinger; ich
bohrte den Stachel soweit hinein, bis ich blutete, dann hob ich ihn in einer kleinen Dose auf bis zum Abend und
verbrannte ihn dann auf meinem Fensterbrett.
An dem Tag, an dem ich meinen Geliebten traf, hatte ich mir den Stachel bis tief in den rechten Oberschenkel
gebohrt. Der Schmerz breitet sich ganz langsam durch die Nervenbahnen aus; ich lasse den Stachel stecken und
lege die Hände neben mir auf die Bank. Ich versuche, mich zu entspannen; die Schmerzen erreichen meine
Hüften und mein Knie, gleichzeitig auch meine Schultern. Mir rinnt der Speichel. Mit der rechten Hand drehe
ich den Stachel tiefer hinein. – Als Blut austritt, atme ich auf. Ein kleiner, hellroter Tropfen auf meiner Haut. Rot
auf weiß. Ich ziehe den Stachel heraus und schmeiße ihn weg; es ist genug. Ich habe ihn nie wieder gesehen.
21. Oktober
ichabegeträumtvoneinerose
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Du nanntest dich Diotima für Platon; Sappho, Hypathia,
Roswitha bezeichnen dich, Vielnamige, deren Ruhm das vollständige Prisma sterblicher, aber immer
wiederkehrender Nuancen bildet; o Grazie, so heiter, daß Dante, in drei Flügen, zu den Wolken hat steigen
können; o Dame der Schönheit, der Weisheit und des Ruhms, Walküre der christlichen Walhalla, Beatrice! Lob
sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seine Namen nicht mehr kennen; es soll in ihre Tage nicht
hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)
/|\
Sixth Movement: Show
wherein is told of the mingling of the dysjunct, of zeal, love, and the defloration of the stage
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Anteros, der du die banalen Zärtlichkeiten heilst, mächtiger
Alchemist der unvollkommenen Begierde, Athanor des großen Werkes in der Welt der Seelen: dein Schicksal
will die vergänglichen Irrtümer, die fruchtbaren Irrtümer, aus deren Netz du aufsteigst zum erhabenen Werden,
unter dem neugierigen Erstaunen der Unwissenden! Lob sei dir!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, will seinen
Prophezeiungen nicht glauben; es soll in ihre Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)
- Mittwoch, 14. November 2001 15:20 „Nun lernen Sie mich also kennen.
Forcalimo, also der Herr Hagen, hat Ihnen sicher schon einiges von mir erzählt, sonst kann ich mir nicht
vorstellen, wie Sie überhaupt auf mich gekommen sind. Also, mein Name ist eben Losse, ich bin vierzehn Jahre
alt und nehme seit 1995 Ballettunterricht, seit Oktober 1997 beim Herrn Hagen. Im Frühjahr 1997 habe ich in
der Gruppe von Alasseon C. beim Internationalen Tanzwettbewerb in Prag teilgenommen, wo wir den zweiten
Platz geschafft haben. Ich habe immer schon getanzt, immer. Ich möchte, daß Sie mich verstehen. Ich tanze
unentwegt. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, lassen sie es bleiben. Ich trinke nicht, aber ich weiß, wie das ist
mit dem Trinken, denn ich habe Wein probiert und war betrunken. Ich bin ein gesundes Mädchen, aber mager,
weil ich nicht viel esse. Ich esse, was Gott mich essen heißt. Ich denke wenig und verstehe deshalb alles, was ich
fühle. Ich bin das Gefühl im Fleisch und nicht der Verstand im Fleisch. Ich bin das Fleisch. Ich bin das Gefühl.
Ich bin Gott im Fleisch und im Gefühl. Ich bin ein Mädchen und nicht Gott. Ich bin schlicht. Man muß mich
nicht denken. Man muß mich über das Gefühl verstehen. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure
Wege sind nicht eure Wege, spricht der Herr. Ich habe keine ebenmäßigen Gesichtszüge. Ebenmäßige
Gesichtszüge sind nicht Gott. Gott ist nicht ebenmäßige Gesichtszüge. Gott ist das Gefühl im Gesicht. Ein
Buckliger ist Gott. Ich mag die Buckligen. Ich mag die Häßlichen. Ich bin ein häßliches Mädchen mit Gefühl.
Ich tanze Bucklige und Gerade. Ich bin eine Künstlerin, die Gestalten und Schönheit aller Art liebt. Schönheit ist
keine relative Angelegenheit. Schönheit ist Gott. Gott ist Schönheit mit Gefühl. Schönheit im Gefühl. Ich liebe
Schönheit, den ich fühle sie, und deshalb verstehe ich sie. Denkende Leute schreiben dummes Zeug über die
Schönheit. Über Schönheit debattiert man nicht. Schönheit kritisiert man nicht. Schönheit ist keine Kritik. Ich
bin keine Kritik. Kritik ist Besserwisserei. Ich treibe keine Besserwisserei. Ich bin auf Schönheit bedacht. Ich
fühle Liebe zur Schönheit. Ich suche keine geraden Nasen. Ich liebe gerade Nasen. Ich liebe Vanima und ihre
Nase, denn sie hat Gefühl. Ich bin nicht ebenmäßig. Ich bin Gott.“
52
Timor mortis conturbat me.
18:48 „Er hat mich genommen!“ Losse war freudig rot von der Nasenspitze bis über die Wangen. „Ich bin eine
Tänzerin!“
Er hob die Augenbrauen. „Und? Wie war’s?“
„Er ist ein bißchen unheimlich, weißt du. Schemajah Hillel heißt er, ich hab’s dir glaub ich schon einmal gesagt.
Er war früher angeblich einmal ein gefeierter Tänzer, Flamenco und so, aber jetzt sitzt er im Rollstuhl, und der
surrt immer so, wenn er sich über die Bühne bewegt, und er bewegt sich viel, und man sieht so richtig in seinem
Gesicht, wenn er die Augen geschlossen hat, daß da ganz viel Musik und auch Tanz in ihm drin ist, und ich
glaube er macht aus uns Marionetten, aber er macht das ganz toll, und ich habe ihm ganz viel erzählt was ich gar
nicht erzählen wollte, aber er war die ganze Zeit so still und nur sein Rollstuhl hat gesurrt wenn er herumgefahren ist, und er ist ganz um mich herumgefahren und kennt mich wahrscheinlich jetzt schon auswendig. Ich
weiß noch überhaupt nicht, was das wird, aber es wird sicher spannend. Ich freu mich so!“
TMP blickte etwas heller drein als sonst. „Ich habe mir ein Video von einer seiner Inszenierungen angesehen,
von Falling Towers in Athen. Er ist ein Freak; seine Choreographien sind eigentlich mehr rhythmische
Gymnastik als eigentlicher Tanz. Und immer sehr, na, aufgeladen.“
Sie nickte hastig, denn sie merkte gerade: das war ihr erstes gewöhnliches Gespräch. „Ja, er verlangt sehr viel.
Ich weiß nicht, ob ich dabei ganz bleiben kann, ob ich es überhaupt schaffe.“
„Sei vorsichtig!“, mahnte er rasch. „Wenn du dir was zu Leide tust, oder gar – stirbst: Dann bringst du unsere
Erfindung um, unsere Liebe, Rose, unser Kind.“
„Natürlich werde ich vorsichtig sein.“ Er denkt, er hat als Einziger das Recht, mich zu berühren, mich zu
zerlegen. Er will mich ganz; da hat er mich geschnitten. „Willst du mir nicht gratulieren?“
TMP gratulierte ihr. Sie hielt die Rose in Händen, und von ihrem Atem berührt löste sich die Knospe in
Blut auf, benetzte die Dornen, berührte ihre Hände: rote Spinnweben auf weißer Haut, ein glühendes Netz
des verlöschenden Lebens.
Timor mortis conturbat me.
- Donnerstag, 15. November, 2001 14:32 Der Herbstwind donnerte mit anhaltender Gewalt gegen die brüchigen Wände des alten Theaters. Innen
stand die Luft vollkommen still; das Surren von Schemajah Hillels Rollstuhl und die wie zufälligen Knarzer der
Bühnenbretter unter Losses Füßen hatten eine von der Lärmkulisse vollkommen unterschiedene Klangfarbe, so
daß Außen- und Innengeräusche einander in keiner Sekunde übertönten oder eines über dem anderen den Vorzug
gewann.
„Ich will, daß du singst“, sagte der Choreograph. „Do re mi fa so la ti do.“ Er nestelte kurz an seinem Kopfhörer
herum und begann dann, Losse mit dem Rollstuhl an den vorderen Bühnenrand zu schubsen. „Irgendein Lied,
das du kennst, oder eine Tonleiter. Irgendetwas. Sag was.“
„Ich kann nicht singen“, sagte Losse.
„Unsinn. Du wirst singen. Dein Atem wird verstärkt, während du tanzt; wenn du singst, drehen wir das Mikro
ab. Deine Stimme muß ganz allein das Theater füllen. Probier’s. Irgendwas. Wir sind allein hier; keiner wird’s
hören außer mir.“
„Aber“, sagte Losse, „mir fällt nichts ein.“
„Sing Happy Birthday.“
Losse fürchtete sich; das letzte Mal war sie von ihrer ganzen Klasse ausgelacht worden. Salley Gardens. – Es
scheint mir nämlich, daß für den Tanz als reine und eigene Kunst weder der reife Mann noch das Weib
vorzüglich geeignet sind, sondern der Jüngling als ein Wesen, das noch zwischen beiden steht und noch
gleichsam die Möglichkeiten beider Geschlechter in sich vereinigt. – „Ich singe Salley Gardens.“
„Dann sing Salley Gardens.“
Und Losse stellte sich ganz an die Bühnenkante, den Rücken zu Hillel, das Gesicht zu einem imaginären
Publikum gewandt, und sang. Ihre Stimme klang etwas heiser und sehr ungeübt, aber sie schwebte wie
Staubflocken durch das leere Theater.
„Down by the Salley Gardens my love and I did meet.
She passed the Salley Gardens with little snow-white feet.
She bid me take love easy, as the leaves grow on the tree.
But I being young and foolish, with her did not agree.
In a field down by the river my love and I did stand,
And on my leaning shoulder she laid her snow-white hand.
She bid me take life easy, as the grass grows on the weirs,
But I was young and foolish, and now am full of tears.
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Down by the Salley Gardens my love and I did meet.
She passed the Salley Gardens with little snow-white feet.
She bid me take love easy, as the leaves grow on the tree.
But I being young and foolish, with her did not agree.“
„Na bitte“, sagte der Choreograph, packte sie am Arm und zog sie zurück in die Sicherheit der Bühne. „Und nun
zum Tanz.“
Timor mortis conturbat me.
- Mittwoch, 14. November 2001 15:52 „Die Bühne ist ein Bild. Lesen Sie Fortuny. Wir verwenden zur Beleuchtungsoptimierung eine cupola, das
ist ein Rundhorizont für die Bühne, aus Seidentüchern. Man wird außer Ihnen nicht viel sehen, ja: nichts sehen
müssen, und Sie werden sich hoffentlich in Formen auflösen, ansonsten können Sie jetzt gleich als Ganzes
wieder gehen. – Ihre Kostüme stehen noch in Diskussion, sie werden auf alle Fälle minimalistisch sein, vielleicht
auch gar keine. Kein Talkum, kein Puder, kein Magnesium. Wenn Sie schwitzen, dann schwitzen sie; die
Kostüme werden, wie gesagt, dem angemessen sein. Wir arbeiten außerdem mit Sologesang, natürlich live.
Keine Konserven. Wir werden Projektionen haben auch die werden live gespielt, die zweite Gruppe wird in
diesem Moment im Probenraum eingewiesen und wird dann direkt vor dem Projektor tanzen. Und nein, Sie
dürfen die Story nicht erfahren, junge Dame, Sie bekommen jeder Ihren Part und werden vielleicht ein-, zweimal
alle zusammen proben. Alles andere wäre zu gefährlich. – Das Sprechen. Sie werden vieles von dem, was Sie
sagen werden, nicht verstehen; das ist gleichgültig, aber sie müssen es mit Überzeugung sprechen. Es sind
größtenteils Invokationen, Beschwörungen, oder zumindest sollen sie so wirken. Wir werden bei einigen von
Ihnen auch den Atem verstärken, und zwar das ganze Stück hindurch, mit Oberlippenmikros. Strengste
Disziplin. Ich kann Ihnen gleich sagen, daß Sie alle im Moment ungefähr doppelt so viele Leute sind, wie wir im
Endeffekt brauchen werden. Bei den anderen entschuldige ich mich schon einmal im Vorhinein, aber Sie werden
aller Wahrscheinlichkeit nach ohnehin freiwillig abspringen. Sehe ich schon die Ersten gehen? – Auf
Wiedersehn. – Fräulein, wie heißen Sie? Losse. Sie kommen morgen Nachmittag vortanzen, halb drei, dieses
Theater, gleich oben auf der Bühne. Herr Minde, Martha, Sie haben Ihre Termine. Sie bleiben gleich hier. Wer
von Ihnen heute noch Zeit hat, ich bin bis etwa zweiundzwanzig Uhr für Ihre Vorstellungen hier. Fräulein Losse,
gute Nacht.“
- Donnerstag, 15. November 2001 02:28 Ich bin ein kluges Kind. Ich will keine klugen Kinder. Ich. Ich. Ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich
möchte nicht, daß sie ein kluges Köpfchen wird. Du sollst kein kluges Köpfchen werden. Hörst du. Ich. Ich
werde sie mit allen Mitteln an der geistigen Entwicklung hindern. Liebe Mirima. Ich weiß, du wirst sagen, ein
Mensch ohne Verstand ist ein Verrückter oder ein Strohkopf. Darauf sage ich, daß einer mit Verstand ein
Verrückter oder ein Strohkopf ist. Ein Verrückter ist kein vernunftbegabtes Wesen. Ein Verrückter ist einer, der
nicht weiß, was er tut. Ich weiß, was ich Schlechtes und Gutes tue. Ich weiß, was ich tue. Ich meine es nicht böse
mit dir. Ich habe dich lieb. Ich will das Leben, und deshalb werde ich mit dir zusammensein. Ich habe mit dir
gesprochen. Ich habe Ich habe sodomorrhoepharrghillantitlessemiprasseldoremarrsupriapissturgonntimeinkopf!
Ich träume nicht. Ich will spielen, aber mir bleibt wenig Zeit. Ich will lange leben. Ich will, daß sie dich im Stich
läßt. Ich will, daß du mein bist. Ich will nicht, daß du sie mit der Liebe des Mannes liebst. Ich will, daß du sie
mit der Liebe des Gefühls liebst. Ich will, daß du mein bist. Ich will sagen sagen dir daß ich liebe dich nur dich.
Ich will sagen sagen dir daß ich liebe dich nur dich Ich will sagen dir daß ich liebe liebe dich. Ich will sagen dir
daß ich liebe liebe dich. Ich dich ahlesstitoctalingustotumbalyammorhoemensilldoremesarrchiolatriniatorfassetu!
Ich will, daß Losse mich liebt, deshalb tue ich alles für ihre Entwicklung. Liebe Mirima. Der Entwicklungsgrad
ihres Verstandes ist hoch, der ihres Gefühls aber niedrig. Ich werde zu ihrer Entwicklung ihren Verstand
vernichten. Ich fürchte um ihren Verstand. Ich kenne Leute, die von ihren großen Ideen um den Verstand
gebracht worden sind, und ich habe Angst um sie, denn sie denkt zuviel. Liebe Mirima. Ich kenne deine Fehler,
denn ich habe sie begangen. Ich Liebe Mirima. Liebe Ich. Ich. Liebe Mirima. Liebe mairimfettkitohrraufnarruhnterreinschenkohsallohrrennühnetzechrainarrheibah! Du denkst nicht an den Tod, denn du willst nicht sterben. Ich
denke an den Tod, denn ich will nicht sterben. Und Gemeinplätze und Kitsch, wie, Ich fürchte den Tod, und
deshalb liebe ich das Leben. Ich fürchte den Tod, und deshalb will ich ihn nicht. Tod. Tod ist Leben. Der
Mensch stirbt für Gott. Gott ist Bewegung, und deshalb ist der Tod notwendig. Der Körper stirbt, die Vernunft
aber lebt. Ich lieb dich doch du liebst nicht. Du liebst mich nicht so wie Er. Ich lieb so wie Er wie Er. Du bist
Tod du bist der Tod. Ich will sagen sagen dir daß du Tod bist du bist Tod. Ich will sagen sagen dir daß du Tod
bist du bist Tod. Tod ist Tod und ich bin Leben Ich bin Leben du bist Tod. Smertiju smé’ert popraw. Ich Ich. Ich.
Ich bin Tod und du nicht Leben. Ich will sagen sagen dir daß du Tod bist und ich Leben. Ich will sagen sagen dir
ich bin Leben du bist Tod. Ich will Ich. Ich ich rrifadamirifadamirifakhlesstatuairrhimammarmyaparrhyolrinauighoterrhangalaff! Liebster Ohtarcalimo. Ich fürchte um dich, denn du fürchtest um mich. Der Tod ist unverhofft
gekommen, denn ich habe ihn gewollt. Ich habe mir gesagt, daß ich nicht länger leben will. Ich habe wenig
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gelebt. Ich habe ganze sechs Monate gelebt. Ich dachte, ich sei lebendig. Ich dachte, ich sei lebendig. Ich dachte,
Ich Ich ich unntadairishelfotherfuckinlipottlesstarrhimembrostuhnekhierthelemmagajarrl!
Timor mortis conturbat me.
08:55 Das Licht ist viel zu hell, schöne schwarze Mauer, der Vorhang könnte noch viel dumpfer sein. Alle Ecken
sind eckiger und alle Kurven schärfer. Mein Fingernagel auf der Fingerkuppe fühlt sich an wie eine Nadel.
Fiiiiep.
Zwar kann ich gehen, laufen, auf und ab, und mich anziehen, die Pflanze verfluchen, die vor mir über den Boden
wuchert; doch kann ich keinen Finger rühren ohne damit den ganzen Körper zu zerreißen. Der Vorhang ist wie
Schleifpapier; mein Schweiß wie Scheiße; der Holzboden ist eine Eisplatte, der Teppich gespickt mit Fuß- und
Fingernägeln. Die Mauer starrt mich an, ein schwarzes Loch, scheint jeden Augenblick auf mich zu fallen.
Rumms.
Zwar kann ich Plan und Karte finden, die Worte, die ich aufgeschrieben habe, den Rucksack; doch jeder neue
Schritt kommt überraschend, obwohl es doch ich bin, der ihn tut. Was ist ein Schritt, inmitten der Bewegung,
Muskelkrampf, vom Gehirn bis zur Sohle, wenn er den Magen und die losen Teile nicht mit einbezieht? Mit
jeder Drehung bleibt ein weiteres Stück von mir zurück.
Noch eine Drehung, noch eine, noch eine. O wie schmerzhaft ist es, in dem Äußern ganz stark und frei zu sein,
indessen man im Inneren ganz schwach ist, wie ein Kind, ganz gelähmt, als wären uns alle Glieder gebunden!
Timor mortis conturbat me.
- Dienstag, 23. Oktober 2001 16:09 „Wenn du mitmachen willst“, sagte Forcalimo. Losse nickte erneut: Nur tanzen jetzt. In neue Welten.
Dachte sie. „Das Stück ist hochinteressant, was ich gehört habe. Es heißt das Niesen des Herkules, Numen
Herculi. Nach irgendeinem Marionettentheater aus dem Rokoko, das heißt: wiedermal Tanzen wie an Fäden. Die
Bühne ist ein Körper, nämlich der des Herkules, auf dem ihr als Pygmäen herumlauft. Und wenn er niest, ist das
eine Katastrophe. Ihr werdet, glaube ich, sein Schnarchen darstellen. Eine der Pygmäenfrauen liebt den Riesen.
So etwa mußt du dir das vorstellen.“
Sie fragte nach dem Choreographen, um den Forcalimo so viele Andeutungen geschichtet hatte. Er antwortete:
„Sein Name ist Schemajah Hillel (Betonung auf der zweiten Silbe, wie bei dir); keiner weiß, woher er wirklich
kommt. Er war in Rußland und der Ukraine, in Japan und Thailand und beinah am ganzen amerikanischen
Doppelkontinent. Mit der Commedia Rosicruciana hat er die Hierotogamia inszeniert, und mit Aimosh Laugh
hat er sich endgültig gesundgestoßen. Er sammelt sich zusammen, wen er braucht, aus allen Gegenden der Welt;
doch mindestens ein Drittel seiner Leute sind immer aus dem Aufführungsland. Die Sache hat also internationale
Proportionen. – Ich hoffe, du kannst Englisch.“
„Leidlich“, sagte Losse.
“Stop – ”
“Sufficiently”, she said.
“That’s right. I know the date of the audition, if you’re still intent on going there. Are you?”
“I am”, she said, and thought: to dance, only to dance, into new worlds, to dance, to break through. “I want to.
When is it?”
“On Thursday, November 15th, 2001”, he said. “In the old theatre. The one they wanted to pull down. The awful
one.”
Losse was on fire.
Timor mortis conturbat me.
27. August
Ich laufe und laufe, vor irgendwas weg, auf einem Berggipfel, unten das Tal, aber statt dem
Brunnen ist dort ein glänzender See, wunderschön, ich will hinunter und falle. Es tut weh (besonders die Füße).
- Thursday, November 15th, 2001 15:15 Now that the free section was done, he began to instruct her, to explain movements and sequences in
minute detail: “What is a step?”, he asked at one point, “a step as a medium of art? It cannot be in the performing
foot only, but all my limbs must know it, must participate. A step, any step, is movement that sets even the
relaxed body parts a-flowing; it must be a whole from the soles of your feet to the very top of your head.” – And
so he told her, while she listened with eyes closed, listening to the humming of the spotlight that burned into her
hair and made her feel even more transparent than her mirror image was. And every two minutes or so, he would
ask her to execute the action he had just described, and she tried, and tried hard; she was trembling a little, tensed
up, but she moved the way he guided her.
And then, after about half an hour of this procedure, he wanted her to let herself drop, as flabbily as possible,
down on the floor in front of him. Carefully at first, then spasmodically, Losse simulated a downwards tumble
and rested her brow at last on the cool, dusty floor of the stage; but the Master was not satisfied: “Relax, girl!”,
he shouted, “relax! Do you never relax, girl?” –
“Relaxation is not a part of Dance, is it? I relax when I am not dancing. Sometimes.”
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“Everything is part of the Dance; there can be no natural movement without relaxation. Dance flows; you are
attempting to kill it.”
“Flows.”
“Once you have encountered Dance, there can be no step without it. – And even when there is no step, there is
still Dance.”
“But it is only a game!”
“But there is nothing but the game; and therefore the game is serious. – Now, relax.”
“I cannot.”
“You can. You cannot tumble over your legs, tensed up like that. You will have to tumble over your legs. Ergo,
relax.”
Losse relaxed.
Timor mortis conturbat me.
- Tuesday, November 6th, 2001 17:44 “You will find no respect”, Forcalimo had said, “merely admiration. People will want to see you hop and
roll on their command; they’ll want to make you lift your legs and look under your Toutou in civil voyeurism.
But the one person they will congratulate, the one they will respect and envy, will be me, Fuscara. Of course
there is a certain unfairness involved; it is an unfairness of Fate and social norms alike. They think that I am to
be envied, and maybe I am, but I am surely not to be respected. As Cleveland has it: ‘It is the rose that bleeds
when he / nibbles his nice phlebotomy.’ And it is you who will die, for the advancement of my glory.”
“You will inherit all I leave”, Losse had answered, “for other than the memory of me, and some indelible traces
in the Akasha, I will leave nothing behind: and that which I choose to preserve I will take with me into the
Darkness, whereas everything else that belongs to me I shall burn up while I am still going.”
And Forcalimo had laughed about her pooribathetic speech, because he did not understand.
Timor mortis conturbat me.
- Thursday, November 15th, 2001 15:03 “The schema is SCHeMA, and it has four sequences with four stages each. Have you forgotten your
stances?”
“I’m trying.”
“Try harder. The first sequence is called UMBO, and it is all about the uterus, or rather the vagina dentata. It is
dangerous, water, what we fear most. You cannot know it. Ergo, you will have to playact.”
Losse was still standing upright, not moving a limb, and scarcely breathing. “Now move”, Hillel said. “Breathe
regularly. With my whiteness I thee woo and with my silk breasths I thee bound. Listen: The First Stage. Ready?”
It took Losse a few moments to find back to her natural breath rhythm, or to what she thought was her natural
breath rhythm, and when she had found it, or believed she had found it, she felt all dizzy in the head, and the five
thunderwords of the night returned to her. “Ready”, she said.
“The First Stage: Closing in on yourself. Make a ball. Stop. Upright. Feet no more than two centimetres apart,
toes oriented outwards. Now, bend your spine forwards ever so slightly. The head leads the movement, it
commands, but it does, too, like a king of old, more, do not let your arms drop. Lift the elbows a bit; when your
spine is horizontal, your arms must form a hexagon, shoulders the upper side, arms two sides each, feet the fifth.
Right, turn your toes slowly inward until they meet. Stop.” – The wheelchair whirred, and Hillel took the part of
the audience. – “Left elbow lower, a more acute angle on the right hand side, try for a straighter spine. Your
knees may touch if they must. Memorise. That’s not it; stay.” – He moved back to the side of the stage. – “Now
listen, but do not execute. You must fall backwards, upon your hindquarters – you are too bony there, it will hurt
a bit, bad luck – you can move your feet a bit apart, toes still inwards-oriented, hands clasped and arms around
your knees. – Interlude: Terminology. Toes in, toes out is clear; knees follow if not otherwise stated. Limb plus
pyramid plus axis means that the limb in question is to form the cathets of a right-angled triangle with either the
vertical body axis or the ground or any parallel of the two as its hypotenuse. Angles for limbs are given as clock
times referring to the vertical body axis, the head being twelve o’clock. More terms later. – Now, when you drop
backwards, you do legs pyramid ground. Got it? Memorise. Do it now.”
Losse tried to keep her limbs under control while falling but couldn’t. When her bottom hit the floor, she gave a
little squeak, but tried to fold herself into the requested position as quickly as possible, although she knew that
she’d already failed the exercise. – “Now move your head in between you knees, as when the plane is crashing.
All this must be one movement, no break, no disorientation. From when your head tells your spine to follow it
downwards until you rest your head between your knees, all this is the first stage of the first sequence. It’s called
Closing. Got it? Memorise.”
Losse memorised.
“Stay where you are”, the choreographer continued mere seconds later. “Second stage: Somersault. Draw your
legs close to your body; keep your head protected. Shift your weight to the feet. No, you will have to lift your
bottom from the ground, right, go on, now you are resting on your feet. Powerful ankles you have. Now do a
forward roll. – That’s right, propel yourself forward, you are a wheel! Stop, don’t. Wait. When you roll, make
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sure you have enough impetus to stand up afterwards without using your hands. It will hurt a bit on the spine –
too bony there, bad luck – and probably everywhere else. Try. Now.”
Losse let herself drop forward, pushed helplessly with her feet, managed a tumbling roll during which the ground
seemed to thump repeatedly upon all exposed places of her body, and landed like a helpless hedgehog
somewhere near the edge of the stage, all sore and dangerously dizzy. “Not enough, eh?”, she asked, forcing a
tense little laugh.
“Again”, Hillel said.
“But it hurts!”
“Get back and try again. This is the second stage; getting up is the third. Try to do both in one flux.”
Losse did; of course she had to move her hands in order to get up, but the whole exercise did not seem as
impossible as it had before. She would have to do this over and over again, for weeks and months perhaps, until
it looked any better than an uncontrolled tumble, but it was possible. And she was rather sure that her body
would be perfectly numb in a few minutes, anyway.
“Fourth and last stage of the first sequence”, the choreographer said; “First Death. Stand upright; legs six-thirty
and five-thirty respectively, toes out, arms pyramid vertical. Memorise. Memorise.”
Timor mortis conturbat me.
- Friday, November 16th, 2001 04:30 It will be a dreary November night when I behold the accomplishment of his toils, and my ruin. I see him
coming towards me, slowly, creeping, wheelchair whirring, he was going to die with me! He was going to die
while stroking my body, was going to die because of me. I knew it, and yet I let him come. When beasts eat
roses, I have learned, they turn into men and women. Honorable men and women, all.
His fur was rough and it scratched my skin, drawing myriad lines of pleasurable pain over my legs, over my
body; he was come to embrace me and to drag me down, he was going to make me his own and devour me. I
remembered the prophecy, that it would be a heart attack, a mere heart attack, maybe for joy; but with a fear
bordering on terror I saw that it was going to happen while I danced, and that I had no choice; so I reached out
with my right hand and offered him the roses, and he ate, and died – then I awoke.
Timor mortis conturbat me.
- Thursday, November 15th, 2001 14:46-15:02 “Do not think. Do not look into the mirror, any mirror. Sooner or later, we will have to purge life’s
poison out of your veins. You are too conscious. Think.“
“Please. What am I supposed to do?”
“Whatever you think you can do best. You can stand still, if you want, but do it right. It’s one of the most
distressing things for a dancer to do, to stand still. Can you hear the music? No? Imagine. Think. The most
important thing is that you’re properly weighted. You have too little substance, by the way. I could break you
with one finger; have you ever been broken? No, don’t run. Stay. Listen. We’re breaking the rules. He thought
so; he feared it. Can you hear the music? A quick violin in the foreground, an accordeon, acoustic bass, sweet
silent percussion; souse. You cannot stand on one foot; use your weight. You have to be properly sousled. Look
at the old Pretschauer mother playing Daphne hunted by Apoll: her soul is in her upper spine, she bends as if to
break it, like one of Bernin’s Najades. Look at your little Hagen, as Paris before the three Goddesses, giving the
apple to Venus: his soul is actually in his elbow, it is a gruesome thing to see. Have you received your apples?
Have you? Where’s your sumsa now?”
Too much obvious tension in the elbow, she thought. The centers are all wrong, the joints inorderly distributed.
What can she do but break the rules? His wheelchair whirrs.
Timor mortis conturbat me.
15:17 “Second sequence, NIKE. This is air, you may know it; indeed, I guess you do. Walking against the rain,
wasn’t it? Fighting gravity. Probably one of your most dominant topoi. Together with what we just did (which
you will only yet come to really know), it forms the mercurium axis of our SCHeMA reading, which will be a
kind of crucifixion all in all, familiar to the hashishim, no doubt. – Anyway, let’s go.”
Losse had understood almost nothing, but she was getting used to that. “Please let’s”, she wanted to say, because
her arms were beginning to ache in their pyramid vertical position.
“Elbows back, hands remain in place just beside the hips. Listen: make a step forward with your right foot,
slowly, with the tips of your toes scratching the ground. Breathe, girl, breathe. Now do it. – That’s the first stage
already. Next one, shift your weight to your right foot and morph to arms pyramid horizontal, outstretched to the
sides, at about the height of your shoulders. Slowly, girl, ever so slowly. Now do it. – You can also start to reel
in your left foot in the meanwhile, but do not take your toes off the ground. – Very good. You are trembling
now, of course, because we are going far too slow; anyway, some power training might be a good idea. Relax for
a minute before we go on.”
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Relieved, Losse lowered her arms, feeling tinges of pain crop up every once and again beneath her clammy skin;
then she sat down on the ground, stretched her feet, and laid down at last, all limbs outspread, on the dusty black
planks of the stage.
Schemajah Hillel was watching her with restless eyes, she knew; she had become accustomed to his stare as well
as to the incessant whirring of his wheelchair, the strange beat in his voice and the faint echoes of Iberian music
that escaped from his earphones every now and then. Sometimes Losse would think that he was not a cripple at
all, but a cruel impostor who liked to make people pity him by his apparent physical incompetence, then take
them to some lonely theatre for an “audition”, only to frighten them to death by hurling himself at them from the
useless wheelchair, whirling like mad over the stage, and at last eating the corpses and telling everyone “they
didn’t come to the audition! I waited for them for god knows how long, but nobody came, so I went home again,
frustrated and hungry, um ...”
“Rest is over, girl, up, arms pyramid horizontal shoulders, toes out, feet about twenty centimetres apart. Third
stage, fold out your wings, arms straight, two-thirty and nine-thirty respectively, hands a bit behind your body
axis, very good. Ever seen the Nike of Samothrake?”
“Pictures of it”, Losse whispered; her throat was as tight as never before.
“Fourth stage, listen: two steps forward, starting right, rather fast, leaving your hands behind, head upright. Stop
with the weight on your left foot, right foot still trailing; when I watch you from the side, I want to see two lines,
curves, one running up from toes right to your head, that is, from back bottom to front top, the other one from
toes left to fingers, that’s from front bottom to back top. Smooth curves. When I watch you from the front, I want
to see three lines, one straight from center to top, belly to head, the other two from toes left to fingers left, toes
right to fingers right, smooth outward curves. Got it? Go.”
Flying is quite a difficult exercise, even when you have done it before; and although Losse tried it three times in
succession this time, she would tumble ever again over her toes (relax girl! eat shit!), see the ground, and kiss it.
Eat dust! But still, every time she propelled herself forward to become air once more, her spirits soared as she
met her mother’s loving gaze down in the auditorium, and when she fell, she fell in peace and happiness.
“The point”, Schemajah Hillel said, “is that you will have to stop in Nike position. This is essentially impossible,
but you will do it anyway. This is where we jump across the gap to get to the downward slope, the sulfur axis,
the vertical bar of the cross. – But please take a rest again. I want to watch you.”
Something snapped in Losses brain; a door opened, and suddenly she felt with the characters of IONESCO. She
did not understand what they were doing, of course, but now she knew that she would have done the same in
their place. “Go, go,” said Adelaïde.
Timor mortis conturbat me.
- Wednesday, November 14th, 2001 15:47 “When I say, make a circle, make a circle. Please. A circle. No, that’s an egg. Around me. I like to be in
the center of the circle. I’m sorry, everybody, you don’t know me. Yet. OK, Martha, you do. So, now, do I get a
circle? I want to be in the center, got it? I promise not to move. Thank you.”
Timor mortis conturbat me.
15:30 “HAUWA. Be vigourous, but not tensed up; take your measure nice and open-hearted. You must try and
carry a simple air; your movements must appear simple, even if they require force and vigour. Be as relaxed as
you can; remember, you are performing as a bird, a flying kite at best: you need to be pulled down, not up, by
our strings. Memorise! we are not here, neither of us, because in fact we are not. We are puppets on the strings of
unknown forces; not a thing, not a thing ourselves! – now go.”
Haul in the other foot. What is a step. Nod. Numen Herculi. Back on the ground. Bottom on the ground. Feel
your muscles. Relax. Rest. Whirr of the Wheelchair. He is a thing. Close up. Close in. “You are an embryo now.
Oral bio-security. Up with you. Next sequence. Last.”
Timor mortis conturbat me.
15:48 “MAINAD. Tear him apart and eat him up. Elephants on the stage. Everything going down. Up on your
knees. Arms pyramid globe human. Now up again, upon your feet. No hands allowed; the impetus must come
from your legs only. Jump. Now.”
The autumn wind thundered against the walls of the old theatre; Losse heard it whispering between the bricks,
sucking the air from inside out, pressing itself in, trying to get to her, longing to drink the sweat from her skin. –
“Arc de cercle. Bend your back unto the point of breaking.” – Lights rose in front of her, vanished as she threw
her arms back and screamed in bio-anxiety at the pain of it. Thick clouds of dust rose from the ruins of a
demolished building, accompanied by meditative piano music. Her heart was pounding in the ancient scar on her
forehead as she rose and fell into the other extreme, dropping forward to the commands of the choreographer,
rolling over, and resting at last, spread out on the floor, on her back and half dead, hoping that she would be free
at last, free at last. Whirr of the Wheelchair. Heart attack.
“Wonderful”, said the freak. “And now do it all in one flux.”
Timor mortis conturbat me.
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- Friday, October 19th, 2001 11:40 “Your friend will have to be immersed; in the end, she will be broken. This is all about Grace, you see.”
Forcalimo nodded, although he did not. “Grace.”
“The natural in the artificial, the redundant in the teleological. You have never seen graceful ballet.”
“She dances in her sleep sometimes.”
“Simulation. Deceit. They are good at that; want to be broken. Buzzed, stuck. She knows her stances well?”
“They’re there.” Forcalimo’s security vanished. “I don’t know whether they’re in her head or in some other part
of her body, but there they are.”
“I will, of course, flood her with a new system of commands. For her to learn while doing, not by doing, at the
same time. There will be some resistance, automatisms, free will, communication flaws; all the better for that.
Stuck. At the end, she will be broken, and endure real dance, gracious dance. Forgive me.”
“But you will not harm her, will you?”
“It will be all death and resurrection, my friend.” Hillel’s wheelchair whirred. “You will inherit what is left.”
Timor mortis conturbat me.
- Thursday, November 15th, 2001 15:57 The anguish came back; everything threatened to collapse. “Do I really have to?” Losse asked, her arms
clenched tightly around her waist, her aching back bent to avoid the pain. – “Well, I cannot do it for you, can I?”,
said Hillel. (Losse dachte: deswegen! Pan kann nicht tanzen, weil er einen Klumpfuß hat; doch darum! tanzt um
ihn alles herum! und darauf rammte er einen Huf tief in den Boden und riß sich, beidhändig, am Andern entzwei:
Askeats, I am told! I am told! Devlinadummit, meankind’s oldest trickser! andiluvya) and she turned around on
the spot and threw herself into the movement and became a flame; and she forgot her stances and twisted
according to the rules of her subconscious, and her living being was in pain. Would it never end? her fingers
cried; she whirled around and somersaulted, and all her muscles, then her bones, too, joined in the crying. Would
no-one speak the word of loosening to hem the madness? But one last desperate effort succeeded in reactivating
the Will; a sudden jerk flashed through her body, forcing it to stop amidst the most torrentious rotation; and then
the immediate loss of all tension and control and the fall of the once wallstrait corpus to the floor. Leaving alive
only one single feeling, that of the absolute loss of the body. And rose again, not moving by herself now but the
center of a restlessly revolving world; nunc tellus pedibus pulsanda est!, the satyr cried, and Losse stumbled, fell
again, over her tumptitumtoes and out of the world, not herself now, but a prop, a piece of stage, a putrefact, a
head tropped dead: BANG.
Timor mortis conturbat me.
16:05 Seine Augen starren noch immer, starren mich an und durch mich hindurch. Seine Augen starren noch
immer, starren mich an, seine Hände um die Steuerung gekrallt, seine Haut blaß, hervortretende Adern, Mann.
Der bleiche Lichtkegel auf der Bühne schien enger zu werden; der Wind pochte nicht mehr, ihre Wunde nicht,
endlich kam die Angst; das Licht fiel aus – hatte sie nur ihre Augen geschlossen? – sie tastete sich hektisch
durch die Stoffbahnen zum Ausgang, stieß sich die Stirn an der Türkante, und rannte laut schreiend hinaus.
Timor mortis conturbat me.
16:27 Forcalimo taucht ein letztes Mal auf, beinah gleichzeitig mit der Rettung, in einer schreiend dummen,
hastigen Szene; sie tragen Hillel auf der Bahre hinaus, haben ihn aus seinem Rollstuhl genommen; der surrt auf
der Bühne noch vor sich hin; Herzversagen. Wunderbar. Töte mich. Ich bin dein Hund. Aus der Zukunft? Losse
sieht schwarz.
Timor mortis conturbat me.
/|\
Interlude: Black
(Das Biest erscheint in ihrem Traum und sagt: „Wahre Engel des wahren Himmels, brennende Seraphs und
denkende Cherubs, die am Throne Jehovas stehen! Rittertum und gottgemäßes Wesen! Prinz der Siebenzahl, der
bald befiehlt und bald gehorcht! O ursprüngliches Geschlecht, endgültiges Geschlecht, unabhängig von der
Liebe, unabhängig von der Form, Geschlecht, welches das Geschlecht leugnet, Geschlecht der Ewigkeit! Lob sei
dir, Androgyn!“ – Und sie hat Angst vor dem Biest, zerplatzt unter dem Druck von seinem Eifer; es soll in ihre
Tage nicht hinein, soll ihre Nacht verlassen. – „Lob sei dir!“)
Поне да можех да преодолея умората
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Adelaïde sagt: „Pia, du sollst deinem Vater nicht die Zunge herausstrecken. Schon gar nicht am Eßtisch.“ –
Gerold ißt weiter seine Spaghetti, er hat aber jetzt die Augen geschlossen. – Anton sagt zu seiner Mutter:
„Versuche gar nicht erst, sie zu erziehen. Erstens ist sie schwer erziehbar, und zweitens schaffst du es sowieso
nicht.“
Zweiter Teil, Die Erfüllung. „Es gibt noch einen dritten Teil, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt geschrieben
wurde. Worden ist. Auf Provençal. Verklärung.“
„Als ob du Geschirr waschen könntest“, sagt Pia und streckt ihm wieder die Zunge raus. „Na gut“, sagt Gerold
und kneift Pia mit zwei Fingern in den Nacken, „dann hilft dir eben Pia.“
„Fauler Sack“, sagt Pia, als ihr Vater den Raum verläßt. „Dummes Huhn“, sagt er zurück. Pia lacht kurz und
drängt dann ihre Mutter vom Waschbecken weg. „Ich mach das schon“, sagt sie. Die Mutter sieht sie kurz an
und beginnt dann, den Tisch abzuwischen.
На границата насмъртта
Da, unter dem Bett, ganz weit hinten: Ich sehe schon Sterne, der Staub kratzt mir in der Nase und der rissige
Boden am Bauch. Und über mir knarrt die Matratze; es ist dunkel hier; mein armer Hinterkopf, du dummes
Gitter. Da, unter dem Bett, ganz weit nach hinten geschoben, eine Kiste. Es war ihr Zimmer, ist ihre Kiste.
Heraus damit, ans Licht.
Ans Licht: Es ist gerade Lichtminute. Nur keine Zeit, mich in den Sonnenstrahl zu stellen; gleich ist die Wand
wieder davor. Was ist in der Schachtel? Papiere. Viele beschriebene Zettel in ihrer Handschrift, der kleinen,
niedrigen, feinen, wie auf meiner Geburtsanzeige, auf meinen Karten. Ich brauche ein wenig, um die Schrift
wieder zu entziffern; ich habe den Karton in den Lichtstrahl gestellt, gleich wird er weg sein, wieder die Mauer
davor, dummer Thomas!
Da steht ein Märchen drauf, ein Märchen:
Vor ihrem Hause war ein Hof, darauf stand ein Wacholderbaum,
unter dem stand die Frau einst im Winter und schälte sich einen Apfel,
und als sie sich den Apfel so schälte, so schnitt sie sich in den Finger,
und das Blut fiel in den Schnee.
"Ach," sagte die Frau, und seufzte so recht hoch auf,
und sah das Blut vor sich an, und war so recht wehmütig,
"hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee."
Und als sie das sagte, so wurde ihr so recht fröhlich zu Mute;
ihr war recht, als solle das was werden.
Und dann bekam sie ein Kind, Lilien außen und Rosen darin. Sie bekam mich, aber zuerst Eruanno. Und das
Blut fiel in den Schnee und wurde zur Rose, zum Kind, und wenn das Tier Rosen frißt, wird es zum Mensch,
zum Mensch. Und bevor das Licht wieder ganz weg ist, auf der Rückseite:
Da ging sie nach Hause,
und es ging ein Monat hin, der Schnee verging;
und zwei Monate, da wurde es grün;
und drei Monate, da kamen die Blumen aus der Erde:
und vier Monate, da drangen sich alle Bäume in das Holz,
und die grünen Zweige waren alle ineinander gewachsen;
da sangen die Vögelchen, daß das ganze Holz schallte,
und die Blüten fielen von den Bäumen;
da war der fünfte Monat weg,
und sie stand unter dem Machandelbaum, der roch so schön,
da sprang ihr das Herz vor Freuden,
und sie fiel auf ihre Knie und konnte sich nicht lassen;
und als der sechste Monat vorbei war,
da waren die Früchte dick und stark,
da wurde sie ganz still;
und der siebte Monat, da griff sie nach den Wacholderbeeren
und aß sie so gierig, da wurde sie traurig und krank;
da ging der achte Monat hin,
und sie rief ihren Mann und weinte und sagte:
"Wenn ich sterbe, so begrabt mich unter dem Wacholderbaum."
Da wurde sie ganz getrost und freute sich,
bis der neunte Monat vorbei war,
da bekam sie ein Kind so weiß wie Schnee und so rot wie Blut,
und als sie das sah, so freute sie sich so, daß sie starb.
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Und schon ist das Lied wieder fort, das Licht, und draußen steht nur die speckige schwarze Mauer. Ach, dumme
Schachtel, dumme dumme schwarze Schachtel. Aber. Noch ein Zettel: Auch ihre Handschrift. Mirimas. Mamas.
Ein Gedicht
In the green morning
I wanted to be a heart.
A heart.
And in the ripe evening
I wanted to be a nightingale.
A nightingale.
(Soul,
turn orange-colored.
Soul,
turn the color of love.)
In the vivid morning
I wanted to be myself.
A heart.
And at the evening's end
I wanted to be my voice.
A nightingale.
Soul,
turn orange-colored.
Soul,
turn the color of love.
Jetzt ist es dunkel. Eine orangefarbene Seele würde kein Tier fressen. Eine orangefarbene Seele macht eine
lilafarbene Hülle, einen magischen Schutzmantel, und kein Tier könnte mich fressen. Die dumme Mauer
versperrt mir die Sicht. Eine orangefarbene Seele könnte draußen im Feld liegen und müßte sich nicht fürchten
vor dem Tier oder dem Mähdrescher. Dumme dumme schwarze Schachtel.
Отче наш
(Sie sehen Losse, wie sie einen Daumen in den Mund steckt und vor der Schachtel hin und her wippt; dann wird
es ihr offensichtlich zuviel, und sie schlägt mit einem Trotzlaut die andere Hand auf den Boden und wälzt sich
darüber in die Höhe, streckt ein Bein vor und legt es auf die Bettkante, stellt sich mit beiden Armen auf den
Boden, streckt einen Arm zum Bett und zieht sich hin, macht zwanzig Situps und bleibt dann am Rücken liegen.
Den Tag heute verträgt sie nicht; sie hat sich in dem Zimmer ihrer Mutter eingesperrt; sie will nichts hören von
der Liebe, von der Kunst, auch nichts vom Tod, seit sie Hillel getötet hat. Sie will nur ihre Ruhe, ihren Frieden.
Irgendwann kauert sie sich dann zusammen und liest den zweiten Teil von IONESCO.)
Тревожни очи които неспират безумни
Да молят
Original in Provençal. Erfüllung. Genau das Gleiche nochmal, aber man sieht ganz ein bißchen mehr. Anton geht
hinaus und Pia und Gerold sehen zu. Bevor Anton die Türe zumacht, sagt er noch: „Idiot.“ Dann geht er ins Bad.
Er sperrt die Türe zu, läßt sich heißes Wasser ein und zieht sich aus, dann legt er sich hinein. Er ist ganz leise,
und er hört ein bißchen aus dem Nebenraum. „Jaja“, sagt er leise ins Badewasser. „Jaja, krank. Urlaub am
Bauernhof. Die Geplagte.“
Зимата в която ще бъде написан
Дневникът на мечтите
18. November Ich liege in meinem Bett und schreibe Traumtagebuch. Ich habe nicht geträumt. Es ist die
Nacht von Samstag auf Sonntag. Heute, in dieser schrecklichen Novembernacht, steht sein Werk vor dem
Abschluß. Ich sehe ihn zu mir kommen, um seinen rauhen Tierkörper um meine Beine zu winden und mich zu
Fall zu bringen, um mich zu umarmen und zu fressen; ich erinnere mich an die Verheißung und sehe mit einer
Verzagtheit, die an Todesangst grenzt, deren Eintreffen entgegen: Ich weiß, daß es geschehen wird, ich habe
keine Wahl; drum strecke ich also willenlos meine Rechte vor und halte ihm die Rosen genau vors Maul.
Da faßt er das schimmernde Gewinde aus lieblichen Rosen mit begehrlichen Lippen und schlingt es nach
Erfüllung lechzend hinunter. Ich sehe, es wird sich erfüllen, und er ist am Ziel, ich bin verloren: Wenn eine
Bestie Rosen frißt, wird sie zum menschlichen Wesen. – Mit einem Mal fällt die Tiergestalt von ihm ab: Erst
rieseln die grauen Borsten zu Boden, dann bildet sich die feiste Schwarte wieder zurück, der dicke Wanst glättet
sich, die Hufe werden wieder zu Füßen mit Zehen, die Hände sind keine Füße mehr, sondern strecken sich und
laufen in schmale Finger aus, der lange Hals verkürzt sich, Maul und Kopf runden sich, die großen Ohren
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gewinnen ihre alte Form zurück, die Zahnquader erhalten menschliche Zierlichkeit, und selbst das
Schrecklichste, nämlich der Schwanz, verschwindet. Er ist jetzt ganz Mensch; seine helle Haut spannt sich straff
über das Spiel der Muskeln und das Pulsieren der Adern darunter; sein schimmernd schwarzes Haar wallt über
seine Schultern; seine Zähne sind makellos weiß wie Perlen. Er hat das Gesicht des Propheten, er hat TMPs
Gesicht! – Er rührt mich an – ich tue nichts – bin tot – und ich erwache – nein – ich schlafe ein.
Иде
Иде
- letzte notizen Die Welt ist schwarz, genauso wie die Mauer. Pochendes Kopfweh, als ob Unterdruck in meinem Schädel wäre,
so, als müsse man nur einen Hunderternagel im Stirn- oder Schläfenbereich ansetzen, ein kleines Loch klopfen,
und mit einem kurzen Einsaugen von Luft wäre alles wieder in Ordnung. Was aber, wenn nicht? dann müßte
sich die Stirn nach innen wölben, wie bei einem Ball aus Hartgummi, den man von unten her aussaugt. Plopp.
Инстинкт за самосъхранение сред титена на тресения
Am Sonntag, den 18. November 2001, lief Losse Anupadaka mit dem Kopf voran gegen die schon brüchige,
geteerte Steinmauer vor ihrem Zimmerfenster. Sie war aus dem Fenster geklettert, dem einzigen ihres Zimmers,
durch welches nur einmal am Tag für kurze Zeit ein Streifen direkten Sonnenlichts in den Raum fiel, und war
über die Wiese gelaufen, was an ihren grün gefärbten Füßen noch erkennbar ist. Die Mauer kollabierte über ihr,
als sie dagegenlief; die Ziegel gaben nach, und sie wurde von einer Person, die angibt, ihr Vater zu sein, unter
den Trümmern gefunden. Es grenzt, nach den jüngsten Berichten aus der Notaufnahme, geradezu an ein Wunder,
daß sie den Einsturz überlebte und ihr nicht sämtliche Knochen zerschmettert wurden.
А спасението ни линава през другите
“
[2 volle Seiten Schwarz im Textbereich.]
” (Laurence Sterne, „Tristram Shandy“)
/|\
Seventh Movement: Text
wherein the revelation of truth is presented as the final step towards the lower alchemical
marriage, death and all
Ja hier, Sonnemann, ich kann dich fühlen, Muttermond
über den Hügeln, fliegend, schwimmend, laß es regnen
wenn es will, sanft oder stark, ganz wie es will, nur laß
es ganz und teil es nicht und beiß nicht, nein, denn du
verstehst mich nicht (ich träume noch): o könnte ich
mich irren!
A mon réveil, l’hôpital était méconnaissable. Ma
chambre avait les dimension d’une salle de bal. J’étais
allongée, seule. Mon lit était suspendu au plafond par
des courroies: quand je bougeais, il remuait comme
une escarpolette.
und ich träumte, daß du glitzertest mit edelstem
Betragen, aber du bist nur ein Bauer, und ich träumte,
du seist überall der Größte, in der Schuld und in der
Schönheit, aber du bist nur ein Bastard, geh nach
Hause: meine Freundinnen sind anders, und man schilt
sie, weil sie stolz und schlimm und schwammig sind,
die Wasserhexen, aber nein!
La distance qui me séparait du sol semblait de deux
mètres. J’hésitai à sauter. Quand je me retrouvai par
terre, une douleur à la tête me rappela l’accident que
j’avais subie.
„Rose of the World !
Ruby with blood from the bright veins of God
Caught in the chalice of your heart, and pearled
With dew at many a melting period
When the amethyst lustre of your eyes dissolves
The veil that hides your naked splendour
From these infirm resolves
And halting loves of your poor poet's soul
With radiance mild and tender,
So that I see awhile the golden goal!
Yea! all your light involves
Me, me tenebrous, me too cold and base
Ever to kindle to the maiden face
(Three years my wife, three years of me unwon!)
That would be mine, be mine,
Were I but man enough
To endure the rapture of that sudden sun
The knowledge of your love,
The assumption of me into that sweet shrine
Whose godhead duly knows
Only the one wind of the utmost heaven
Through hyacinthine deeps
62
sie haben nie gesehen, wie wir in ihren Hainen tanzten,
wie ich unter ihnen war, Lassie Ohnepadecke, und wie
sie hübsch war, Weinimma, wenn sie nach meinen
Brüsten griff, und wie sie mich zog, Nimmfitte, wenn
sie an meinen Haaren riß, deswegen sagt man, sie sind
Windhauch und nicht mehr, deswegen sagt man, sie
sind Eitelkeit, weil sie mich in die Höhe ziehen, ja, ja
hier, schon höre ich dich singen, du erlöst mich?
Tant pis. Je n’allais pas demander l’aide des
infirmières pour si peu. Je me dirigerai vers la porte.
Je l’ouvris et je tombai dans le vide.
nein, beiß nicht, ich höre dich schon singen, wie ich
hing, hing hoch, im Äußersthimmelwind, im einen,
nein, mich kümmert nicht mehr, wie du heißt, wenn wir
uns freibeißen, oh Frühling, nein, ich habe Angst, ich
höre dich schon singen, Adler, nein, ich habe alles
mitgenommen, was ich kriegen konnte, aber nein, ich
fürchte mich, ich kann mich nicht mehr halten, wenn
du singst, ich werde närrisch in der Einsamkeit, ich
werde einsam in der Närrischheit, ich gehe fort, für
deine Schuld, nur deine Schuld, ein schlimmes Ende,
beiß nicht, nein, ich werde fortschleichen, bevor sie
wach sind, und sie werden mich nicht sehen, werden es
nicht wissen und mich nicht vermissen:
Down from the sapphirine steeps
And azure abyss that blows;
Only the one sun on the stepped snows;
Only the one star of the sister seven;
Only the one moon in the orchard close
In the one hour that unto love is given
Of all the hours of bliss;
Only the one joy in a world of woes;
Only the one spark in the storm-cloud riven;
Only the one shaft through the rose-dawn driven
Thy shaft, Eros!
Not as Apollo or as Artemis
Loosing grey death from golden thong
To slay the poet in a song,
The lover in a kiss;
But to divide the inmost marrow
With that ensanguine arrow;
But to unite each bleeding part
Of that most universal heart;
Leaving us slaves, and kings;
Bound, and with eagle's wings;
One soul, comprising all that may be thought,
One soul, conscious of nought.“
(Aleister Crowley, Rosa Coeli)
Wer sind Sie?
Sie hätten Ihren Raum nicht verlassen sollen.
Ist mir etwas passiert?
Ja, das kann man so sagen.
Wer sind Sie? Jetzt erkennt sie langsam etwas, Lippen, die zusammenklappen, plopp, und wieder auseinander,
dunkel ist es drin und glänzend, Spucke, dunkelrot, die Zunge legt sich an den Gaumen, an die Rückseite der
Zähne, löst sich los und schnalzt, ein zärtliches Geräusch, der Druck beginnt in ihrem Herz und wandert durch
den Hals in ihren Kopf, in ihre Schläfen, ihre Haut wird dick, sie sieht die kleinen Borsten auf der Oberlippe, er,
die Haare in der Grube zwischen Kinn und Unterlippe, seine Nase, seine Nasenlöcher weiten sich, er kommt ein
wenig näher, seine Nasenhaare zittern, wenn sie sich anstrengt, kann sie seinen Atem riechen, seine Augen sind
verschwommen, groß und feucht, sie zucken, seine Lider fahren hastig drüber, zucken links und zucken rechts,
jetzt sind sie nah und scharf, sie kann schon seine Wimpern unterscheiden, viele stehen schief, und dann berührt
er mit der Nasenspitze ihre Wange, und sie zuckt zusammen und wacht auf und hört, was er gesagt hat:
„Bald wird es dir wieder besser gehen. Bleib ganz ruhig. Die Ärzte wissen noch nicht, daß du wieder aufgewacht
bist. Du bist schwächlich und ein zartes Wesen, frischer bist du als die Rose, weisser als der Schnee.“
Jetzt drückt er seinen Wangenknochen tief in ihre Wange, er ist kalt und sie ist warm, nein, er ist warm und sie
ist kalt, und seine Haut ist rauh und ihre glatt, er schabt mit seiner Wange über ihr Gesicht, dann reiben seine
Lippen sich an ihren, bis sie ihre Augen schließt, dann öffnen seine Lippen ihren Mund, dann sagt er ihr das
Wort in ihren Mund, dann küssen sie einander, und er schnurrt.
- mel et lac Sie küssen einander. Er vergewaltigt ihren Mund. Sie „O rose, thou art sick!
ist zu schwach und kann sich nur verwundern.
The invisible worm,
Der dicke, speckige Rauch von grünverbrannten That flies in the night,
Sträuchern ist in diesen Kuß mit eingeschlossen; der In the howling storm,
Rauch, mit dem die Bienen aus der Wabe vertrieben
werden, auch der Stock, mit dem die Wabe aus der Has found out thy bed
Astgabel gepflückt wird. Der Geruch zertrampelten Of crimson joy,
Grases mischt sich in den Kuß, melkende Hände oder And his dark secret love
röhrende Maschinen, der feuchte Mund der Flasche Does thy life destroy.“
63
und der Rahm, der oben schwimmt.
(William Blake, The Sick Rose)
„Ich werde dich verlassen“, sagte er; sie hielt die Augen noch geschlossen. An der Unterlippe fühlte es sich gut
an; sie war zu schwach, um nachzusetzen, aber sie bemerkte. Es war seltsam. Sie schluckte, und die Dornen
kratzten ihr die Speiseröhre auf. Aus ihren Mundwinkeln rann Blut. „Ich werde dich verlassen und nach
Hause gehen. Ich bin müde, und hier kann man nicht schlafen. Aber ich komme wieder.“
Sie schmeckte Blut auf ihren Lippen; ihr Kopf war leer. Metallischer Geschmack, nicht klar, woher, doch
ansteckend. Ich bin im Sterbezimmer.
11. September Ich habe Angst. Das Tal, die Kinder, der Brunnen. Ich stehe am Rand, und irgendwas macht
mich heiß, ich springe hinunter, ich habe Angst. Ich falle durch den kalten Wind, er wird stärker, das Wasser
wirbelt auf, wird zu Gischt, zu weißem Schaum, rast auf mich zu, erfaßt mich, schleudert mich hoch wie eine
Gummimatte. Der Brunnen zerspringt, schon tief unter mir, mit einem Klirren wie von Glas, und ich fliege. Also,
ich falle fast schon wieder, ich sehe unten im Tal den See mit dem Wind, und über mir fliegt der häßliche Vogel
und lenkt mich ab. Ich halte mich fest. Der Geier krächzt und erstickt und ich muß ihn loslassen und falle, alles
ist schwarz wie eine Wolke falschrum, ich ziehe mich zusammen und wackle hin und her. Ich knabbere an meiner
Hand. Ich will mich nicht bewegen: Alles ist kalt. Ich muß schneller atmen, ich will mich ausstrecken, alles tut
weh, sticht durch den ganzen Körper von unten bis oben, ich sehe mich von oben, ich liege alles ausgestreckt auf
einer endlosen weißen Fläche, ich wache auf.
Es schmeckte gut, es roch erbärmlich, aber egal, es roch nach ihm. Sie rieb sich mit den Schneidezähnen ihre
Unterlippe; auf einmal wünschte sie ihn wieder her und krampfte sich zusammen, fast schon weinend, aber in
Wirklichkeit wollte sie nur seinen Geist umfassen, seine Erinnerung, seinen Geruch. Sie blieb nicht lange
eingerollt; mit wehleidigem Gesicht legte sie sich auf den Rücken.
Ich bin im Sterbezimmer.
Er ist gegangen und hat mich hier alleingelassen. Sie haben mich verlegt, weil sie wissen, daß ich sterben werde.
Meine beiden Zimmergenossinen sind tot, sie haben sie bereits weggebracht, draußen in der Badewanne
gewaschen und verbrannt oder begraben oder was immer sie hier mit den Toten tun. Ich werde bleich sein und
starr und sie werden mich wegnehmen. Ich bin allein im Sterbezimmer, über mir die Haken, an denen sie die
Toten wie Schweine aufhängen, an denen sie sie aufhängen, an den Fersen, um sie ausbluten zu lassen, einen
Kübel darunter für die Eingeweide, kopfüber, Bauch offen, austrocknen lassen und rösten und die Schwarte in
die Suppe werfen. Appetitlichere Menschen kommen in den Eintopf, ungetrocknet. Ich bin allein im Zimmer,
werde starr sein.
Jetzt träume ich. Ich träume und sehe mir selber dabei zu. Ich sehe eine Katze, die über den Schreibtisch springt
und alles durcheinanderbringt. Es ist eine Geschichte, die von ihr selber handelt. Sie frißt die Blütenblätter von
den Rosen, die der Liebhaber gebracht hat. Dabei fällt die große Vase um, Kristallglas, und das Wasser löscht
die Tinte aus. Oder, sie frißt die Blätter, nicht die Rosen. Und der Liebhaber: „Wenn Tiere Rosen fressen,
werden sie zu Menschen, weißt du das.“ Die Frage ist nur: Träume ich das wirklich, oder denke ich es mir
gerade aus?
- ich entschied, ich sei doppelt Kaum hatte ich die Unterscheidung getroffen, als ich auch schon vor ihrer Türe stand und lauschte, wie ich sang.
Es war ein moralisches Lied:
O n ó n o. So keusch wie Eis, so rein wie Schnee seist du,
Du wirst doch der Verleumdung nicht entgehen;
Geh in ein Kloster! Adieu!
Und wenn du gar nicht anders kannst,
Nimm einen Narren dir zum Mann,
Denn wer zu klug ist, der weiß wohl,
Daß er zum Monstrum wird an dir;
Geh in ein Kloster! Geh nur rasch! und Adieu.
P e r d u r a b o. Dem Teufel deine Seel’! O dreifach Wehe
Triff zehnmal dreifach dein verfluchtes Haupt,
Des Untat ihr das ihre hat verdreht!
Schon war ich drei, und focht mich mit dem Sänger; ich schlug, parierte, schlug wieder zurück. Mein Werkzeug
ging entzwei; ich hielt mich an ihn; wir tauschten Waffen, drängten zu, und töteten – einander – mich. Ich ging,
verzweifelt, denn sie war verloren. An mich verloren, leer und voll der Schande.
64
Und nun zu ihr. Ich ging zu ihr ins Zimmer und legte ihr wortlos das Buch auf den Nachttisch, das sie in meiner
Bude vergessen hatte. Sie lag schweigend da, auf dem Rücken, die Decke in den Achseln eingeklemmt, die
dürren Arme bloß darüber liegend. Ihre Augen waren hell und schwammig, kaum mehr lebendig, und sie blickte
wortlos an die Decke, kurz auf mich, und nahm das Buch.
Noch einmal lese ich. Den ersten Teil, den zweiten Teil. Was wird im dritten sein? Wer ist der Mörder? Nein,
ich frage noch einmal: Wer ist das Opfer? Einerseits die Mutter. Wer hat sie getötet? Ihre Tochter. Das bin ich.
Oder ihr Sohn. Aber der hat das Buch geschrieben. Aber der hat das Buch geschrieben.
In der zweiten Version stirbt dann der Vater. Wieso stirbt er? Weil der Leser mehr weiß. Und wer tötet ihn? Die
Mutter. Weil die Mutter mehr weiß. Das bin ich. Der Leser ist die Mutter. Erst wird er getötet, weil er zu wenig
mitbekommt. Dann tötet er, indem er mehr weiß. Tötet den Vater. Aber der hat das Buch geschrieben. Nein. Das
Buch geschrieben hat der Sohn. Vater und Sohn und Autor sind eine Person? Nein, der Vater ist oben, im
Himmel, und der Autor, der Geist also, ist Fleisch geworden, also Sohn.
Wer die Geschichte liest, die von mir handelt, wird an diesem Punkt nicht mehr besonders überrascht sein, zu
erfahren, daß mein Bruder Eruanno, den mein Vater Ohtarcalimo verstoßen hat, sich im Exil, das heißt in Wien,
hier, in der Stadt, den Namen TMP gegeben hat, daß er jetzt mein Geliebter ist, mit voller Absicht, glaube ich,
ich weiß es nicht, er muß es wissen. Aber ich, ich bin gerade erst drüber hinweg, es gar nicht wahrhaben zu
wollen, und jetzt rast mein Herz und alles zittert und ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt träume oder
es mir ausgedacht habe.
Ich schreibe einen Brief an meinen Bruder. Er handelt von einem Molch, der aussen lacht, aber innen ist er voller
Gift.
/|\
Coda: Love
“And all shall be well and
All manner of thing shall be well
When the tongues of flame are in-folded
Into the crowned knot of fire
And the fire and the rose are one.”
(T.S. Eliot, “Little Giddings”)
[ZEIT: alles am 17. Athyr = 13. November]
[LOSSE angebl. in besorgniserregendem Zustand, da sie das Essen verweigert & verlangt, von ihrem Bruder mit
selbstgebackenen Kuchen gefüttert zu werden (2 Sam. 13,1ff)
– evtl. OC sagt das TMP, worauf dieser kursiv 1.Pers.Sg.Präsens ihn tötet (d.h. in Gedanken) und rausrennt – ]
[TMP geht aus dem Haus, wo er glaubt, OC ermordet zu haben – ABEND – STADT]
Er, der sich immer auf die Kühle seines Verstandes, auf die klugen Schachzüge im Dienste seiner Intrigen und
die reine, ungebundene Lösungskraft des Geistes gerühmt hatte, war nun in einem Zustand fieberhafter Erregung
gefangen; eine Serie von Muskelzuckungen, nicht einmal durch spöttischen Rekurs auf Schundliteratur zu
entkräftigen, entstellte sein Gesicht und zerrte seine Körperhaltung ins Lächerliche; seine Stimme dampfte, als
sei er (er! die Verkörperung des Phlegmas, der merkurische Luftgeist selbst!) nun zu Schwefel geworden; und
nichts wünschte er sich mehr als eine Salamanderhaut, auf daß er durch das Feuer gehen und unbeschadet wieder
heraus kriechen könnte.
Da trat mit einem Mal aus einer Seitengasse eine Gestalt zu ihm, ein junger Mann von weniger als dreißig
Jahren, doch mit vollem Bart und den stieren Augen seiner Vorfahren. Die beiden erkannten einander sofort, und
für einen Augenblick standen sie da, die Blicke verschränkt, das limbische System zu wahlweise Kampf oder
Flucht bereit; dann hob Emil Glaend eine Hand, TMP duckte sich und streckte einen Fuß nach vorne, und der
Ältere sprach: „Du Idiot hast das Familiengeheimis verraten. Dafür wirst du sterben.“
Damit hatte TMP nicht gerechnet: Dem Schlag seines Gegners war er wohl entgangen (wenn er auch – noch
konnte er sich’s nicht erklären – mit seinem Gegenschlag ins Leere gefahren war), doch dieser hatte mit Worten
nachgesetzt und ihn schon halb vernichtet. „In diesem Moment liest deine Schwester nicht mehr; sie begreift.
Und das, mein Freund, sollte bei aller Kunst doch nicht geschehen.“
65
Sein rechter Fuß stak im Kanaldeckel, das Knie berührte fast den Boden; in einer pfeilschnellen Bewegung
sprang der Junge auf und brachte sich in sichere Entfernung. Kaum merklich keuchend lehnte er an einer
Mauerecke, ließ den bösen Glaend nicht aus den Augen. „Was willst du?“
„Du brauchst mir nichts zu geben“, sagte der Bärtige; „nicht mehr. – Wir rotten uns zusammen.“
„Du bist allein.“
„Du verstehst nicht. Es war zuviel; du hast den Vater getötet und die Tochter eingesperrt. Sogar an Tiâmats
Verbannung bist du schuld. Die Geister sind zu ihr gegangen, zu der Mutter, und sprachen ihr ins Gewissen. Sie
sprachen: ‚Denke an Apsu, deinen Gemahl, und an Mummu, die in Ketten gelegt ward! Du bleibst allein, und
irrest angstvoll umher. Liebst du uns nicht mehr? Unsere Augen sind geschwollen. Wir mühen uns unaufhörlich,
damit wir schlafen können. Erhebe dich zum Kampfe, räche sie! Mutter, steh auf, vernichte sie!‘ – Und Tiâmat
behagte diese Rede, und sie sprach: ‚Guten Rat gabt ihr. Laßt uns Ungeheuer schaffen, um die Götter zu
bedrängen inmitten ihrer Wohnung. Laßt uns alle versammeln, die ihnen feindlich gesinnt sind; laßt uns die
Götter bekämpfen!‘ – Und die Geister hörten dies und freuten sich, und sie alle begannen, Pläne des Zorns zu
schmieden, ruhelos, den ganzen Tag und die Nacht hindurch. Sie nehmen den Kampf auf, sie toben, sie rasen; sie
bilden eine Rotte, um den Kampf vorzubereiten. Die Chaos-Mutter, die alles gebildet, gab feste Waffen, gebar
Riesenschlangen mit spitzen Zähnen, erbarmungslosen Kiefern; mit Gift anstelle von Blut füllte sie ihren Leib.
Wütende Drachen von schrecklichem Anblick, von Furchtbarkeit strotzend, ließ sie erstehen: Wer sie erblickt,
der soll erstarren; sie sollen springen, ohne sich zu wenden. Sie schuf Vipern, rote Drachen und graue Molche;
den großen Löwen, den tollen Hund, den Skorpionmenschen; wütende Dämonen, Fischmenschen und Meerwidder, die schonungslose Waffen tragen und die Schlacht nicht fürchten. Gewaltig waren ihre Weisungen,
unwiderstehlich waren sie: Elf Arten schuf sie so in Eile.“
Als Emil ausgesprochen hatte, ertönte hinter den Häusern ein Rumpeln, und ein tiefes Zittern lief durch die
Stadt, als würden ungenannte Kräfte in den tiefsten Tiefen der Erde rumoren; TMP drückte sich bleich gegen
sein Mauereck, aller Mut und alle Kraft waren von ihm gewichen. Die Mutter kam! –
da sah er den Vater. Der Geist mit verquollenen Augen, mit blutigem Gesicht und geplatzten Hautgefäßen, ein
fettes, ithyphallisches Phantom, drängte sich aus den Schatten und vorbei an Emil Glaend, um dem Mörder,
seinem Sohn, an den Hals zu fahren. – Doch Urizen blieb nicht allein; aus den düsteren Wolken des Himmels
fuhr Enitharmon hernieder, die rächende Muse im Blutrausch, und Orc schrie heraus und wandte sich, er lief,
wie von Winden getragen, durch die Gassen der Stadt, auf das Krankenhaus zu.
Hinter ihm brüllten Dämonenhorden; Zoesser war da und Yllmaryon; Dahm und Arithmetock, Tanja und Laika;
und mit OC und Mirima an ihrer Spitze hetzten sie Tû, den Verräter, den Spiegel, den Feind, der sie alle
vernichten wollte; den Kalten, der nun endlich heiß geworden und schwach; doch noch floh er, noch war er nicht
überwältigt.
[TMP flieht vor der Geisterhorde (Urizen und Enitharmon jagen Orc); gerade hat er allen Mut zusammengerafft
& will den OC-Geist angreifen]
Doch gerade als er springen wollte, die Finger schon zu mörderischen Klauen verkrampft, stellte sich ihm ein
riesiges Bild der Losse in den Weg, ein bleicher, aufgedunsener Schatten, und sprach: „Niemand kommt zum
Vater denn durch mich!“ – Da packte den Jungen das Grauen, und er wandte sich herum und floh erneut, bis an
die Tür des Krankenhauses, durch den Flur, an Losses Tür: Doch eines Tages würde er ihn kriegen.
Hinter ihm wölbten sich die Gespensterleiber, drohten ihn zu ersticken, brachen sich über seinem gepeinigten
Geist; er aber riß die Tür zum Krankenzimmer auf, drängte hinein, stieß die Türe zu und lehnte sich, im Fieber
dampfend, mit dem Rücken fest dagegen.
Losse blickte von ihrem Lager auf; in ihrem Herzen wogten Stürme. „Was ist mit dir?“, fragte sie unschuldig;
doch jedes Wort war ihr ein Klumpen Glut. „Du bist gelaufen.“
Da fiel die Furcht von ihm wie eine Schlangenhaut: Er wand sich kurz, und sie war fort. Die Spektren seiner
Einbildung verflogen; nur noch ein Kern (ich krieg ihn noch!) verblieb und klopfte.
„Es ist dein Vater“, wußte er, „und meiner auch. O Luna!“ – und er trat zu ihr.
Ihr Blick war finster und ihre Haare wirr; sie wußte, was geschehen würde, und sie hieß es gut. Hinter ihrem Bett
war eine Tafel, auf der stand: Ego genero lumen, nec tenebrae meae naturae sunt; dann kam ein Bild, und dann
das Motto: Me igitur et fratri iunctis nihil melius ac venerabilius.
- femina super bestiam „O Luna“, sagte er, „durch meine Umarmung und die süßen Küsse wirst du nun schön, und stark und mächtig,
wie ich bin.“
„O Sol“, sprach sie darauf, „dich schätz ich mehr als alles Licht! Doch auch du brauchst mich, wie der Hahn die
Henne braucht.“
Als er im Kerzenschein ihre Bluse öffnete, traten die Spitzen ihrer Brüste wie junge Knospen hervor. Sie war
gewachsen, seit er sie zum letzten Mahl gesehen hatte, doch an ihr war kein Makel.
Er stieg auf sie und rief nach seinem Vater: – „Tritt also ein zu deinem Sohn Gabricius, (der dir lieber ist als alle
deine Kinder), und seiner Schwester Beya, die eine zarte, schöne und süße Jungfrau ist. Gabricius ist der Mann,
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und Beya ist die Frau, die ihm alles gibt, was an ihr ist. Und sie wird mir Flügel geben, wie die Taube, und ich
werde mit ihr am Himmel dahinfliegen. Da werde ich sagen: Ich lebe ewiglich.“
[OC widerspricht, er solle seine Tochter nicht vernichten]
[...]
TMP: Du Narr, was du säest, es wird nicht lebendig, es sterbe denn. Ich trete ein als Korn und komme hervor als
Brot. Die Götter leben in mir, ich lebe im Korn, ich wachse im Korn, das die Himmlischen säen, verborgen in
Geb.
(In H.C. Andersens „Der Rosenelf“ wird ein Prinz, während er eine Rose küßt, enthauptet.)
OC: Du wagst! Du hörst nicht! halt! das ist zuviel! – –
- yoni soit ki mali pens Der Feind! ich kann es noch nicht fassen. Das Feuer in Und obwohl Gabricus von Beya mit innigerer Liebe
den Augen meines Sohnes: hat er mich doch seiner gehalten wird, kann ohne Gabricus nichts geboren
Mutter beraubt, und nun umschlingt er noch meine werden; denn in diesem Augenblick ist die VerTochter. Er ist ein Pfeiler, ein brennender Stahl, und einigung von Gabricus und Beya tot.
die Flammen greifen auf schon auf meine Tochter Denn Beya steigt auf Gabricus und schließt ihn in ihren
über! Er hat’s gewagt, der Feuermann, er muß Schoß ein, so daß von ihm gar nichts mehr zu sehen ist.
bezahlen: Ich rette sie und sie ist doppelt mein!
Mit so großer Liebe hat sie Gabricus umfangen, daß sie
Er blickt mich an, er spottet noch, er ruft: – „So faßt ihn völlig in ihre Natur aufnimmt und ihn in
Euch doch und fallt nicht aus der Rolle!“
untrennbare Teile trennt.
Und kann ich denn nicht seine Maske nehmen, und Der Mann spricht:
kann ich nicht an seiner Stelle sein? Ist denn der Sohn Die Empfängnis verändert das Blut, das zuvor wie
ein Andres als der Vater, und lebt nicht Mirima in Milch war.
Losse weiter? – „O meine Luna!“ nennt er sie, und wie Was bleich war, wird schwarz, das Rote ist aufgelöst
errötet die Nacht, als sie vom Tag entjungfert wird: Sie und leuchtet.
wurde in der Nacht geboren, und sie gehört der Erde Wenn die Weiße Frau mit dem Roten Mann Hochzeit
an; das Feuer des Tages muß an ihrer ruhigen Macht hält, umschlingen sie einander, und vereinigen sich in
vergehen:
der Umarmung.
„Tenibrarum principessa, devitiarum & infirarum, Durch sich selbst werden sie aufgelöst, und durch sich
Dea, hunc Incubum in ignis eterni abisum, accipe aut selbst werden sie zusammengebracht,
in hoc carcere tenebroso, in sempeternum astringere So daß sie, die einst zwei waren, zu einem einzigen
mando.“
Körper gemacht werden können.
„Tetelestali! –“
„Wo sind sie? – “
Losse rülpste und sagte: „Consummatum est.“
Nostrum statum pingit rosa,
nostris status decens glosa,
nostrae vitae lectio;
quae dum primo mane floret,
defloratus flos effloret
vespertino senio.
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